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Was bleibt, wenn das Gedächtnis schwindet? Katharina Donato ist eine Frau, die mit Worten lebt - und mit Worten kämpft. Die Diagnose Alzheimer bringt ihr Leben aus dem Gleichgewicht, doch trotzdem hält sie daran fest, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Fragmentarisch, tastend, zärtlich. Sie blickt zurück auf ihre Kindheit, auf familiäre Verstrickungen, auf Liebes- und Lebensentscheidungen, die sie geprägt haben. "Mosaik - Vom Leben, Schreiben und Verschwinden" ist ein literarischer Roman über die Suche nach Identität, über das Altern in Würde und die Kraft des Erzählens. Ein Buch, das Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt - und dabei die leisen Töne des Erinnerns hörbar macht. Für alle, die sich mit dem Thema Demenz auseinandersetzen - persönlich, beruflich oder literarisch. Und für alle, die wissen: Das Leben ist nicht linear, sondern ein Mosaik aus Momenten.
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Prolog
1. Kapitel – Aus Verzweiflung werden Geschichten
2. Kapitel – Spurensuche mit Mama
3. Kapitel – Zufrieden
4. Kapitel – Gesprächsversuch mit Papa, Josef (Sepp)
5. Kapitel – Flashback
6. Kapitel – Unausgesprochenes
7. Kapitel – Katharinas Brief
8. Kapitel – Die ersten Jahre
9. Kapitel – Bedürfnisse ansprechen
10. Kapitel – Käthi in der 1.–3. Klasse
11. Kapitel – Schicksalsschlag im Schatten des Buches
12. Kapitel – Ein Lichtblick?
13. Kapitel – Zurück auf Feld eins
14. Kapitel – Wieder Spital
15. Kapitel – Die Besenkammer
16. Kapitel – Schreiben
17. Kapitel – Reha
18. Kapitel – Nicht lebensbedrohlich
19. Kapitel – Verzweiflung
20. Kapitel – Zurück zur Zuversicht
21. Kapitel – Der See
22. Kapitel – Frieden
23. Kapitel – Käthi, 4.–6. Klasse
24. Kapitel – Sekundarschule, 13–16 Jahre alt
25. Kapitel – Unterseminar
26. Kapitel – Eine neue Situation
27. Kapitel – Das Gespräch
28. Kapitel – Erkenntnisse
29. Kapitel – Austauschjahr USA 1972/73
30. Kapitel – Unterschiedliche Wahrnehmungen
31. Kapitel – Sinnlos – oder doch nicht?
32. Kapitel – Elmar
33. Kapitel – Sebastian
34. Kapitel – Die Zäsur
35. Kapitel – Gewissheit
36. Kapitel – Ein guter Plan
37. Kapitel – Schreiben im Chalet am See
38. Kapitel – Seraina
39. Kapitel – Verschnaufpause
40. Kapitel – Pläne
41. Kapitel – Das Foto
42. Kapitel – Der Umzug
43. Kapitel – Es ist der richtige Titel
44. Kapitel – Marius
45. Kapitel – Die letzten Tage am See
Epilog – Ein Jahr später
Katharina war eine Kämpferin. Drei Kinder grossgezogen, ein Geschäft aufgebaut. Geschieden, aber längst abgehakt. Klein, burschikos, voller Energie. Ihr Leben? Erfüllt. Arbeit, Natur, Berge – dauernd in Bewegung, immer ein Ziel. Jetzt, mit 64, war alles bereit: Die Töpferei in den Händen der Tochter, die Pension ein Versprechen auf Freiheit. Die nächsten Gipfel warteten.
Doch das Leben hatte andere Pläne. Die Hüfte – kaputt. Schmerzen. OP. Hoffnung. Und dann das Knie. Wieder Operationen, erneut Probleme. Arthrofibrose, sagten die Ärzte und sahen sie an, als sei es ihre Schuld. »Vielleicht wollen Sie Ihr Knie nicht beugen.«
Ihre Freunde? Jeder ein Experte. Zweifel kämpften gegen Entscheidungen, sie trat an Ort.
»Warum ich? Warum immer wieder ich?« Das Leben, das sie so sicher geglaubt hatte, brach ein – Stück für Stück, so wie ihr Körper. Doch Katharina war nicht die Frau, die sich in Selbstmitleid verlor. Nicht sie, die stets Lösungen fand. Exit – ein Gedanke, der lockte. Aber aufgeben? Noch nicht. Es musste einen anderen Weg geben.
»Warum geht bei mir jede Operation schief, weshalb werde ich so brutal gebremst?« Katharina hatte sich das schon oft gefragt, aber heute klang es anders. Schärfer, pochend. Es fühlte sich nicht mehr wie eine blosse Beschwerde an, sondern wie eine brennende Frage, die endlich eine Antwort verlangte. »Jedes Mal denke ich, ich bin in guten Händen. Und dann passiert irgendwas, was ich nicht verstehe. Und plötzlich behandeln sie mich, als wäre ich schuld daran.« Sie hinkte unruhig durch den Raum, die Krücken unter den Armen, als könnte Bewegung ihre Gedanken klären.
Dann stoppte sie abrupt. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Vielleicht lag die Antwort nicht in den Händen der Ärzte, nicht in den Missgeschicken im OP-Saal. Vielleicht lag sie tiefer.
»Die Antwort liegt in mir.« Diese plötzliche Klarheit überraschte sie: Alles drehte sich um ihre Geschichte, ihre Vorfahren, ihre Jugend. Nicht die Schuld der Ärzte oder eine Verkettung unglücklicher Umstände. »Ich muss mein Leben verstehen, was passiert ist, was verhindert wurde. Was meine Eltern erlebt haben. Was mich geprägt hat.« Sie setzte sich an den Schreibtisch, die Krücken achtlos zur Seite gestellt. »Wenn ich alles aufschreibe, erkenne ich endlich die Muster. Vielleicht kann ich so herausfinden, warum ich diese Krücken nicht mehr loswerde. «Katharina sass gedankenverloren am alten Bürotisch in ihrer Werkstatt. Starr blickte sie auf das eigens für ihr Schreibprojekt gekaufte Notizbuch. Sie hatte es sich einfach vorgestellt, war euphorisch, die verschiedenen Lebensgeschichten aufzuschreiben. Doch nun, vor dem leeren Papier sitzend, fühlte sie sich überfordert. Kein Anfang, kein roter Faden, nur ein wildes Durcheinander von Erinnerungen, die sich nicht ordnen liessen. Sie setzte den Kugelschreiber an, dieser blieb an Ort. Machte einen dicken, dunkelblauen Punkt.
Schreiben war ihr immer leichtgefallen, alles kein Problem. Jetzt sprudelten die Erinnerungen nicht, das war irritierend. Wie schreibt man überhaupt ein Buch, wo beginnt man? Sie hatte sich vorgestellt, Kapitel für Kapitel zu erschaffen, Lebensbilder zu zeichnen, um langsam ihrem Kern, ihrem Innersten zu begegnen. Sie schüttelte heftig den Kopf. Was wollte sie eigentlich? Sie stand auf und ging zum Fenster, schaute hinaus auf die blühenden Wiesen. Vielleicht, dachte sie, würde es ihr am Laptop leichter fallen. Sie war keine schnelle Schreiberin, das Tippen war langsam, mühsam. Aber vielleicht war das genau richtig. Ihre Langsamkeit konnte sie nutzen, um ihre Gedanken zu ordnen. Mit einem Seufzer kehrte sie in die Gegenwart zurück. Katharina wusste, dass es kein Patentrezept für das Schreiben ihrer Lebensgeschichte gab. Sie musste einen Weg finden, der ihr ganz allein gehörte, fernab von Ratschlägen und gut gemeinten Empfehlungen.
Entschlossen setzte sie sich wieder an den Schreibtisch, klappte den Laptop auf, wartete, bis der Bildschirm aufleuchtete, und tippte das Passwort ein. Sie eröffnete ein neues Dokument, ihre Finger schwebten über der Tastatur – nichts. Einfach nichts.
Sie versetzte dem Bürostuhl einen Schwung und drehte sich im Kreis. Ein Geistesblitz. Fotos! Ein Hilfsmittel, um ihre Gedanken auf die Sprünge zu helfen. Sie erhob sich und öffnete den Schrank gegenüber. Fotobücher, Alben, durcheinandergeworfene Erinnerungen in alten Schachteln. Sie kramte etwas in der Schachtel und zog ein Foto ihrer Mutter heraus. Ihre Mutter, jung, mit einem Lächeln, das die Zeit überdauert hatte. Plötzlich hatte sie ein inneres Bild vor Augen. Sie selbst, die Katharina von damals, 41 Jahre alt. Es war der Zeitpunkt, wo sie entschieden hatte, sich nicht mehr Käthi zu nennen, sondern Katharina.
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Eltern besucht hatte, um nach Antworten zu suchen. 41 Jahre alt, aus dem Jetzt heraus schien ihr das so unglaublich jung. Sie war zu jener Zeit eine erfolgreiche, angesehene Geschäftsfrau, aber innerlich zerrissen und oft mit der ganzen Situation überfordert. Eine schwierige Ehe, drei Schulkinder, eine eigene Töpferei, zuständig für alles. Inmitten dieses Chaos hatte sie sich spontan entschieden, ihre Eltern in Zürich zu besuchen. Die drei Kinder waren mit dem Vater zu ihrer Schwiegermutter nach Deutschland gefahren, sie hatte also ein paar freie Tage. Der Besuch in Zürich war eine Flucht, aber auch eine Suche nach Antworten. Sie wollte mit ihrer Mutter über die Beziehung zu ihren Geschwistern, die Grosseltern, die Ehe ihrer Eltern und ihre eigene Kindheit sprechen. Eine kleine Hoffnung hatte sie beseelt, dass auch ein Gespräch mit ihrem Vater möglich sein würde. Antworten auf Fragen, die sie kaum zu stellen wagte.
Ein Schluck Wasser. Mit diesen Erinnerungen, diesen Gesprächen musste sie starten, das würde der Anfang ihres Buches werden!
Sie begann zu tippen, zögernd zuerst, dann flüssiger.
Zürich, 1996
Eine vertraute Umgebung, ein altbekannter Geruch, ich war 41 Jahre alt. Wie einst als Kind sass ich am kleinen Küchentisch meiner Mutter. Meine Finger spielten nervös mit der leeren Kaffeetasse. Ich betrachtete den Griff, der mit einem eleganten Schwung, aber nicht ganz senkrecht an der Tasse befestigt war. Meine Güte, wie verletzt war ich gewesen, als Papa mich deswegen ausgeschimpft hatte! Ein ganzes Kaffeeset hatte er bestellt, und ich hatte mir so viel Mühe gegeben. Es war in meinen Augen wunderschön geworden, ich war stolz gewesen, ihm etwas so Kostbares töpfern zu dürfen. Und wegen dieser kleinen Abweichung der Senkrechten, der Verletzung der väterlichen Perfektion, hatte er ein solches Drama gemacht. Zum Glück war er jetzt in der Werkstatt und würde uns bei unserem Gespräch nicht stören.
Mein Blick löste sich von der Kaffeetasse. Meine Mutter, eine zierliche Frau mit etwas angegrauten Haaren und schmalen Schultern, stand am Herd und rührte gedankenverloren in einem Topf. Ich beobachtete sie, wie sie sich bewegte, fast so, als wäre nichts seit meiner eigenen Kindheit anders geworden. Doch meine Kindertage waren vorbei. Vieles hatte sich verschoben, manches zementiert. Und ich war Katharina, nicht mehr das kleine Käthi. Erwachsen und mit eigenen Fragen im Gepäck.
Wir hatten beide gewusst, dass dieses Gespräch längst überfällig war, doch niemand wollte beginnen.
Ich gab mir einen Ruck, ich war nicht zum Schweigen hergekommen.
»Mama, komm, setz dich zu mir, ich möchte ein paar Dinge von dir erfahren.«
Meine Mutter drehte sich um. »Ja, sicher, die Tomatensauce ist sowieso fertig.« Sie setzte sich auf das Taburettli neben mir und rückte näher. »Also, schiess los.«
Ich atmete tief ein, entschied mich für den sanften Einstieg. »Erzähl mir von deinem Vater. Ich bedaure es so, dass ich meinen Grossvater nie kennengelernt habe.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Ach, mein Vater … ein wunderbarer Mann. So gütig, so selbstlos. Er hat immer an andere gedacht, immer geholfen, wo er nur konnte. Als Gemeindepräsident war er geschätzt, als Vater haben wir ihn geliebt. Es gab niemanden, der so wie er war.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Das klingt jetzt schon nach einem sehr idealisierten Bild, dein Vater war ja fast ein Heiliger!«
»Für mich war er das«, sagte sie bestimmt. »Dabei hatte er eine schwierige Jugend; schon früh starb seine Mutter. Mit sieben Jahren musste er seinen Vater und seine grossen Brüder verlassen.«
»Das tönt dramatisch, erzähl von Anfang an!«
Sie sprach ruhig weiter.
»Da muss ich weit zurückgehen, damit du den Zusammenhang verstehst. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte in manchen ländlichen Gegenden der Schweiz grosse Armut. Viele junge Bauern hatten es schwer und wanderten nach Übersee aus, besonders nach Amerika. Sie träumten alle von einem besseren Leben, aber die Realität war hart.«
Ich unterbrach sie: »Wann war das?«
»Um 1880 brachte ein Schiff der Holland America Line eine grosse Gruppe von jungen Bündnern nach Amerika. Mit dabei war mein Grossvater, der unterwegs ein Mädchen aus einem anderen Dorf kennenlernte. Sie verliebten sich auf der Reise, heirateten später in Amerika. Mein Grossvater studierte Theologie und wurde Priester, seine Frau bekam vier Kinder. Ihr drittes Kind war mein Vater. Er wurde 1889 in Indiana geboren. Als seine Mutter 1893 starb, stand der Vater plötzlich allein und mittellos mit vier kleinen Kindern da.«
»Weshalb mittellos? War das Gehalt als Pfarrer so klein? Und warum ist seine Frau gestorben?«
»Wahrscheinlich starb sie an Krebs. Mein Grossvater hatte alles Geld für ihre Behandlung ausgegeben. Er sah wohl keinen anderen Ausweg, als seine Kinder innerhalb seiner Familie zu verteilen. Die älteren Kinder gab er einem Bruder in North Dakota, und 1896 schickte er die jüngeren zwei, meinen Vater und seine Schwester, allein auf die sechs Wochen lange Schiffsreise zurück in die Schweiz.«
»Das ist ja furchtbar! Dein Vater war erst sieben! Hat er je darüber gesprochen?«
Ein tiefer Seufzer.
»Nicht viel. Er hat alles im Leben angenommen oder vielleicht auch verdrängt, immer pragmatisch. Er hat nur über Fakten gesprochen, nie Gefühle erwähnt. Ich weiss, dass er und seine kleine Schwester ein Schild um den Hals trugen, mit ihrem Namen und der Adresse, wo sie hinmussten.«
»Und konnten die Geschwister wenigstens zusammenbleiben?«
»Leider nicht. Mein Vater kam zu einem Onkel ins Prättigau, Lydia zu einer Tante in Zürich. Ob sie danach noch Kontakt untereinander hatten, weiss ich nicht.«
Sie erzählte weiter von der Ausbildung, seiner Arbeit als Bahnangestellter im Engadin. Hier lernte mein Grossvater meine Grossmutter kennen – eine kleine, magere Frau aus dem Zürcher Unterland, die sich in diese einsame, schweigsame Person verliebte.
Das Bild meines Grossvaters als ein stiller, aber starker Mann begann sich für mich zu festigen. Ein Mensch, der viel durchgemacht hatte, aber nie seinen Mut verlor, der sich um seine Familie kümmerte und seine schwierige Kindheit nie zum Thema machte.
»Und deine Eltern, lebten sie glücklich?« Mama hielt kurz inne. »Es war ein hartes Leben«, antwortete meine Mutter nachdenklich. »Deine Nona war nie wirklich heimisch im Engadin. Sie fühlte sich einsam, isoliert in einem Dorf, wo kaum jemand deutsch sprach und sie selbst nie romanisch lernte. Trotzdem hatte sie alle Hände voll zu tun mit vier Kindern und einem Haushalt, der keine modernen Annehmlichkeiten kannte. Kein fliessendes Wasser, nur ein Kachelofen – sie musste für alles das Wasser draussen am Brunnen holen, selbst im Winter. Ich erinnere mich noch gut an den Anblick der steifgefrorenen Bettlaken!«
»Das klingt schrecklich einsam.« Das Schicksal meiner Nona berührte mich. Mama sah an mir vorbei, sie war in die Vergangenheit eingetaucht. Wir schwiegen beide.
Ich unterbrach die Stille: »Habt ihr Kinder mit den anderen spielen dürfen? Ihr habt ja in eurer Familie kein romanisch gesprochen, da seid ihr Kinder sicher Aussenseiter gewesen.«
»Das vermutest du korrekt. Vor der Schulzeit hat sich wirklich alles nur um unsere Familie gedreht. Wir hatten uns vier Geschwister, das reichte. Es gab so viel zu tun: im Haushalt anpacken, Wasser holen, ich als einziges Mädchen sowieso immer vorne mit dabei. Aber ich habe gerne mitgeholfen. Und wie ich auf die Schule gewartet hatte! Kindergarten gab es keinen. Die Schule war im Nachbarort. Viermal am Tag hin und zurück, eine halbe Stunde pro Strecke. Andere Kinder hatten Fahrräder. Wir nicht, es war zu teuer. Ich liebte die Schule, kam mit den anderen Kindern gut zurecht. Ich wollte gut sein, für meinen Lehrer Rödel, mit seiner Pfeife. Ich mochte den Geruch seines Tabaks. Wenn ich ehrlich bin – ich war ein bisschen in ihn verliebt.«
Diese Rückblende brachte sie zum Schmunzeln.
»Und die Sommerferien? Vier Monate!«
»Du glaubst es nicht, aber die fand ich schrecklich langweilig. Wir waren keine Bauern, keine Heuernte. Alle anderen Kinder hatten zu tun, nur wir nicht.«
»Und im Winter?«, hakte ich nach. »War der Schulweg dann nicht besonders hart?«
»Da durften wir mit dem Zug fahren. Unser Vater war Bahnhofsvorstand, wir hatten günstige Billette. In unserem Schulzimmer war ein grosser Kachelofen, den Lehrer Rödel vor Schulbeginn einheizte. Am Nachmittag mussten wir alle zu Fuss nach Hause, weil kein Zug mehr fuhr. Es war fast schon dunkel, wenn wir endlich ankamen. Aber manchmal kam ein Pferdeschlitten vorbei, und dann durften wir aufspringen. Doch wenn es richtig stürmte, konnten wir im warmen Schulzimmer auf den Abendzug warten. Der Lehrer blieb dann auch länger, und wir machten unsere Hausaufgaben.«
»Du warst eine gute Schülerin, wolltest du keinen Beruf lernen?«
Mama zuckte mit den Schultern. »Ich durfte ins Töchterinstitut. Da lernte ich kochen, putzen, waschen. Als Vorbereitung für die Ehe, damit ich eine gute Hausfrau sein konnte. Eigentlich wollte ich Kindergärtnerin werden, aber das Geld reichte nur für ein halbes Jahr im Seminar. Die Lehrjahre für meine Brüder waren wichtiger, die drei konnten alle einen Beruf abschliessen. Aber mit dem halben Jahr Kindergärtnerinnenseminar war es mir möglich, mich als Kinderfräulein zu bewerben.«
»Ich bin froh, dass diese diskriminierenden Zeiten vorbei sind!«
»Ja, klar, aus der heutigen Sicht stimmt dies sicher, die Mädchen waren im Nachteil. Aber es war einfach so, das habe ich ohne Murren akzeptieren können, es ging ja allen Mädchen gleich. Meine erste Stelle als Kindermädchen war in Basel. Da verliebte ich mich in einen jungen Arzt, wir wollten heiraten. Meine Mutter riet mir davon ab, er war katholisch. Noch heute denke ich manchmal an ihn zurück.« Sie stockte. »Was wäre wohl aus meinem Leben geworden, wenn ich jetzt Arztgattin wäre? Im Sekretär habe ich immer noch eine Fotografie von uns!« Mama holte tief Luft, wahrscheinlich betrachtete sie heimlich das Bild, wenn niemand zuhause war. Ich musste ein Schmunzeln unterdrücken, fand diesen Gedanken aber zu intim, um sie danach zu fragen.
»Zurück zu deinem Vater. Ich habe ihn ja nie kennengelernt. Wann ist er gestorben und weshalb?«
»1948, da war er 59 Jahre alt. Plötzlich. Einfach so. Bauchschmerzen hatte er schon lange, aber das hat er nie jemandem gesagt. Wahrscheinlich Bauchspeicheldrüsenkrebs. Es war für alle ein Schock. Meine Mutter sollte danach rasch aus dem Bahnhof ausziehen, die Wohnung musste für einen neuen Bahnhofvorstand geräumt werden. Ich arbeitete seit zwei Jahren als Kindermädchen in Basel. So kündigte ich diese Anstellung und half meiner Mutter, wieder nach Zürich zu ihren Verwandten zu ziehen. Ich fand eine Stelle als Schwesternhilfe im Kreisspital Rüti, von wo aus ich meine Mutter oft besuchen konnte.«
»Du hast dein Leben für deine Mutter aufgegeben? Vielleicht wollte sie deshalb nicht, dass du in Basel heiratest – die Religion war doch nur ein Vorwand, oder?«
»Das stimmt nicht!« Sie winkte ab, als wollte sie die Idee von sich schieben. »Ohne meine Hilfe wäre sie verloren gewesen. Es war selbstverständlich, dass ich bei ihr war, ich machte dies freiwillig. Später hat sie mich unterstützt bei meinem Vorhaben, mich für ein halbes Jahr als Kinderfräulein in London zu verpflichten. Allein schon die Entscheidung zu treffen, dahin zu gehen, hat Mut gekostet. Ich war schüchtern, immer zurückhaltend. Aber die englische Familie war lieb. Wir haben noch lange Kontakt gehalten.«
Ihre Augen leuchteten bei der Erinnerung auf. »Zurück in der Schweiz habe ich dann diese Anzeige gesehen – eine Hoteliersfamilie suchte ein Kindermädchen in den Glarner Bergen. Drei Kinder, ein autofreies Dorf. Nach London, dieser lauten Stadt, klang das wie ein Traum.«
»Da warst du doch schon 28! Die meisten Frauen in deinem Alter hatten längst geheiratet. Hat dich das nie verunsichert?«
»Natürlich hab ich mir gewünscht, eine Familie zu gründen. Aber ich bin nie aktiv auf Menschen zugegangen, nach der Erfahrung mit Otto aus Basel war ich Männern gegenüber blockiert. Mit Kindern, da fühlte ich mich sicher. Ich war fröhlich, hab viel gesungen, war in der Natur unterwegs, wandern, Ski fahren – das war mein Ding. Diese Stelle in den Bergen war somit perfekt.«
Das nächste Thema schwebte schon in der Luft. Ich versuchte es beiläufig: »Und wie hast du dann Papa kennengelernt?«
Meine Frage brachte sie zum Lachen. »Das ist eine längere Geschichte. Also: Der Bruder meines Arbeitgebers besass auch ein Hotel, nur ein paar Hundert Meter von uns entfernt. Eines Tages kam die Frau dieses Bruders zu mir und fragte, ob ich noch zwei weitere Kinder mitbetreuen könnte. Der Vater der Kinder musste zurück in die Stadt, ein Geschäftsmann, Witwer. Die Kleinen – Lisa und Philipp – waren erst zwei und vier Jahre alt, und die Familiensituation war schwierig. Elf Kindermädchen hatten sie schon durch, und niemand blieb lange.«
»Elf?« Ich konnte es kaum glauben.
»Ja, elf! Ich stimmte zu, ich wollte helfen. Plötzlich hatte ich fünf kleine Kinder. Das war oft schwierig, aber das spielte keine Rolle, das war meine Arbeit, für die ich bezahlt wurde. Der Vater kam immer an den Wochenenden vorbei, und wir haben uns mit der Zeit angefreundet. Er war Witwer, hatte viel zu tun in seinem Geschäft in Zürich. Nach ein paar Wochen bat er mich, zu ihm in seine Wohnung zu ziehen, als Kindermädchen und Haushälterin für einen guten Lohn. Aber ich, … ich war glücklich in den Bergen. Ich wollte nicht in die Stadt ziehen.«
»Wie konnte er dich dann trotzdem überzeugen?«, fragte ich, weil ich es nicht verstand. »Du wolltest doch nie in die Stadt!«
»Ganz simpel, wir haben uns verliebt«, beteuerte sie und zuckte mit den Schultern, als wäre das die einfachste Erklärung der Welt. »Er machte mir einen Heiratsantrag und nach einem Vierteljahr hab ich zugesagt. Ich bin als seine Frau und Stiefmutter der Kinder zu ihm nach Zürich gezogen. Er war sehr offen, hat mir gleich gesagt: An erster Stelle kommt das Geschäft, dann die Kinder, und dann ich. Doch ich musste nicht lange überlegen. Ich war 29 Jahre alt, nach Massstäben der 50er-Jahre bereits eine alte Jungfer. Meine Mutter hat sich über meinen sozialen Aufstieg als Gattin eines Fabrikanten gefreut und mich ermuntert, dass dies der richtige Schritt sei. Sepp war 8 Jahre älter als ich, mit 37 Jahren ein reifer Mann. Ich wusste, Gott würde mir für meine Aufgaben beistehen!«
»Aber du wolltest doch nie in eine lärmige Stadt, du warst so naturverbunden!«, warf ich ein.
Da brach es wie ein Felssturz aus ihr heraus: »Ja, es war schwer. Die Stadt? Furchtbar. Alles war laut, hektisch. Und die Verantwortung! Die Kinder waren schwierig, vor allem die Älteste, Lisa. Sie hat mich lange nicht akzeptiert, war rebellisch. Philipp dagegen … Ach, Philipp, der hatte solch ein sonniges Gemüt. Ihn hab ich sofort ins Herz geschlossen. Er war ja noch so klein, als seine Mutter starb. Er hatte keine Erinnerung.«
Sie schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Und Papa. Der hat praktisch nur gearbeitet. Die Metallwerkstatt befand sich im Nebengebäude von unserer Wohnung, der Arbeitsweg von ihm war somit nur eine Minute. Der Tagesablauf war streng durchgetaktet. Morgens um 6:30 Uhr startete sein Tag in der Werkstatt. Punkt 7:15 Uhr: Frühstück. Der Kaffee musste genau die richtige Trinktemperatur haben, sonst – stell dir das vor – hat er ihn demonstrativ in den Unterteller gegossen, damit er schneller abkühlte! Er schlürfte ihn dann in kleinen Schlucken daraus. Das Mittagessen hatte pünktlich um 12:15 Uhr bereit zu sein. Am Tisch war auch für Lisa und Philipp Sprechverbot, denn Papa wollte die Nachrichten hören und danach zum Kaffee in Ruhe die Zeitung lesen. Um 13 Uhr verschwand er wieder in die Unterwelt, wie ich die Werkstatt scherzhaft nannte. Auch nach dem Nachtessen ging er wieder zur Arbeit und kam meistens erst um 22 Uhr ins Bett.
Ich gab mir Mühe, machte es so gut, wie ich konnte. Unermüdlich geputzt, genäht, gekocht, gewaschen. Das Wort ›Stiefmutter‘ hab ich aus meinem Kopf verbannt. Und irgendwie … war ich glücklich. Sepp hatte mir von Anfang an gesagt, es würde nicht leicht werden, und damit konnte ich umgehen.«
»Das Glücklichsein kann ich mir schwer vorstellen, er war sicher schon damals nicht der aktivste Gesprächspartner. Und du hast ja dauernd nur gearbeitet und alles gemacht, was er wollte. Die durchgetakteten Mahlzeiten und der trinkfertige Kaffee, das sind ja schreckliche Geschichten. Ich frage mich wirklich, wie du das damals alles geschafft hast.»
»Weisst du, ich hatte meine Aufgabe mit Haushalt und Kindern. Ich habe nie gehadert, sondern mich damit abgefunden, dass ich meinen Ehemann nicht ändern konnte. Zudem bin ich kurz nach der Hochzeit mit dir schwanger geworden, meine Freude war unbeschreiblich gross. Zwar stellten sich mir viele Fragen, ich sah mit Sorge auf die kommende Zeit. Wie wird das wohl sein, ein eigenes Kindlein und zwei Stiefkinder? Werde ich allem gewachsen sein? Ich gab Sepp und auch mir selbst das Versprechen, nie einen Unterschied zu machen und alle drei Kinder gleich gern zu haben.«
Das Schreiben am Computer schien eine Brücke zu bauen zwischen Katharinas Gedanken und den Worten, als gäbe der Bildschirm ihnen den nötigen Raum, sich zu entfalten. Je mehr sich die Seiten füllten, desto besser fand sie ihren Rhythmus. Die Erinnerungen in Mutters Küche sprangen von einem Moment zum nächsten, formten eine Geschichte, die sie endlich festhalten konnte. Es war nicht perfekt, aber es war ein pulsierender, lebendiger Anfang. Mehr, als sie sich an diesem Nachmittag erhofft hatte. Doch was konnte sie wirklich daraus mitnehmen? War Mama ein guter Mensch, aufopfernd, liebevoll gewesen? Oder eher eine stumme Dulderin, die das Schicksal einfach hingenommen hatte? War es Pragmatismus – oder schlicht Unterwerfung? Katharina spürte ein Ziehen in der Magengrube. Es erinnerte sie an ihre eigene Ehe. Keine Gespräche, kein wirklicher Austausch. Nicht einmal ein richtiger Streit war jemals möglich gewesen. Nur Stille. Bis ihr das Schweigen zu viel wurde, und sie als Friedensangebot ihre Schuld eingestand. Dann war Elmar zufrieden, es wurde nicht mehr darüber gesprochen.
Noch einmal las sie das neue Kapitel. Der rote Faden würde sich mit der Zeit sicher ergeben, dessen war sie überzeugt. Dann offenbarten sich auch die Verbindungen zu ihr selbst. Ein vielfarbiges, lebendiges Mosaik würde entstehen – Stein um Stein zusammengesetzt, bis sie ihr Leben vollständig vor sich sah und endlich alles verstand. Zufrieden speicherte sie das Dokument unter dem schlichten Titel »Mosaik« und klappte den Laptop zu. Für heute war genug getan – sie hatte einen wichtigen Schritt geschafft.
Doch in der Nacht, als die Welt um sie herum still wurde, konnte sie nicht schlafen. Die Dunkelheit war wie eine leere Leinwand, auf der ihre Gedanken wilde Muster malten. Immer wieder schrieb sie im Kopf Sätze um, neue Dialoge kamen ihr in den Sinn. Doch sie war zu müde, um wieder aufzustehen und diese einzutippen. Die Einfälle festzuhalten, das musste bis morgen warten. Schlaf jetzt! Doch es drehte sich weiter, schlafen auf Befehl, das funktionierte nicht. Wie konnte sie anknüpfen an die lebhafte Unterhaltung mit ihrer Mutter? War es nun Zeit für den Wortwechsel mit ihrem Vater? Papa war immer ein zäher Gesprächspartner gewesen, stur und wortkarg. Viel Spannendes konnte sie aus diesem Dialog nicht hervorzaubern, das würde eine wahre Knacknuss sein.
Katharina wälzte sich hin und her. Endlich setzte sie sich entschieden auf. So war es, sie musste unverzüglich weiterschreiben, diesen Strom an Gedanken nutzen, bevor er versiegte.
Laptop aufklappen, tippen. Die Worte flossen, die Geschichte lebte, und Katharina wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war.
Nach dem offenen Gespräch mit Mama war ich überzeugt, dass ich den Mut hatte, auch Papa zum Reden zu bringen. Er war schon immer wortkarg gewesen, man musste bei ihm den richtigen Moment abpassen. Wenn er nichts preisgeben wollte, behauptete er, er könne sich nicht mehr erinnern.
Einige Zeit nach dem Nachtessen nahm ich all meinen Mut zusammen und versuchte, ein Gespräch in Gang zu bringen. Ich hatte mir eine Strategie zurechtgelegt.
Wie bei meiner Mutter wollte ich mit leichter Kost beginnen.
»Wie du mir erzählt hast, war deine Jugend recht unbeschwert. Hast du dich mit deiner Schwester Lucie gut verstanden?«, fragte ich beiläufig.
Papa nickte. »Ja, wir haben vieles zusammen unternommen, sie war nur ein Jahr jünger als ich. Wir wohnten in der Stadt Zürich, so gingen unsere Eltern oft ins Theater oder in die Oper. Wir waren auf uns gestellt und wuchsen in einem sehr freien Umfeld auf. Aber an meine Jugend habe ich eigentlich nicht mehr viele Erinnerungen«, antwortete er bereits etwas abweisend. Ich glaube, er war auf der Hut, ahnte längst, dass meine Fragen persönlicher werden würden.
»Du bist Feinmechaniker geworden wie dein Vater. War das dein Wunschberuf, oder hast du dich genötigt gefühlt, weil du einmal das Geschäft übernehmen musstest?«, fragte ich weiter.
Papa zuckte die Schultern. »Solche Überlegungen hat man sich damals gar nicht gemacht, es hat einfach gepasst. Ich lernte ohne viel zu überlegen Feinmechaniker an der Metallarbeiterschule in Winterthur, genau wie mein Vater. Nach der Schule, wenn ich nach Hause kam, arbeitete ich abends jeweils im Geschäft meines Vaters, das stetig wuchs. So war meine Mitarbeit auch während der Ausbildung dringend nötig. Aber alles änderte sich mit dem Krieg. 1940 hat man mich zum Aktivdienst eingezogen.«
»Aber der Krieg begann ja 1939, nicht 1940?«, fragte ich skeptisch.
»Ja, das stimmt, aber 1939 hatte ich noch zu wenig Brustumfang. Man konnte solch ein schmächtiges Bürschchen wie mich nicht brauchen.« Papa verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln.
Ich wollte mehr erfahren. »Und im Aktivdienst, was hast du da erlebt? Warst du an der Front oder hast du dich gelangweilt? Ich kann mir die Schweiz im Krieg nicht recht vorstellen.«
»Es war eine Zeit mit guter Kameradschaft und Zusammenhalt. Wir haben uns oft nach dem Kriegsende an Kompanieabenden getroffen. Sonst gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte Papa knapp.
Ich dachte nur: Bitte Papa, ein bisschen mehr Offenheit, ich will dir nicht alles aus der Nase ziehen müssen!
Ich runzelte die Stirn. »Du bist kein besonders offener Gesprächspartner!« Ob er mir die nächste Frage übelnahm? »Aber kannst du mir mehr über Barbara erzählen, deine erste Frau?«
Papa seufzte, bevor er fortfuhr. »Ja, nach Kriegsende lernte ich Barbara kennen, heiratete sie, und später kamen Lisa und danach Philipp zur Welt. Barbara war meine grosse Liebe, die mir dann jäh entrissen wurde. Schwanger mit unserem dritten Kind, erkrankte sie an Leberzirrhose, es ging ihr sehr schlecht. Dann kündigte sich die Geburt an. Unser drittes Kindlein, Silvan, starb ein paar Stunden nach seiner Geburt, zwei Tage später erlag auch Barbara ihrer Krankheit. Die Zeit nach ihrem Tod war unendlich schwierig. Die gute Auftragslage im Geschäft meines Vaters liess mich die Trauer und Einsamkeit etwas vergessen, ich flüchtete mich wie besessen in die Arbeit. Meine Schwester Lucie half viel bei der Kinderbetreuung, wofür ich ihr sehr dankbar war. Klar habe ich auch Hausangestellte gesucht, aber keine der verschiedenen Haushälterinnen und Kindermädchen hielten es lange bei uns aus.«
Ich fragte vorsichtig: »Weil die kleinen Kinder so herausfordernd waren oder warst du das Problem?«
Ehrlich antwortete Papa: »Wohl ein Mix von beidem. Dazu kam, dass sich mein Vater, der ja zugleich mein Arbeitgeber war, in eine 24 Jahre jüngere Frau, Annika, verliebte. Sie war nur drei Jahre älter als ich. Dein Grossvater liess sich von meiner Mutter scheiden und heiratete Annika 1953. Er und die neue junge Frau bestanden darauf, dass ich und meine ganze Familie den Kontakt zu meiner Mutter und meiner Schwester Lucie abbrechen sollten. Lucie hielt immer zu meiner Mutter und verurteilte den Schritt meines Vaters«, erzählte Papa mit einem bitteren Unterton.
Ich war erstaunt und fragte entrüstet: »Wieso hast du dich nicht dagegen gewehrt? Das hättest du doch selbst entscheiden können!«
»Du hast ja keine Ahnung. Ich arbeitete mit meinem Vater zusammen und war bei ihm angestellt, ich musste Geld für die Familie verdienen und war angewiesen auf diese Stelle. Die Kindermädchen und Haushälterinnen sollten bezahlt werden. Mir blieb keine Wahl, ich musste Vaters Willen Folge leisten und hatte fortan keinen Kontakt mehr zu meiner Schwester und meiner Mutter. Lucie half mir also auch nicht mehr mit den Kindern«, erklärte Papa resigniert.
Ich nickte verständnisvoll. »Das war eine verzweifelte Situation, das verstehe ich. Da kam Mama wirklich als ein rettender Engel.«
Papa stimmte zu. »Ja, das war eine glückliche Fügung, dass Valentina in diesem Hotel bereits als Kindermädchen angestellt war. Wir haben uns näher kennengelernt und bald gut verstanden. Leider lehnte sie mein Angebot ab, als Erzieherin zu meinen Kindern zu kommen. Nach ein paar Monaten machte ich ihr einen Heiratsantrag, den sie annahm. Valentina war sehr tüchtig und kinderlieb und akzeptierte klaglos, dass ich viel im Geschäft arbeiten musste.«
Zu Mama hatte ich noch ein paar Fragen im Kopf, die ich später stellen wollte. Ich musste unbedingt mehr über mich selbst wissen. »Und hast du denn auch noch Erinnerungen an mich als Kind? Wie war ich so?«, fragte ich gespannt.
Papa schüttelte den Kopf. »Ich habe gar keine Erinnerungen mehr an dich. Du bist einfach gross geworden. Ich denke, du warst wie andere Kinder, alles lief normal. Ich habe fünf Kinder, die ich alle sehr gern habe, aber an diese Zeit erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiss, ich war ein strenger Vater, aber es war richtig so. Ihr Kinder durftet alle eine gute Ausbildung machen und steht nun erfolgreich in euren Leben.«
Meine Enttäuschung wuchs. Er würde mir nie die Antworten geben, die ich suchte. Keine Erinnerungen an meine Kindheit, nichts Persönliches. »Du erinnerst dich wirklich an nichts aus meiner Kindheit?«, fragte ich fassungslos. »Nein«, sagte er ohne Umschweife. »Du bist einfach gross geworden, wie deine Geschwister auch. Und jetzt bin ich müde und muss ins Bett. Gute Nacht«, sagte er unvermittelt und verschwand ins Schlafzimmer.
Ich blieb allein zurück, frustriert und enttäuscht. Keine Antworten, nur Schweigen. Wie konnte er so gleichgültig sein? Ein Leben ohne Erinnerungen – ist das nicht traurig? Plötzlich war ich nicht mehr wütend auf ihn. Irgendwie tat er mir leid. Ist ein Dasein ohne die Möglichkeit zu einem Blick in die Vergangenheit nicht ein sinnloses Leben?
Erschöpft hielt Katharina inne. Der Blick auf die Uhr zeigte, dass sie schon wieder knapp drei Stunden am Schreiben war. Fertig, jetzt ist einfach fertig, sei vernünftig, schalt sie sich. Tatsächlich konnte sie direkt in einen tiefen Schlaf sinken.
Trotz der kurzen Nacht wachte Katharina pünktlich um halb sieben auf, wie jeden anderen Morgen. Weiterschreiben! Mit Kaffeetasse und Laptop setzte sie sich wieder ins Bett, startete den Laptop und öffnete den Ordner «Mosaik». Ein besserer Titel würde ihr zu gegebener Zeit einfallen, sie war zuversichtlich. Kritisch überflog sie das letzte Kapitel, ihr nächtliches Zwiegespräch mit ihrem Vater. Unruhig flickte sie daran herum und streichelte den Kater, der sich auch zu ihr gesellt hatte. Sie las das kurze Kapitel wieder und wieder. 25 Jahre war es jetzt her, seit sie Zugang zu ihrem Vater gesucht hatte. 25 Jahre! Katharina hatte damals gehofft, durch das Gespräch mit ihrem Vater Antworten auf die vielen Fragen ihrer Kindheit und Jugend zu bekommen. Sie wollte verstehen, was in ihm vorging, welche Gedanken und Gefühle ihn bewegten. Aber sein Schweigen und seine wortkargen Antworten hatten sie frustriert und enttäuscht zurückgelassen.