Motte und die Metallfischer - Sanne Rooseboom - E-Book

Motte und die Metallfischer E-Book

Sanne Rooseboom

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Beschreibung

Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Doch auf einmal liegt das Schicksal der ganzen Stadt in ihren Händen. Es sind Ferien und nur Motte und ihre Mutter sind nicht in Urlaub gefahren. Zum Glück zeigt Lehrer Lukas ihr das Metallfischen – das perfekte Hobby für Motte, denn neben schwarzer Kleidung liebt sie besonders das Unperfekte an Dingen. Wie den Rost auf den Fundstücken, die sie aus dem Kanal angelt. Doch als an ihrem Magneten auf einmal ein altes U-Boot hängt, beginnt für Motte ein unerwartetes Abenteuer. Der skrupellose Millionär Arkon Bolwerd, unter dem die gesamte Stadt leidet, will Mottes U-Boot für sich haben und auch Lukas' Freunde aus der alten Werft haben Interesse an Mottes Fund. Denn im Kanal verbirgt sich ein Geheimnis, das irgendwie mit Mottes U-Boot zusammenzuhängen scheint … Die Autorin wurde für Motte und die Metallfischer für den flämischen De Boon Literaturpreis sowie für den Woutertje PietersePrijs nominiert und gewann De Leesjury 2024 in der Kategorie der 10 bis 12-Jährigen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 404

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

SCHMETTERLING/MOTTE

1 RAUE ZEITEN

2 LUKAS

3 BLOß EINE SCHRAUBE

4 GLANZ

5 ROSIES ROST

6 STEHT DA ETWA BOLWERD?

7 EISIGE STILLE

EINE WOCHE SPÄTER

8 EIN EIGENER ANGELPLATZ

9 KLACK!

10 ALT. KLEIN. SCHÖN.

11 DIE STADTWÄCHTERIN

12 EIN DRECKIGES U-BOOT

13 KNÖPFE UND HEBEL

14 GELD

15 GEBURTSRECHT

16 KAPITÄNIN LELIE

17 UNTER WASSER!

18 DIE WERFT

19 DER KREIS

20 RITTER BOLWERD

21 DAS DRITTE U-BOOT

22 FORTSCHRITT

23 DER TUNNEL

24 TEEGLAS

25 AUF DEM DACH

26 ZWEI KLEINE LICHTER

27 ABER FAHR ALLEIN …

28 GLÄNZENDES HAAR

29 AM RUDER

30 NOORTJE

31 FEUER!

32 ABGELEHNT

33 BEREIT?

34 DAS SONNENSCHLOSS

35 STAUB UND ALTE GEMÄUER

36 UND JETZT?

37 DIE BANK

38 DER RÜCKWEG

39 MACHT

40 IM KELLER?

41 DIE PIEPTÖNE

42 EIN VERSUCH KANN NICHT SCHADEN

43 SO LEICHT WIE EIN KIND

44 NOCH MAL IN DEN TUNNEL

45 DER UNTERWASSERRAUM

46 DER BRIEF

47 BRAUNE TINTE UND EINE ROTE UNTERSCHRIFT

48 JACQUELINE BOLWERD

49 ROSIE ROMBERTUS

ZEHN TAGE SPÄTER

50 EINFACH NUR MOTTE

DANK

Leseprobe

1 Zaubersticken

2 Familienbesuch

SCHMETTERLING/MOTTE

Der Sommer, in dem Motte ein U-Boot fand, fing ziemlich normal an. Langweilig sogar. Kein Wunder: Es musste ja noch ganz schön viel passieren, bis sie ihre große Entdeckung machen würde. Im Moment hatte sie noch nicht mal einen Magneten.

Motte war gerade dabei, ihr Zimmer aufzuräumen. Ihre Mutter half ihr und das hieß nichts Gutes. Im Schneidersitz und mit kerzengeradem Rücken saß sie auf Mottes Bett und zeigte auf alles, was ihrer Meinung nach wegmusste.

»Der Bär da.«

»Den mag ich!«

»Er ist kaputt.«

Schnell schob Motte den Bären unter ihr Bett.

»Dieser ganze Stapel T-Shirts.«

»Das sind meine Lieblings-T-Shirts!«

»Die sind schon ganz fahl und verwaschen …«

Selber fahl, wollte Motte sagen. Tat sie aber nicht. Nicht nur, weil das in einem Streit geendet hätte, es stimmte auch ganz einfach nicht. Ihre Mutter schien zu leuchten. Ihre wogende dunkle Haarmähne glänzte, ihre Kleidung war blütenrein und ihr Lächeln strahlte.

»Sie sind bequem«, sagte Motte. Schützend schob sie die T-Shirts im Schrank weiter nach hinten.

»Wir könnten zusammen shoppen gehen«, schlug ihre Mutter vor, »und dir was Hübsches kaufen.«

Motte seufzte. Was Hübsches, das hieß bestimmt das genaue Gegenteil von dem, was sie normalerweise trug. Sie sah sich schon in einer Ankleidekabine stehen, während ihre Mutter ihr ein farbenfrohes, modisches Teil nach dem anderen reichte.

Motte stellte sich vor das Fenster. Der schmale Kanal hinter dem Haus lag still in der Sonne.

»Sind wir bald fertig, Mama?« Motte wünschte, der missbilligende Blick ihrer Mutter würde ihre Sachen in Ruhe lassen. Sie in Ruhe lassen. Motte wandte sich um und ließ den Blick durch ihr Zimmer schweifen. »Jetzt ist es doch wieder ordentlich?«

Ihre Mutter stand auf. »Na ja, ordentlich würde ich nicht gerade sagen, Schmetterling. Aber fürs Erste reicht’s.«

*

Als Schmetterling zur Welt gekommen war, war ihre Mutter überzeugt, dass sie ihrem Baby den perfekten Namen gegeben hatte. Es würde ein liebes, quicklebendiges, farbenfrohes Mädchen werden.

Im Kinderzimmer malte sie an die weißen Wände zwischen den alten Holzbalken prachtvolle Schmetterlinge. Sie kaufte pastellfarbene Kleidchen und legte leise Harfenmusik auf, denn Babys mögen so was und Schmetterlinge wahrscheinlich auch.

Für ein paar Jahre klappte das ganz gut.

Schmetterling war ein liebes Baby, ein niedliches Kleinkind und ein fröhliches Kindergartenkind. Sie hopste, sang Lieder und schmierte den Tisch mit Fingerfarben voll, so wie alle Kinder. Wenn ihre Mutter einer Kundin Ratschläge gab, sah die kleine Schmetterling mit großen Augen zu, während ihre Mutter Maß nahm, Kleidung anprobieren ließ und Make-up-Tipps gab.

Ihre Mutter machte Menschen schön, Schmetterling fand das großartig. Dass sie selbst sich immer die Schleifen aus den Haaren zog, fand ihre Mutter damals einfach nur süß.

Aber Schmetterling wurde älter. Und dabei entwickelte sie ihren eigenen Geschmack und ihre eigene Meinung. Immer öfter stellte Schmetterlings Mutter fest, dass diese nicht mit ihrem Geschmack und ihrer Meinung übereinstimmten. Schmetterling mochte bequeme Klamotten. Ob die ihr auch gut standen, kümmerte sie nicht so sehr. Sie mochte dunkle, coole Sachen, schwarze T-Shirts und dunkelblaue Hosen. Die Art von Kleidung, vor der es ihrer Mutter graute.

Als Schmetterling sechs war, kaufte sie sich zusammen mit ihrer Oma ihre erste schwarze Jacke. Mit sieben rupfte sie sich Löcher in die Hosen und riss die Kragen von ihren Blusen. Mit acht schnitt sie sich die langen, flattrigen Haare ab – bis auf eine einzelne Strähne, die sie sich wie einen Vorhang über das linke Auge schieben konnte.

Und dann, an dem Tag, als sie neuneinhalb wurde, baute sie sich vor ihrer Mutter auf, die Hände in die Hüften gestemmt, und sagte ihr, sie heiße jetzt nicht mehr Schmetterling. Ab diesem Moment war sie Motte. Sie selbst fand das ganz vernünftig. Schließlich blieb sie doch brav bei einem fliegenden Insekt mit schönen Flügeln. Mit einem kleinen Pinsel übermalte sie alle Schmetterlinge an ihren Zimmerwänden mit pechschwarzer Farbe. Dadurch wurden die rosa-blau-grün-roten Flügel schön dunkel.

Mottes Oma und Opa, ihre Cousinen und Cousins, die Nachbarn, die Lehrerin und die Kinder in der Schule gewöhnten sich schnell an ihren neuen Namen. Auch ihr Vater, der am anderen Ende der Welt wohnte, nannte sie von da an in seinen Briefen Motte.

Der Name passte zu ihr, das sahen alle ein.

Zu Hause war das nicht ganz so einfach. Anfangs hatte ihre Mutter es versucht. Aber immer, wenn sie »Motte« sagte, war ihre Miene traurig. Traurig und ein bisschen angewidert.

Mottes Mutter hatte Schmetterling so wahnsinnig gut gefallen. Als Motte noch ein fröhliches Kleinkind war, hatte ihre Mutter sie einmal beim Spielen auf einer Blumenwiese fotografieren lassen. Mottes Mutter betrachtete diese Bilder gern, sie hingen großformatig im Wohnzimmer. Nirgendwo im ganzen Haus gab es ein Foto von Motte. Schmetterling war das sonnige Kind, das zu ihrer Mutter passte. Motte hingegen war kein zartes Flatterwesen. Sie mochte nichts Buntes. Und zum Entsetzen ihrer zierlichen, schlanken Mutter war sie auch noch mollig.

1 RAUE ZEITEN

Motte stand, die Hände in den Hosentaschen, mitten im Wohnzimmer und überlegte, was sie tun sollte. Was sie jetzt und den ganzen Sommer über tun sollte.

Alle, die sie auch nur halbwegs nett fand, waren gleich nach Schulschluss in den Urlaub gefahren, denn im Sommer wurde die Stadt brütend heiß und langweilig. An warmen Tagen hing Fabrikrauch in den schmalen Gassen und machte die Luft stickig. Wer konnte, flüchtete sich in ein Ferienhaus am Meer.

Motte nicht. Ihre Mutter musste arbeiten und Motte war noch zu jung, um allein zu verreisen. Sie hatte vor, Bücher zu lesen, zu zeichnen, und sie wollte lernen, auf der alten Gitarre ihres Vaters zu spielen. Vielleicht sollte sie damit gleich mal anfangen?

Plötzlich war von draußen ein tiefes, bedrohliches Brummen zu hören. Motte öffnete die Terrassentür. Alle Häuser in ihrer Straße hatten auf der Hinterseite einen kleinen, an den Kanal grenzenden Garten. Der Rest der Stadt war kreisförmig um diesen Kanal herum angelegt. Vor langer Zeit waren darauf Schiffe voller Getreide, Wolle und Holz gefahren, die vom großen Hafen am Rande der Stadt kamen. Die Säcke, Ballen und Bretter wurden dann von den Bewohnern dieses Stadtviertels in ihre Lagerhäuser gehievt. Noch immer gab es deshalb an jedem Haus über der Dachbodenluke einen robusten Haken. Auch Motte und ihre Mutter wohnten in einem Teil eines solchen ehemaligen Lagerhauses. Das Getreide und die Wolle waren natürlich schon lange weg. Motte war sich sicher, dass es ihre Mutter verrückt gemacht hätte, wenn in ihrem Zuhause noch Getreidekörner und Wollflusen herumliegen würden. Alles musste gepflegt, aufgeräumt und blitzblank aussehen.

Motte ging ans Wasser, das jetzt nicht mehr still in der Sonne lag, sondern unruhig hin und her schwappte.

»Das war mal wieder der Bolwerd«, hörte sie eine krächzende Stimme sagen. »Der Angeber.«

Motte stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte über den Zaun hinweg ihrem uralten Nachbarn zu, der in einem Schaukelstuhl auf seiner Holzveranda saß. Seine Jacke war ihm zu groß und seine Brille zu klein. »Dieser Lärm und die Wellen, das war der Bolwerd-Junge.«

»Junge?« Motte lachte. »Der ist doch bestimmt schon um die sechzig!«

»Ach was! Ich hab noch seinen Vater erlebt.« Der alte Mann schlug vorsichtig ein Bein über das andere und beugte sich ein wenig nach vorn. »Der große Ritter Bolwerd. Das war ein toller Kerl. Der hat mit dem vielen Geld, das er verdient hat, die ganze Stadt auf Vordermann gebracht.«

Motte nickte. Ritter Bolwerd war der berühmteste Erfinder aller Zeiten. Er hatte ein Stück weiter den Kanal hinunter gewohnt, in einer riesigen Villa, die jetzt seinem Sohn gehörte.

»In meiner Kindheit war diese Stadt kein gutes Pflaster«, erzählte ihr Nachbar. »Raue Zeiten waren das, in den Gassen war’s gefährlich. Davor hatten sich alle mit den Schiffen ihr Geld verdient. Die Fracht laden und löschen, die Schiffe takeln und trimmen. Aber dann kam die Eisenbahn und der Hafen ist verfallen. Auf einmal waren alle arbeitslos. Alle!«

Motte sah den alten Mann an, der mit geschlossenen Augen dasaß. Sie ließ ihn reden, obwohl sie das alles schon wusste. Ritter Bolwerd hatte dann eine Fabrik gebaut, in der die Stadtbewohner wieder Arbeit fanden. Später kaufte er ganze Straßen auf, ließ die alten Lagerhäuser restaurieren und in den dunklen Straßen ließ er hohe, schmiedeeiserne Laternen aufstellen. Er war der Held der Stadt. Ein Platz und auch die Währung waren nach ihm benannt und am Bolwerdtag wurde jedes Jahr ein großer Flohmarkt veranstaltet.

Jetzt flitzte der Sohn des großen Erfinders auf dem Kanal hin und her. Unter der Brücke durch und wieder zurück. Motte sah, wie sein gelbes Motorboot wieder näher kam. Der Mann stand kerzengerade am Steuer, sein Haar wehte im Wind. Rasend schnell fuhr er heran und zischte dann ganz knapp am Ufer und an Motte vorbei. Das Kanalwasser schwappte in den Garten und Motte konnte gerade noch rechtzeitig zurückspringen.

»Der tut so, als wäre die ganze Stadt sein persönlicher Spielplatz«, brummte der Nachbar.

Motte stellte sich wieder auf die Zehenspitzen, damit sie ihn über den Zaun hinweg sehen konnte. »Meine Mutter findet ihn auch total ätzend. Zwei von ihren Kundinnen wollen nicht mehr kommen, weil sie einmal in unserem Garten vollgespritzt worden sind. Sogar Algen sind auf ihren neuen Kleidern gelandet …«

Motte lächelte. Dieser Mann mit dem Boot war zwar ein Wichtigtuer, aber es gefiel ihr trotzdem, dass sich ihre Mutter so sehr über ihn ärgerte. Sie winkte dem Nachbarn zu. »Ich gehe wieder rein.«

Er hob die Hand zum Abschied. »Raue Zeiten waren das hier, bevor Ritter Bolwerd kam. Raue Zeiten!«

In der Küche schnappte sich Motte ein Stück Brot und schnitt sich ein paar Scheiben Käse ab. Summend kam ihre Mutter die Treppe herunter. Sie trug ein wunderschönes Kleid und ihr welliges, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar tanzte über ihrem Nacken. »Du gehst zu einer Freundin, oder?«, fragte sie und stellte sich vor Motte. Wenn ihre Mutter keine High Heels trug, waren sie fast gleich groß.

Mama sieht aus wie eine Fee, dachte Motte. So klein und dünn und quirlig. Eine sportliche, schick gekleidete Fee. Und eine ziemlich nervige.

»Die sind alle weggefahren. Das weißt du doch?«

»Die ganze Klasse?«, fragte ihre Mutter.

»Alle meine Freunde.«

»Oh.« Ihre Mutter sah sie ein wenig zu lange an, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem abwartenden Lächeln auf den Lippen.

Motte verstand. Es fühlte sich an wie ein kleiner Tritt in die Magengrube. »Du willst, dass ich verschwinde.« Sie wich dem Blick ihrer Mutter aus und starrte auf deren dunkle Haare.

»Na na, verschwinden …« Ihre Mutter legte die Hände auf ihre Hüften und strich über den glatten Stoff ihres Kleides.

»Kundschaft, oder?«

»Eine Dame kommt zum ersten Mal zu mir«, antwortete ihre Mutter. »Sie braucht mich als Modeberaterin und sie will abnehmen. Wenn alles gut geht, kann ich monatelang für sie arbeiten.«

»Und sie soll nicht sehen, dass du ein kräftig gebautes Kind hast, das fahle T-Shirts trägt.« Motte schob sich die einzelne Strähne ins Gesicht. So brauchte sie dem Blick ihrer Mutter nur noch mit einem Auge auszuweichen.

»Das hab ich nicht gesagt, Schmetterling.«

»Aber gemeint hast du es schon.« Motte schmierte so langsam sie konnte Butter aufs Brot und schob das schmutzige Messer dann auf der Anrichte von sich weg. Drei Fettflecken hinterließ das. Gut so.

»Ein kleiner Spaziergang wird dir doch guttun? Und denk dran: beim Gehen die Füße sanft aufsetzen, dadurch wird die Körperhaltung gleich viel eleganter. Nicht stampfen. Stampfen wirkt so unangenehm.«

Motte klatschte den Käse auf ihr Brot, schnappte es und riss ihre Jacke vom Stuhl. Ohne ein weiteres Wort zu ihrer Mutter zu sagen, lief sie nach draußen und schlug die Tür fest hinter sich zu.

2 LUKAS

Motte stampfte durch die Straße. So laut und unelegant sie nur konnte. Was sollte sie jetzt tun, spazieren gehen? Sie war in ihrem eigenen Zuhause nicht willkommen! Motte trat gegen jeden Stein, der ihr vor die Füße kam.

Normalerweise fand sie spazieren gehen toll. Sie mochte die schmalen Gassen der Stadt. Die alten Gebäude lehnten aneinander, als hätten sie sich etwas zu erzählen. Und sie mochte die trägen Sandschiffe auf dem Kanal, mit denen man genau Schritt halten konnte, wenn man schnell genug nebenherlief. Aber in diesem Augenblick konnte ihr das alles gestohlen bleiben. Sie trampelte um die Ecke und über die Brücke. Jeden Tag kamen mindestens zweimal Kunden oder Kundinnen. Die standen dann vor dem Wohnzimmerspiegel, schauten dümmlich drein und hörten sich den ganzen Schwachsinn an, den Mottes Mutter so rausposaunte.

Diese Hüte sind gerade total in.

Ein paar Kilo weniger auf der Hüfte und Sie sind ein neuer Mensch!

Versuchen Sie’s doch mal mit höheren Absätzen!

Manchmal turnten sie zusammen im Garten, zur Verbesserung der Körperhaltung. Von Motte wurde dann erwartet, dass sie unsichtbar blieb. An Schultagen war das kein Problem, aber während der ganzen Ferien? Sie konnte zwar in ihrem Zimmer hocken, aber das war klein und im Sommer war es stickig. Wütend schlug Motte den Kragen hoch. Sie hörte erst auf zu stampfen, als das Geschwätz ihrer Mutter nicht mehr in ihrem Kopf nachhallte.

Nach der Brücke bog Motte links ab, um am Kanal zu bleiben. Das war ihr Lieblingsabschnitt. Von hier aus war ihr Zuhause außer Sicht, also konnte auch ihre Mutter sie vom Garten aus nicht mehr sehen. Aber noch besser war, dass hier so gut wie immer Magnetfischer standen. Sie angelten mit einem Seil, an dem ein richtig großer, runder Magnet hing.

Heute standen hier eine Frau in einem langen Rock, ein Mann, der seinen Magneten mit wüsten Bewegungen ins Wasser warf und wieder herauszog, und Lehrer Lukas, den Motte schon kannte, seit sie klein war. Die Fischer stellten ihre Fundstücke immer auf dem Kai aus, bevor sie sie mitnahmen oder wegwarfen. Motte sah sich die sonderbare Sammlung von Fahrradteilen, alten Dosen und rostigen Münzen gerne an. Vielleicht wäre das heute eine gute Ablenkung.

Sie ging noch ein Stück weiter, bis sie zu Lehrer Lukas kam. Er war groß und hatte einen dunklen Zopf, der bis zur Mitte seines Rückens reichte. Vom rechten Mundwinkel bis zum Ohr hatte er eine hellrote Narbe. Sein grüner, mit Rostflecken übersäter Mantel umwehte ihn bei jedem Schritt, den er in seinen schweren Stiefeln machte. Motte kannte niemand anderen, der so würdevoll und zugleich so unordentlich aussah. In der Schule sprang er ein, wenn jemand krank war. Dieses Jahr war Lehrer Lukas viermal in ihrer Klasse gewesen und jedes Mal war so ein Tag anders verlaufen als erwartet. Lukas hielt sich nie an den vorgegebenen Lehrplan und er reagierte auf alle so besonnen und nachdenklich, dass sogar die unruhigsten Kinder der Klasse leiser wurden und besser zuhörten.

»Ha, Motte!« Lukas öffnete seinen Rucksack und brachte ein dickes Seil mit einem runden Magneten daran zum Vorschein. Er zog zwei ausgefranste Handschuhe an und schmiss den Magneten mit einem Plumps ins Wasser.

Motte winkte und setzte sich schräg hinter ihm auf eine Bank. Magnetfischer fanden immer irgendwas. Jedes Mal hoffte sie auf einen Schatz, eine große Eisenkiste voller altem Geld und Schmuck. Sie nahm einen großen Bissen von ihrem Käsebrot, das sie noch immer in der Hand hatte. Wieder hörte sie die Stimme ihrer Mutter im Kopf. Zu viel Brot ist nicht gesund für Leute mit deinem Körperbau. Hast du schon wieder diese schwarze Jacke an? Zieh doch mal was Nettes an!

Neugierig sah sie zu Lukas hinüber, der auf einmal vornübergebeugt dastand, als würde er fast ins Wasser fallen. Vorsichtig zog er an dem orangefarbenen Seil. Dann wandte er sich um.

»Kannst du mal kurz helfen? Mein Magnet steckt fest. Ich brauche vier Hände.«

Motte legte ihr Brot zur Seite, stand auf und lief ans Ufer. Cool, dachte Motte, denn bisher hatte sie den Fischern noch nie helfen dürfen!

Lukas legte ihr das Seil in die Hand, das sich rau und glitschig anfühlte. »Gut festhalten!« Er legte sich auf den Bauch. Sein Mantel lag wie eine Decke über ihm ausgebreitet, während Kopf und Hände fast im Wasser verschwanden. Motte hielt das Seil fest umklammert und verfolgte Lukas’ Bewegungen genau. Unter der Wasseroberfläche schob und zog er etwas. Dann war das Seil auf einmal nicht mehr gespannt. Motte machte einen Schritt zurück, um nicht umzufallen. Ungläubig starrte sie auf den leeren Magneten, der vor ihrer Nase baumelte. Nichts? Aber dann sah sie etwas Längliches in den Händen des Fischers. Es war länger als sie, braun und schwarz. An den Enden hingen tropfende Algen.

»Was ist das?«, fragte Motte gespannt.

Lukas drehte das Ding in seinen Händen. »Tja. Ein Rohr. Könnte von einem Schiff stammen. Könnte aber auch einfach nur ein Stück von einer Wasserleitung sein.«

»Ist es alt?«

Er kratzte etwas Rost von dem Rohr, der bröckchenweise und braun zu Boden fiel. »Ich denke, es liegt seit mindestens dreißig Jahren im Wasser.«

Motte nickte zufrieden. Das fand sie ziemlich alt. »Wollten Sie nicht lieber einen Schatz finden, Lehrer Lukas?«

»Sag einfach Lukas zu mir, wir sind ja nicht in der Schule. Und du kannst mich auch ruhig duzen.« Vorsichtig legte Lukas das Rohr auf den Boden. »Das ist ein paar Bolwerd wert, wenn ich es jetzt gleich zu Rosie rüberbringe.«

»Wer ist Rosie?«

Er deutete auf die andere Straßenseite. »Rosies Rost. Das ist ein Laden für Alteisen. Rosie kauft, was ich fange, und dann verkauft sie es an eine Schmiede weiter. Aus diesem Rohr wird dann irgendwann ein Auto. Oder eine Maschine. Oder wieder ein Rohr.«

»Wow«, sagte Motte.

»Willst du auch mal?« Lukas zeigte auf den Magneten am Seil.

»Ich? Darf ich ihn auch ins Wasser werfen?«

»Sowieso. Und was du fängst, darfst du behalten.«

»Echt? Alles?«

»Das ist im ganzen Land das Gesetz der Metallfischer«, sagte Lukas ernst. »Was man aus dem Wasser zieht, gehört einem. Es sei denn, es wurde gerade erst gestohlen und alle sind danach auf der Suche.« Er grinste. Wegen der Narbe machte dabei hauptsächlich die linke Seite seines Mundes mit. »Ist mir auch schon mal passiert.«

Motte trat einen Schritt nach vorn und hielt das Seil mit dem Magneten über das Wasser. Er war rund und ein bisschen größer als ihre Hand. Oben hatte er einen Griff, an dem das Seil befestigt war. Sie hatte den Fischern schon so oft zugesehen und jetzt durfte sie es selbst versuchen! »Soll ich ihn einfach ins Wasser fallen lassen?«

»Ein bisschen hier rüber.« Lukas zeigte nach rechts. »Da war ich noch nicht. Da ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass du etwas fängst.«

*

Die Spritzer trafen sie sogar noch am Kinn, als sie den schweren Magneten fallen ließ. Motte starrte auf die Kreise, die er im dunklen Wasser hinterließ. Wie tief war es hier wohl? Nach ein paar Sekunden spürte sie einen kleinen Ruck im Seil: Der Magnet hatte den Kanalboden erreicht.

Sie sah Lukas fragend an, der das rostige Rohr auf den Kai gelegt hatte und schützend neben ihr stand. »Und jetzt?«

»Zieh ihn ein kleines bisschen hoch und lass ihn dann wieder runter. Stell dir vor, du würdest den Boden des Kanals Stück für Stück absuchen.«

Mit beiden Händen zog Motte am Seil. Sie spürte, wie sich der Magnet dort unten im Wasser etwas hochbewegte. Sie zog das Seil ein kleines Stück nach rechts und ließ den Magneten wieder absinken.

»Es kann sein, dass schon was dranhängt, weißt du«, sagte Lukas. »Kleine Sachen. Das siehst du dann, wenn du ihn raufholst. Nach zehn Mal ziehe ich ihn meistens wieder hoch. Probier’s noch mal.«

Motte zog wieder am Seil und ließ es dann ein Stückchen weiter weg wieder hinunter. Sie stellte sich vor, wie der Magnet auf dem sumpfigen Boden landete, ganz in der Nähe von einem Schatz aus Eisen. Noch ein einziges Mal hochziehen und dann hätte sie ihn. »Heißt es eigentlich Magnetfischen oder Metallfischen?«

Lukas wischte sich die Hände an seinem Mantel ab. Der war jetzt mit kleinen Rostsplittern übersät. »Das kannst du dir aussuchen. Welches Wort gefällt dir besser?”

Motte dachte kurz nach. »Man wirft einen Magneten ins Wasser, aber man fängt Metall. Also mag ich Metallfischen eigentlich lieber.«

»So nenne ich es auch«, sagte Lukas. »Wie geht’s deiner Mutter?«

Motte zog den Magneten wieder hoch. Noch kein Schatz. Sie ließ ihn wieder absinken. »Ganz gut, glaube ich.«

»Macht sie immer noch Modeberatung?«

»Ja. Mode, Essen, Körperhaltung, alles, damit man so gut wie möglich aussieht.« Sie betrachtete Lukas von der Seite. Was würde ihre Mutter wohl an ihm verändern? Wahrscheinlich alles. Einen schöneren Mantel, sauberere Hände, den Zopf weg, weniger schlurfen, Schultern zurück. Vielleicht ein bisschen Make-up auf seine Narbe. »Das hier ist echt ein super Hobby«, sagte sie, um das Thema zu wechseln.

»Ein fantastisches Hobby«, bestätigte Lukas ruhig. »Vielleicht solltest du dir auch einen Magneten kaufen.«

Motte sah ihn überrascht an. »Geht das einfach so?«

»Na klar!«, Lukas lachte. »Dachtest du, wir wären eine geheime Gesellschaft? Ich hab meinen Magneten einfach bei Rosie gekauft. Der kleinste kostet zwanzig Bolwerd und für ein paar Zehner mehr bekommst du den stärksten.«

»Wow!« Motte zog das Seil hoch und ließ es dann wieder hinunter. Sie spürte, wie der Magnet an irgendetwas hängen blieb.

»Hast du was gefangen?« Lukas klatschte in die Hände.

Motte hielt das Seil umklammert und sah ihn an. »Was jetzt?« Sie dachte an die Greifautomaten beim Jahrmarkt, wie sehr sie sich freute, wenn sie ein Stofftier in der Zange hatte, und wie enttäuscht sie war, wenn es wieder hinunterfiel. »Ich will es nicht verlieren.«

Lukas schüttelte den Kopf. »Wirst du nicht. Dieser Magnet ist für fast alles da unten stark genug. Solange du es behutsam hochziehst.«

Motte trat vorsichtig nach vorn und begann, das Seil aus dem Wasser zu ziehen. Aufmerksam betrachtete sie die Tropfen, die an den orangefarbenen Fasern herabglitten. Als sie den Magneten auftauchen sah, platzte sie fast vor Neugier. Doch Lukas nahm ihr das Seil aus den Händen und zog den Magneten selbst aus dem Wasser.

»Keine Bombe«, sagte er nur.

»Kann das sein?«, fragte Motte.

Er nickte. »Ich hab schon mal eine Handgranate gefunden. Aber wir sind in Sicherheit.« Er hielt Motte den Magneten mit der Unterseite nach oben vor die Nase. Da, inmitten von Schlamm und Algen, klebte ein eisernes Messer mit einem dicken Holzgriff. Daneben sah Motte einen Ohrring. Orangebraun und schuppig vom Rost.

»Wie schön«, sagte sie.

»Zieh sie runter«, antwortete Lukas. »Sie gehören dir.«

Motte nahm zuerst das Messer. Unter dem rostbraunen Belag sah es noch scharf aus. Wie lange es wohl im Wasser gewesen war? Sie legte es vorsichtig auf den Kai. Dann schob sie den Ohrring an den Magnetrand und zog ihn weg. Mit dem Daumen entfernte sie behutsam den Schlamm. Das Schmuckstück sah aus, als wäre es vierhundert Jahre alt. Es war rund und hatte Schnörkel in der Mitte. Darüber war ein perfekter kleiner Haken befestigt, der in irgendjemandes Ohr gehangen hatte. »Darf ich den wirklich behalten?«, fragte sie. »Vielleicht ist er ganz viel Geld wert.«

Lukas betrachtete die Beute in ihrer Hand. »Das glaube ich eher nicht. Aber er gehört jedenfalls dir. Du bist die ehrliche Finderin.« Dann übernahm er das Seil und den Magneten wieder. »Du kannst den Ohrring in Essig legen. Oder Zitronensaft. Dann geht der Rost nach einer Weile ganz leicht ab.«

»Aber das muss ich nicht machen, oder?« Der Ohrring lag auf Mottes flacher Hand. Er war so schön braun. Sie fand ihn hübsch und zugleich spannend. »Mir gefällt Rost.«

Lukas lächelte. »Aus dir könnte noch eine hervorragende Metallfischerin werden.«

3 BLOß EINE SCHRAUBE

Stolz legte Motte ihre Schätze Stück für Stück auf den Esstisch. Gut eine Stunde lang hatte sie noch am Kai geangelt. Nach dem Ohrring und dem Messer hatte sie noch eine Schraube mit einem wunderschönen Gewinde gefunden.

»Bäh!«, rief ihre Mutter. »Was ist das denn?«

»Das hab ich gefunden!« Motte strich über den Ohrring, wobei winzige Rostpartikel auf den Tisch fielen. »Schau, der war jahrelang im Kanal, aber ich hab ihn gefangen.«

»Gefangen?« Ihre Mutter nahm einen Schluck Tee.

»Mit einem Magneten! Lehrer Lukas hat mir seinen geborgt und da habe ich diese Sachen gefangen!«

»Der Ersatzlehrer?«

Motte verdrehte die Augen. »Mama, du weißt ganz genau, wer Lukas ist.«

»Der mit der Narbe«, sagte ihre Mutter. »Und mit diesem überflüssigen Zopf. Was wollte der von dir?«

Motte zuckte mit den Schultern. »Er ist Metallfischer. Er hat mir gezeigt, wie das funktioniert, und ich durfte alles behalten, was ich herausgefischt habe.«

»Also du meinst, du hast dort wirklich geangelt?« Ihre Mutter kniff die Augen zusammen, als würde sie etwas Ekliges sehen. »Diese Magnetfischer am Kanal sind doch fast wie Landstreicher.«

»Metallfischer«, sagte Motte, »könntest du nicht ein einziges Mal das gleiche Wort wie ich verwenden?«

Ihre Mutter verschränkte die Arme. »Diese Metallfischer mit ihrer schlampigen Kleidung und ihren sonderbaren Sitten. Es ist mir wirklich nicht recht, dass du mit ihnen Zeit verbringst, Schmetterliebchen.«

»Aber Mama, guck doch mal!« Motte zeigte auf den Ohrring. »Wie schön der ist!«

Ihre Mutter betrachtete die Schätze auf dem Tisch. Motte konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sofort zuordnen. Kein Ekel mehr. Auch keine Ablehnung. Panik, das war’s! Ihre Mutter betrachtete den Ohrring mit einem Anflug von Panik. »Vielleicht sind da Krankheitserreger drauf! Das Wasser ist doch total dreckig von den vielen Booten. Und bestimmt schwimmen da auch Ratten!«

»Ich werde sie abwaschen«, antwortete Motte seufzend. »Dann kannst du dir sicher sein, dass da keine Krankheiten dran sind. Und auch keine Ratten-Überreste.«

Während Motte ihre Schätze einen nach dem anderen unter den Wasserhahn hielt, räumte ihre Mutter den Tisch ab.

»Der Mann mit dem gelben Motorboot ist heute Morgen wieder an unserem Garten vorbeigerast«, sagte Motte, denn das war ein dankbares Thema. Ihre Mutter konnte Arkon Bolwerd nicht ausstehen, weil er die Miete immer weiter in die Höhe trieb und mit seinem Boot Wasser in die Gärten spritzte. »Der Nachbar sagt, der hält die ganze Stadt für seinen persönlichen Spielplatz.« Sie trocknete das Messer mit einem Geschirrtuch ab, das sofort orangebraune Flecken bekam.

»Das kannst du laut sagen«, stimmte ihre Mutter zu. »Dieser Bolwerd glaubt, er darf einfach alles. Es stinkt zum Himmel, dass ich ihm auch noch jeden Monat Miete zahlen muss, aber in diesem Viertel gibt es nun mal kein Haus, das nicht ihm gehört.« Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Frau Elisabeth will meinen Garten nicht mehr betreten, seit die Dreckspritzer von seinem Boot auf ihrem Kleid gelandet sind. Und sie ist eine meiner wichtigsten Kundinnen! Das ist mir so entsetzlich peinlich!«

Motte versuchte, sich irgendwie für das Gejammer ihrer Mutter zu interessieren, aber es gelang ihr nicht. Sie legte ihre Schätze wieder auf den Tisch. »Schau! Jetzt sind sie sauber.«

»Sauber?« Ihre Mutter lachte. »Ich will anderer Leute Müll nicht im Haus haben, Schmetterling.«

»Das ist aber kein Müll!« Motte verschränkte die Arme. »Dieses Messer hat vielleicht mal einem König gehört, der damit Kunstwerke aus Holz geschnitzt hat. Und diese Schraube könnte in einem Schiff gesteckt sein, das bis ans andere Ende der Welt und wieder zurückgefahren ist und dann in einen Sturm geriet. Und dadurch hat sich die Schraube gelockert. Und später ist dann das ganze Schiff gesunken. Oder so.«

Ihre Mutter sah sie an, als hätte sie nur ein paar Worte verstanden. »Es ist bloß eine rostige Schraube. Und ich will nicht, dass du mit Lehrer Lukas noch allzu viel Umgang hast, der ist so ein fragwürdiger Typ.«

»Er ist kein fragwürdiger Typ! Er ist nett!«

»Metallfischer sind komische Käuze«, widersprach ihre Mutter. »Warum angelt ein Lehrer schmutzige Sachen aus dem Wasser? Denk doch mal darüber nach.« Sie sah ihre Tochter an. »Und mach dir doch mal die Spangen ins Haar, die ich für dich gekauft habe. Dein Auge verschwindet ja komplett hinter diesem Pony, Schmetterling.«

»Motte!«, korrigierte Motte. Sie nahm ihre Schätze vom Tisch und lief nach oben.

In ihrem Zimmer legte sie die Schraube, den Ohrring und das Messer neben ihren alten Stofftier-Affen und ihre Sparbüchse in Form eines goldenen Huhnes auf das Regalbrett über ihrem Bett. Sie trat einen Schritt zurück und lächelte zufrieden. Das war eine schöne Mini-Ausstellung.

*

Am nächsten Morgen blickte Motte gleich nach dem Aufwachen auf ihre neuen Schätze. Im trockenen Zustand war das Orangebraun noch schöner. Vielleicht sollte sie im Wohnzimmer einen Ehrenplatz für ihre Rostausstellung einrichten. Wenn sie alles sorgfältig nebeneinander auf ein weißes Tuch legte, würde ihre Mutter das schon akzeptieren.

Sie zog alte Klamotten an, schnitt sich in der Küche ein Stück Brot ab und ging wieder nach draußen. So war sie wenigstens niemandem im Weg. Sie hoffte, Lukas würde wieder am Kai stehen. Sie ging bis zum Ende der Straße und über die Brücke. Aus der Ferne kam Vincent auf sie zu. Mit den Fingern kämmte sie sich die Strähne noch mal gut vors Auge und schlug den Kragen hoch.

Vincent ging in dieselbe Schule wie sie und wohnte hier irgendwo in der Nähe; sie begegnete ihm viel zu oft. Er wäre wohl das perfekte Kind für Mottes Mutter gewesen. Wenn sie das Märchen, dass Störche Kinder bringen, geglaubt hätte, wäre sich Motte sehr sicher gewesen, dass zwei von ihnen ein Riesenirrtum passiert war. Der eine hatte einen Goldjungen bei sich. Einen Jungen, der zum Spaß joggen gehen und gern weiße Hemden mit Kragen tragen würde. Und weiße Hosen. Und schicke Schuhe. Der andere Storch trug ein Mädchen, das schon bald über jeden Ball fallen und keinen Spinat mögen würde; dessen Lieblingsfarbe Schwarz war und das eine Aversion gegen High Heels entwickeln würde. Vielleicht gab es einen Sturm oder vielleicht war einer der Störche betrunken gewesen, jedenfalls wurde das perfekte Baby ein paar Häuser weiter zugestellt und Motte landete bei ihrer Mutter.

»Hallo«, grüßte Vincent. Er strahlte Motte mit seinem vollkommenen Lächeln an. Ihre Mutter konnte eine genauso zufriedene Miene aufsetzen.

»Hi«, antwortete Motte, hob ihr Kinn etwas an und ging weiter.

Hinter sich hörte sie, wie Vincent die Straße überquerte und auf das Haus zusteuerte, in dem er aus Versehen abgeliefert worden war.

Ob seine Mutter wohl eine unordentliche, mollige Frau war, die löchrige schwarze Jacken trug? Vielleicht sollten wir jetzt noch tauschen, dachte Motte. Ihre Mutter wäre bestimmt angenehm überrascht, wenn sich endlich jemand zu ihr an den Tisch setzen würde, der sich gerne über Bauchmuskeltraining unterhält.

*

Lukas hob die Hand zum Gruß, als er Motte sah. »Willst du noch mal?«, rief er über den Kai. Einladend streckte er ihr das Seil entgegen.

Motte zögerte. Sie konnte doch nicht einfach so seine Schätze wegfischen?

»Hat’s dir nicht gefallen?«, fragte er, als sie neben ihm stand.

»Doch! Aber alles, was ich finde, findest du nicht. Wegen der Regel, dass man alles behalten darf, was man herausholt.«

»Keine Sorge, das macht mir nichts aus«, beschwichtigte Lukas.

»Aber was, wenn der Kanal leer gefischt wird? Oder dein Kanal-Abschnitt? Hast du überhaupt einen eigenen Abschnitt?«

Lukas lachte und wischte sich die Hände an seinem Mantel ab. »Ja, jeder von uns hat einen eigenen Abschnitt, meiner geht bis zu dem Pfahl da drüben. Aber durch die Strömung aus dem Meer landen immer wieder neue Sachen auf dem Grund, deshalb fange ich immer wieder von vorne an, wenn ich das Ende meines Abschnitts erreicht habe.«

Motte blickte ins dunkle Wasser. Ein schöner Gedanke, dass durch die Strömung immer neue Schätze unter Wasser angespült wurden, dort, wo niemand sie sah.

»Nur zu!«

Motte entspannte sich und nahm das orangefarbene Seil in die Hand. Sogleich spürte sie den Zug des schweren Magneten hin zum Rand des Kais. Konzentriert zog sie den Magneten ein Stück hoch und ließ ihn wieder absinken. Und noch mal. Und dann wieder.

»Hast du heute schon viel gefangen?« Sie blickte sich um; der Kai war leer.

»Ja, ich hab schon ein paar Sachen zu Rosie gebracht. Fahrradwracks für sieben Bolwerd, nicht schlecht. Und ein Stück Dachrinne war auch wieder dabei, von einem Haus.«

»Wie ist die denn im Kanal gelandet?« Motte zog den Magneten ein Stück nach rechts.

»Tja«, meinte Lukas. »Das ist bei solchen Fundstücken oft die Frage. Vielleicht wurde die Rinne ja bei einem Sturm fortgeweht.«

»Bei dem Sturm neulich?«

»Oder bei einem vor fünfzig Jahren«, antwortete Lukas.

Dieser Gedanke faszinierte Motte: dass ein Sturm von vor fünfzig Jahren etwas bewirkt hatte, das erst jetzt ans Licht kam.

»Taucher Tom hat mal einen ganzen Fahrradständer mit Fahrrädern drauf gefunden«, erzählte Lukas.

Motte sah Lukas fragend an.

»Mitten im Kanal. Wir haben lang gerätselt, wie der wohl dorthin gekommen ist. Ich glaube, es war ein Zusammenstoß mit einem Auto: Dabei muss der ganze Ständer ins Wasser geschoben worden sein.«

»Wer ist Taucher Tom?«

»Auch ein Metallfischer«, erklärte Lukas, »aber einer im Tauchanzug und mit einer hellen Lampe. Er taucht mit einem kleinen Magneten, so kann er Dinge herausholen, die wir vom Ufer aus nicht erwischen.«

»Krass.« Motte stellte sich vor, wie es wäre, im dunklen Kanalwasser zu tauchen. Kalt. Aber auch total spannend. »Gibt es eigentlich Leute, die von Beruf metallfischen?«

Lukas schüttelte den Kopf. »Nein, das ist eher ein Nebenjob. Ich bin Lehrer und samstags und sonntags stehe ich am Kanal. Taucher Tom restauriert hauptberuflich Boote. Da, wo ich wohne, hat jeder einen eigenen Magneten, um sich was dazuzuverdienen.«

»Ist ja toll«, sagte Motte.

Lukas deutete auf das Seil. »Zieh ihn mal hoch.«

Vorsichtig zog Motte daran und ließ es neben sich auf den Kai fallen, wo es zu einem orangefarbenen Häufchen wurde. Als der Magnet tropfend über dem Wasser hing, entdeckte sie zwischen den rostigen Splittern einen Schlüssel. Einen grünbraunen Schlüssel.

»Der ist aber schön!«, flüsterte sie.

»Solange es Schlüssel gibt, lassen die Leute sie ins Wasser fallen.«

»Mir macht es nichts aus, wenn du ihn haben willst. Der ist wirklich ein Prachtstück!«

»Ich fische so viele Schlüssel raus«, winkte Lukas ab. »Es ist ein Wunder, dass es überhaupt noch Menschen gibt, die ihre Türen abends aufbekommen. Du wirst bestimmt noch mehr finden.«

»Vielleicht ist das ja der Schlüssel von einer Schatzkiste.«

»Von einer, die ich bald raufziehen werde, was?«, scherzte Lukas.

Motte grinste. »Dann teilen wir uns die Beute!«

4 GLANZ

Motte lief mit dem Schlüssel in der Hand nach Hause, wo sie ihn zu ihren anderen Schätzen legen würde.

Ob sie sich selbst auch einen Magneten kaufen sollte? Sie hatte dreißig Bolwerd, aber die waren eigentlich für Stiefel gedacht. Für fünfundvierzig hatte sie echt coole gesehen, zwei Drittel von dem Geld hatte sie also schon beisammen. Ihre Mutter hatte sich geweigert, sie ihr zum Geburtstag zu schenken, weil Stiefel ihrer Meinung nach nicht elegant genug waren. Also sparte Motte selbst dafür.

»Ich bin wieder da!« Motte steckte den rostigen Schlüssel in die Hosentasche.

Stille.

Sie ging in die Küche und schenkte sich ein Glas Milch ein. Zu ihrer Verwunderung stank es in der blitzblanken Küche. Ein säuerlicher Geruch lag in der Luft.

»Mama?«

Noch immer kein Mucks.

Motte trank ihre Milch aus, nahm sich ein Stück Küchenrolle und rannte nach oben. In ihrem Zimmer holte sie den Schlüssel hervor und putzte den gröbsten Dreck weg. Das Küchenpapier wurde nass und grün, der Schlüssel blieb angenehm orangebraun. Vielleicht würde sie ihn später an eine Kette hängen, damit sie ihn bei sich tragen konnte. Aber jetzt kam er erst mal zu ihrer Sammlung. Motte stand auf und legte den Schlüssel neben den Affen und die Sparbüchse.

Den Affen und die Sparbüchse und sonst nichts …

Wo waren der Ohrring, das Messer und die Schraube? Auf dem Regal lagen nur noch winzige Rostpartikel. Motte stürmte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter.

»Mama!!!«

Erst als sie mitten im Wohnzimmer stand, sah sie das weiße Kleid ihrer Mutter im Garten flattern. Sie riss die Tür auf. »Was hast du mit meinen Schätzen gemacht?«

Mottes Mutter hatte einen Strohhut auf und saß in einem Gartenstuhl, die Füße auf dem Tisch. »Schmetterling, ich sonne mich gerade. Was ist denn los?«

»Du hast mich schon gehört«, schnaubte Motte. »Hast du sie in den Kanal zurückgeworfen?«

»Die Sachen in deinem Zimmer? Die hab ich nur sauber gemacht, mach dir keine Sorgen.«

Eine halbe Sekunde lang war Motte tatsächlich beruhigt. Nur sauber gemacht, okay. Bis sie auf den Becher blickte, auf den ihre Mutter zeigte.

Der saure Geruch.

Essig!

Mit einem Satz war sie am Tisch, griff den Becher und schüttete den Inhalt in das Blumenbeet.

Ihre Mutter richtete sich auf. »Gießt du jetzt Essig auf die Pflanzen? Das bekommt ihnen nicht!«

Motte kniete neben dem Beet und suchte die nasse Erde ab. »Wo sind sie? Wo sind meine Schätze?« Vielleicht war sie noch rechtzeitig gekommen, bestimmt wirkte Essig nicht so schnell.

Ihre Mutter hob etwas neben ihrem Stuhl auf und legte es auf den Tisch. »Du nennst diese Dinge doch deine Schätze, oder? Na, und Schätze muss man gut putzen.« Sie lächelte Motte stolz an.

Auf dem Tisch glänzten ein Ohrring, eine Schraube und ein Messer im Sonnenlicht. Sie waren nicht mehr alt und magisch, sondern silbern und langweilig. Motte nahm die Schraube in die Hand, die jetzt, da all das Orangebraun weg war, einfach nur aus Eisen war.

Mottes Mutter sah sie erwartungsvoll an. »Ich hab sie in Essig eingelegt, dann hab ich sie mit Silberputzmittel poliert und sieh dir das an! Du hattest recht, der Ohrring ist ziemlich außergewöhnlich. Und vielleicht schon sehr alt. Eigentlich sollten wir einen zweiten dazu anfertigen lassen, dann könntest du dir Löcher in die Ohren stechen lassen und sie tragen. Das würde bestimmt hübsch aussehen.«

Motte hatte vor Wut Tränen in den Augen. »Ich fand sie schön, so wie sie waren …«

Ihre Mutter blickte sie verständnislos an. »Aber jetzt sind sie doch schöner?«

Motte nahm den Ohrring. Seine Form war noch gleich, aber die Farbe war so normal. Nichts erinnerte mehr an früher und an die Jahre im Wasser. Das Messer sah jetzt so aus, als hätte es einfach nur in der Küche rumgelegen, und die Schraube war jetzt einfach nur eine Schraube. »Das waren meine Sachen, Mama. Sie waren was Besonderes, weil man sehen konnte, dass sie alt sind und im Wasser gelegen haben.« Sie nahm das Messer. »Mir haben die rostigen Kerben gefallen, es war eine Art Kunstwerk.«

Mottes Mutter lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich finde, du bist undankbar, Schmetterling. Ich hab mir solche Mühe für dich gegeben.«

*

Motte rannte die Treppe hoch, in ihr Zimmer, und schnappte sich die Sparbüchse von ihrem leer geraubten Regalbrett. Auch den Schlüssel steckte sie wieder ein, damit wenigstens der in Sicherheit war. Dann polterte sie die Treppe wieder hinunter. Sie zog die Jacke vom Haken und stürmte ins Freie.

Warum war nie etwas gut genug für ihre Mutter? Ihre Schätze nicht, ihre Hobbys nicht, ihr Name nicht, ihr Körper nicht und ihre Klamotten auch nicht. Motte stampfte mit solch großen, hastigen Schritten auf dem schmalen Gehsteig entlang, dass sie Vincent gar nicht kommen sah und fast mit ihm zusammenstieß.

»Hi Motte!«

»Vielleicht solltest du mal bei meiner Mutter klingeln!«, stieß Motte wütend hervor und funkelte ihn an. »Die hat einen Auftrag für dich!«

»Einen Auftrag?« Vincent machte kehrt und lief ein Stück neben Motte her. Seine weißen Schuhe neben ihren schwarzen Tretern. »Was denn für einen?«

»Du sollst ihr neues Kind werden, kapiert?« Motte schäumte noch immer vor Wut. »Sie hasst mich und ich hasse sie, aber dich findet sie bestimmt perfekt! Da könnt ihr zwei zusammen Sport machen und shoppen gehen.« Motte trat noch ein bisschen härter auf dem Gehsteig auf.

Vincent blieb stehen. »Ich hab aber schon Eltern.«

Motte drehte sich um und sah ihn an. Irgendetwas in seinem Blick brachte sie dazu, ihren nächsten gehässigen Kommentar runterzuschlucken.

»Wohin gehst du denn?«, fragte Vincent. »Mit deinem goldenen Huhn?«

»Ich werde mir ein Seil und einen Magneten kaufen«, sagte Motte. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie das wirklich tun würde. »Ich hab mit dem Magneten von Lukas geübt.«

»Lehrer Lukas?«, hakte Vincent nach. »Der mit dem Zopf?«

Motte nickte.

»Der ist nett.«

Motte nickte wieder. »In diesem Huhn ist mein ganzes Erspartes.«

»Also wirst du dir einen echten Magneten kaufen? So einen, wie ihn die Fischer am Kai haben?«

»Ja.« Motte wandte sich wieder um und lief ans Ende der Straße.

Vincent rannte hinter ihr her. »Wo kauft man so was denn?«, fragte er, sobald er sie eingeholt hatte.

Motte seufzte genervt. »Bei Rosies Rost. Das ist eine Frau, die Alteisen einkauft.«

»Bin gespannt, wie so eine Angel aussieht. Und der Laden. Mit dem Fahrrad fahre ich da oft vorbei. Am Kai, oder?«

»Pass nur auf, Rost gibt Flecken ab.« Motte zeigte auf seine Schuhe. Und jetzt verzieh dich, dachte sie dazu.

»Ach, die Flecken sind bestimmt nicht schlimm«, sagte Vincent. »Die kann ich ja wegputzen.«

Schweigend liefen sie über die Brücke, den Kai und an den alten, sich neigenden Häusern entlang. Dadurch, dass Vincent an Mottes Seite war, schien der Streit mit ihrer Mutter nicht mehr so nah.

»Du bist zwölf, oder?«, fragte sie, um sich irgendwie nett zu geben.

»Ja«, antwortete Vincent. »Und du elf?«

»Yep.« Motte fand, sie hatten lange genug geredet, jetzt konnten sie wieder für ein paar Minuten still sein.

Je näher sie zu Rosies Alteisenladen kamen, desto langsamer wurde sie. Sie dachte an die Stiefel. Die waren schwarz mit Lederriemen, mit denen an den Füßen und in ihrem Wintermantel würde sie bestimmt wie fünfzehn aussehen. Sie hatte schon so lange dafür gespart und ihre Oma wollte noch etwas beisteuern, falls sie nicht genug Geld beisammenhätte …

»Da ist es, oder?« Vincent zeigte auf die unlackierte Tür ein paar Schritte weiter.

Motte nickte. Sie schlenderte jetzt eher, als dass sie ging. Durfte sie sich einfach so einen Magneten kaufen? Sollte sie lieber zurückgehen? Nicht nach Hause, aber auch nicht in den Laden. Sie hatte eigentlich große Lust, sich einfach nur auf irgendeine Bank am Kai zu setzen und wütend auf das Wasser zu starren.

»Traust du dich nicht?«, fragte Vincent.

Motte blickte zur Seite. Vincent fuhr sich gerade mit der Hand durch sein perfektes Haar. Schon wieder lächelte er so zufrieden. »Natürlich traue ich mich.«

Mit ein paar Schritten stand sie vor dem Laden. Auf einem Holzschild über der Tür stand in aufgemalten Buchstaben Rosies Rost. Motte ergriff die Türklinke und drückte sie hinunter, als käme sie jede Woche hier vorbei. Die Tür sprang auf und vor Motte tat sich der außergewöhnlichste Ort auf, den sie je gesehen hatte.

5 ROSIES ROST

Rosies Alteisenhandlung befand sich in einer ehemaligen Autowerkstatt, die aus einem hohen Raum bestand, aus dem der Geruch von Öl und Benzin nie ganz verschwunden war. Alles hier schien rostig zu sein. Riesige Platten aus dünnem orangebraunem Eisen lehnten an der Wand. An den hölzernen Stützbalken zwischen Wand und Zimmerdecke hingen rostige Kunstwerke: große Vögel und Fische aus zusammengeschraubten Eisenteilen. Neben der Tür standen alte Öfen und Heizkörper, ein verwittertes Fahrrad, eine Autotür. Und viele Sachen, von denen Motte nicht wusste, was sie waren. Groß, flach und rostig. Klein, spitz und rostig. Spitz, ausgefranst und rostig.

Motte machte ein paar Schritte ins Ladeninnere. In der Mitte des Raumes führte eine Treppe nach oben, in ein auf dunkle Pfeiler gestütztes Büro. Durch das staubige Fenster schien das Licht einer Glühbirne. Motte erblickte eine über einen Tisch gebeugte Figur, bevor sie fast gegen einen Einkaufswagen stieß, der neben der Tür stand und in dem kleine Kistchen übereinandergestapelt lagerten. Auch die waren aus Eisen, rostigem Eisen. Die Figur in dem kleinen Büro richtete sich auf.

»Ist ja stark«, flüsterte Motte, eher zu sich selbst als zu Vincent.

»Aber auch ein bisschen unheimlich«, antwortete Vincent.

»Unheimlich?«

»Gespenstisch.«

»Ich hab mir gleich gedacht, dass du das nicht kapieren würdest.«

Motte betrachtete ein wunderschönes Gatter aus Schmiedeeisen, das an der Wand lehnte. Die kupfernen Spitzen der Gitterstäbe erinnerten an die Flammen einer Kerze.

Über ihren Köpfen öffnete sich die Tür. Eine junge Frau kam aus dem Büro und blieb oben an der Treppe stehen. »Kann ich euch helfen?« Aus ihrem unordentlichen Haarknoten standen dunkelblonde Strähnen hervor und ihr Overall schien vor lauter orangefarbener Flecken zu leuchten. Motte versuchte, ihr Alter zu schätzen. Zwanzig? Fünfundzwanzig?

»Bist du Rosie?«, fragte sie.

Die Frau kam herunter. »Hast du altes Eisen?« Sie klang streng.

Motte schüttelte den Kopf. »Ich möchte gern einen Magneten kaufen, so einen, wie ihn die Fischer am Kai haben.« Sie traute sich fast nicht, der Frau ins Gesicht zu sehen. Ob sie Lukas wohl richtig verstanden hatte? War sie womöglich doch an der falschen Adresse? »Lukas hat mir gesagt, dass du die verkaufst«, fügte sie etwas leiser hinzu.

»Aha, hat Lukas das gesagt?« Rosie betrachtete Motte von Kopf bis Fuß. Dann wandte sie sich Vincent zu. »Und du? Auch einen Magneten?«

»Er ist nur mitgekommen«, erwiderte Motte schnell.

»Vielleicht will ich auch einen Magneten«, widersprach Vincent.

Motte seufzte. Das hier war ihr Abenteuer.

»Solche Magneten sind ziemlich teuer«, sagte Rosie. »Und schwer. Nichts für Kinder.« Sie ging zu dem Einkaufswagen und nahm eines der Metallkistchen heraus. Motte hoffte, sie würde ihre Magneten darin aufbewahren, aber Rosie schien sich einfach nur an die Arbeit zu machen. Sie stellte das Kistchen auf eine Waage und schrieb etwas in ein Heft.

»Ich habe dreißig Bolwerd.« Motte streckte ihr goldenes Huhn vor, was sie sofort bereute. Diese Sparbüchse in ihren Händen – das fühlte sich total kindisch an. Schnell stellte sie sie auf den Boden und sagte so gelassen wie möglich: »Ich habe gespart.«

Rosie blieb mit dem Rücken zu Motte und Vincent stehen. »Einen Magneten für dreißig Bolwerd verliert man im Wasser, wenn der an etwas Großem hängen bleibt. Ernst wird’s erst bei vierzig Bolwerd. Und dann braucht man noch ein starkes Seil, einen Haken und Handschuhe.«

»Oh«, sagte Motte. Bis sie vierzig Bolwerd zusammenhätte, würde es noch Wochen dauern und die Sommerferien hatten doch schon angefangen. Aber mit einem Mal war sie ganz sicher, dass sie einen Magneten haben wollte. Jetzt. Sie wollte einen Extragrund haben, zum Kai flüchten zu müssen. Sie wollte ihrer Mutter zeigen, dass Rost auch etwas Schönes sein konnte. Sie wollte ihre Schätze in die Gartenbeete stellen. Und auf den Küchentisch. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln.

»Findest du’s denn witzig hier?«

Motte schrak auf. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich Rosie umgedreht hatte und sie ansah.

»Nein, ich habe an etwas Komisches gedacht. Hat mit Rost und unserem Küchentisch zu tun.«

Rosie sah sie noch immer mit hochgezogenen Augenbrauen an. Motte wusste nicht, ob sie vor dieser jungen Frau Angst haben oder ob sie versuchen sollte, ihre beste Freundin zu werden. Sie schluckte. »Ich hab mir vorgestellt, welchen Schrecken meine Mutter bekommen würde, wenn ich bei uns zu Hause lauter herausgefischte Sachen aufstelle.«

»Meine Magneten sind nicht dazu da, Müttern Ärger zu machen«, sagte Rosie.

Motte hörte, wie Vincent neben ihr gluckste.

»Es ist nicht nur deshalb«, erklärte Motte. »Ich durfte zweimal mit Lukas’ Magneten fischen und fand es total super. Es ist so spannend, weil man nicht weiß, was man aus dem Wasser ziehen wird. Dieses Gefühl, dass man etwas fängt, was mal jemandem gehört hat, in einer ganz anderen Zeit oder irgendwo weit weg. Und das dann jahrelang im Wasser war.«

Rosie drehte sich um und ging tiefer ins Ladeninnere. Über die Schulter nickte sie Motte zu.

Ich darf mit!, dachte Motte und folgte der Frau schnell. Der Laden faszinierte sie noch immer. Sie sah einen Tresor, von dem im Vorbeigehen kleine Splitter herabrieselten, und einen antiken Gasherd, auf dem ein verbeulter Kessel stand. Ganz hinten im Laden, neben einer riesigen Eisentonne, aus der wie Mikado-Stäbchen alte Stangen ragten, stand ein Holzschrank – es konnte schließlich nicht alles hier aus Eisen sein.

Rosie öffnete die Tür und zeigte auf das oberste Brett. Da standen schwarze Schachteln mit kleinen, runden Magneten darauf. Sie schimmerten in der Farbe von neuem Eisen.

»Schau«, sagte Rosie, »diese kleinen hier sind für Teiche, wo ein Ehering reingefallen ist. Ganz praktisch, aber nicht für den Kanal geeignet.«

Motte schüttelte ernst den Kopf. Nein, so was wollte sie nicht.