Mouche - Alain Demouzon - E-Book

Mouche E-Book

Alain Demouzon

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Beschreibung

Leicht gelangweilt hört der Privatdetektiv Robert Flécheux der alten Dame zu, die ihn in einer »außergewöhnlichen Angelegenheit« um Hilfe bittet; schließlich glauben alle Klienten, daß ihr Fall außergewöhnlich sei ... Doch die Suche nach dem Mädchen Mouche in der Halb- und Unterwelt von Paris nimmt in der Tat einen ungewöhnlichen Verlauf – auch für Flécheux persönlich. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Ähnliche


Alain Demouzon

Mouche

Kriminalroman

Aus dem Französischen von Heribert Becker

FISCHER Digital

Inhalt

Flécheux kam zehn Minuten [...]Die Witwe Mouchardon betrachtete [...]Der Vorfrühling war bereits [...]Die Rue Notre-Dame lag [...]Der Kommissar sah sich [...]In der Befürchtung, daß [...]Inspektor Hénard steuerte den [...]Flécheux kam mit einem [...]Flécheux nahm die Metro [...]Es war kurz nach [...]Michèle Furneaux machte mit [...]Das Studio in der [...]So etwas kommt bei [...]Während der Zeit, die [...]Das bißchen Zeit, das [...]Während Michèle sich emsig [...]Flécheux kannte in Paris [...]Frédéric Mertion öffnete die [...]Das Morgengrauen, das durch [...]Das Detektivbüro Bauvert, das [...]Das Haus, in einem [...]Epilog

Flécheux kam zehn Minuten zu spät. Wie gewöhnlich. In den zwölf Jahren, die er nun bald für das Detektivbüro Clairival arbeitete, waren diese zehn Minuten täglicher Verspätung das augenfällige Zeichen seines Hangs zur Unabhängigkeit geworden – einer kontrollierten Unabhängigkeit: Noch nie hatte man erlebt, daß er diese Frist, die er sich selber gesetzt hatte, überschritt, womit er zeigte, daß er es nicht zu treiben gedachte wie alle Welt.

Die undurchsichtige Glastür knirschte unangenehm. Wie gewöhnlich. Das Steinchen, das über den sandfarbenen Fliesenboden schrammte, lag sicher auch schon seit fast zwölf Jahren an seinem Platz. Clairival hatte sich die Mühe gespart, eine Klingel oder sonst ein akustisches Signal anbringen zu lassen. Man muß halt auszunutzen wissen, was die Natur einem bietet!

Voller Eifer zog Flécheux sich unter dem aufmerksamen Blick von Mademoiselle Leblanc, der Sekretärin, seinen Trenchcoat aus. Trenchcoat und Sekretärin gehörten derselben Epoche an wie Flécheux und das unter der Tür eingeklemmte Steinchen. Hier erinnerte alles an die gute alte Zeit.

»Morgen, Agathe. Wie geht’s?«

Mademoiselle Leblanc hieß gar nicht Agathe, sondern Nicole. Agathe war ein Spitzname, den Flécheux sich hatte einfallen lassen. Niemand wußte so recht, wie er darauf gekommen war. Die meisten waren freilich der Meinung, er passe sehr gut zu der langen Nase und der mageren Gestalt des alten Mädchens. Nur Flécheux wußte, daß der Beiname eine Huldigung war an die glatte, durchscheinende Erstkommunikantinnenhaut, die sich Mademoiselle Leblanc zu bewahren gewußt hatte. Die Zartheit dieser Haut setzte die Kunden stets ein wenig in Erstaunen: Flécheux hatte Nicole Leblanc bereits an seinem ersten Arbeitstag auf jenen etwas altmodischen Vornamen getauft, und »Agathe« hatte nie Anstoß daran genommen. Es kam ja von Robert Flécheux!

»Guten Morgen, Robert«, erwiderte Agathe mit einem Lächeln, das ihr Gebiß entblößte. »Du möchtest bitte sofort zu Clairival kommen.« Sie sprach ganz leise und zwinkerte dabei mit den Augen. »Da ist eine Dame bei ihm drin. Er hat sie in dein Büro ’rübergebracht, glaube ich.«

»Is’ wahr?« gab Flécheux völlig desinteressiert zurück.

Seit zwölf Jahren verkündete Agathe ihm jeden zweiten Tag mit einer zugleich verständnisinnigen und aufgeregten Miene den Besuch einer Dame. So als wundere sich ein Metzger darüber, daß man ihn mit Fleisch beliefert.

Ohne anzuklopfen (eine sehr alte Gewohnheit) trat Flécheux in Clairivals Büro.

»Morgen, Chef, wie geht’s?«

Er fläzte sich in einen abgewetzten Ledersessel.

»Grüß dich, Robert. Brauchst dich gar nicht erst hinzusetzen. Die Frau wartet in deinem Büro. Hat Agathe dir doch sicher gesagt, oder? Ich stell’ dich ihr vor. Du übernimmst den Fall.«

»Wie immer!« knurrte Flécheux.

»Nicht ganz. Die Frau selbst möchte, daß du die Angelegenheit in die Hand nimmst. Ich denke, du kennst sie. Madame … äh … (mit der einen Hand langte er nach seiner Brille und mit der anderen nach einer kleinen Visitenkarte) Mouchardon! Witwe Mouchardon!«

Flécheux beendete die Betrachtung seines Schuhs und sah Clairival mit einem Gesichtsausdruck an, der lebhaftes Staunen verriet (denen, die ihn gut kannten). Ein Staunen, das noch zunahm, als ihm endlich die neue Krawatte seines Arbeitgebers in die Augen fiel.

»Mensch, die ist toll!«

»Findest du?« wunderte sich Clairival leicht angewidert. »Mein Typ ist sie überhaupt nicht!«

»Ich rede von deinem neuen Schlips, Mann!« Plötzlich schien er tief nachzudenken. »Wenn ich mich recht erinnere … ist das jetzt die dritte in zehn Jahren.« Er zählte an den Fingern nach. »Dann werden wir uns mit der da also mindestens für drei Jahre abfinden müssen … Gewöhnen wir uns lieber gleich dran!«

Nervös zog Clairival den Knoten seiner Krawatte nach, eines sehr hübschen Konglomerats aus knallroten Zickzackstreifen auf leuchtend orangefarbenem Grund. Flécheux dachte an das mit Mennige gestrichene Traggerüst einer Flugzeughalle mit einem Sonnenuntergang made in Hollywood im Hintergrund. Und Clairivals Kopf erinnerte recht lebhaft an den Löwen von Metro-Goldwyn-Mayer, aber in provinziellerer Ausfertigung.

»Na schön, ich seh’ mir die Frau mal an. Aber ihr Name sagt mir gar nichts.«

Flécheux hangelte sich aus dem Sessel, der im Verlaufe dieser kurzen Unterredung mehr und mehr in sich zusammengesunken war. An der Tür wandte er sich noch einmal um:

»Sehr gelungen, die Farbe! Wie nennt sich so was doch gleich? … Feuermelder?«

Die Witwe Mouchardon betrachtete Flécheux mit einer so strengen Miene, daß es aussah, als spähe sie durch eine Lorgnette. Vermutlich war sie kaum älter als fünfundsiebzig. Nach dem zufriedenen und belustigten Funkeln tief in ihren Augen zu urteilen, offenbar sehr erfüllte Jahre. (Derartige Einzelheiten bemerkte Flécheux sofort.)

Ihr Gesicht, wie ein papierener Fächer von zahllosen Falten und Fältchen durchzogen, verriet nicht, ob sie früher einmal schön gewesen war. Ihre Brust besaß die Üppigkeit, die ganz offensichtlich ihrem Rang entsprach, und an ihren Fingern und am Kragen glänzten Gold und wertvolle Steine. Sie saß kerzengerade auf dem einzigen benutzbaren Stuhl im Büro und stützte sich mit einer Hand auf einen Stock aus Edelholz. Ihr feines, sehr weiches Haar, das einen so nuancierten Grauton besaß, daß es fast künstlich wirkte, lag glatt und eng um ihren Kopf. Flécheux hatte den Eindruck, als stünde er vor dem Gemälde von Madame Vigée-Lebrun, das im Diözesanmuseum hing.

»Guten Morgen, Madame. Ich bin Robert Flécheux. Sie wollten mit mir persönlich sprechen?«

»So ist es, Monsieur.«

Sie wartete, bis Flécheux mit dem Leerräumen des anderen Stuhls fertig war, auf dem sich mehrere längst veraltete Telefonbücher stapelten. Etwas Staub wirbelte auf. Flécheux sah sich nach einem leeren Fleckchen um. Doch im ganzen Zimmer herrschte größte Unordnung, und überall stand oder lag etwas im Weg. Also landeten die Schwarten zwischen zwei Aktenordnern auf dem Fußboden. Vermutlich würden sie dort noch viele weitere friedvolle Jahre verbringen.

Mit lebhaftem Interesse verfolgte Madame Mouchardon das Treiben dieses eher nichtssagend aussehenden kleinen Mannes, der in dem Ruf stand, ein ausgekochter Bursche zu sein. Im Augenblick gab es nichts, was auf seine angeblichen Qualitäten hindeutete. Er sah aus wie jemand, an dem man auf der Straße vorbeigehen würde, ohne hinzuschauen. Er hätte Büroangestellter in einem Ministerium oder Notarsgehilfe in einer Provinzkanzlei sein können. Für Madame Mouchardon vertrug sich das ganz und gar nicht mit der Vorstellung, die sie sich von einem Privatdetektiv machte.

Flécheux schaute auf.

Das änderte alles! Die Ironie in den Augen des Detektivs zeigte an, daß er durchaus keine komische Figur war. Oder daß er dies vielleicht nicht immer gewesen war und sich vom Leben nicht mehr zum Narren halten ließ.

Madame Mouchardon – auch sie ließ sich nicht mehr zum Narren halten – musterte den Detektiv noch eingehender.

Daran war Flécheux gewöhnt. Neue Kunden, besonders Frauen, versuchten jedesmal, ihn auf diese Weise zu verunsichern. Vielleicht wollten sie sich nur ein genaueres Bild von ihm machen. Vielleicht wollten sie ihn aber auch demütigen. Schließlich würden sie sich selbst bald demütigen müssen, wenn sie all ihre kleinen Geschichtchen vor ihm ausbreiteten. Flécheux wartete auf das Ende der Inspektion. Er würde nicht als erster sprechen. Das war eine der Regeln, gegen die er nie verstieß.

Madame Mouchardon schien das zwischen ihnen lastende Schweigen nicht im geringsten zu stören. Sie fuhrt fort, den Detektiv visuell zu sezieren, wobei sie ihren Blick mehrere Male ostentativ über den fehlenden Knopf an seinem Jackett schweifen ließ.

Flécheux durchschaute dieses Manöver sofort. Er fand es eher lustig.

Schließlich gab die alte Dame nach. Flécheux hatte ihrem prüfenden Blick standgehalten.

»Monsieur …«, begann sie. »Aber vielleicht muß ich Sie mit Inspektor anreden?«

»Ganz bestimmt nicht, Madame.«

»Also dann Monsieur. Die Angelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen möchte, ist ganz und gar außergewöhnlich.«

Flécheux blieb ungerührt. Er war beruhigt und enttäuscht zugleich. Irgend etwas im Benehmen der alten Dame hatte ihn einen Augenblick lang an einen wirklich außergewöhnlichen Auftrag glauben lassen. Diese Einleitung aber war ein Rückfall ins Banale und Alltägliche. Seit zwölf Jahren erschienen fast jeden Tag Leute mit einer »außergewöhnlichen Angelegenheit« im Büro. Doch außergewöhnlich war es immer nur für sie, nicht für ihn.

Als Mitinhaber des Ermittlungs- und Fahndungsbüros Clairival, zugelassene Detektive, hatte er ein gutes Stück seines Lebens damit verbracht, ungetreuen Ehefrauen oder leichtlebigen Ehemännern nachzuspionieren, Portiersfrauen und Cafébesitzer auszuhorchen, Laufburschen und Dienstmädchen zu »schmieren« (oh, mit welch kümmerlichen Beträgen!) und mit zwei Fingern blödsinnige Briefe zu tippen. Er glaubte längst alle Tricks zu kennen, mit denen die Leute in dieser Stadt im Einzugsgebiet der Metropole versuchten, ihre Langeweile zu bekämpfen. Es hatte ihm sogar ein wenig Spaß gemacht. Am Anfang. Doch die Leute sind nicht besonders einfallsreich. Das vertrauliche Geschwafel, mit dem man ihm jedesmal die Ohren vollblies, war für ihn bald so spannend geworden wie ein Autopsiebericht. »Außergewöhnliches« geschah nur höchst selten.

Madame Mouchardon wartete vergebens auf eine ermunternde Bemerkung, die ihr gezeigt hätte, daß man ihr zuhörte, daß man neugierig war und darauf brannte zu erfahren, wie es weiterging. Sie mußte sich mit einem Grunzlaut begnügen, der ebensogut ein Zeichen der Zustimmung wie Ausdruck eines rheumatischen Schmerzes sein konnte.

»Ich nehme an, es ist nicht nötig, Sie um vollständige und äußerste Diskretion zu ersuchen«, fuhr sie fort. »Das ist doch wohl oberstes Gebot in Ihrem Gewerbe.«

Flécheux nahm die Hände auseinander, die er vor dem Gesicht gefaltet hatte, wobei die Kuppen der Zeigefinger auf der Oberlippe herumtippten. Eine Priestergebärde, seltsames Überbleibsel etlicher in einer religiösen Internatsschule verbrachter Jugendjahre.

Madame Mouchardon gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Sie fuhr fort:

»Nun, es wäre da jemand ausfindig zu machen.«

Flécheux griff nach einem Schreibblock. Er drückte mehrmals auf den Knopf seines Kugelschreibers, dessen Spitze nicht zum Vorschein kommen wollte. Madame Mouchardon sah ihn an. Flécheux bemerkte ihren Blick. Ein sonderbarer Blick. An der Oberfläche belustigt, im Grunde aber boshaft, wie es schien, ja fast gehässig. Flécheux hatte das unbestimmte Gefühl, daß diese Aggressivität sich gegen ihn richtete. Das Einrasten des Schreibutensils wischte diesen Gedanken mit einem Schlag beiseite. Der Detektiv setzte die Spitze des Kugelschreibers in die linke obere Ecke des Blocks und wartete.

»Trauen Sie sich das zu?« fragte Madame Mouchardon.

Sie blickte ihn nun wieder mit aller Strenge an. Flécheux bemerkte, wie exakt parallel die sich vorwölbenden Runzeln, fast Wülste, ihres Gesichts verliefen. Es erinnerte an ein topographisches Modell mit sorgfältig markierten Höhenlinien.

»Kommt drauf an, Madame«, erwiderte er ungerührt.

Diese Geschichte interessierte ihn überhaupt nicht.

»Wie meinen Sie das: Kommt drauf an?« erkundigte sich die alte Dame.

»Die Bestimmungen unseres Berufszweigs gestatten uns nur insofern tätig zu werden, als in den Fällen, die wir bearbeiten, keinesfalls ein Verstoß gegen das Gesetz vorliegt. Die Rechtsvorschriften sind diesbezüglich sehr streng.«

Flécheux wunderte sich einmal mehr, daß er diesen lange, auswenig gelernten Satz in einem Zug hatte herbeten können. Er nannte das ›clairivalisch reden‹, nach dem Namen des Erfinders, der in bezug auf pseudo-juristische Redewendungen, bombastische Komplimente und Scheinbeweise unschlagbar war. Ohne immer sehr verständlich zu sein, war dieser Jargon oft wirkungsvoll, besonders in dem Augenblick, da dem Kunden die Rechnung präsentiert wurde. Flécheux hatte für »Dienstzwecke« schließlich an die zwei Dutzend solcher Phrasen auswendig gelernt. Er war nicht sicher, ob er die Hälfte davon überhaupt verstand.

»Und das heißt im Klartext?« fragte Madame Mouchardon mit strengem Blick.

Flécheux wußte diesen Einwurf zu schätzen. Er mochte Leute, die gern einen Durchblick hatten.

»Das heißt, daß ich mich um Ihren Fall kümmern werde … es sei denn, er ist Sache der Polizei.«

Madame Mouchardon schien erleichtert. Sie kramte ein kleines Spitzentaschentuch aus dem Ärmel hervor und betupfte sich damit die Nasenflügel. Flécheux zog derweil an einem Griff, mit dem sich das Oberlicht des Fensters schrägstellen ließ. Milde Vorfrühlingsluft strömte ins Zimmer und ließ auf Flécheux’ Schreibtisch einige Papiere erzittern. Deutlich hörte man, wie ein Schwarm Tauben davonflog.

»Es stört Sie doch nicht, daß ich ein wenig lüfte?« erkundigte sich der Detektiv in dem Bewußtsein, daß er sich Mühe gab, höflich zu sein.

Die alte Dame deutete wortlos an, daß sie im Augenblick andere Sorgen habe.

Flécheux warf einen letzten Blick auf die Kathedrale, die ihm ihre Rückseite zuwandte, und setzte sich wieder.

»Die Polizei hat mit all dem nichts zu schaffen, da können Sie ganz beruhigt sein«, nahm Madame Mouchardon das Gespräch wieder auf. »Es handelt sich lediglich darum herauszufinden, was aus meiner Enkelin geworden ist.«

»Ist sie minderjährig?«

»Wie bitte? Ja, ich glaube schon.«

»Dann haben Sie doch sicher die Polizei verständigt?«

»Aber nein! Weshalb, zum Teufel, wollen Sie mich andauernd zur Polizei schicken? Die geht das alles überhaupt nichts an!«

Ihre Stimme klang fast wütend. So wütend wie die von Greisen, die es nicht mögen, wenn man ihnen Widerworte gibt. Flécheux staunte. Bis jetzt hatte die alte Dame keinen so gefühlsbetonten Eindruck gemacht.

»Madame, vor dem Gesetz tragen die Eltern dieses Mädchens die Verantwortung für sie«, fuhr Flécheux auf ›clairivalisch‹ fort. »In dieser Eigenschaft sind sie verpflichtet, ihr Verschwinden der Polizei anzuzeigen. Es ist uns erst erlaubt, eine Untersuchung durchzuführen und Nachforschungen einzuleiten, wenn zuvor dem Gesetz Genüge getan worden ist: Das Verschwinden muß zuerst einmal der Polizei gemeldet werden.«

Madame Mouchardon sah sehr hilflos drein. So als habe sich plötzlich etwas ihrem Begriffsvermögen entzogen. Mit einer solchen Situation hatte sie offensichtlich nicht gerechnet und wußte jetzt nicht, wie sie sich verhalten sollte. Diese Verwirrung ließ in Flécheux die Vermutung aufkommen, daß die alte Dame diese Unterredung sorgfältig vorbereitet und jeden Satz, den sie zu sagen hatte, abgewägt haben mußte. Und jetzt war sie genauso aufgeschmissen wie eine Schauspielerin, der man mit einer Replik antwortet, die nicht im Textbuch steht. Er versuchte, ihr beizustehen:

»Sagen Sie, Madame, wie alt ist denn die Kleine?«

»Was? Weiß ich nicht mehr. Nein, warten Sie, sie ist im November geboren. Am zehnten oder elften. Ja, ich erinnere mich wieder, wegen der Parade. Am elften also. Ich glaube, es war 19 … hm!« Sie kniff die Augen zusammen, um besser nachdenken zu können; diese verschwanden dabei vollständig in den Fältelungen ihres Gesichts. »… 19 … 55! Ja genau, 1955 war’s. Sie dürfte jetzt also um die achtzehn sein.«

Flécheux fuhr innerlich in die Höhe.

»Bald zwanzig, meinen Sie wohl! Aber dann ist das Fräulein doch nicht mehr minderjährig!«

Die alte Dame zog erstaunt eine Augenbraue hoch.

»Volljährig ist man heute nicht mehr mit einundzwanzig, sondern bereits mit achtzehn«, ergänzte Flécheux.

»Sie haben recht. Mein Gott, daran gewöhne ich mich nie!«

Sie unterbrach sich. Schließlich war sie nicht zum Schwatzen hergekommen.

Flécheux riß das Blatt von dem Block, auf das er, fast ohne es selber zu bemerken, zusammenhanglose kleine Zeichnungen gekritzelt hatte, von denen einige ihm plötzlich einen zotigen Inhalt zu haben schienen. Eine sehr persönliche Ansicht. Auf das darunterliegende leere Blatt notierte er 11. November 1955, wobei er sich Mühe gab, die Zahlen deutlich zu schreiben. Dann wartete er auf weitere Angaben. Fragend blickte er auf. Die alte Dame verstand diese stumme Aufforderung und fuhr fort:

»Sie heißt Simone. Simone Mouchardon. Sie ist die Tochter meines Sohnes.«

Flécheux notierte den Namen. Er schrieb ihn ebenso sorgfältig wie das Datum.

»Und die Mutter?« fragte er.

Ein harter Glanz blitzte in Madame Mouchardons Augen auf.

»Seine Ehefrau!«

»Gut. Und die Adresse, bitte?«

»Rue Notre-Dame 27.«

Flécheux warf einen Blick auf die Visitenkarte, die Clairival ihm vorhin in die Hand gedrückt hatte.

»Ihr Sohn und seine Frau wohnen also bei Ihnen?« folgerte er laut.

»Wohnten!« korrigierte sie. »Mein Sohn lebt inzwischen von seiner Frau getrennt. Er hat das Haus verlassen, kurz nachdem sie ausgezogen war. (Sie tat einen tiefen Atemzug, der fast einem Seufzer ähnelte.) Ich weiß nicht, wo sie jetzt wohnen, weder er noch sie.«

Einen Augenblick lang glaubte Flécheux, sie würde in Tränen ausbrechen. Er stand auf und ließ das Kippfenster des Oberlichts zuklappen.

»Dann müssen also auch sie ausfindig gemacht werden«, stellte er fest. Allmählich begann er, den Auftrag tatsächlich »außergewöhnlich« zu finden (in finanzieller Hinsicht, versteht sich).

»Oh, die kümmern mich nicht im geringsten. Sollen sie sich zum Teufel scheren! Nein, ich möchte nur, daß Sie die kleine Simone finden. Ich habe ihr soviel anzuvertrauen, verstehen Sie?«

»Ich verstehe«, erwiderte Flécheux wie immer, wenn er nicht das geringste begriff.

Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was die Großmutter ihrer Enkelin wohl so dringend anzuvertrauen hatte: Geld, Briefe oder bloß Tratsch? Wie in allen besseren Familien.

»Na schön«, fuhr er fort. »Wenn Sie zur Polizei gehen, wird man Ihnen vermutlich sagen, daß das Mädchen erstens tun und lassen kann, was ihm Spaß macht, und daß zweitens nicht Sie, sondern die Eltern die Suchmeldung aufgeben müssen. Ich werde Ihren Fall also übernehmen.«

Madame Mouchardon schien erleichtert. Sie nahm das kartonierte Faltblatt, das Flécheux ihr hinhielt, in ihre gepflegten Hände. Die Hände einer Müßiggängerin.

»Ich darf Sie bitten, für unsere Unterlagen diese Karteikarte auszufüllen«, erläuterte der Detektiv. »Die Angaben, um die wir Sie ersuchen, sind sehr wichtig für unsere Ermittlungen.« Er glaubte kein Wort von dem, was er sagte. Das Ganze war lediglich eine Spinnerei von Clairival, der vorgab, ›wissenschaftlich‹ zu arbeiten. Die Akte enthielt eine ganze Latte alberner Fragen, die von der Zigarettenmarke, die die ›in Frage stehende Person‹ gewöhnlich rauchte, über eine kurze Skizzierung des Weges, den sie in der Regel zurücklegte, um Brot zu kaufen, bis hin zum Lieblingsgericht des zu Suchenden oder zu Observierenden reichten. »Selbstverständlich werden Ihre Angaben – die absolut vertraulich behandelt werden – sofort vernichtet, sobald unsere Ermittlungen zum Abschluß gelangt sind (was natürlich gelogen war). Äh … lassen Sie sich ruhig Zeit mit dem Ausfüllen. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an. Es genügt, wenn Sie mir das bis Ende der Woche zukommen lassen.«

Madame Mouchardon war enttäuscht. Sie füllte für ihr Leben gern Fragebogen aus und hätte gern zu jeder einzelnen Antwort zusätzlich einen ausführlichen Kommentar abgegeben. Bislang hatte sie sich in ihrem Zwiegespräch mit dem Detektiv mit kurzen, unpersönlichen Sätzen begnügt, um sich das Beste bis zum Schluß aufzuheben – und nun wollte man sie ihres Vergnügens berauben!

Sie beschloß, ihre letzte Karte auszuspielen: das Foto!

Es war eine recht gelungene Aufnahme. Ein Farbfoto. Ganz offensichtlich von jemandem aufgenommen, der etwas davon verstand. Madame Mouchardon zog das Bild in demselben Augenblick aus ihrer Handtasche, als sie die Karteikarte darin verschwinden ließ. Mit einer abrupten Bewegung plazierte sie es auf Flécheux’ Schreibtisch.

Flécheux nahm es aus Zuvorkommenheit mit übertriebenem Interesse in die Hand.

Das darauf abgebildete Mädchen sah recht niedlich aus. Vermutlich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Kaum mehr. Das erste, was dem Detektiv in die Augen sprang, war der nackte Bauch, der zwischen dem oberen Ende des ziemlich tief auf den Hüften ansetzenden Rocks und dem sehr eng sitzenden Bolerojäckchen, das gerade eben die Brust verhüllte, hervorschaute. Das Ganze war wohl ein mexikanisches oder südamerikanisches Kostüm, worauf auch die hochgetürmte, mit Ananas und Bananen aus Plastik verzierte Haartracht hindeutete. Das Gesicht lächelte mit kindlicher Fröhlichkeit.

Dieses Gesicht kam Flécheux seltsam bekannt vor. Es erinnerte ihn an jemanden. Er kramte ein paar Sekunden lang angestrengt in seinem Gedächtnis.

»Ich hab’ mir gedacht, diese Aufnahme könnte Ihnen unter Umständen nützlich sein«, bemerkte die alte Dame.

»Wie? Ja, natürlich. Wir bitten immer um ein Foto«, erwiderte Flécheux. Er wedelte mit dem Bild hin und her. »Ich nehme an, diese Aufnahme ist nicht allerneuesten Datums?«

»Leider nicht. Sie wurde vor einigen Jahren gemacht. Als Simone in die letzte Klasse ging. Sie hatte beim Kostümball den ersten Preis gewonnen, eben in dieser Schule, und …«

»Haben Sie nichts Aktuelleres?« fiel Flécheux ihr ins Wort.

»Nein, das ist alles, was ich habe«, entgegnete sie beleidigt.

Sie hatte eine sehr lange Geschichte über Simones Schulzeit und ihre Erfolge auf Bällen und Festen zu erzählen. Anscheinend interessierte das den Detektiv aber herzlich wenig.

»Na schön, dann müssen wir uns eben mit dem hier begnügen«, brummte Flécheux. »Seit wann ist sie verschwunden?«

»Seit fast zwei Jahren«, erwiderte die Auftraggeberin abweisend.

Flécheux pfiff leise durch die Zähne. Sein Erstaunen war nicht geheuchelt. »Zwei Jahre! Das wird nicht leicht werden! Haben Sie ’nen Tip?«

»Wie bitte?«

»Haben Sie einen Hinweis, einen Anhaltspunkt: eine Adresse zum Beispiel oder so etwas? Braucht nicht neu zu sein. Irgendeinen Ort, wohin sie in diesen zwei Jahren gegangen sein könnte?«

Die Sitzhaltung der alten Dame wurde noch um eine Nuance gerader und steifer. Flécheux bemerkte, wie ihre Hand sich um den Knauf des Gehstocks spannte. Haargenau das Gemälde von Madame Vigée-Lebrun!

»Keinerlei Adresse, Monsieur. Als Simone eines Morgens verschwand, hat sie lediglich ein paar Zeilen für ihre Mutter hinterlassen. Für mich, die ich an ihr hing, gar nichts!«

»Und was stand darin, in diesen Zeilen?« fragte Flécheux, während er die spärlichen Auskünfte, die er bisher erhalten hatte, auf ein neues Blatt übertrug, das noch nicht von den kleinen Kritzeleien verunziert war, mit denen er schon wieder den Block tätowiert hatte.

»Du lieber Himmel, wie soll ich das wissen? Meine Schwiegertochter wollte es mir nie sagen, und ich glaube, nicht einmal mein Sohn weiß es. Die Ehe der beiden war damals schon kurz davor, in die Brüche zu gehen.«

»Sehr schön, sehr schön«, befand Flécheux, obwohl er nicht ganz sicher war, ob das die angemessenen Worte waren. »Ich fürchte, Madame, das wird keine ganz leichte Suchaktion. Ich nehme an, im Falle einer ›positiven Abwicklung‹ (noch so eine Clairivalsche Phrase) genügt es Ihnen, zu erfahren, wo Sie die junge Dame erreichen können. Wünschen Sie, daß wir ›ein Zusammentreffen arrangieren‹ (immer noch O-Ton Clairival)?«

»Das werden wir dann sehen. Fürs erste wäre ich schon mit einer einfachen Adresse zufrieden.« Und mit einem Ton, der scherzhaft klingen sollte, fügte sie hinzu: »Vorausgesetzt natürlich, sie stimmt!«

Flécheux, völlig unempfindlich für jede Art von Humor, der seine beruflichen Fähigkeiten in Frage stellte, tat so, als habe er nichts gehört. Er erhob sich auf eine Weise, die deutlich machte, daß die Unterredung für ihn beendet war.

»Was denn? Ist das alles, was Sie wissen wollen?« wunderte sich die alte Dame.

Der Detektiv wußte doch so gut wie gar nichts über ihre Enkelin. Wie wollte er da irgendwelche Nachforschungen anstellen?

»Im Augenblick ja. Füllen Sie sorgfältig den Fragebogen aus, den ich Ihnen gegeben habe. Über bestimmte Punkte werden wir uns dann noch unterhalten. Wenn Sie gestatten, suche ich Sie übrigens in Ihrer Wohnung auf, damit Sie sich nicht selber herzubemühen brauchen.«

Flécheux entnahm dem Blick, den die alte Dame ihm zuwarf, daß sie gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden hatte. Ganz im Gegenteil.

»Und was ist mit dem Honorar?« fragte sie unverblümt.

»Bitte, machen Sie das mit Monsieur Clairival ab. Ich sag’ ihm sofort Bescheid.« Flécheux verabscheute diese krämerhafte Dienstbeflissenheit, aber das war halt Anweisung. »Jacques, kommst du mal, bitte?« knurrte er durch die halbgeöffnete Tür.

Clairival trat ins Zimmer wie ein Schauspieler, der hinter einer Kulisse hervorspringt. Ganz Lächeln und Krawatte, erläuterte er der Klientin die »bei derartigen Dienstleistungen üblichen Konditionen«. Offenbar gab es keine Probleme. Zufrieden zog die kleine Dame mit einem ausschließlich an Flécheux gerichteten »Bis bald« von dannen.

»Na, was ist, kennst du sie?« fragte Clairival mit einer Hektik, die Flécheux reichlich übertrieben fand.

»Nie gesehen«, brummte der Detektiv.

»Na, hör mal! Immerhin wollte sie dich persönlich sprechen. Oder hab’ ich das nicht erwähnt?«

»Doch ja, du hast es erwähnt. Und was weiter?«

Flécheux befiel plötzlich eine Anwandlung von Übellaunigkeit. Er hatte völlig vergessen, daß die alte Dame tatsächlich ihn verlangt hatte. Zu blöde von ihm, daß er nicht daran gedacht hatte, sie nach dem Grund für diesen speziellen Wunsch zu fragen!

»Weiter gar nichts«, entgegnete Clairival im gleichen Tonfall. »Nur ist es das erste Mal in zwölf Jahren, daß ein neuer Kunde dich persönlich sprechen möchte! Das ist alles. So etwas darf einen doch wohl stutzig machen, oder? Was soll’s, vergiß es.«

Er ging in sein Büro zurück. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß und ließ die Mattglasscheibe erzittern.

Unterdessen hatte Agathe keinen Augenblick aufgehört, mit rasender Geschwindigkeit auf dem bereits altehrwürdigen Modell ihrer Schreibmaschine herumzuhacken. Der Lärm war entsetzlich. Aber das hinderte sie nicht daran, jedes Wort, das gesprochen wurde, zu hören und zu verstehen.

Der Vorfrühling war bereits wieder in Vergessenheit geraten. Ein böiger Wind blies den Passanten einen kalten Nieselregen ins Gesicht. Flécheux klaubte sich einige Blütenblätter, die wie Klebefolie auf der Haut haften blieben, von Stirn und Wangen und wich mit knapper Not einer zwischen den Unebenheiten des Straßenpflasters verborgenen Pfütze aus. Dabei geriet er in gefährliche Nähe eines vorbeifahrenden Renault-12. Ein Dreckspritzer traf ihn in Höhe der Knöchel. Er fluchte. Der blaue Wagen geriet auf dem seifigen Pflaster leicht ins Schleudern, bevor er mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen um die Ecke bog. Anscheinend gab es da einen Rekord zu überbieten: den für überhöhte Geschwindigkeit in geschlossenen Ortschaften zum Beispiel.

Flécheux verzichtete auf weitere Vorsichtsmaßnahmen. Wozu auch? Wind und Regen hatten noch zugenommen, und Flécheux fühlte auf Schultern und Rücken durch seinen alten Regenmantel hindurch das allmähliche Eindringen von Nässe und Kälte.

Schließlich erreichte der Detektiv den Faubourg Saint-Nicolas. Hier erschien einem der Regen noch trister und schwärzer. Das lag wohl nicht zuletzt an den Fassaden der alten Häuser, lauter drei- oder viergeschossigen grauen Kuben. Selbst in den schönsten Wochen des Sommers präsentierte sich der Faubourg Saint-Nicolas im melancholischen Grau-in-Grau der Bergbaustädte des Nordens. Dabei lebten in ihm nur alte Leute, Clochards und andere »verkrachte Existenzen«, von denen die meisten zugezogen waren. Man produzierte nichts, man verkaufte nichts, man arbeitete nichts, man »hing nur herum« (wie Camille, der Wirt der Bar Breton, sich ausdrückte). Das Viertel lebte friedlich von kleinen Taugenichtsen und großen Diskussionen und wartete unterdessen auf die Durchführung des »Sanierungsplans«, der seit mehr als zehn Jahren das Hauptgesprächsthema war.

Flécheux mochte den Faubourg Saint-Nicolas. Er hatte früher einmal selbst hier gewohnt. Übrigens sagte er nicht »gewohnt«, sondern: »Ich habe früher im Faubourg Saint-Nicolas gelebt.« Im Faubourg Saint-Nicolas wohnte man nicht, dort lebte man. Denn all dieses Grau-in-Grau war voller Leben gewesen. Voll von jenem Leben alter Stadtviertel, das man bald nur noch aus Büchern kennen wird. Jetzt waren die Leute alt, und eine nachwachsende Generation gab es nicht. Wie Camille zu sagen pflegte: »Die Jugend zieht lieber in Sozialwohnungen, wo die Leute nicht miteinander reden, weil sie alle zur gleichen Zeit ihren Glotzkasten aufdrehen.« So war’s ja auch. Die jungen Leute hatten sich aus dem Staub gemacht.

Im Faubourg selber gab es nur wenige Fernsehapparate. Einer davon stand in Camilles Bar Breton und lief praktisch ununterbrochen. Aber kein Mensch schaute wirklich hin; man stand ringsherum und diskutierte. Das war tausendmal schöner, als so einen Kasten für sich allein zu haben. Camilles Fernseher war immer das erste Bild, das Flécheux in den Sinn kam, wenn er an den Faubourg dachte. Wieso das so war, wußte er selber nicht recht.

Als er die Tür zur Bar Breton aufstieß, war der Fernseher eingeschaltet. Man verfügte jetzt über ein Farbgerät, das aber kaum mehr Erfolg hatte als der alte Schwarzweißapparat. Ein Häuflein von Dauerzechern, die dem Bildschirm ostentativ den Rücken zukehrten, war gerade dabei, die Welt verbal aus den Angeln zu heben. Ein kräftiger Geruch nach Schweiß, Pommes frites und Tabak schlug dem Detektiv ins Gesicht. Seine ganze Jugend stand mit diesem Duft vor ihm auf. Jeder hat halt seine eigenen Proustschen Madeleineküchelchen!

Camille Barrois wischte seine Theke. Eine seiner Hauptbeschäftigungen neben »Gläser füllen«, »Kästen raustragen«, »Sägemehl streuen« und »Krawallmacher an die Luft setzen«. Er schien überhaupt nicht zu altern. Drei Viertel seiner Kunden aus der guten alten Zeit waren an Leberzirrhose gestorben, doch er war gesund und rüstig geblieben. Dabei war er schon seit einer ganzen Weile über die Vierzig hinaus. Er trank sehr wenig, schaffte es aber, die Illusion zu vermitteln, er trinke mindestens genausoviel wie seine Kundschaft. Um so mehr bewunderte man seinen ausgezeichneten Gesundheitszustand.

»La Flèche[1]!« brüllte Camille. »Wo kommst du denn her!«

Schlagartig wurde es still in der Gaststube, alle Köpfe drehten sich in Richtung Schanktisch, und nur die Sprecherin auf der Mattscheibe redete ungerührt weiter.

Wer Flécheux kannte, kam herbeigeeilt.

»Der alte La Flèche! Wie geht’s dir, Junge? Salut, La Flèche! Machst immer noch auf James Bond?«

Er erhielt von allen Seiten freundliche Knüffe und bestellte eine Lokalrunde. Das war die einzige Möglichkeit, sich die Zecher vom Hals zu schaffen.

Flécheux sah Camille schmunzelnd an. Es war kaum vierzehn Tage her, daß er das letzte Mal in die Bar Breton eingekehrt war, aber man hatte den Eindruck, als sei er nach zwanzigjährigem Exil erstmals wieder aufgetaucht. In diesem Café, das die Stammgäste mindestens viermal am Tag aufsuchten (wenn sie nicht gleich den ganzen Tag dablieben), hatte man rasch jemanden aus den Augen verloren. Die Zeit verrann hier schneller als anderswo. Für die meisten der roten Gesichter mit den gelben Augen, die in kleinen Schlucken ihren Tod in sich hineinkippten, schien sie bald abgelaufen zu sein.

»Na?« fragte Camille. »Wie geht’s dir?«

»Alles beim alten. Und dir?«

»Alles beim alten.«

Dann folgte ein kurzes Schweigen. Zufrieden stellten sie fest, daß sie sich in den vierzehn Tagen nicht allzusehr verändert hatten.

»Einen davon?« nahm Camille das Gespräch wieder auf und schickte sich an, eine Flasche trockenen Weißwein zu entkorken.

»Nein, danke«, erwiderte Flécheux und hob abwehrend die Hand. »Ich wollte dich nur was fragen.«

»Was Wichtiges? Möchtest du, daß wir nach hinten gehen?«

Er zeigte mit dem Daumen auf den bunten Vorhang aus Plastikkorken, der den Gastraum von der Küche trennte.

»Nein, ich brauche nur ’nen kleinen Tip. Ich hab’ da einen Auftrag am Hals, von ’ner älteren Dame, die hier im Viertel wohnt. Rue Notre-Dame. Ihr Name sagt mir nichts. Und ich möchte wissen, ob du sie kennst. Sie heißt Mouchardon. Witwe Mouchardon.«

Camille legte die Stirn in Falten und dachte nach. Dabei wischte er weiter die Theke auf. Er schaffte beides zugleich.

»Moment ’mal! … Mou-char-don. Mouchardon! Das sagt mir irgendwas. Ist ’n Name, den man sich einprägt. Ich meine, den hätt’ ich vor nicht allzu langer Zeit gehört.« Er schob mit seiner mächtigen Faust den Vorhang beiseite.

»Hör mal, Fanny! Der Name Mouchardon, sagt dir das was?«

Eine schrille Stimme tönte aus der Küche zurück:

»Ja! Das ist doch die ältere Dame, die eine Putzfrau für das Haus in der Rue Notre-Dame gesucht hat …«

Flécheux wußte, daß die Rue Notre-Dame irgendwo in der Nähe lag, aber er wußte nicht mehr genau wo.

»Was für ein Haus?« fragte er.

»Was für ein Haus?« echote Camille mit beträchtlich höherer Lautstärke in Richtung Küche.

Die Gäste, an alle Arten von Geschrei sichtlich gewöhnt, wandten nicht einmal die Köpfe um.

»Na, das Haus eben!« kreischte dieselbe schrille Stimme.

Camille zog die Schultern hoch, um auszudrücken, daß er nicht verstand, was das heißen sollte, und daß er für die Dummheit seiner Frau nicht verantwortlich war.

»Ich kapier’ nichts! Komm doch mal eben raus … La Flèche ist da!«

Sogleich tauchte Fanny hinter dem Vorhang auf, in der einen Hand eine angeschnittene Baguette und in der anderen ein Messer. Sie machte gerade ein Tablett »Schinkenbrot mit Butter« zurecht. Für Flécheux setzte sie bereitwillig ihr strahlendstes Lächeln auf. Der Detektiv war schon immer ihr spezieller Liebling gewesen.

»Also, was ist mit dem Haus?« brummte der Kneipier.

»Es ist das einzige Einfamilienhaus in der Rue Notre-Dame«, erklärte Fanny mit geduldigem Tonfall, so als redete sie mit Vollidioten. »Alle anderen Gebäude in der Straße sind Mietskasernen.«

»Wo liegt es denn ungefähr?« fragte Flécheux.

»Direkt hinter dem Tabakladen, Hausnummer 30, schätz’ ich.«

»Kann’s auch die 27 sein?«

»Schon möglich«, räumte Fanny zögernd ein. Sollte sie etwa sämtliche Hausnummern der Stadt auswendig kennen?

»Und die Frau, kennen Sie sie?«

»Ich hab’ sie ein- oder zweimal auf dem Markt gesehen … aber das erste Mal bin ich ihr hier begegnet. Sie suchte eine Haushälterin. Ich hab’ ihr die Adresse von Amalia Pereira gegeben. Mit der ist sie dann auch handelseinig geworden, glaub’ ich.«

»Ist das lange her?« fragte Flécheux.

Fanny bemühte ihr Erinnerungsvermögen. Ihre wasserblauen Augen schienen weit zurück in die Vergangenheit zu blicken.

»Zwei, drei Monate, schätz’ ich.«

»Wohnt die Frau schon lange hier im Viertel?«

»Nein, ich glaube, sie war damals gerade erst hergezogen. Das Haus in der Rue Notre-Dame hat mindestens zwei oder drei Jahre leergestanden. Es hieß sogar, es würde bald abgerissen.«

»Aha«, gab Flécheux lakonisch zurück. »Und wie ist sie so, diese Madame Mouchardon?«

Schweigend hörte er sich Fannys Beschreibung an. Eine umständliche und doch sehr ungenaue Beschreibung, so wie er es gewöhnt war. Die meisten Menschen sind außerstande, korrekt ihren Ehepartner, ihre Tochter oder ihre Mutter zu beschreiben, von fremden Personen ganz zu schweigen.

Er hatte Mühe zu glauben, daß sie wirklich dieselbe Frau beschrieb, die er meinte. Er kramte das Foto mit der »Mexikanerin« aus seinem Mantel hervor. Der Regen hatte bereits einen Teil der Glanzschicht weggefressen, und die Ecken waren eingeknickt. So ging er immer mit den Unterlagen um, die man ihm anvertraute: Im Handumdrehen befanden sie sich in einem erbarmungswürdigen Zustand.

»Kenn’ ich nicht!« verkündete Fanny, nachdem sie ein paar fettige Fingerabdrücke auf der Fotografie hinterlassen hatte.

Camille begutachtete den wohlgeformten kleinen Bauch mit dem entzückenden Nabel ebenso ausgiebig wie das kindliche Gesicht. Beides war ihm gleichermaßen unbekannt.

Sorgfältig rollte Flécheux das Foto zusammen, bevor er es wieder in seine Manteltasche steckte.

»Na schön. Ich danke euch. Selbstverständlich bleibt das alles unter uns. Okay?« Dabei tippte er mit dem Zeigefinger auf den Tresen, was bedeuten sollte, daß er Geheimhaltung oder besser noch Vergessen verlangte. Camille und Fanny zuckten mit den Schultern. Aber sicher, das verstand sich doch von selbst!

Die Rue Notre-Dame lag in entgegengesetzter Richtung zur Kathedrale gleichen Namens. Es war eine ruhige, graue Straße: eine typische Vorstadtstraße. Eigentlich war sie eher eine Sackgasse: Sie bestand aus zwei Reihen fleckiger Mietshäuser, und ihren Abschluß bildete ein würfelförmiges, heruntergekommenes Gebäude, das wohl früher einmal ein »herrschaftliches Stadthaus« gewesen war. Der von ferne an einen Park erinnernde Garten, der sich rings um das Haus erstreckte, sah ungepflegt und verwahrlost aus, und an der Vorderfront hing ein Fensterladen schief in seinen aus der Wand gerissenen Verankerungen. Gardinen an den Fenstern, ein Milchtopf auf einem Fensterbrett und eine Geranie auf einer der Stufen der Außentreppe deuteten auf eine menschliche Anwesenheit. Dennoch machte das Ganze einen sehr heruntergekommenen Eindruck.

Flécheux betätigte den Klingelzug, ein merkwürdiges, in das Gemäuer des Torgitters eingelassenes Gebilde aus Bronze. Wie gequält quietschte ein Draht auf und löste sich aus dem Mauerwerk. Einige Gipskrümel rollten zu Boden. Mit den Augen folgte Flécheux dem weiteren Verlauf der Drahtleitung, die einen Teil des Gartens durchquerte und oben an der Freitreppe endete, wo sie sich durch einen unsichtbaren Spalt in den Tiefen des Hauses verlor. Die leichte Vibration des Drahtes, die der Griff des Detektivs hervorgerufen hatte, erstarb, bevor sie ein Drittel des Weges zurückgelegt hatte. Flécheux zog noch einmal, diesmal etwas fester, an der Klingel. Das versetzte den Draht zwar in stärkere Schwingungen als vorher, doch eine Wirkung erzielte er auch damit nicht. Er probierte es mit beiden Händen, gab diesen Versuch aber sofort wieder auf, weil er fürchtete, den Klingelzug abzureißen oder gar die ganze Mauer ins Wanken zu bringen. Seine Stimmung sank auf den Nullpunkt.

Dabei hatte es endlich aufgehört zu regnen. Es schien sogar die Sonne, eine grelle Sonne, wie sie nach Regenfällen hervorbricht – eine Sonne, die die Wasserpfützen wie Spiegel aufblitzen läßt.

Flécheux stieß mit einer unwirschen, heftigen Bewegung gegen das schwere verrostete Eisentor. Zu seiner Überraschung drehten sich die offenbar gut geölten Scharniere mühelos in ihren Angeln, und der Detektiv stieß, vom Schwung seiner Bewegung mitgerissen, mit der Schulter gegen den Mittelpfosten des zweiten Torflügels. Wütend blickte er zum Haus hinüber und bemerkte gerade noch, wie hinter einem der Fenster eine Gardine zugezogen wurde. Man hatte ihn gesehen.

Er rieb sich die schmerzende Schulter und stapfte verdrossen auf die Außentreppe zu. Sein Mantel hatte am Ärmel einen schönen Riß. Er war nicht mehr wütend, sondern betrübt wie ein kleiner Junge, dem man ein Spielzeug zerbrochen hat.

In schneller Folge klopfte er mehrmals an die Haustür. Dann fiel ihm aber ein, daß er mit diesem Trommelfeuer eine Unhöflichkeit beging. Da sich nichts rührte, pochte er mit gebührendem Abstand, aber kräftiger, zwei weitere Male. Im Haus blieb alles still. Dabei war er sicher, jemanden gesehen zu haben oder jedenfalls die Bewegung eines Vorhangs, die er unwillkürlich mit einer Person in Verbindung gebracht hatte, die ihn heimlich beobachtete. Sollte er sich geirrt haben? Er war so wütend über sein kleines Mißgeschickt am Eingangstor gewesen, daß die Erregung womöglich seinen objektiven Blick getrübt hatte.

Er klopfte ein letztes Mal an die Tür. Da sich immer noch nichts rührte, beschloß er zu gehen. Doch unwillkürlich drehte er am Türknopf – einfach so, auf gut Glück. Und die Tür ging auf wie vorhin das Gartentor. Flécheux hörte das sture Ticken einer Wanduhr, Küchengeruch stieg ihm in die Nase: wahrscheinlich gedünstetes Gemüse. Er lauschte eine Weile und vernahm schließlich das Zischen eines Schnellkochtopfs.

»Ist da jemand?« rief er in die Diele hinein. Der Widerhall seiner Worte war so laut, daß er unwillkürlich die Stimme senkte. »Madame Mouchardon? Sind Sie da? Ich bin’s, Robert Flécheux vom Detektivbüro Clairival.« Abgesehen von der Uhr und dem Schnellkochtopf, der inzwischen verrückt spielte, blieb alles still. »Ist da jemand? Hallo! Darf ich ’reinkommen?«

Nichts. Flécheux wartete einen Augenblick unschlüssig. Es sah ganz so aus, als sei kein Mensch im Haus. Aber wieso stand dann der Schnellkocher auf dem Feuer? Diese Art der Essenszubereitung verlangt, daß man sich nicht allzuweit von der Kochstelle entfernt. Und dazu alle diese offenstehenden Türen … Ältere Menschen pflegen sich eher einzuschließen und drehen dabei den Schlüssel lieber zweimal als einmal herum.

Plötzlich ein schrilles Klingeln. Ohne lange zu überlegen, stürzte Flécheux in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Er durchquerte ein Eßzimmer und stand in der Küche. Der Küchenwecker tuckerte noch ein bißchen und blieb dann stehen, während das Ventil des Schnellkochtopfs sich in rasendem Tempo weiterdrehte. Flécheux stellte das Gas ab und beugte sich dann über die Frau, die inmitten von Glasscherben und verstreut herumliegenden Kartoffelschalen und Gemüseabfällen regungslos auf den Fliesen lag. Zuerst hielt er für Blut, was in Wirklichkeit nur Tomatensauce war, die allenthalben in dicken Klecksen am Boden klebte.

Die Frau lebte noch. Ein bißchen Wasser und ein paar Klapse auf die Wangen halfen ihr rasch, aus ihrer Bewußtlosigkeit zu erwachen. Sie murmelte einige unverständliche Sätze, denen Flécheux immerhin entnehmen konnte, daß sie portugiesisch sprach. Sofort war ihm klar, daß diese korpulente kleine Frau mit den dunklen Haaren nur jene Amalia Pereira sein konnte, von der Fanny Barrois ihm erzählt hatte. Sie schlug die Augen auf. Erschrocken starrte sie Flécheux an und hob abwehrend den Arm vors Gesicht.

»Haben Sie keine Angst!« sagte Flécheux und zwang sich zu einem Lächeln. »Was ist passiert?«

»Madame da drüben!« stammelte die mutmaßliche Hausgehilfin und wies zitternd auf irgendein anderes Zimmer im Haus.

Flécheux half ihr auf die Beine und setzte sie auf einen Stuhl. Er verließ die Küche und durchquerte wieder das Eßzimmer. Gegenüber, auf der anderen Seite der Diele, rechts von der Treppe, die in die oberen Stockwerke führte, stand eine Tür halboffen. Flécheux stieß sie vollends auf und trat in das Zimmer. In derselben steifen Haltung wie einige Tage zuvor, die Hand um ihren Stock gekrampft, sah Madame Mouchardon den Detektiv mit strenger Miene an.

Flécheux trat auf sie zu und suchte nach ein paar entschuldigenden Worten, was für ihn stets eine große Anstrengung darstellte. Doch schon nach wenigen Schritten begriff er, daß die alte Dame tot war.

Der Kommissar sah sich zum zwanzigsten Mal den lädierten Trenchcoat an, der in einer Pappschachtel darauf wartete, ins Labor gebracht zu werden. Er blickte sehr verdrossen drein.

Dann blickte er zu dem alten Arzt auf, der Flécheux’ aufgeschrammte Schulter begutachtete.

»Wie sieht’s aus, Doktor?«

»Kein Zweifel, daß es sich hier um eine ganz banale Verletzung handelt. Das ist nur eine leichte Prellung mit geringfügiger Hautabschürfung. Außerdem wird sich ein Bluterguß bilden«, referierte der Mediziner. Und zu Flécheux gewandt, fügte er hinzu: »Junge, Junge, da blüht Ihnen ein prächtiges Veilchen!« Sein vertraulicher Ton verriet, daß er den Detektiv gut kannte. Freundschaftlich klopfte er ihm auf die gesunde Schulter.

»Ihr Fazit?« fragte der Kommissar ungeduldig. Er war noch jung, vermutlich kaum dreißig, und offenbar neu im kriminalistischen Gewerbe.

»Flécheux sagt mit Sicherheit die Wahrheit«, erwiderte der Arzt und klappte sein Köfferchen zu. »Er muß sich gestoßen haben, als er das Anwesen um die Villa betrat.« Die Art, wie er das Wort »Villa« aussprach, weckte die Vorstellung von etwas Prunkvollem. »So etwas soll ja vorkommen, nicht wahr? Die Verletzung ist zu oberflächlich und geringfügig, als daß wir ihr irgendeine Bedeutung beimessen müssen.«

»Doktor, ich möchte ein wissenschaftliches Gutachten von Ihnen«, bemerkte der junge Beamte bissig, »und nicht Ihre persönliche Ansicht über die Umstände, die zu der Verletzung geführt haben. Wie ich sehe, sind Sie mit dem Herrn befreundet.«

Der Doktor brach in Lachen aus.

»Befreundet? Mit Robert Flécheux? Doch nicht mit so einem Lausebengel! Es sind mindestens dreißig Jahre her, daß ich ihm die ersten Ohrfeigen verpaßt habe, weil er in meinem Garten Kirschen geklaut hatte, übrigens zusammen mit diesem anderen Galgenstrick Louis Hénard. Jawohl, mit Ihrem obersten Vorgesetzten, junger Mann! Und nun wollen ausgerechnet diese beiden Taugenichtse für Ruhe und Ordnung im Lande sorgen! Die verdammten Strolche! Sollte mich gar nicht wundern, wenn er sich das da (er schüttelte Flécheux’ Arm) geholt hat, als er über die Mauer eines Obstgartens gekraxelt ist. Hab’ ich recht, Robert?«

Flécheux grinste. Dieser Dr. Fulbert war wirklich noch immer der alte.

»Und der Mantel?« beharrte der Kommissar, der immer gereizter dreinschaute. »Den hat er sich ja wohl kaum an einem Mauervorsprung zerrissen!«

»Der Mantel? Der ist doch derart altersschwach, daß ich nicht sicher bin, ob er überhaupt die Reise bis zu Ihrem Labor übersteht«, schmunzelte der Arzt. »Manchmal frage ich mich, ob Flécheux nicht mit dem Dinge auf die Welt gekommen ist. Aber das würde ich wissen, denn schließlich war ich es, der ihm geholfen hat, das Licht dieser Welt zu erblicken. Ich glaube, er war überhaupt mein erstes Baby. Ich war gerade erst, mit einem taufrischen Diplom im Gepäck, in die Stadt gekommen.« Er lächelte bei diesem kurzen Exkurs in die Vergangenheit. »Ja, ein ganz schöner Grünschnabel von Medizinmann war ich damals!« Und mit einem Blick auf den Kommissar fügte er hinzu: »Mein Gott, ich muß ungefähr in Ihrem Alter gewesen sein …«

Der Kommissar verstand den Seitenhieb,. Verdrossen stand er auf. Nun, da er hinter dem Bollwerk seines Schreibtischs hervortrat, sah er noch jünger und unbedeutender aus. Steif wandte er sich erst dem Doktor, dann Flécheux zu:

»Also gut. Da weder Sie noch Inspektor Hénard der Ansicht sind, daß im vorliegenden Falle ein ausreichender Tatverdacht besteht, werde ich nicht, wie es ursprünglich meine Absicht war, Haftbefehl gegen Sie erlassen. Trotzdem muß ich Sie bitten, sich freundlicherweise zu unserer Verfügung zu halten und die Stadt nicht zu verlassen. Inspektor Hénard wird Ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Danke, meine Herren.«

Die beiden Angesprochenen nickten nur und entfernten sich.

Hinter der Tür warteten Hénard und Clairival auf sie. In einer anderen Ecke des Kommissariats mühte sich ein Beamter, der offenbar kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand, ab, mit Hilfe einer Schreibmaschine Amalias Redeschwall zu Papier zu bringen.

»Nun?« fragten Hénard und Clairival fast gleichzeitig.

»Der Junge ist frei«, mischte sich der Arzt ein. »Vorläufig wenigstens. Meine Herren, ich darf mich verabschieden. Ich muß los, meinen Bericht schreiben.«

Und mit ruhigen, kurzen Schritten ging er seines Weges. Mehr noch als sein Gesicht und seine Redseligkeit verriet die Art, wie er sich fortbewegte, daß er langsam in die Jahre kam.

»Ein Glück, daß der alte Fulbert da war«, sagte Flécheux. »Ich glaube, ohne ihn hättest du mir ’ne Pritsche in deiner Pension zurechtmachen müssen, alter Junge.«

Inspektor Hénard schien erleichtert. Und Clairival verabschiedete sich:

»Na dann, wenn du mich nicht mehr brauchst, fahre ich jetzt ins Büro zurück. Ich hoffe, du wirst bald aus dem Schlamassel raus sein.«

Mit langen, aufgeregten Schritten durchquerte Clairival das Kommissariat. Der Beamte hinter der Schreibmaschine zwinkerte mit den Augen, als die berühmte Krawatte an ihm vorbeiwehte.

»Hier, sag mir, ob das so richtig ist«, sagte Hénard und hielt Flécheux einige durch Kohlepapier voneinander getrennte Schreibmaschinenseiten hin.

Flüchtig überflog der Detektiv seine protokollierte Aussage. Es war die fast wortgetreue Wiedergabe dessen, was er seinem Freund eine Stunde zuvor erzählt hatte. Inspektor Hénards Gedächtnis war von sprichwörtlicher Präzision.

»Ausgezeichnet. Wo muß ich unterschreiben?«

Hénard legte den Finger auf den unteren Rand des Blattes. Nach etlichen Fehlversuchen gelang es Flécheux, seinen Kugelschreiber zum Funktionieren zu bringen. Er unterzeichnete.

»Das wär’ das. Und nun? Hast du Zeit, einen trinken zu gehen?« schlug er dem Inspektor vor.

»Na klar«, erwiderte Hénard.

Schon als Kinder hatten sie zusammen dieselben Klingeln gedrückt, dieselben Scheiben eingeworfen und später mit denselben Mädchen herumgeknutscht. Vor zehn Jahren hatten sie sich nach langer Abwesenheit wiedergetroffen. Hénard war nach mehreren Anstellungen im Innenministerium gerade hierher versetzt worden, während Flécheux seit zwei Jahren wieder im Lande gewesen war, nachdem er sich ohne allzugroßen Erfolg mal hier, mal dort herumgetrieben hatte.

Sie gingen regelmäßig zusammen essen, und hin und wieder, wenn auch nicht allzuoft, arbeiteten sie am gleichen Fall.

Mit sichtlichem Behagen betraten sie gemeinsam das Café du Commerce, und wie aus einem Munde bestellten sie »Zwei Halbe mit Limo«.

In der Befürchtung, daß seine kleinen Zeichnungen ihn bei jedem Psychologen hoffnungslos kompromittieren würden, zerriß Flécheux das barocke Fresko, mit dem er im Verlauf einer guten Stunde angestrengten Nachdenkens eine Seite seines Schreibblocks gefüllt hatte. Fast sofort begann er ein neues Blatt zu bekritzeln.

Dem ersten Anschein zum Trotz war die alte Madame Mouchardon keines gewaltsamen Todes gestorben. Sie hatte ganz einfach einen Herzschlag erlitten, einen jener Herzschläge, die ihr Opfer so plötzlich und unerwartet ereilen, daß ihm nicht einmal Zeit bleibt, sich hinzulegen.

Die Autopsie hatte Dr. Fulberts Untersuchungsergebnis nur bestätigt. Madame Mouchardon war zwischen zehn Uhr morgens und zwölf Uhr mittags gestorben, was die Arbeit der Polizei beträchtlich erschwerte, weil der Überfall auf Amalia Pereira de Souza dadurch völlig unverständlich wurde. Denn die Aufwartefrau und Köchin der verstorbenen Madame Mouchardon war eindeutig mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden.

Die unglückliche Gastarbeiterin erinnerte sich natürlich an nichts. Sie hatte gerade den Schnellkochtopf aufgesetzt und den Küchenwecker eingestellt, als ein heftiger Schlag auf den Kopf ihr das Bewußtsein raubte. Erst durch den Beistand des Detektivs war sie wieder zu sich gekommen.

Außer dieser Aussage konnte sie keine »declaração« abgeben. Sie hatte morgens um zehn ihren Dienst angetreten. Niemand war gekommen, und Madame Mouchardon hatte, wie gewöhnlich in endlose Träumereien versunken, den ganzen Vormittag im Wohnzimmer verbracht.

Man hatte Madame Pereira de Souzas Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung überprüft. Beide waren völlig in Ordnung. Madame Pereira hatte ausgesagt, daß sie seit dem 16. Januar für Madame Mouchardon arbeitete; Madame Barrois von der Bar Breton habe sie miteinander bekannt gemacht. Monsieur Pereira war als Kranführer bei einem Bauunternehmen beschäftigt, das dem Bürgermeister der Stadt gehörte. Letzterer hatte von sich aus Anweisung gegeben, das Ehepaar Pereira nicht mehr, als für den Fortgang der Ermittlungen unbedingt notwendig war, zu behelligen.

Ein Verlust von Wertsachen oder anderen Dingen konnte in dem Haus in der Rue Notre-Dame nicht festgestellt werden. Eine endgültige Bestätigung, daß tatsächlich nichts fehlte, hätte allerdings nur Madame Mouchardon selber geben können. Auch die Spurensuche erbrachte keinerlei Ergebnisse. Außer den Fingerabdrücken der alten Dame und ihrer Haushälterin fand man einige, die von Flécheux stammten: auf dem Griff der Haustür und am Rahmen der Wohnzimmertür, am Gasherd, am Spülbecken und auf den Fliesen rings um die Stelle, wo Madame Pereira am Boden gelegen hatte. Das alles bestätigte nur die Aussagen des Detektivs.

Die Laboranalyse, aus der hervorging, daß der feine Staub (es war Salpeter), der rings um die Rißstelle des Trenchcoats gefunden wurde, exakt mit den Mörtelteilchen der Mauer am Eingangstor übereinstimmte, sprach Flécheux endgültig von jedem Verdacht frei.

Die »Anzeige gegen Unbekannt« landete rasch im Aktenkeller. Für Kommissar Neuville war der Fall abgeschlossen.

Und auch Amalia Pereira bemühte sich, die Geschichte in der Rue Notre-Dame zu vergessen.

Nur Flécheux ließ sie keine Ruhe.

Und auch Kommissar Hénard nicht.

Bei der kurzen Hausdurchsuchung (die »auf die Schnelle« gemacht werden konnte, da die beiden oberen Stockwerke unbewohnt waren), war es Hénard, der diese Arbeit zusammen mit Madame Pereira erledigte, nicht gelungen, den ominösen Fragebogen des Ermittlungs- und Fahndungsbüros Clairival zu finden. Flécheux hoffte, Madame Mouchardon hätte ihm das Papier womöglich mit der Post zugestellt. Aber er lauerte dem Briefträger vergebens auf.

Madame Pereira, die der Detektiv vor der Tür der Bäckerei geschickt abgefangen hatte, erklärte, ihr sei ein derartiges Dokument bei der alten Dame nie zu Gesicht gekommen.

Man mußte also davon ausgehen, daß das Schriftstück verschwunden war.

Flécheux gab dieser Umstand zu denken. Überhaupt hatte er sich seit dem Ableben seiner Klientin oft gefragt, weshalb gerade er und niemand sonst den Auftrag erhielt, ihre Enkelin zu suchen. Allmählich begann er zu glauben, daß die alte Dame nicht gelogen hatte: Diesmal handelte es sich vielleicht wirklich um eine außergewöhnliche Angelegenheit.

Es war ihr zumindest gelungen, ihn neugierig zu machen.

Während er weiterhin seine routinemäßige Beschattungs- und Ermittlungsarbeit verrichtete, ging ihm fortwährend das sonderbare Geflecht von Ereignissen und Fakten, das er bereits den »Fall Mouchardon« nannte, im Kopf herum. Er hatte es sogar schon mehrere Male versäumt, fristgerecht die Ehebruchsbilanzen vorzulegen, die er anderen Auftraggebern versprochen hatte. Das hatte dann dazu geführt, daß er sich wieder einmal lautstark mit Clairival auseinandersetzen mußte.

Aber im Augenblick wollte er nur eins: sich ausschließlich mit dem »Fall Mouchardon« beschäftigen.

Das beste war, nicht um den heißen Brei herumzureden und die Angelegenheit offen mit Clairival zu besprechen. Wahrscheinlich würde es einen Mordskrach geben, aber dann wäre die Situation geklärt. Außerdem war gar nicht einmal sicher, ob Clairival überhaupt etwas dagegen hatte.

Sorgfältig zerriß Flécheux seine letzte graphische Schöpfung und klopfte an die Tür, die sein Büro direkt mit dem seines Geschäftspartners verband.

Clairival war nicht allein.