Mortingdown East - Anna-Christin Riemer - E-Book

Mortingdown East E-Book

Anna-Christin Riemer

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Beschreibung

Alex OMalley scheint die Einzige in ihrer Familie zu sein, die sich nicht mit der Eigenart ihrer kleinen Schwester abfinden kann: Morgan OMalley wird von schrecklichen Visionen geplagt, die ihr unbeschreibliche Schmerzen zufügen und immer wieder die Gesichter längst verstorbener Vorfahren vor ihren Augen auftauchen lassen.Als sich in einer der Visionen offenbart, dass Morgan von dem Fluch erlöst werden kann, zögert Alex keine Sekunde. Sie vermutet den Schlüssel in der Aufklärung einer schrecklichen Familientragödie, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zugetragen hat des mysteriösen Mordes an Fay OMalley.Um das Geheimnis zu lüften und die Visionen für immer verschwinden zu lassen, reist Alex mit Morgan und ihrem älteren Bruder Merric von Boston nach Irland, der Heimat ihrer Familie. In Mortingdown East, dem Ort, an dem alles seinen Anfang nahm, stoßen die drei Geschwister auf weitaus tiefere Abgründe, als sie jemals hätten ahnen können. Stück für Stück enthüllen sie tragische Ereignisse aus der Vergangenheit und geraten immer tiefer hinein in einen Strudel aus Hass, Rachsucht und Familienfehden. Und sie erkennen: Den Mord an Fay aufzuklären, ist nur der Anfang ...

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Anna-Christin Riemer

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

© 2020 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/090344

Alle Rechte vorbehalten.

Taschenbuchauflage 2018

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung Cover unter Verwendung von Bildern von Adobe Stock: © womue, © stifos, © J. Mühlbauer exclus

ISBN: 978-3-96074-027-8 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-278-4 – E-Book ( 2020)

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

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Inhalt

Prolog1846

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Epilog

Die Autorin

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Prolog 1846

Ein kalter Seewind peitschte durch die Haare der Passagiere an Bord der Victoria. Eines der Sargschiffe ... so wurden sie genannt. Sie sollten uns sicher in die neue Welt bringen, in das ferne Amerika, aber von Sicherheit war hier nicht zu reden. Krankheiten verbreiteten sich unter Deck schneller als Flöhe auf Hundefell und Platzangst und Panik machten sich unter den Leuten breit.

Vater hatte uns gesagt, wir sollten so oft nach oben gehen wie nur irgend möglich, diesen Krankheiten entsagen. So standen wir drei Geschwister nun an der Reling, starrten in die dunkle Nacht und auf den dunklen Ozean hinaus und fragten uns, ob dieser Ort, an den wir gingen, ein besserer sein würde als der, von dem wir kamen.

„Ich vermisse Mortingdown East“, murmelte Keighley neben mir in ihren dünnen Mantel. „Ich will nicht nach Amerika.“

„Ich auch nicht“, knurrte Sutter. Er hatte seine Hände ebenfalls in seinen Manteltaschen verstaut, und als er redete, konnte man seinen Atem in der kalten Winterluft deutlich sehen.

„Mortingdown East ist genauso betroffen vom Hunger wie der Rest Irlands auch“, seufzte ich, und als ich die traurigen Gesichter meiner Geschwister sah, versuchte ich zu lächeln, um sie aufzumuntern. „Es wird bestimmt gut dort“, sagte ich optimistisch. „Ich bin mir ganz sicher. Vater hat gesagt, er bekommt wieder Arbeit und wir bekommen Essen.“

Keighley verdrehte spöttisch die Augen. „Vater hat gesagt“, äffte sie mich nach. „Vater ist auch nur ein Mensch, Fay, ob du es nun glauben magst oder nicht, und irren ist menschlich.“

Sie ließ mich verstummen.

Nachdenklich sah ich mich nach allen Seiten um und beobachtete die Menschen, die nicht mehr unter Deck gepasst hatten und sich hier draußen aneinanderschmiegten, um sich warm zu halten. Sie husteten und Kinder weinten ...

Entschlossen schüttelte ich den Kopf. Alles war besser, als auf diesem Sargschiff zu sein.

„Immerhin sind wir zusammen“, murmelte ich und wandte meinen Blick wieder von diesem Elend ab. „Und wir bleiben zusammen.“

Keighley erwiderte nichts. Sie nickte nur stumm, als auf einmal zwei Männer etwas in einem Laken an Deck trugen.

„Sieh weg, Fay“, sagte Sutter schnell und Keighley zog mich an sich.

Ich verstand zuerst nicht, was passierte, bis ich einen Blick auf das Laken erhaschte und auf den Inhalt. Ein Kind, blass und mit starrem Blick nach oben in den Himmel. Seine Mutter rannte weinend hinter ihm her, dann wurde es über die Reling in das Wasser geschoben und war auf immer verschwunden. Die Mutter brach zusammen auf dem hölzernen Boden und die Menschen standen um sie herum und beobachteten sie mit toten Augen, als würde es sie nichts angehen.

So etwas konnte ich nicht.

Ich machte mich von Keighley los, ging zu der Frau und umfasste mit meiner Hand ihre knochige Schulter. Sie war genauso ausgehungert wie der Rest von uns.

„Ihr Kind ist jetzt im Himmel beim lieben Gott“, sagte ich zuversichtlich. „Dort wird es ihm gut ergehen.“

„Nein, Mädchen“, schniefte die Mutter, die sich wieder aufgerichtet hatte. Ihre Augen waren nun genauso tot wie die der anderen. „Mein Sohn ist so weit vom Himmel entfernt wie noch nie. Mein Sohn ist im Wasser und sinkt und sinkt ...“ Dann drehte sie sich um und drängte sich durch die Menschenmasse, bis sie verschwunden war.

Ich stand alleine an der Reling. Meine Hände umfassten das kalte Eisen, als ich mich hinüberbeugte und in die schwarzen Fluten hinabsah. Es war, als würde eine eisige Hand mein Herz umfassen und es zerquetschen.

„Geht es dir gut?“, fragte Sutter, der sich nun neben mich stellte und seinen Arm um meine Schultern legte. „Du hättest das nicht sehen sollen. Zu viele tote Menschen für ein Mädchen in deinem Alter, Fay ...“

Ich schüttelte nur den Kopf und sah ihn an. „Du weißt, wie man diese Schiffe nennt, Sutter“, flüsterte ich mit belegter Stimme. „Und wir alle hier sind die Nägel im Sarg.“

*

Kapitel 1

An dem Tag, an dem der erste Schnee auf die Dächer von Boston fiel, hatte Morgan eine Vision. Ich weiß nicht, ob es etwas mit der Wetterlage zu tun hatte, aber diese Vision war schlimmer als alle zuvor. Seitdem sie sechs Jahre alt gewesen war, bekam meine kleine Schwester immer mal wieder nächtlichen Besuch von einem Gesicht, das einige wenige Wörter stammelte und dann wieder verschwand. Manchmal sah Morgan auch nur Bilder oder die gestammelten Wörter in Kombination mit Bildern, aber immer, da konnte man sich sicher sein, hatte sie furchtbare Schmerzen.

Sie beschrieb das so: Die Visionen hatten einfach keinen Platz in Morgans Kopf, denn sie gehörten dort nicht hin. Das war unnatürlich. Aber dieses Gesicht schaffte sich den Platz einfach mit Gewalt und das tat weh.

Manchmal war Morgan tagelang außer Gefecht gesetzt, je nachdem, wie schlimm die Vision gewesen war. Fieber und Schüttelfrost waren dann ihre allgegenwärtigen Begleiter.

An diesem bedeutenden Sonntag im Dezember zitterte sie mehr denn je. Sie war blass und ihre Stirn war heiß. Und was viel schlimmer war: Sie redete nicht.

Meine Mom und ich saßen im Wohnzimmer und schauten unsere Lieblingsshow Guten Morgen, Boston, als meine Schwester hereinkam. Mom wusste sofort, was los war. Sie hatte das schon oft erlebt.

„Schatz, alles in Ordnung?“, fragte sie, als sie aufsprang und quer durchs Wohnzimmer auf Morgan zurannte. „Hattest du wieder einen bösen Traum?“

Böser Traum. So nannte sie das, denn das verharmloste die Sache etwas, obwohl wir alle wussten, dass Morgan nicht einfach nur träumte. Sie hatte diese Erscheinungen nicht nur nachts. Oft, aber nicht nur.

Morgan nickte stumm. Sie hatte Ringe unter den Augen, genau wie Mom. Beide konnten nicht gut schlafen in letzter Zeit und hielten sich gegenseitig wach.

Ich sah abwartend zu, was passierte, und fühlte mich dabei schlecht wie immer, denn im Gegensatz zu unserem großen Bruder Merric und Mom konnte ich mit Morgans Fluch nicht umgehen. Mir war nicht nur unwohl dabei: Sie machte mir Angst. Meine eigene kleine Schwester jagte mir eine Scheißangst ein, jedes Mal, wenn sie anfing, laut zu schreien, sich die Ohren zuhielt und nach vorne und hinten wippte. Ich war erst zweimal bei so einer Vision dabei gewesen und das war mehr als genug.

„Willst du darüber reden?“, fragte Mom weiter und führte Morgan zu einem Stuhl, wo sie sich hinsetzte. Sie schüttelte den Kopf. „Soll ich Dad anrufen?“ Wieder ein Kopfschütteln.

George (unser Vater) war Dozent in Harvard und Autor. Er hatte bis jetzt nur ein Buch geschrieben, doch das hatte unsere Familie zerrissen ... aber dazu später mehr. Im Moment dozierte er an Universitäten in den ganzen USA und außer über einen bescheuerten Monitor bekamen wir ihn gar nicht mehr zu Gesicht. Mom übernahm kurzzeitig beide Elternrollen und war mit der Situation absolut überfordert, immerhin hatte sie auch einen Job.

„Ich mach dir einen Tee, in Ordnung?“ Mom lief schnell in die Küche und ließ mich alleine mit Morgan, die vor sich hin starrte ohne irgendeinen Ausdruck in den Augen.

„Sag bitte was“, flüsterte ich, als ich die Stille nicht mehr ertragen konnte. „Du musst das doch verarbeiten.“

Sie hob träge den Kopf und sah mich an, als hätte sie gerade erst realisiert, dass ich überhaupt im Raum war. Dann stand sie auf und setzte sich neben mich auf die Couch. Ich deckte sie sofort zu und wartete. Und wartete. Und wartete.

Dann machte sie endlich irgendwann den Mund auf.

„Sutter, Keighley, Fay“, flüsterte sie. „Alles beginnt erneut.“

Obwohl ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was sie damit meinte, stellten sich die Haare auf meinen Armen auf. „Hat das Gesicht das gesagt?“, fragte ich so behutsam wie möglich, obwohl ich in so was echt nicht gut war.

Morgan nickte und ich seufzte tief. Diese drei Namen verfolgten unsere Familie überallhin.

„Hat sie was gesagt?“, fragte Mom, als sie mit dem Tee in der Hand wieder ins Wohnzimmer kam und uns dort sitzen sah.

„Sutter, Keighley, Fay“, sagte ich mit bedeutungsschwangerem Blick. „Welch eine Überraschung.“

„Bist du dir ganz sicher, dass du nicht wieder geträumt hast, Schatz?“, fragte Mom, als sie sich neben Morgan setzte und ihr den Tee reichte.

„Ich habe nicht geträumt“, fauchte diese daraufhin zu unserer Überraschung. „Nach sechs Jahren werde ich wohl den Unter-schied zwischen Träumen und Visionen kennen. Ihr könnt mir also glauben, dass es eine Vision war und nichts anderes.“

„Du brauchst uns nicht anzuschreien, Morgan“, ermahnte ich sie streng, da Mom etwas verletzt von mir zu ihr blickte. Sie hatte nach allem, was sie für uns tat, nicht verdient, dass man so mit ihr redete.

„Tut mir leid“, flüsterte meine Schwester. Sie war sonst nie so, außer wenn sie gereizt war. „Ich weiß nur nicht ...“ Sie presste ihre Hände an den Kopf und atmete tief durch. „Ich weiß nur nicht, wie ich das deuten soll. Aber es hört sich nicht gut an, findet ihr nicht auch?“ Mom und ich wechselten wieder einen Blick.

„Schatz, wahrscheinlich war das wieder so eine Vergangenheitsvision ... du hast mal wieder an diese Geschichte gedacht und dieses Gesicht hat dir sofort etwas dazu erzählt“, sagte Mom beruhigend und legte einen Arm um Morgans Schultern. „Trink deinen Tee und werd wieder warm, das wird schon wieder ...“

„Nein, Mom“, flüsterte sie. „Ich weiß, dass das mehr war. Es war mehr als nur ein Rückblick oder so etwas ...“ Morgan fing wieder an, vor sich hin zu starren.

Hilflos drückte unsere Mutter ihr einen Kuss aufs Haar und stand auf. „Ich leg mich etwas hin“, sagte sie erschöpft und ich gab ihr zu verstehen, dass ich bei Morgan bleiben würde.

„Was denkst du denn, dass es bedeuten könnte?“, fragte ich sie, sobald Mom nicht mehr im Raum war. „Irgendeine Idee?“

„Nein“, gab sie zu und trank einen Schluck. „Aber wenn du dir die Geschichte der drei anguckst, kann es nichts Gutes sein, oder?“

Ich wurde wieder wütend, dass George diese alte Gruselgeschichte herausgekramt und aufgeschrieben hatte. Morgan war wie besessen davon.

Im Jahre 1846 herrschte in Irland eine schlimme Hungersnot, aufgrund derer über eine Million Iren verhungerte. Die Kartoffeln der Bauern, das Hauptnahrungsmittel vieler Leute, verfaulten wegen eines Pilzes. Auch unsere Vorfahren, die Familie um Murray O’Malley und seine Frau Joselyn, waren betroffen. Ein Jahr nach Ausbruch der Fäule hatte Murray beschlossen, Irland hinter sich zu lassen und mit seiner Familie nach Amerika zu gehen. Dort versprach er sich, einen Job zu finden, um seine Familie ernähren zu können. Seine drei Kinder, Sutter, Keighley und Fay kamen mit ihm und sie ließen sich nach einer langen Fahrt auf einem der Schiffe in Boston nieder.

Murray und Joselyn fanden beide wie erhofft Jobs (er als Eisenbahnarbeiter und sie in einer Textilfabrik) und es schien bergauf zu gehen. So lange, bis die Leiche ihrer jüngsten Tochter Fay in einer abgelegenen Seitengasse, eingehüllt in ein weißes Laken, gefunden wurde. An ihrem Hinterkopf prangte eine große Platzwunde, was eindeutig auf einen Mord hinwies. Dieser wurde allerdings nie aufgeklärt. Von wem auch? Die Polizei scherte sich nicht um den Abschaum aus Irland, der nicht nur Krankheiten einschleppte, sondern auch noch überwiegend katholisch war.

Als wäre das nicht schon genug für die Familie gewesen, verschwand Fays ältere Schwester Keighley einen Tag später spurlos aus dem kleinen Haus in Boston und wurde nie wiedergefunden.

Mein Urururgroßvater, Sutter, ging kaum zwei Wochen nach diesen schlimmen Ereignissen zurück nach Irland, wo er sich Wohlstand aneignete und eine Familie mit einer gewissen Jacklyn (Jackie) Harrison gründete. Sie bekamen Kinder und die bekamen Kinder und die bekamen wiederum Kinder und eines dieser Kinder zeugte meinen Vater George.

George hatte den Ärger seines Vaters auf sich gezogen, als er nach Amerika ausgewandert war wegen Mom, aber sie waren immer in Kontakt geblieben, bis Großvater Graham herausgefunden hatte, dass George in den Chroniken der Familie O’Malley für sein Buch recherchierte.

„George“, hatte er gesagt. „Das, was du da tust, ist taktlos und ohne irgendein Ehrgefühl. Diese Geschichte gehört in eine Grabrede und nicht in einen Roman.“

George hatte nicht verstanden, warum sein Vater ihn nicht unterstützen konnte, und sein Vater hatte nicht verstanden, warum George so eine dramatische und private Geschichte zu Geld machen wollte.

Ich konnte ehrlich gesagt beide Seiten verstehen und keine. Das war blöd gelaufen, aber sofort den Kontakt abzubrechen und nie wieder miteinander zu reden, war auch keine Lösung. Zumindest nicht für Leute über 30.

Das Geräusch der sich schließenden Haustür holte mich zurück in die Gegenwart und in unser Wohnzimmer. Merric war wieder da und versuchte sich heimlich in sein Zimmer zu schleichen, aber als er uns sah, gab er es auf.

„Hab ich was verpasst?“, fragte er verwirrt.

„Auch dir einen wunderschönen guten Morgen, Bruderherz“, sagte ich sarkastisch.

Er verdrehte nur die Augen und kniete sich vor Morgan nieder. „Hattest du wieder eine?“, fragte er und sie nickte leidend. „Sehr schlimm?“ Wieder ein Nicken.

Niemand konnte mit Morgan so gut umgehen wie Merric. Mit einem Ruck hob er sie hoch, sie klammerte sich an ihn und fing endlich an zu weinen. Ich hatte nur darauf gewartet.

Er sah mich fragend an und ich zuckte nur mit den Schultern. Ich hatte keine Ahnung, was Morgan so verschreckt hatte. Entweder war es der Anblick dieses Gesichtes gewesen oder sie hatte doch noch etwas anderes gesehen. Sie redete nicht gerne darüber. Weder mit Merric noch mit mir.

Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen. Hellwach sah ich an die Decke meines Zimmers und dachte über diese Scheißvision nach. „Alles beginnt erneut.“ Was zur Hölle hatte das zu bedeuten?

Als ich es endgültig aufgegeben hatte, schlafen zu wollen, stand ich auf und tapste in Georges Büro. Ich knipste die Lampe auf seinem Schreibtisch an und suchte im Regal den Ordner mit den Informationen über sein Buch. Dann setzte ich mich hin und blätterte jede Seite durch.

Zeitungsartikel über sein Buch, Zeitungsartikel über den Mord von 1846, Bilder von der Familie O’Malley. Einen Moment lang sah ich Fays Gesicht genau an und war verwundert, wie bekannt es mir schon war. Ich hatte es immer und immer wieder auf Georges Buchcover gesehen, aber nie war es mir so unter die Haut gefahren wie jetzt. Sie war hübsch gewesen. Lange braune Locken, ein etwas abgetragenes Kleid und zwei Schleifen im Haar. Lange hatte ich mir darüber keine Gedanken mehr gemacht, aber wer hatte sie ermordet? Welchen Grund hatte der Mörder gehabt, dieses unschuldige Mädchen zu erschlagen?

Ich wusste, dass es damals als Raubmord abgestempelt worden war. Das war nicht selten gewesen, aber erstens gab es an diesem Mädchen nichts zu rauben (das konnte jeder sehen). Zweitens war sie weder vergewaltigt noch verstümmelt worden. Im Gegenteil: Man hatte sie in ein Laken gewickelt, was eher ein Zeichen der Reue war. Außerdem: Kriminelle liefen nicht jeden Tag mit Laken herum. Ich wusste, warum sich dieses Buch so gut verkauft hatte.

„Warum bist du noch auf?“

Ich fuhr zusammen, als Merric sich neben mich stellte und das Bild von Fay betrachtete.

„Ich weiß nicht ...“ Müde fuhr ich mir über mein Gesicht. „Wir wissen alle, dass Morgans Visionen nicht einfach aus der Luft gegriffen sind. Was ist, wenn da was Wahres dran ist?“

„Ich mach mir auch Gedanken“, gab mein Bruder zu und seufzte. „Warum erzählt sie mir auch von diesem Scheißgesicht, kurz bevor ich ins Bett gehe?“

Ich lachte leise und legte meine Hand auf Fay und Keighley, die auf dem Bild direkt nebeneinanderstanden.

„Zwei Kinder innerhalb von zwei Tagen“, flüsterte ich. „Einfach weg. Der arme Sutter.“

Merric nickte nur stumm, aber ich wusste, dass er sich als großer Bruder am besten in dessen Lage versetzen konnte. Er tat zwar immer so, als würde er mich nicht besonders mögen, aber für Morgan und mich würde er sein Leben geben, so viel wusste ich.

„Wir sollten schlafen gehen“, sagte er dann und klappte den Ordner zu. „Morgen ist wieder Schule.“

„Lassen wir das jetzt einfach so stehen?“, fragte ich, als ich die Lampe wieder ausknipste. „Das mit der Vision?“

„Was haben wir für eine Wahl?“, entgegnete Merric, als wir im Flur vor unseren Zimmern standen. „Das liegt alles fast zweihundert Jahre zurück, Alex. Wir können die Vergangenheit nicht ändern.“ Unbeholfen wuschelte er durch meine Haare, bevor er sich umdrehte und in seinem Zimmer verschwand.

Ich stand noch kurz im Flur, bis die Müdigkeit mich endgültig übermannte und ich mich wieder hinlegte.

„Kannst du mir mal sagen, was los ist?“, fragte Myra mich, als wir beim Cheerleadertraining waren. Ich war unkonzentriert, fiel die ganze Zeit hin und der letzte Tag und seine Ereignisse gingen mir einfach nicht aus dem Kopf.

„Sorry“, murmelte ich, während wir uns hinsetzten und etwas tranken. „Morgan hatte gestern wieder eine Vision.“

„Oh ...“

Myra war als meine beste Freundin die einzige Außenstehende, die von diesem Fluch wusste. Im Gegensatz zu mir fand sie das total interessant und redete die ganze Zeit davon, wie faszinierend es doch wäre, Morgans Gehirn aufzuschneiden (zur Aufklärung: Myra wollte Neurobiologie studieren. Sie war keineswegs ein Serienkiller oder so etwas).

„Was hat sie gesehen?“, fragte sie leise und rückte näher an mich heran. „Bilder oder das Gesicht?“

„Ich weiß es nicht genau“, gab ich zu. „Aber auf jeden Fall irgendetwas über die O’Malleys von 1846 und dass alles erneut beginnt. Mehr weiß ich nicht und das fuchst mich. Sie macht den Mund ja nicht auf.“

„Was denkst du, was das heißt?“ Myra sah mich mit ihren strahlenden Augen an und ich zuckte lediglich mit den Schultern.

„Was meinst du, worüber ich mir die ganze Zeit den Kopf zerbreche?“, murmelte ich. „Wahrscheinlich absolut umsonst.“

„Also ... ich würde gerne etwas mit euch besprechen“, sagte Mom beim Abendessen und legte ihr Besteck beiseite. Kein gutes Zeichen. „Dad hat mir mitgeteilt, dass er wahrscheinlich über Weihnachten nicht hier sein wird.“

Es herrschte kurz Stille, dann knallte Merric sein Besteck lautstark auf seinen Teller. „Es sollte mich eigentlich nicht mehr überraschen“, sagte er wütend. „Es war noch okay, dass er an meinem Geburtstag nicht da war. Es war kaum noch okay, dass er an Morgans Geburtstag nicht da war, aber Weihnachten? Ernsthaft? Sehen wir ihn überhaupt irgendwann mal wieder?“

„Natürlich, Liebling, aber er ist eben ...“ Mom zog ihre Brille ab und fing an sich die Schläfen zu massieren. „Er ist eben schwer beschäftigt und wir könnten uns nicht unseren Lebensstil leisten, wenn euer Vater nicht so viel arbeiten würde.“

„Scheiß auf unseren Lebensstil“, schaltete ich mich ein, wesentlich ruhiger als Merric. „Ich glaube, ich habe mehr Geld als der Rest meiner Freunde und ich würde auch mit weniger klarkommen, wenn ich dadurch George wiederbekäme. Den alten George.“

Morgan nickte und Mom verzog missbilligend den Mund. Sie mochte es nicht, wenn ich ihn so nannte, aber schon seit einem halben Jahr ging mir das Wort Dad nicht mehr über die Lippen.

„In Ordnung, in Ordnung.“ Mom hob abwehrend die Hände. „Er hat sich schon gedacht, dass ihr so reagieren würdet, deswegen hat er den Vorschlag gemacht, dass wir in den Ferien einfach zu ihm nach Texas runterkommen und dort Weihnachten feiern.“

„In Texas liegt kein Schnee an Weihnachten, oder?“, fragte Morgan mit großen, traurigen Kinderaugen und Mom schüttelte den Kopf. „Ich versteh es nicht. Wieso kann Daddy nicht hierherkommen? Wir feiern Weihnachten immer hier.“

„Sei mal bitte kurz still, Morgan“, sagte ich, als ich sah, dass Mom immer verzweifelter wurde. Ich griff nach ihrer Hand und blickte ihr in die Augen. „Mom, wenn wir realistisch sind, bringt uns Kindern das nicht viel. Sollte Morgan im Flugzeug eine Vision bekommen, war’s das mit dem entspannten Flug und Ferien. George wird die ganze Zeit arbeiten, wie ich ihn kenne, und wenn nicht, wird er versuchen, uns alles Schöne in Dallas zu zeigen, anstatt einfach Zeit mit uns zu verbringen.“

„Worauf willst du hinaus?“, unterbrach mich Merric mit gerunzelter Stirn. Wir hatten mittlerweile alle aufgehört zu essen und versuchten, eine Lösung zu finden.

„Ich denke, es wäre besser, wenn wir Kinder hierbleiben würden in den Ferien“, verkündete ich schließlich und Mom schüttelte sofort entschlossen den Kopf.

„Auf gar keinen Fall“, sagte sie. „Ihr seid noch viel zu jung, um über eine Woche alleine zu bleiben. Und nimm es mir nicht übel, Alexis, aber wenn Merric mal nicht da ist und Morgan eine Vision hat, wirst du nicht damit klarkommen.“

Das war zwar bis zu einem gewissen Grad verletzend, aber sie hatte schon recht. Morgan warf mir einen fragenden Blick zu.

„Mom, Merric macht nächstes Jahr seinen Abschluss und ich babysitte, seitdem ich denken kann. Wenn jemand nicht zu jung ist, sind wir das“, entgegnete ich. „Wir sind absolute Musterkinder. Morgan ist geschützt zu Hause, zieht keine Aufmerksamkeit auf sich. Das ist alles, was zählt.“

„Ich muss erst darüber nachdenken“, murmelte Mom, als sie aufstand und ihren Teller mitnahm. „Ich rede später noch mal mit euch.“

Als sie weg war, drehte Merric sich zu mir um und zog eine Augenbraue hoch. „Weißt du, ich bin davon überzeugt, dass Mom irgendwann einwilligen wird, aber an Dad scheitert die ganze Aktion dann.“

„George würde sich nicht trauen, uns das abzuschlagen“, sagte ich, während ich den Tisch abräumte. „Er kann uns nicht dazu zwingen, ihn zu sehen, wenn wir es nicht wollen.“

„Aber ich will Daddy wiedersehen“, sagte Morgan neben mir, während sie traurig vor sich hin starrte und ihr Gemüse auf dem Teller herumschob.

„Wir doch auch, Morgan“, sagte ich und strich ihr kurz über ihr blondes Haar. „Aber irgendjemand muss George mal zeigen, dass es so nicht weitergeht. Scheiß auf sein Geld. Man kann uns nicht kaufen.“

Abends lag ich im Bett und telefonierte mit Myra. Wir planten schon die Woche, die wir Geschwister allein zu Hause sein würden.

„Wenn ihr wollt, könnt ihr zu uns rüberkommen“, schlug sie vor. „Also an Weihnachten. Ist doch viel schöner als alleine in eurem riesigen Haus.“

„Ja, schon, aber was ist mit Morgan?“ Ich seufzte, während ich die Unterrichtsunterlagen für morgen noch mal durchging. „Du weißt von ihrem Geheimnis, aber deine Eltern nicht. Wie sollen wir ihnen das erklären?“

„Stimmt.“ Myra gähnte. „Wir reden morgen noch mal darüber, okay? Wir finden schon eine Lösung.“

„Okay. Bis morgen.“

In dem Moment, als ich auf den roten Knopf drückte, fing Morgan an zu schreien. Es hallte durch das ganze Haus, bis in mein Zimmer, und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Gleichzeitig mit mir kam auch Merric aus seinem Zimmer, nur dass er nicht zögerte, sondern sofort Morgans Tür aufstieß und hineinrannte. Ich lief langsam und war unentschlossen, ob ich das noch einmal sehen wollte. Schließlich, nachdem auch Mom an mir vorbeigesprintet war, stand ich im Rahmen der Tür und sah Morgan, wie sie in ihrem Bett lag und sich unter Schmerzen wand. Sie zog an ihren Haaren und riss an ihrem Gesicht. Es war schrecklich. Ich wendete den Blick ab und plötzlich hörte das Schreien auf. Absolute Stille herrschte im Raum und vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber es wurde kalt. Sehr kalt. Dann hob Morgan ihren Kopf und redete.

Das wäre eigentlich ein gutes Zeichen gewesen ... wenn es Morgans Stimme gewesen wäre. Aber jemand oder etwas sprach durch sie.

„Ihre Erlösung löst den Fluch“, sagte diese andere Stimme. Sie hörte sich leer an und hohl ... schwer zu beschreiben. Auf jeden Fall hatte ich eine Scheißangst. Mehr als jemals zuvor.

Bevor ich flüchten konnte, war Morgan umgekippt und schlief in Merrics Armen, der beruhigend über ihr Haar strich.

„Was zur Hölle war das?“, flüsterte ich, nachdem ich akzeptiert hatte, dass das gerade tatsächlich passiert war.

„Ich schätze mal, dass das Gesicht etwas verkünden wollte“, sagte Merric, ohne unsere Schwester aus den Augen zu lassen. „Mit Erfolg.“

„Wessen Erlösung löst welchen Fluch?“ Mit gerunzelter Stirn sah ich Mom an, die mir einen bösen Blick zuwarf.

„Alexis, deine Schwester ist ohnmächtig wegen der Schmerzen und du denkst noch nicht mal eine Sekunde an sie, sondern direkt an diese dummen Rätsel“, fauchte sie. So hatte sie noch nie mit mir geredet. „Manchmal frage ich mich, ob du deine Schwester mehr lieben würdest, wenn sie ein Kreuzworträtselheft wäre.“

„Mom, hör auf!“, fuhr Merric sie an, aber die Tränen der Scham standen mir bereits in den Augen, als ich zwei Schritte rückwärtsging und dann in mein Zimmer lief, wo ich die Tür zuknallte und sie abschloss.

Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen und rutschte an ihr hinunter, bis ich auf dem Boden saß. Ich liebte meine Schwester, aber ich hatte Angst vor ihr. Merric liebte Morgan bedingungslos und war immer für sie da, wenn sie ihn brauchte. Ich war so gut wie nie für sie da, Mom hatte recht.

„Alex?“

Merric riss mich aus dem Schlaf. Ich war an der Tür im Sitzen eingeschlafen, und als ich einen Blick auf den Wecker erhaschte, war es drei Uhr morgens. In drei Stunden musste ich aufstehen und zur Schule gehen ... yay!

„Alex, mach auf“, sagte Merric und klopfte sanft.

Müde fuhr ich mir übers Gesicht und raffte mich auf. Ich drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür einen Spaltbreit. „Was ist?“, knurrte ich.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Merric unbeirrt.

„Du meinst, bis auf die Tatsache, dass meine Mutter mir vorgeworfen hat, ich würde meine Schwester nicht mehr als ein Rätselheft lieben? Ja, alles super.“

„Du weißt, dass sie das nicht so gemeint hat“, erwiderte Merric und fuhr sich durch das rote Haar. Lustigerweise hatten alle Männer in unserer Familie rote Haare. „Im Gegensatz zu dir nimmt sie die Visionen nicht ernst. Sie nimmt nur Morgans Schmerzen wahr, aber auf das, was sie letztendlich gesehen hat, achtet sie nicht.“

Das klang plausibel, aber ich fühlte mich immer noch scheiße. „Tja, und ich achte nicht auf Morgan“, murmelte ich. „Ich bin so auf diese ständigen Rätsel fixiert, dass ich nie realisiere, dass meine kleine Schwester unter Schmerzen leidet ... oder es ist mir einfach egal.“

„Erzähl doch nicht so eine Scheiße.“ Merric schnaubte und verdrehte die Augen. „Natürlich ist es dir nicht egal! Du liebst Morgan, und wenn dieses kleine Extra nicht wäre, wärt ihr wahrscheinlich wie Pech und Schwefel. Du kannst nur nicht mit diesen Visionen umgehen und das ist ganz normal.“

„Und wieso kannst du es dann?“, flüsterte ich, und als Merric sah, dass ich Tränen in den Augen hatte, öffnete er die Tür ganz und nahm mich in den Arm. Er war eben doch mein großer Bruder.

„Morgan merkt das alles nicht“, flüsterte er in mein Haar.

Ich wusste, was er mir sagen wollte. In Morgans Augen war ich kein Feigling oder unfähig. Ich war nur ihre große, vielleicht etwas distanzierte Schwester, die mit ihr Hausaufgaben machte oder sie zu ihren Freunden fuhr. Sachen, die große Schwestern eben machten.

„Mach dir also keine Gedanken, okay?“ Er löste unsere Umarmung und hielt mich an beiden Schultern fest, während er mir in die Augen sah. „Mach dir mal lieber Gedanken, was dieses Gesicht mit der Vision gemeint hat, ich werd nämlich nicht schlau daraus. Die Einzige, die das enträtseln kann, bist du.“ Dann ging er wieder in sein Zimmer und ich schloss seufzend die Tür.

„Ihre Erlösung löst den Fluch.“

Wessen Erlösung löste welchen Fluch?

Ich war viel zu spät fertig. Meine Haare waren nur halb geföhnt, als ich die Treppen runterrannte und zum Frühstückstisch stürzte, wo Merric und Mom bereits saßen. Ich sah Mom an, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte wegen gestern und mit mir darüber reden wollte, aber ich hatte wirklich keine Zeit.

„Merric, schmierst du mir einen Toast?“, rief ich, während ich im Laufen versuchte, gleichzeitig meine Schuhe anzuziehen und meine Haare zu kämmen. „Bitte?“

„Du bist eh zu fett, vielleicht solltest du lieber nichts essen“, entgegnete er in seiner normalen bissigen Art, der liebe Bruder von gestern war verschwunden und hatte seinem bösen Zwilling Platz gemacht.

„Halt’s Maul und mach!“, rief ich, während ich in Georges Büro lief, um meine Referatsunterlagen zu holen.

„Solche Ausdrücke werden in diesem Haus nicht geduldet, Alexis!“, erwiderte meine Mom tadelnd.

Ich verdrehte die Augen und war froh, dass sie das nicht gesehen hatte. „Wo zur Hölle hab ich die hingelegt?“, murmelte ich, während ich alles auf Georges Schreibtisch beiseitefegte. Unter anderem auch den Ordner über sein Buch. Er fiel auf den Boden und blieb dort geöffnet liegen. Ich sah schon wieder in Fays hübsches Gesicht und dann machte es klick in meinem Kopf.

„Merric?“, rief ich erst leise. Dann lauter: „Merric!“

„Was denn?“, antwortete er von unten. „Mach hinne, wir kommen zu spät, und wenn du nicht in einer Minute unten bist, fahr ich ohne dich.“

Ich schnappte mir meine Unterlagen, die ich ebenfalls aus Versehen vom Tisch gefegt hatte, und rannte die Treppen so schnell nach unten wie noch nie.

„Okay, bye, Mom!“, rief ich hektisch, während ich Merric am Arm ergriff und ihn zur Haustür zog.

„Was ist mit deinem Toast?“, fragte er verwirrt.

„Ist egal, ich hab keinen Hunger“, log ich, doch sobald wir die Tür hinter uns zugezogen hatten, blieb ich ruckartig stehen und drehte mich zu ihm um. „Fay“, sagte ich und Merric legte zögernd eine Hand auf meine Stirn, um zu prüfen, ob ich Fieber hatte. „Sehr lustig“, fauchte ich und wich zurück. „Lass den Mist.“

„Lass du den Mist, du machst mir Angst“, schnaubte er und lief zum Auto.

„Merric, die Vision!“ Ich lief neben ihm her und versuchte, es ihm so zu erklären, dass selbst er es verstand. „Es geht um Fay! Sie war gemeint! Wenn wir sie erlösen, lösen wir den Fluch!“

„Welchen Fluch?“, fragte er, während er das Auto aufschloss und seinen Rucksack auf die Rückbank schmiss.

„Na, Morgans!“ Ich verdrehte die Augen. Wie konnte man nur so begriffsstutzig sein? „Die Visionen. Wenn wir Fays Mord aufklären, wird Morgan keine Visionen mehr haben.“

Jetzt hielt Merric inne und sah mich über das Auto hinweg an. „Und wie hast du dir das vorgestellt, Alex?“, fragte er sachlich. „Das ist beinahe zweihundert Jahre her und wir haben nichts.“

„Wir haben Morgan“, erwiderte ich. „Und wir haben gesunden Menschenverstand. Also ich auf jeden Fall. Ich glaube nicht, dass Fay von jemandem aus Boston umgebracht wurde. Er oder sie kam aus Irland, darauf verwette ich mein Leben ... dein Leben.“

„Schön und gut, aber wir sind nun mal in Boston.“ Merric schüttelte den Kopf. „Wie sollen wir einen Mörder aus Irland schnappen, der schon seit mindestens 100 Jahren tot ist?“

„Wir wollen ihn nicht schnappen. Wir wollen herausfinden, wer es war, und weißt du, was superpraktisch wäre? Wenn wir einen engen Verwandten in Irland hätten.“

„Aber wir haben keinen ...“ Merrics Blick verfinsterte sich, als er kapierte, auf wen ich hinauswollte. „Oh nein.“

„Oh doch.“

„Ihr wollt was?“ Georges Augen waren weit aufgerissen, nachdem ich ihm erzählt hatte, was wir vorhatten. In solchen Momenten war es doch ganz gut, dass er uns nur über den Monitor sehen konnte.

„Nur weil ihr einen kindischen Streit austragt, müsst ihr uns doch da nicht mit reinziehen, oder?“, entgegnete ich schulterzuckend. „Ich habe unseren Großvater seit etwa zehn Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen und er ist ganz alleine über Weihnachten, deswegen würden wir ihn gerne besuchen.“

„Was sagt eure Mutter dazu?“ George verengte die Augen. Es passte ihm ganz und gar nicht, dass wir uns mit seinem Erzfeind, der zufälligerweise auch sein Vater war, verbündeten.

„Sie sagt, wenn du einwilligst, hat sie nichts dagegen und regelt das alles mit Graham“, antwortete ich, während ich George in Grund und Boden starrte.

„Anscheinend hast du es gerade mit Vornamen“, murmelte mein Vater und ich merkte, dass es ihn nervte, wenn ich George oder Graham sagte statt Dad und Opa. Selbst schuld. „Was ist, wenn ich Nein sage?“

„Dann können wir nicht fahren.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Aber so musst du mit dem Wissen leben, dass du uns gezwungen hast, nach Texas zu kommen, und wir nicht freiwillig da sind.“

Das saß. George starrte mich sprachlos an, dann zog er seine Lesebrille ab und rieb sich die Augen. „Hasst du mich so sehr, Alex?“, murmelte er und hörte sich an wie ein gebrochener, alter Mann. „Bin ich nur noch George für dich und nicht mehr dein Vater?“

„Ein Vater sollte bei uns sein, George“, erwiderte ich so kalt wie möglich, auch wenn es mir schwerfiel. „Er sollte hier sein, wenn Morgan wieder eine Vision hat oder wenn Mom absolut überfordert ist mit allem oder wenn Merric es nicht hinkriegt, den Schrank aufzubauen.“

George lächelte traurig, als er mich ansah. „Jeder braucht mich, nur du anscheinend nicht“, seufzte er. „Du warst immer eigenständig und stark genug. Schon als Kind.“

„Dann lass uns nach Irland fliegen“, beharrte ich. „Du redest immer von unseren Wurzeln, aber du hast uns nie dorthin zurückkehren lassen.“

George zögerte eine Minute, dann nickte er. „Von mir aus. Aber ich werde das mit meinem Vater selbst klären. Ich will nicht, dass ihr am Ende in Dublin am Flughafen steht und niemand euch abholt.“ Er notierte etwas auf seinem Block und ich lächelte leicht.

„Danke, George“, sagte ich und klappte den Laptop zu.

Ich saß noch ein paar Minuten stumm auf Georges Stuhl, dann stand ich auf, um meinen Geschwistern zu berichten, wo wir hinfliegen würden in den Ferien.

6. Dezember 1846

Wir schlafen und wachen seit drei Tagen auf der Straße, zusammen mit zwei anderen Familien aus Mortingdown East. Sie hat es wesentlich schlimmer erwischt als uns. Familie Vailmont hat ihre Tochter wegen Typhus verloren und den Vater gleich hinterher. Ein schlimmes Schicksal.

Ich friere die ganze Zeit, aber wenn Vater fragt, sage ich immer, mir wäre fast schon warm. Ich habe meinen Mantel dem Jüngsten der Vailmonts gegeben, dem sein eigener von einer Gruppe Jungs aus Boston gestohlen wurde. Sie wollen uns alle nicht hier haben ... nicht einmal neben ihren Abfällen.

Es stinkt fürchterlich nach Urin und anderen Exkrementen auf den Straßen und langsam befürchte ich, dass wir hier nicht länger überleben werden als in Irland.

Oh, du schönes Irland mit deinen grünen Hügeln und alten Kirchen, wie sehr vermisse ich dich. Ich würde diese schmutzige Stadt, so grau und hart, sofort gegen dich eintauschen ... wenn ich doch nur könnte.

Vater und Mutter sind tagsüber nicht da. Sie haben sofort eine Arbeit gefunden und auch Sutter zieht durch die Straßen auf der Suche nach einem bezahlten Job. Keighley und ich sind die meiste Zeit alleine mit den Kindern der Vailmonts. Mrs Vailmont sucht auch verzweifelt nach Arbeit, jetzt wo ihr Gatte verstorben ist.

Oh, Himmel, mach, dass wir bald genug Geld zusammenhaben, um eine kleine Hütte zu kaufen. Ich kann nicht mehr.

*

Kapitel 2

Mom verabschiedete uns am Flughafen und wollte uns nicht mehr loslassen. Wir hatten nicht mehr über diese eine Nacht gesprochen. Ich hatte ihr stumm verziehen.

„Meldet euch sofort, wenn ihr angekommen seid“, sagte sie besorgt und zupfte an Morgans Kragen. „Habt ihr mich verstanden? Wenn ich in acht Stunden noch nichts von euch gehört habe, rufe ich die Fluggesellschaft an.“

„Das wird aber ganz schön teuer“, bemerkte Merric, wofür er sofort einen bösen Blick erntete. „Ist ja gut, ich schreib dir.“

„Guter Junge.“ Sie drückte uns allen einen Kuss auf die Stirn, während der letzte Aufruf für unseren Flug durch die Halle schallte. „Los, los, los.“ Wir drehten uns lachend um und winkten ihr noch mal zum Abschied. Sie sah so verloren aus, aber ein paar Tage ohne uns würden ihr bestimmt guttun.

„Hast du die eine Stewardess gesehen?“, flüsterte Merric mir zu, als wir schon eine Stunde in der Luft waren. „Die ist megaheiß.“

„Hast du nicht eine Freundin?“, fragte ich, ohne diese heiße Stewardess überhaupt nur eines Blickes zu würdigen. Ich hatte mir geschätzt zehn Zeitschriften mitgenommen und war jetzt schon mit meiner zweiten durch.

„Ja, schon, aber ich weiß nicht, wie lange das hält.“

„Ihr seid doch erst zwei Wochen oder so zusammen.“ Jetzt klappte ich meine Zeitschrift zu und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Das ist doch gar nichts.“

„Halt du mir keine Beziehungspredigten, Miss Ich-lass-keinen-ran-weil-ich-so-fromm-bin.“ Merric grinste spöttisch.

Ich verdrehte die Augen und las weiter. „Du bist ein Arschloch“, sagte ich trocken, er zuckte mit den Schultern und warf einen Blick auf Morgan, die friedlich am Fenster saß und schlief.

„Denkst du, sie kriegt eine Vision, während wir hier oben sind?“, flüsterte ich und musterte meine Schwester ebenfalls.

„Ich denke nicht“, antwortete Merric leise. „Es ist so: Morgan kriegt oft Visionen, wenn sie etwas anfasst oder in der Nähe der Sache ist, die in ihren Visionen vorkommt.“

„Okaaay ...“

„Aber jetzt sind wir in der Luft“, fuhr er fort, ohne auf mich zu achten. „Wir sind so weit von allem entfernt, wie es geht. Solange sie keine Vision von Gott hat, ist alles gut.“

Ich nickte, aber ich konnte es nicht lassen, meine Schwester kritisch zu mustern, so lange, bis ich selbst einschlief.

Als wir auf unseren Großvater zuliefen, waren wir alle drei hundemüde und, um es zeitgemäß auszudrücken, voll am Arsch. Im Gegensatz zu Merric war ich noch nie in Europa gewesen und der Jetlag haute mich um. Morgan war während der ungefähr acht Stunden zweimal aufgewacht. Jetzt schlief sie friedlich in Merrics Armen. Graham sah genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Relativ groß, weiße Haare, weißer Bart, grimmige Miene. George würde bald auch so aussehen.

In einer Hand hielt er ein Schild mit unserem Nachnamen darauf und in der anderen eine Tüte.

„Hey“, sagte ich, als wir uns gegenüberstanden und uns gegenseitig musterten. „Das sind wir.“ Ich deutete auf das Schild und er ließ es sinken.

„Das sieht man“, war alles, was er sagte. „Vor allen Dingen bei dir“, fügte er hinzu und sah Merric an. Für einen Moment herrschte eine unangenehme Stille, dann reichte er mir die braune Tüte, in der sich Essen befand. „Willkommen in Irland“, murmelte er und drehte sich ohne ein Wort um.

Merric und ich tauschten einen skeptischen Blick, dann folgten wir ihm nach draußen zu seinem Auto. Einem alten, wirklich sehr alten Auto.

„Also, wie lange brauchen wir denn nach Mortingdown East?“, fragte ich, als ich mich auf den Beifahrersitz setzte.

„Ungefähr zwei Stunden“, antwortete Graham und ich konnte nicht verhindern, dass meine Schultern absackten. Ich wollte nur noch schlafen. Hier war es frühmorgens, aber in Boston war es ungefähr ein Uhr nachts. „Iss das“, sagte Graham, der anscheinend meine Gedanken gelesen hatte. „Ich weiß, dass ihr keinen Hunger habt, aber so gewöhnt ihr euch schneller daran. Und ich würde euch empfehlen, heute wach zu bleiben. Wenn ihr direkt schlafen geht, werdet ihr zwei Wochen lang Jetlag haben.“

Gehorsam öffnete ich die Tüte und fand Burger darin. Mir wurde schlecht. Angeekelt entfernte ich die Boulette aus dem Brötchen und biss viermal ab, bevor ich die Tüte nach hinten reichte. Merric weckte Morgan äußerst sanft auf, indem er ihr mit einem Burger vor der Nase herumwedelte. Im Gegensatz zu uns beiden schlang sie das Zeug gierig hinunter. Klar: Sie hatte ja auch die ganze Zeit geschlafen.

„Isst du kein Fleisch?“, fragte Graham mürrisch, weil er gesehen hatte, wie ich meine trockenen Brötchen gegessen hatte.

„Nein“, antwortete ich. „Ich bin Vegetarierin.“

Graham äußerte sich nicht dazu. Er schüttelte nur verständnislos den Kopf, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. Das würde noch lustig werden.

„Wir sind da.“ Grahams laute Stimme weckte mich unsanft. Verschlafen hob ich den Kopf und sah aus dem Fenster. Wir hatten vor einem alten, mit Efeu zugewachsenen, verschneiten Haus gehalten, das von anderen alten, ebenfalls verschneiten Häusern umgeben war. Die Tür war rot und etwas verzogen, genauso wie die Fensterrahmen, aber das erzeugte einen gewissen Charme.

„Ich muss noch weg, also geht schon mal rein“, murmelte Graham, während er die Handbremse anzog. „Unsere Haushälterin wird euch aufmachen und euch Fragen beantworten, insofern ihr welche habt.“

„Danke“, sagte ich und stieg aus dem Auto.

Nachdem wir unser Gepäck aus dem Kofferraum geholt hatten, drückte Graham aufs Gas und war schnell um die nächste Kurve verschwunden.

„Ich find’s schön hier“, sagte Morgan optimistisch, während wir auf dem Bürgersteig standen wie Waisenkinder. „Ist gar nicht so klein, wie ich es mir vorgestellt habe.“

„Du hast auch nur mit ein paar verlassenen irischen Hütten und hier und dort einem Schaf gerechnet, oder?“, zog Merric sie auf.

Morgan zuckte lediglich mit den Schultern. „Ich gebe zu, dass ich mit so viel Zivilisation nicht gerechnet hatte“, bekannte sie und ich verdrehte die Augen, während ich das alte Gartentor aufstieß. „Sondern eher mit extensiver Landwirtschaft oder so …“

„Was hab ich dir zum Thema Fremdwörter gesagt?“

„Ich soll sie nicht benutzen, weil ich erst zwölf bin“, antwortete Morgan mir und ich nickte.

„Sehr richtig.“

„Das ist ein bisschen rückständig, findest du nicht?“, murmelte Merric in mein Ohr, als wir den kleinen, gepflasterten Weg durch den Garten entlanggingen.

„So benimmt sich kein Kind“, erwiderte ich. „Ich will ja nur, dass sie sich etwas angemessener für ihr Alter verhält.“

Bevor ich klopfen konnte, wurde die rote Tür bereits geöffnet und eine kleine, aber zierliche Frau grinste uns an. Sie war ungefähr 50, sah aber fit und sportlich aus. Sie hatte kurz geschnittenes braunes Haar mit ein paar grauen Stellen darin und warme haselnussbraune Augen, um die herum sich ein paar niedliche Lachfalten befanden.

„Ihr müsst Merric, Alexis und Morgan sein, richtig?“

„Alex“, korrigierte ich sie. „Nur meine Mom nennt mich Alexis, weil die Leute sonst immer denken, ich sei ein Junge.“

Die Frau lachte laut und schnappte sich sofort Morgans Koffer. „Dann bist du wohl die junge Dame mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten, stimmt’s?“ Sie zwinkerte Morgan zu, die genauso verdutzt aus der Wäsche schaute wie Merric und ich auch. „Oh, nehmt es mir nicht übel, dass ich so offen mit dem Thema umgehe“, sagte die Frau daraufhin. „Seit zwanzig Jahren lebe ich mit diesen Visionen und sie sind mittlerweile Alltag geworden.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Merric misstrauisch und die Frau merkte, dass wir das alles andere als alltäglich fanden.

„Na, ich rede von eurer Großtante Nara“, sagte sie und war jetzt genauso verwirrt wie wir, weil wir noch nie etwas von einer Großtante Nara gehört hatten. „Die jüngere Schwester eures Großvaters. Sie hat schon seit ihrem sechsten Lebensjahr Visionen.“ Wir starrten einander ungläubig an, bis die Frau sich räusperte. „Nun ja, lasst uns erst mal reingehen, nicht wahr? Es ist verdammt kalt draußen.“

Benommen betraten wir das Haus, und sobald die Tür geschlossen war, wurde uns schlagartig warm.

„Wir beheizen das ganze Haus mit Öfen“, erklärte die Frau. Sie wollte vorneweg gehen, blieb dann aber auf einmal stehen und drehte sich erschrocken zu uns um. „Mein Gott, ich habe total vergessen mich vorzustellen bei dem Trubel! Ich bin Miss Winterhall, passend zum Wetter.“ Sie lächelte uns warmherzig an und Merric und Morgan folgten ihr in die Küche, während ich kurz innehielt und das Haus bestaunte.

Es war größer, als es von außen ausgesehen hatte. Direkt vor mir führte eine breite Treppe nach oben, die sehr an alte Herrenhäuser erinnerte, und von der Decke baumelte ein riesiger Kronleuchter, der nur wenig brachte. Es war generell sehr dunkel in diesem Flur.

Merric räusperte sich und holte mich aus meiner Starre. Langsam folgte auch ich der Gesellschaft in die Küche.

„Also“, begann ich, während Miss Winterhall einen Tee aufsetzte, „diese Nara ... wo ist sie?“