Mordsmärchen -  - E-Book

Mordsmärchen E-Book

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Es war einmal ... so beginnen viele Märchen, die wir als Kinder vorgelesen oder erzählt bekamen. Und wer von uns denkt nicht mit einem leisen Schauder an die abendlichen Vorlesestunden zurück? Denn leichte Lektüre waren Märchen noch nie. Da wurden Menschen verflucht, hingerichtet, mit Pech übergossen oder sind verhungert. Die böse Hexe wurde verbrannt und ihre lügnerische Tochter in den Wald geführt, um von wilden Tieren zerrissen zu werden. Und sogar das zierliche, tapfere Schneiderlein hatte es faustdick hinter den Ohren. Es hetzte die Riesen aufeinander, bis sie sich gegenseitig erschlugen - eindeutig Anstiftung zum Mord. Die beteiligten 14 Krimiautor*innen setzen noch einen drauf, sezieren genüsslich die alten Märchen und holen die mitunter nur versteckt angedeuteten Verbrechen ans Tageslicht.

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Seitenzahl: 266

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt
Vorwort des Herausgebers Andreas M. Sturm:
König & Drosselbart
Bambi muss sterben
Geliebte Tochter
Das Verhör
Friss, Hilf, Stirb!
Buttje, Buttje inne Dose
Träumen Sie auch manchmal von Mord?
Die Bochumer Stadtmusikanten
Pisum Sativum
Das goldene Glanz
Die zertanzten Detektive
Der Meisterdieb
Aldi nimmt kein Gold
Silvesterfeuer
Die Autoren
Künstlerin

Mordsmärchen

14 bitterböse Krimis aus dem Märchenland,

herausgegeben von Andreas M. Sturm.

Martina Arnold

Christiane Bogenstahl

Uschi Gassler

Björn Götze

Reinhard Junge

Làslò I. Kish

Matthias Ramtke

Connie Roters

Franziska Steinhauer

Andreas M. Sturm

Sylke Tannhäuser

Angela Temming

Gisela Witte

Uwe Wittenfeld

Illustrationen: Jaana Redflower

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Ruhrkrimi-Verlag Uwe Wittenfeld, Mülheim/Ruhr

Druck: BoD, Norderstedt

ISBN 978-3-947848-24-9

1. Auflage /10/2021 (SE)

Coverfoto: ©Kerstin Müller

Disclaimer:

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

www.ruhrkrimi.de

Inhalt

Vorwort des Herausgebers Andreas M. Sturm

Christiane Bogenstahl

König & Drosselbart

König Drosselbart

Sylke Tannhäuser

Bambi muss sterben

Brüderlein und Schwesterlein

Gisela Witte

Geliebte Tochter

Allerleirauh

Andreas M. Sturm

Das Verhör

Frau Holle

Uschi Gassler

Friss, Hilf, Stirb!

Die drei Hunde

László I. Kish

Buttje, Buttje inne Dose

Der Fischer und seiner Frau

Franziska Steinhauer

Träumen Sie auch manchmal von Mord

Das tapfere Schneiderlein

Reinhard Junge

Die Bochumer Stadtmusikanten

Die Bremer Stadtmusikanten

Björn Götze

Pisum Sativum

Die Prinzessin auf der Erbse

Angela Temming

Das goldene Glanz

Die goldene Gans

Connie Roters

Die zertanzten Detektive

Die zertanzten Schuhe

Uwe Wittenfeld

Der Meisterdieb

Martina Arnold

Aldi nimmt kein Gold

Tischlein deck dich

Matthias Ramtke

Silvesterfeuer

Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Die Autoren und die Künstlerin

Vorwort des Herausgebers Andreas M. Sturm:

Es war einmal …

… so beginnen viele Märchen, die wir als Kinder vorgelesen oder erzählt bekamen. Und – Hand aufs Herz – wer von uns denkt nicht mit einem leisen Schauder an die abendlichen Vorlesestunden zurück? Denn leichte Lektüre waren Märchen noch nie. Da wurden Menschen verflucht, hingerichtet, mit Pech übergossen oder sind verhungert. Die böse Hexe wurde verbrannt und ihre lügnerische Tochter in den Wald geführt, um von wilden Tieren zerrissen zu werden. Und sogar das zierliche, tapfere Schneiderlein hatte es faustdick hinter den Ohren. Es hetzte die Riesen aufeinander, bis sie sich gegenseitig erschlugen – eindeutig Anstiftung zum Mord.

Die beteiligten Krimiautor*innen setzen noch einen drauf, sezieren genüsslich die alten Märchen und holen die mitunter nur versteckt angedeuteten Verbrechen ans Tageslicht.

So wird das Ungeheuerliche in »Allerleirauh« ausgesprochen, entpuppt sich das tapfere Schneiderlein als psychopathischer Frauenschlächter, begeben sich Brüderchen und Schwesterchen auf einen mörderischen Roadtrip in bester Tradition des Krimi noir und das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern mutiert zur Rachegöttin.

Einige Storys thematisieren menschliche Schwächen und Laster. So führt Gier in »Tischlein deck dich« zu Morden, und zur Befriedigung des Sexualtriebs eines alten Mannes werden im Märchen »Die Prinzessin auf der Erbse« Menschen aufs Schafott geschickt.

Nicht zu vergessen die gesellschaftlichen Zustände, die in Märchen mitunter sehr detailliert beschrieben werden. Berichten sie uns doch von Elend und Hunger, die oft unermesslichem Reichtum und einem Leben in Saus und Braus gegenüberstehen. Ebensolche Verhältnisse bilden die Vorlage für die Geschichte »Die Bochumer Stadtmusikanten«. Nach dem Lesen werden Sie feststellen, dass manche Dinge sich niemals ändern.

Doch die vorliegende Anthologie ist nicht ausschließlich düster und ernst. Schwarzer Humor kommt ebenfalls nicht zu kurz. Erleben Sie Frau Holle als alte Achtundsechzigerin und begleiten Sie die launige Prinzessin und König Drosselbart in die Partyszene. Im Märchen »Vom Fischer und seiner Frau« lernen Sie den Vorläufer des Vibrators kennen und in der »Goldenen Gans« wird die halbe Dorfgemeinschaft abgeschlachtet. Einer gänzlich neuen Mordmethode begegnen Sie in der Neufassung des Märchens »Die zertanzten Schuhe«. Darin werden Detektive zerstöckelt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein mörderisch spannendes Lesevergnügen mit dem Meisterdieb, einem Profikiller, korrupten Polizisten und weiteren ehrenwerten Mitbürgern.

Andreas M. Sturm

König & Drosselbart

von Christiane Bogenstahl

P-p-p-poker Face, p-p-poker Face. Mum mum mum mah …

Dunkle Halle, elektronische Beats. Tanzende Leiber drängten sich eng an eng auf der Tanzfläche der Disco.

Während Lady Gaga ihr Bestes gab, sahen die zwei Mädels am Rande des Parketts dem schwitzigen Treiben zu. Mitte zwanzig mochten sie sein.

Die eine der beiden, Celine, trug eine knallenge, helle Jeans und ein weißes Shirt, das zwei Nummern zu klein war. Wie ein Michelin-Männchen, dachte ihre Freundin Rosi beim Anblick der brutal nach oben gepressten Speckrollen. Doch sie biss sich ausnahmsweise auf die Zunge. Celine würde es nie lernen.

Sie selbst trug ihr Lieblingstop. Gold mit tiefem Wasserfallausschnitt. Sie sah darin echt heiß aus und gut gelaunt hatte sie sich um kurz nach Mitternacht auf hohen Hacken aus der Wohnung schleichen wollen.

Doch zu ihrem Leidwesen saß ihr Alter wie so häufig in letzter Zeit spätnachts auf einem Sessel im Wohnzimmer. Er musterte sie. »Willst du das Obst nicht lieber einpacken, Rosi?« Er schüttelte traurig den Kopf. »Ach Mädchen …«

Ihre Laune war schlagartig im Keller. Gott! Was ging ihr dieses Moralgehabe auf den Senkel. Ihre Tante Roswitha, der sie ihren abartigen Namen verdankte, hatte stets ins gleiche Horn geblasen. Und Mutter? Die war vor über zehn Jahren mit ihrem Salsa-Lehrer auf und davon – ein Selbstfindungstrip, von dem sie nie zurückkehrte. Von da an war die Schwester ihres Vaters Dauergast im Hause König. Horror hoch drei! Roswitha von Stahlheyn. Stahlhelm fand Rosi passender, denn die Tante sprayte ihre Föhnfrisur stets bis zur Betonfestigkeit. Auch sonst war der Name Programm. Reich verheiratet, früh verwitwet und eine Zunge wie angespitztes Blei.

Ist das ein Rock oder ein Gürtel? Was ist eigentlich mit deinem Bachelor? Schon wieder ein neuer Bettfreund? Mir gefällt nicht, wie respektlos du mit deinem Vater redest. Übernimm endlich mal Verantwortung!

Solche Sätze regnete es Stereo. Bis letzte Woche. Da war die Tante verstorben. Ganz plötzlich. Schlaganfall, Blutgerinnsel, Lungenembolie. In dieser oder einer anderen Reihenfolge. Rosi war es egal. Erben würde sie von der alten Schabracke eh nichts. Aber dass ihr Vater den gleichen Mist laberte wie die Tante ... das ging gar nicht.

»Mann ey, behalt’s für dich«, ranzte sie ihn deshalb an. »Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß.«

Ihr Vater sah verletzt aus. Nachdenklich betrachtete er sie ein, zwei Sekunden. »In Ordnung«, sagte er. Mehr nicht. Dann drehte er sich von ihr weg, als sei sie eine Stubenfliege, die man besser ignoriert.

Dieser elende Spießer. Wütend war sie an ihm vorbeigerauscht. Krach! Die Tür mit Schmackes zu! Von dem würde sie sich den Spaß nicht verderben lassen.

Keine einfache Aufgabe, stellte sie in der Disco und zur Musik wippend fest. Das lag nicht nur an Celine, die schon den ganzen Abend einen Flunsch zog. Schlimmer war: Gab es keine gut aussehenden Kerle mehr?

Aus der Mitte der Tanzfläche zappelte sich ein ungelenker, schmaler Käppi-Typ in ihre Richtung und lächelte schüchtern. Rosi schielte zu ihrer Freundin, die mit einem Mal heiterer wirkte.

»Guck mal«, flüsterte Rosi ihr nach einem Rippenstoß ins Ohr und machte eine Kinnbewegung in seine Richtung. »Da haben se die Nachgeburt großgezogen.« Dann lachte sie. Die Freundin versteifte sich. »Sorry, ich muss mal.« Mit diesen Worten kippte die dicke Celine ihren Cocktail in einem Zug runter und verschwand in Richtung der WCs.

Rosi beobachtete, wie der Schlaks der Freundin folgte. Nachgeburt sucht Mutterkuchen, dachte sie amüsiert. Zeit, um abzutanzen. Sie stellte ihr leeres Glas auf dem Boden ab und kämmte mit den Fingern durch ihr langes Haar. Dann gab sie sich den Rhythmen eines Dance-Remix hin.

Als sie das nächste Mal aufsah, stand ein Jüngelchen vor ihr. Der Bursche war blond und erinnerte mit seinen frisch geröteten Bäckchen an das Gesicht einer bekannten Zwiebackmarke.

»Hi«, versuchte er lässig zu ihr rüberzuschreien.

»Hi«, antwortete sie belustigt, woraufhin das Milchgesicht näher rückte. Was wollte der denn? Mit ihr tanzen? Wofür hielt der sie? Für eine Päderastin? »Musst du nicht schon im Bett sein?«, spottete sie und trat den Rückzug an. Vergeblich. Als sie an der Bar den nächsten Caipi orderte, kam ihr das Babyface beim Zahlen zuvor. »Bist eingeladen.«

»Ähm, danke«, sagte Rosi. »Aber nicht, dass du denkst, dass wir jetzt Freunde werden.«

Blondie grinste schief. »Vielleicht änderst du deine Meinung.« Seine Hoffnung hing in der Luft wie ein rosa Einhornluftballon. »Ich bin der Benni«, ergänzte er und prostete ihr zu. Knuffig war er ja … aber neee.

»Du, deine Mama macht sich bestimmt schon Sorgen.«

»Ach komm. Magst du mich nicht auch ein bisschen?«

Fast hätte sie den Cocktail ausgeprustet. Stattdessen beugte sie sich vertraulich zu ihm vor. Der Junge errötete bei dem Anblick, der sich direkt vor seinen Augen auftat.

»Doch«, hauchte sie ihm so nah ins Ohr, dass er ihren Atem spüren konnte. »Mir schießt schon die Muttermilch ein.« Dann kniff sie Benni in die Wange und drehte ab. Heute wurde das nix mehr mit den Männern.

Nach Hause fuhr sie allein. Denn Celine knutschte in einer Ecke mit der Magersucht. Das Käppi lag vergessen auf dem Boden. Sie seufzte und tippte von unterwegs eine WhatsApp-Nachricht für die Freundin. »Ich hau jetzt ab. Treib’s nicht zu bunt mit dem Trommelstock. Könnte blaue Flecken geben ;-)«

Nur zwei Tage später war Rosi nicht mehr nach Grinsen zumute. Sie saß auf ihrem Bett und zitterte vor Wut. Es war so heftig wie vor zehn Jahren, als Sven, ihre erste große Liebe, sie abgesägt hatte. Bis heute kriegte sie nicht in ihren Schädel, dass er mit dieser Klugscheißerin Sophie zusammen sein wollte. Sven hatte sie verarscht. Aber Rosi ließ sich nicht gern verarschen. Erst die eigene Mutter, dann der Lover. Es reichte! Damals schwor sie sich: Nie wieder lasse ich mich abservieren. Nie wieder wird mir jemand wehtun. Sie war schön, sie hatte Stil. Sie war eine gottverdammte Prinzessin. Wie hieß es? Aufstehen, Krone richten, weitermachen. Seitdem galt: Schluss machte nur eine. Rosi. Sie bestimmte die Regeln.

Und nun das!

Sie war fassungslos. Wie konnte ihre Tante das wagen? Und ihr Vater? Dieser Verräter! Rosi schnappte sich ein Kissen und schrie hinein. Ihr Herz wummerte im Takt einer wütend geprügelten Boxbirne.

Wie abgefuckt ihr Alter war! Erwähnte gestern beim Kartoffelschälen: »Morgen wird Roswithas Testament verlesen.«

»Schön für dich«, sagte sie.

»Es betrifft dich auch.«

»Klar. Lass mich raten. Die Familienbibel?«

Der Vater ließ das Schälmesser sinken. »Du tust ihr Unrecht. Es war ihr immer wichtig, was aus dir wird.«

Rosi runzelte die Stirn, spürte aber ein Kribbeln in den Schläfen. »Jetzt erzähl mir nicht, dass sie mir aus Liebe ihre Villa, Aktien oder Geld vererbt.«

»Lass dich überraschen.«

Mehr hatte Rosi nicht aus dem Alten herauskitzeln können und deshalb die Nacht über kein Auge zugetan. Um wie viel Kohle es wohl ging? Heute Morgen beim Amtsgericht war ihr schlecht vor Aufregung gewesen.

Und dann?

Rosi schrie zum zweiten Mal in ihr Kissen. Was für eine Drecksfamilie!

Sie konnte kaum die Einzelheiten der Testamentsverlesung wiedergeben. Die Wut hatte das meiste ausgelöscht. Nur die entscheidenden Sätze nicht. Die würde sie nie vergessen.

»Das Vermögen beläuft sich auf einen Gesamtwert über 24 Millionen Euro, das in voller Höhe an die Nichte, Rosi König, ausgezahlt werden soll.«

An dieser Stelle hatte Rosis Puls ausgesetzt. Heiße und kalte Schauer. Doch dann folgte der nächsten Satz: »Frau Roswitha Stahlheyn hat verfügt, dass das Vermögen unter zwei Bedingungen ausgezahlt wird. Sie hat erbeten, dass der nun folgende Teil wörtlich verlesen werden soll.« Der Amtsrichter räusperte sich. »Mädchen, die Zeit des Feierns und Flitzens ist vorbei. Such dir einen guten Mann, heirate, geh arbeiten, zeig Verantwortung. Falls dir das in den nächsten zwei Jahren nicht gelingt, gehst du leer aus.«

Im Folgenden wurden die Bedingungen genauer erläutert, aber das Adrenalin in Rosis Adern ließ kein klares Denken mehr zu.

Das war so bösartig, so hinterfotzig, so, so … Sie schnappte nach Luft. Das war Erpressung!

Roswitha! Diese perfide Brotspinne!

Rosi schmiss das Kissen quer durch ihr Zimmer. Hatte sie sich nicht geschworen, sich nie wieder verarschen zu lassen? Hatten ihr Vater und die Tante gedacht, sie würde wie eine Marionette nach ihrem Takt tanzen? Nein! Niemals! Lieber würde sie sterben! Aber auf das Geld verzichten? Nein! Eine Idee formte sich.

Sie musste mit jemanden reden. Sie wählte Celines Nummer. Mailbox. War die Mimose etwa eingeschnappt wegen des Spruchs mit dem Trommelstock?

Am nächsten Morgen ließ Rosi – wie so oft – ihre Vorlesungen sausen. Um zehn Uhr stand sie vor Celines Tür und schellte. Nichts. Schlief die etwa noch? Nicht mehr lange. Sie hielt den Finger fast eine Minute auf dem Klingelknopf. Dann, endlich, wurde aufgedrückt. Rosi hastete nach oben. Dort blieb sie abrupt stehen.

In dem geöffneten Türspalt stand die Magersucht aus der Disco. Ohne Käppi, dafür in Boxershorts. Gleich darauf tauchte Celine neben ihm auf. Shirt auf links, Wangen und Mund verdächtig gerötet. Grundgütiger, dachte Rosi schockiert. Poppniete trifft Wackelpudding. Sie schob erst die verstörenden Gedanken, dann den Hungerhaken zur Seite. »Wir müssen reden«, sagte sie zu Celine.

Kaum war der Dürre im Bad verschwunden, erfuhr Rosi, dass der Schlaks Alex hieß. Es habe beide wie der Blitz getroffen. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lieb er zu mir ist«, schwärmte die Freundin.

Brech, kotz, würg. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen.

Und wie witzig er sei. Und intelligent. Mit nur 26 Jahren sei er schon Rechtsanwalt. »Kannst du dir das vorstellen? Er arbeitet in der Kanzlei seines Vaters.«

Rosi richtete sich auf. »Echt jetzt? In was für einer?«

»Kanzlei Drosselbart. Nähe Ostring in Bochum. Die sind auf Familien- und Erbrecht spezialisiert.«

Drosselbart? War das nicht die Kanzlei, die auch Tante Roswitha beraten hatte? Konnte das Zufall sein? Nein, beschloss sie, das war Schicksal.

»Wenn der Lauch im Bad fertig ist …«, setzte sie an, doch Celines Blick verfinsterte sich.

Rosi lachte. »Scherz, du weißt doch, wie ich bin.«

»Ja, das weiß ich.«

Rosi ignorierte den vorwurfsvollen Unterton und fuhr fort. »Also, wenn Monsieur Alex aus dem Bad kommt, dann muss ich euch was echt Krasses erzählen. Meine Tante erpresst mich nämlich.«

»Hä? Ich dachte, die ist tot.«

»Stimmt. Und genau darum geht es.«

Erst jetzt bemerkten die Frauen, dass Alex im Türrahmen stand. »Das klingt ja interessant«, sagte er. »Dann lass mal hören.«

Während Rosi erzählte, was die Tante verfügt hatte, brach die Wut ein zweites Mal aus ihr heraus. »Ich lass mich doch nicht verarschen!«

»Und was willst du dagegen tun?«, fragte Alex.

»Denkst du, ich kann das Testament anfechten?«

»Du nicht, aber dein Vater. Er wäre als Verwandter ersten Grades nämlich im vollen Umfang erbberechtigt.«

»Phh! Der wird gar nix tun. Ihr hättet mal sehen sollen, wie blöd der gegrinst hat bei der Testamentsverlesung. Die haben das garantiert zusammen ausgeheckt, um mir eine Lektion zu erteilen.«

»Hmmm«, machte Alex. »Hast du noch eine andere Idee?«

»Liegt doch auf der Hand.«

»Ach ja?«, fragte Celine.

»Ich suche mir einen Job und heirate. Aber nicht so, wie meine verfickte Tante und mein Vater sich das vorgestellt haben. Und genau dabei brauche ich eure Hilfe.«

Der Plan war schnell erklärt und die Rollen verteilt. Alex sollte das Testament dahingehend prüfen, wann genau die Bedingungen für den Vermögensabruf erfüllt wären. Celine würde Rosi bei der Suche nach einem Job und einem Heiratskandidaten helfen.

»Den Ehevertrag, den du später für die Scheidung brauchst, kann ich gern aufsetzen, wenn du einen Dummen gefunden hast«, bot Alex an.

»Geil. Danke!«

»Die Testamentsbedingungen sehen eine Festanstellung in Vollzeit vor«, erklärte der junge Anwalt am nächsten Tag, nachdem er sich die Unterlagen angesehen hatte. »Du musst einen unbefristeten Vertrag haben. Und was die Heirat betrifft: keine Scheidung in den ersten zwölf Monaten.«

Alex hob die Augenbrauen. »Schwieriger dürfte es sein, auf die Schnelle einen Heiratswilligen zu finden … deine Tante war nicht doof. Es gibt eine Zusatzklausel, dass die Erbschaft komplett an deinen Vater geht, falls es Anzeichen dafür gibt, dass es von deiner Seite aus keine Liebesehe ist.«

»Wer sollte das denn anzweifeln?«

»Dein Vater?«

Scheiße, da hatte der Spargel recht. Sie müsste mit jemanden zusammenziehen und ihrem Alten glaubhaft verklickern, dass es Liebe ist. Sie hob die Hand ans Kinn und musterte Alex, als begutachtete sie ein Sonderangebot vom Wühltisch.

»Denk nicht mal dran«, giftete Celine.

»Keine Panik, du kannst ihn behalten. Okay, erst der Job. Das sollte einfach sein.«

Dachte Rosi. Die Sache gestaltete sich aber schwieriger. Exmatrikulierte Modedesign-Studentin ohne nennenswerte Erfolge. So las sich ihr Lebenslauf, egal wie sie das verklausulierte. Auf ihre Bewerbungen als Empfangsdame, Sekretärin oder Modeverkäuferin hagelte es Absagen.

»Geh doch putzen«, schlug Celine vor.

»Seh ich aus wie Aschenputtel?«, fragte Rosi empört zurück. Nix da, sie würde nicht mit einem schmierigen Lappen auf dem Boden rumkriechen.

Sie war zu Besserem geboren.

Leider sah ihr Vater das anders.

Es war keine 11 Uhr am Morgen, als das Knallen ihrer Zimmertür sie aufschreckte. Der Alte stand mit geballten Fäusten vor ihrem Bett und atmete stoßweise. »Wann wolltest du mir erzählen, dass du die Uni geschmissen hast?«

So hatte Rosi ihn nie erlebt. Und woher wusste er davon?

Alles Reden, Beschwichtigen und Streiten half nicht. Nur wenige Stunden später trug ihr Vater zwei große Koffer vors Haus. »Roswitha hatte recht. Man muss dich zu deinem Glück zwingen.«

Rosi antwortete nicht. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Der Vater drückte ihr zum Abschied einen Umschlag in die Hand. »Für dich. 500 Euro. Teil sie dir gut ein.«

Er blickte nicht zurück. Und die Tür zu ihrem einstigen Zuhause fiel ein letztes Mal für sie ins Schloss.

Ihre Retterin in der Not war Celine. Als sie erfuhr, was passiert war, zuckte sie mit den Schultern, als hätte sie nichts anderes erwartet. »Du kannst bei mir schlafen. Ich bin in letzter Zeit fast jede Nacht bei Alex.«

Rosi wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Danke.«

Celine grinste. »Für dein Jobproblem habe ich auch eine Lösung gefunden.«

»Wirklich?«

»Ja, ich habe mit meinem Vater gesprochen. Du kannst nächste Woche bei ihm anfangen.«

Celines Vater Peter war Filialleiter eines Supermarktes in der Nähe. Na ja, kein Traumjob, aber besser als nichts. Rosi schluckte ihren Stolz herunter. »Das ist super.«

Drei Wochen später hatte Rosi ein kleines möbliertes Apartment mit Blick auf die A40 zwischen Bochum und Essen. Ein Loch, aber ihr eigenes. Celines Bemühungen auf Onlineportalen einen Heiratskandidaten zu finden, waren vergeblich. Die Lösung des Nahostkonflikts war aussichtsreicher. Außer alten Knackern und Perversen gab es keine Ehekandidaten. Rosi erinnerte sich mit Schaudern an die vielen Dates. Minigolf mit Fischlippe, Spazieren mit Weinfass, im Café mit El Narbo und Dr. Tatter. Besonders schlimm war der Restaurantbesuch mit dem Pipimann. Ein gut aussehender Mann Anfang dreißig. Schöner Abend bei Kerzenschein. Bis die Nachspeise kam. Da sagte er: »Ich habe da so eine Vorliebe. Könntest du dir vorstellen, dich anpinkeln zu lassen?«

Danke, nein! Ihr Heiratsplan kam ihr bei Weitem nicht mehr so clever vor. Alles stockte, alles war scheiße.

Und dann erst der Job. Sie hockte auf den schmutzigen Fliesen vor einem Regal, räumte Nudeln und Dosentomaten um. Fluchte innerlich. Der ärmellose Arbeitskittel, den sie tragen musste, war eine Zumutung. Lang und zu weit hing der Fetzen an ihr. Wer designte so einen Augenkrebserreger? Ein Blinder, ein Frauenhasser?

Das Schlimmste aber waren die Menschen. Egal, ob Kunden, Kolleginnen oder ihr Chef Peter. Einer dümmer und hässlicher als der nächste. Und alle behandelten sie wie eine Dienstmagd, so, als ob sie was Besseres wären. Gestern erst hatte eine Oma ein Honigglas fallen lassen. Und wer musste das klebrige Zeug aufwischen?

Peter hatte neben ihr gestanden und nach Vollendung der Aufgabe offenbart: »Du machst dich sehr gut. Vielleicht können wir dich in ein bis zwei Monaten befördern. Dann kannst du an die Wursttheke.«

Ernsthaft? Dachte der vielleicht an sein eigenes Würstchen? Bah! Ekelhaft!

Rosi ging es täglich elender. Aber damit nicht genug. Gerade arbeitete sie sich zu den Maiskonserven vor. Da hörte sie eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter schimpfen. »Wenn deine Noten nicht bald besser werden, endest du wie die da.«

Der fleischige Zeigefinger war dabei auf Rosi gerichtet, als machte sie ihr Kind auf einen großen Hundehaufen aufmerksam.

Und genauso fühlte Rosi sich jetzt. Mit feuchten Augen rappelte sie sich hoch. Sie hielt das nicht mehr aus. Scheiß auf das Geld. Scheiß auf ihren Vater und Tante Roswitha. Sie rannte durch den Gang. Als sie um die Ecke hastete, prallte sie mit jemanden zusammen. »Oh!«, entfuhr es ihr. Und als sie erkannte, wer sie da an den Schultern fasste, noch ein »Oh«.

Es war der Zwieback-Benni aus der Disco. Er hatte sich einen Kinnbart wachsen lassen, der ihn älter wirken ließ. Und er roch gut. Blut schoss in Rosis Wangen. Dass er sie so sehen musste ...

»Alles okay?«, fragte er besorgt. Das reichte. Die Demütigungen, die Hoffnungslosigkeit. All das stieg in ihr auf wie aus einem verstopften Abfluss. Das Mitgefühl in den Augen des jungen Mannes. Rosi schluckte schwer. Dann liefen die Tränen. Zum ersten Mal seit der Sache mit Sven. Und Benni? Der nahm sie in den Arm. Einfach so. Wie gut sich das anfühlte …

Drei Monate später ...

Rosi konnte ihr Glück kaum fassen. Benni war wie ein Jackpot. Gute Figur, ein Gesicht, das man gern ansah. Doch das Entscheidende war sein Charakter. Er war einfühlsam, romantisch und zärtlich, aber im richtigen Moment witzig und frech. Und wie er sie manchmal ansah ... Gänsehautfeeling pur.

Rosi musste nicht lange überlegen, als er sie fragte. Sie kündigte das Apartment und zog zu ihm.

Das Leben war schön, befand sie. Klar, Benni war jünger als sie. Das sah man ihm trotz des Bartes an. Aber wen juckte das? Ihr Freund hatte andere Qualitäten. Neulich erst hatte sie Celine gefragt: »Kennst du den Spruch, dass Männer wie Schneestürme sind? Keiner weiß, wann sie kommen, wie viel Zentimeter sie mitbringen und wie lange sie dauern.«

»Ja, kenn ich. Ist alt.«

Rosis Grinsen glich dem einer Katze, die Sahne schleckte. »Benni ist ein gottverdammter Blizzard.«

Privat konnte es nicht besser laufen. Der Job hingegen war gleichbleibend ätzend. Doch das machte Rosi zu ihrem eigenen Erstaunen kaum noch etwas aus.

Eines Morgens kam Peter ihr schon am Ladeneingang entgegen und strahlte sie an. »Herzlichen Glückwunsch, Rosi.«

»Wozu? Darf ich von der Wurst- zur Käsetheke wechseln?«

»Nein, ab heute ist dein Vertrag entfristet.«

Ein Kribbeln durchströmte sie. Mehr noch. Sie war erregt. Bald spuck ich dir in die Suppe, Tante Roswitha, dachte sie und träumte von Stränden, Designerklamotten und einem schicken Cabrio. Die erste Bedingung für die Erbschaft war erfüllt. Und die zweite? Das war nur eine Frage der Zeit. Denn so viel stand fest: Benni war verrückt nach ihr.

Warum Rosi ihm nichts von der Erbschaft erzählte? Das wusste sie selbst nicht genau. Ich bin einfach vorsichtig, redete sie sich ein. Eines wusste Rosi aber sicher: Es fehlte nur noch ein Heiratsantrag, um ihr Leben perfekt zu machen.

»Mach du ihm doch einen«, schlug Celine eines Abends in einem Pub vor. Die Jungs waren gerade unterwegs, um frisches Bier holen, und Rosi nutzte die Chance, um ihr ein kurzes Update zu geben.

»Ich weiß nicht«, entgegnete sie und schielte in Richtung der Bar.

»Alex hat den Ehevertrag perfekt vorbereitet. Du hast nichts zu befürchten«, flüsterte Celine.

»Und wenn er Nein sagt?«

»Wird er nicht. Er wird es romantisch finden.«

»Ernsthaft? Ein Ehevertrag ist wie Wurstwasser im Sektglas.«

»Dann lass es.«

»Die Heirat?«, fragte Rosi empört.

»Nein, den Ehevertrag.«

Die Jungs kamen zurück. Ohne Bier. Dafür mit breitem Grinsen in den Gesichtern. Hinter ihnen balancierte ein Kellner ein Tablett mit einer Jumboflasche Sekt und 4 Flöten darauf. Mit einer übertriebenen Verbeugung schenkte dieser ein.

»Gibt es was zu feiern?«, fragte Celine mit der Unschuld eines Lämmleins.

»Das weiß man noch nicht«, tat Benni geheimnisvoll.

Rosis Puls beschleunigte. Würde er etwa …?

Tatsächlich. Benni fiel vor ihr auf die Knie und schaute ihr direkt in die Augen. »Du bist die schönste und tollste Frau, der ich je begegnet bin. Noch nie habe ich jemanden so geliebt wie dich. Und niemals werde ich eine andere Frau lieben.«

Rosis Hände zitterten. Der große Moment war gekommen. Benni zog ein Kästchen aus der Tasche und öffnete es. Ein Solitärring funkelte sie aus einem schwarzen Samtbett an.

»Du bist meine Königin. Willst du mich heiraten?«

»Ja«, wisperte Rosi. Und dann weinte und lachte sie. Und alle lagen sich in den Armen.

Das Problem mit dem Ehevertrag löste sich wie von selbst. Eines Abends streckte Benni ihr das Dokument entgegen. »Alex hat mir erzählt, was dein Vater für einen Druck deswegen macht.«

Rosi brauchte nur eine Sekunde, um sich zu fassen. »Hat er? Ähm, ja, ich wollte es dir gar nicht erzählen.«

»Ich weiß. Und das schätze ich an dir.« Er nahm sie in den Arm und küsste sie auf den Mund. »Es ist mir egal, ob wir mit oder ohne so einen Vertrag heiraten. Ich liebe dich. Und das ist alles, was zählt.«

Dem konnte und wollte Rosi nicht widersprechen.

Gleich am nächsten Tag betraten die beiden Verliebten die Kanzlei Drosselbart und unterschrieben das Dokument im Beisein von Junior Alex. Am liebsten hätte sie gelacht. Schade, dass die fiese Tante das nicht mehr sehen konnte.

Friseur, Standesamt, Sektempfang. Die Feier fand im kleinen Kreis bei Bennis Eltern im Garten statt. Auch Rosis Vater war erschienen. Alex hatte darauf bestanden, dass er eingeladen wurde. »Denk dran, niemand darf auf die Idee kommen, dass diese Hochzeit wegen der Erbschaft stattfindet. Dein Vater soll sehen, wie glücklich ihr seid. Wenn da was schiefgeht ...«

Als Anwalt hatte Alex‘ Wort Gewicht. Sie gab nach.

Es war ihr großer Tag. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten. Rosi war überglücklich. Bennis Eltern hatten sich selbst übertroffen. Auf der Wiese waren im Halbkreis rund um den rosengeschmückten Pavillon weiß eingedeckte Tische mit üppigem Blumenschmuck aufgestellt. Alles sah sehr festlich aus. Auffällig und extravagant war die vierstöckige Erdbeer-Champagnercreme-Hochzeitstorte. Ein Geschenk ihres Vaters. Sie musste zugeben: Er hatte sich nicht lumpen lassen. Rosi konnte es kaum erwarten, sich ein großes Stück davon abzuschneiden.

Doch vorher gab es zahlreiche Gratulationen, Komplimente, Umarmungen, Umschläge und Geschenke. Die schöne Braut stand im Mittelpunkt und genoss es. Kameras klickten und hielten Momente fest.

Endlich saßen alle. Benni unterhielt sich mit ihrem Vater. Eine junge Frau vom Cateringdienst verteilte Kaffee. Rosi blickte sich zufrieden um. Von ihrer Seite aus gab es außer ihrem Vater noch Alex und Celine. Die beiden saßen gemeinsam mit Bennis bestem Freund und einer auffallenden exotischen Schönheit zusammen. Die trug ein schulterfreies, rotes Kleid und hohe Hacken. Kackstelze, dachte Rosi und rümpfte die Nase, während sie ihr zartrosa Chiffonkleid glatt strich. Worüber die vier sich wohl so angeregt unterhielten? Darüber, dass Celine in ihrem Schlauchkleid aussah wie eine fette Made? Oder, dass Alex in seinem engen Anzug mehr einer Stabschrecke als einem Anwalt ähnelte. Sicher nicht.

Pling, pling. Bennis Vater hielt eine Rede auf das Hochzeitspaar. Pling, Pling. Dann Rosis Vater. Mit einem merkwürdigen Seitenblick zu ihr verkündete er zum Schluss: »Und ich habe keinen Zweifel, dass diese Liebe ewig hält.«

Applaus. Lachende Gesichter. Rosis Magen knurrte. Benni grinste. »Zeit für die Hochzeitstorte.«

Gemeinsam schritten sie zur Tat. Rosi strahlte. Unter lautem Beifall und vielen Kameraklicks schnitt sie mit einem großen Messer gemeinsam mit Benni die Torte an. Die Gäste kamen und der Bräutigam teilte den Sahnetraum aus, während Rosi weiter die Tortenböden zerteilte.

»Jetzt sind wir aber dran«, flüsterte Rosi und hob das Messer wieder an. Doch sie wurde unterbrochen, denn Alex und Celine schoben sich zwischen sie und die Kalorienbombe.

»Wolltest du deinem Schwager nicht auch ein Stück vom Kuchen abgeben?«, fragte Alex. Seine dunklen Augen funkelten.

»Hä? Schwager? Hast du zu viel gesoffen?«

Sie drehte den Kopf zu Benni und erwartete, dass er den schlechten Scherz ähnlich kommentierte.

Doch Fehlanzeige. Der frisch gebackene Bräutigam stellte den Teller, den er in der Hand hielt, ab und deutete auf Alex.

»Darf ich vorstellen? Mein Halbbruder Alexander.«

Der Boden unter Rosi schien plötzlich wie aus Biskuit. Es war sicher nur der Hunger.

»Wollt ihr mich verarschen?«

»Natürlich nicht«, sagte Celine. Sie hatte sich den Teller geschnappt, den Benni zuvor abgestellt hatte, und naschte von der Creme. »Wir wollen dich nicht verarschen, wir haben es bereits getan.«

Rosis Puls beschleunigte sich und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Was soll das heißen?«

»Lächeln, Rosi«, sagte Benni und zeigte seinerseits viel Weiß. »Wir wollen doch nicht, dass dein Vater erfährt, dass dies keine Liebeshochzeit ist.«

Alex ergänzte: »Wäre schade um das Geld.«

Das konnte nicht sein. Rosis Blut pulsierte in den Schläfen, im Hals, im Magen.

Das alles musste ein schlechter Scherz sein. »Was erzählst du da? Das ergibt doch keinen Sinn.«

Alex grinste. »Oh doch. Und tu nicht so, als würdest du Benni lieben. Dann hättest du ihm von der Erbschaft erzählt.«

Rosi schwankte. Benni wusste davon? Ging es ihm nur ums Geld? Ihr war übel.

»Falls du jetzt an den Ehevertrag denkst«, fuhr Alex fort, »vergiss es. Der ist quasi nicht existent, da ich ihn nicht notariell beglaubigt habe.«

Rosi bekam kaum noch Luft. »Aber ich habe das unterschriebene Exemplar zu Hause.«

»Nicht mehr«, sagte Benni. Seine blauen Augen glichen Gletscherspalten.

Die Erkenntnis tröpfelte heiß wie flüssiger Kohlenstoff in Rosis Herz.

Sie schaute Benni an. Jeder Muskel unter dem Chiffonkleid war angespannt. Sie würde nicht weinen.

»Du hast du mich also von Anfang an betrogen?«

»Und du mich«, erwiderte Benni. »Quidproquo. Wir teilen das Geld und lassen uns scheiden, sobald es geht.«

Celine kicherte.

Hass. Glühend. Rosi fuhr herum, wollte ihr den Teller aus der Hand fegen, spucken, treten, kratzen. Doch zu viele Leute schauten zu. »Du fette, hässliche Made«, zischte sie. »Meinst du etwa, dein Stecher-Skelett liebt dich? Der hat dich doch nur ausgenutzt, um an mich ranzukommen. Du widerliche ...«

Celine wurde bleich und ließ den Teller fallen. Mehrere Hochzeitsgäste wurden aufmerksam, tuschelten. Benni herrschte Rosi mit unterdrückter Stimme an: »Reiß dich zusammen!«

Deren Kopf zuckte wie von einer Schnur gerissen in seine Richtung. »Dein Vater kommt«, sagte er. »Wenn er was mitkriegt, gehen wir beide leer aus.«

Einen Moment lang schien es, als ob Rosi es dabei belassen würde, denn sie trat schwer atmend einen Schritt zurück. Ihr Vater hatte den Pavillon fast erreicht. Fragende Augen, Sorgenfalten im Gesicht.

Fast wäre diese Geschichte so ausgegangen, wie es die cleveren Halbbrüder geplant hatten. Fast ...

Doch Celine interessierten keine Pläne. Ihre Stimme war wie eine Guillotine. »Kennst du Bennis Verlobte? Marisol.« Sie deutete auf die schöne Frau in Rot an ihrem Tisch. »Benni sitzt nur das Scheißjahr mit dir ab, bevor er zu ihr zurückgeht.«

Rosi sah erst Marisol, dann Benni an und wusste: Es stimmte. Alles. Déjà-vu. Wie damals mit Sven. Ihr Herz wurde hart, ein kalter Diamant. Niemand verarschte sie. Das Tortenmesser lag gut in ihrer Hand ...

Epilog

Das Gefängnis war kein schöner Ort. Aber es hätte schlimmer kommen können. Fünf Jahre wegen Totschlags im Affekt, davon zwei auf Bewährung. Rosi blickte aus dem kleinen, vergitterten Fenster und lächelte. Am Ende hatte sie gewonnen. Der Verräter war tot. Alle Bedingungen für die Erbschaft erfüllt. Sie hatte aus Liebe geheiratet. Eine Scheidung war nicht mehr nötig. In ein paar Jahren wäre sie raus aus dem Knast. Immer noch jung, immer noch schön und unvorstellbar reich. Sie streckte den Zeigefinger aus. »Fick dich, Tante Roswitha.«

Bambi muss sterben

von Sylke Tannhäuser

»Denkst du, dass sie die Alten schon gefunden haben?« Brad starrte durch die Windschutzscheibe. Vor drei Stunden hatten seine Schwester und er ihre Heimatstadt Berlin verlassen. Seitdem waren sie mit dem klapprigen Hymer-Wohnmobil auf der A 9 Richtung Süden unterwegs.

»Gib Gummi«, sagte Angelina, nur um überhaupt etwas zu sagen. Sie wusste selbst, dass ihr Bruder nicht schneller fahren konnte. Achtzig Sachen, mehr waren bei der Kiste nicht drin, dabei hatten sie es verdammt eilig.

»Falls die Bullen die Alten gefunden haben, sind sie uns bestimmt schon auf den Fersen«, redete Brad weiter.