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Mount Dragon E-Book

Douglas Preston

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Beschreibung

In Mount Dragon, einem geheimnisumwitterten Forschungslabor mitten in der Wüste von New Mexico, arbeitet eine Handvoll hochkarätiger Wissenschaftler an einem Präparat, das tagtäglich Tausenden von Menschen das Leben retten könnte. Doch etwas läuft gewaltig schief in diesem Labor ... Mount Dragon von Lincoln Child, Douglas Preston: Spannung pur im eBook!

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Douglas Preston / Lincoln Child

Mount Dragon

Labor des Todes Thriller

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas A. Merk

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungMottoEinleitungTEIL EINSabTEIL ZWEIabTEIL DREIabcEpilogDanksagung
[home]

Für Jerome Preston seniorDouglas Preston

 

Für Luchie, meine Eltern und Nina SollerLincoln Child

[home]

Unsere Symbole schreien ins All hinaus,Wie die Pfeile des JägersFliegen sieIn den hohen, schwarzen Himmel der Nacht.

 

Wie spitze SpeereBohren sieWarme Wunden in weiches Fleisch.

 

Sie rasen wie Feuer übers LandUnd treiben die Büffel vor sich her.

Franklin Burt

 

Ein Fenster zur Apokalypse ist mehr als genug.Susan Wright/Robert L. SinsheimerBulletin of Atomic Scientists

[home]

Einleitung

Die gedämpften Schreie, die an diesem friedlichen Frühlingsmorgen über die weiten, grünen Rasenflächen geweht kamen, fügten sich so unauffällig in die Umgebung ein wie das Gekrächze der Raben im nahen Wald oder das Wiehern eines Pferdes in der Koppel auf der anderen Seite des braunen Flusses. Man mußte schon sehr genau hinhören, um zu erkennen, daß es sich um die Schreie eines Menschen handelte.

Das langgestreckte Gebäude des Featherwood-Park-Sanatoriums lag halb verborgen im Schatten hoher Pappeln. Der Kies in der überdachten Auffahrt knirschte unter den Reifen eines gerade losfahrenden Krankenwagens, und die mit Luftdruck betriebene Tür des Haupteingangs schloß sich mit leisem Zischen.

Die Angestellten des Sanatoriums benützten nicht den Haupteingang, sondern eine unscheinbare weiße Tür um die Ecke. Lloyd Fossey trat darauf zu, streckte die Hand nach einem in der Wand eingelassenen Tastenfeld aus und tippte seine Kombination ein. Auf dem Weg vom Parkplatz hatte er die Melodie von Dvoráks Klaviertrio in b-Moll vor sich hingesummt, das er eben im Autoradio gehört hatte. Jetzt runzelte er die Stirn und hörte damit auf. Hier, seitlich des Gebäudes, waren die Schreie sehr viel lauter.

Drinnen klingelten in der Schwesternstation mehrere Telefone auf einmal. »Guten Morgen, Dr. Fossey«, sagte die Schwester und blickte von ihrem mit Papieren übersäten Tisch auf.

»Guten Morgen«, antwortete er, und sie schenkte ihm trotz der Hektik ein strahlendes Lächeln. »Hier geht es ja wieder zu!«

»Heute früh kamen kurz hintereinander zwei Notfälle herein«, sagte die Schwester und gab ihm mit der linken Hand zwei Krankenblätter, während sie mit der rechten ein Formular ausfüllte. »Und jetzt haben sie gerade diesen Schreihals gebracht.«

»Den habe ich schon auf dem Weg vom Parkplatz gehört«, sagte Fossey, kramte aus der Brusttasche seines Jacketts einen Kugelschreiber und besah sich die Krankenakte. »Ist der Krakeeler etwa für mich?«

»Nein, für Dr. Garriot«, antwortete die Schwester und sah von ihrem Formular auf. »Aber einer von den beiden heute morgen ist für Sie.«

Irgendwo ging eine Tür auf, so daß die Schreie auf einmal noch lauter zu hören waren, vermischt mit den aufgeregten Stimmen von Ärzten und Pflegern. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und Fossey hörte nur noch die normalen Geräusche auf der Schwesternstation.

»Ich werde mir den Patienten von heute früh gleich einmal ansehen«, sagte er und überflog auf dem Krankenblatt rasch die wichtigsten Daten. Bei den Worten »Geschlossene Abteilung« stutzte er.

»Waren Sie dabei, als dieser Patient eingeliefert wurde?« fragte er.

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Da müssen Sie mit Will sprechen, Dr. Fossey. Der hat ihn vor einer Stunde nach unten gebracht.«

 

In der geschlossenen Abteilung des Sanatoriums gab es nur ein einziges Fenster. Es ging von der Wachstation hinaus auf die Treppe zur Station zwei. Dr. Fossey drückte auf die Klingel an der Wand daneben und sah kurz darauf Will Hartung mit bleichem Gesicht und struppigen Haaren auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe auftauchen. Will betätigte einen Knopf, und die Tür zur geschlossenen Abteilung wurde mit einem Knall, der fast so laut wie ein Pistolenschuß war, automatisch entriegelt.

»Na, wie geht’s denn so, Doc?« fragte Will. Er saß bereits wieder an seinem Platz hinter der langen Theke, auf der eine Ausgabe von Shakespeares Sonetten lag.

»Und wie geht’s Ihnen, Will? Wieder mal verliebt?« fragte Fossey mit einem Blick auf das Buch zurück.

»Sie sind mir vielleicht einer, Dr. Fossey. Warum vergeuden Sie Ihr Talent bloß als Mediziner?« Will gab Fossey das Besucherbuch und schneuzte sich. Am anderen Ende der Theke füllte ein neuer Pfleger Krankenformulare aus.

»Ich wüßte gerne mehr über den Patienten, der heute früh hier eingeliefert wurde«, sagte Fossey und gab Will das unterschriebene Besucherbuch zurück. Das Klemmbrett mit der Krankenakte hatte er sich dabei unter den Arm geschoben.

Will zuckte mit den Achseln. »Unauffälliger Typ. Nicht allzu gesprächig, was kein Wunder ist bei dem vielen Haldol, mit dem die ihn vollgepumpt haben.«

Fossey runzelte die Stirn und sah in der Krankenakte nach.

»Mein Gott. Hundert Milligramm alle zwölf Stunden!«

»Die am Albuquerque General Hospital haben es wohl etwas zu gut mit ihm gemeint«, sagte Will.

»Wenn ich ihn untersucht habe, werde ich die Dosis herabsetzen«, sagte Fossey. »Bis auf weiteres kriegt er kein Haldol mehr. Wie soll ich ihn behandeln, wenn er überhaupt nicht richtig da ist?«

»Er ist in der Sechs«, sagte Will. »Ich bringe Sie hinunter.«

 

Über der inneren Tür war ein Schild angebracht, auf dem in großen, roten Buchstaben stand: Achtung! Fluchtgefahr. Der neue Pfleger pfiff leise durch die Zähne, sperrte die Tür auf und ließ sie herein.

»Sie wissen, daß ich es nicht gerne sehe, wenn neue Patienten in die geschlossene Abteilung eingewiesen werden, bevor ich sie überhaupt untersucht habe«, sagte Fossey, als er, Will und der Pfleger den kahlen Korridor entlanggingen. »Das kann einem Patienten ein gänzlich falsches Bild von unserem Sanatorium vermitteln, bevor wir überhaupt mit der Therapie begonnen haben.«

»Es war nicht meine Schuld, Doc«, entgegnete Will und blieb vor einer verkratzten, schwarzlackierten Tür stehen. »Das war der ausdrückliche Wunsch der Ärzte aus Albuquerque, die ihn uns überwiesen haben.« Er schloß die Tür auf und schob einen schweren Riegel zurück. »Wollen Sie, daß ich mit reingehe?« fragte er.

Fossey schüttelte den Kopf. »Ich rufe Sie, wenn ich Hilfe brauche.«

Der Patient lag mit dem Gesicht nach oben auf einer großen Transporttrage. Die Arme hatte man ihm auf den Seiten, die Beine an den Knöcheln mit breiten Ledergurten festgezurrt. Von der Tür aus konnte Fossey nicht viel vom Gesicht des Patienten erkennen, lediglich eine ziemlich große Nase und ein breites, von den Stoppeln eines Dreitagebartes überzogenes Kinn. Der Arzt schloß leise die Tür und trat langsam auf seinen neuen Patienten zu. Nach all den Jahren, die er jetzt schon hier am Sanatorium arbeitete, hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt, wie seine Schuhe im weich gepolsterten Boden der Gummizelle versanken. Während Fossey auf die Trage zuging, beobachtete er die hingestreckte Gestalt genau. Die Brust des Patienten unter den zwei breiten Stoffbändern, die aussahen wie gekreuzte Patronengurte, hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen.

Fossey holte noch einmal tief Luft, dann räusperte er sich und wartete auf eine Reaktion des Patienten.

Während er mit kleinen Schritten noch etwas näher an die Trage trat, stellte er ein paar Berechnungen an. Vor vierzehn Stunden war der Mann vom Krankenhaus in Albuquerque fortgebracht worden. Es konnte also nicht mehr am Haldol liegen, daß er so ruhig war.

Fossey räusperte sich noch einmal. Dann sagte er: »Guten Morgen, Mr. …« und suchte in der Krankenakte den Namen des Mannes.

»Dr. Franklin Burt«, hörte er auf einmal den Patienten mit ruhiger Stimme sagen. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich mich nicht aufrichten und Ihnen die Hand geben kann, aber wie Sie ja sehen …« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.

Überrascht hob Fossey den Blick von seinem Klemmbrett und sah dem Patienten ins Gesicht. Dr. Franklin Burt. Dieser Name war ihm vertraut.

Fossey blätterte die Krankenakte zurück auf die erste Seite und las: Dr. Franklin Burt, Molekularbiologe, Dr. med., Dr. phil., Wissenschaftler im Testlabor der Firma Gene-Dyne in der Jornada-del-Muerto-Wüste. Irgend jemand hatte hinter diese Berufsbezeichnung ein Fragezeichen gemalt.

»Sie sind Dr. Burt?« fragte Fossey ungläubig und sah dem Mann wieder ins Gesicht.

Die grauen Augen des Patienten blickten Fossey erstaunt an. »Kennen Sie mich etwa?«

Es war Dr. Burt, natürlich älter und viel braungebrannter, als Fossey ihn in Erinnerung hatte, aber mit relativ wenigen Falten auf der Stirn und in den Augenwinkeln. Die Augen waren stark blutunterlaufen, und an einer Schläfe klebte ein großes Pflaster. Fossey war erschüttert, denn er kannte diesen Mann gut, hatte Vorlesungen von ihm besucht. Es war Fosseys Bewunderung für diesen charismatischen und brillanten Professor gewesen, die in gewisser Weise seine Berufswahl maßgeblich beeinflußt hatte. Wie konnte es sein, daß ausgerechnet dieser Mann, an eine Trage gefesselt, hierher in die Gummizelle der geschlossenen Abteilung gelangt war?

»Ich bin’s, Doktor. Lloyd Fossey«, sagte er. »Ich habe in Yale bei Ihnen studiert. Wir haben nach den Vorlesungen manchmal miteinander diskutiert. Meistens über synthetische Hormone …«

Fossey hoffte inständig, daß der Gefesselte sich an ihn erinnerte. Burt dachte eine Weile nach, dann nickte er und seufzte leise.

»Natürlich. Entschuldigen Sie bitte. Selbstverständlich erinnere ich mich an Sie. Sie haben damals eine Arbeit über synthetisches Erythropoietin und Metastasenbildung geschrieben.«

Fossey war erleichtert. »Es ist mir eine Ehre, daß Sie sich daran noch erinnern.«

Burt zögerte ein wenig, bevor er weitersprach. »Es freut mich wirklich, daß Sie Arzt geworden sind«, sagte er schließlich und verzog den Mund, als fände er diese merkwürdige Situation irgendwie amüsant.

Fossey hätte viel darum gegeben, wenn er jetzt in Ruhe die Krankenakte auf seinem Klemmbrett hätte studieren können. Vielleicht hätte er in den Diagnosen und Laborberichten irgendeine Erklärung dafür gefunden, weshalb sein früherer Professor jetzt hier war. Er spürte, wie Dr. Burt ihn anstarrte, als habe er seine Gedanken erraten.

Fossey ließ den Blick kurz über das Klemmbrett wandern. Die Worte, die er dabei las, ließen ihn sofort wieder aufsehen: Paranoide Psychose … hochgradig wahnhaft … durch Neuroleptikum psychischen Spannungsgrad gedämpft.

Dr. Burt sah ihn mit sanften Augen an, und Fossey, dem die Situation jetzt zutiefst peinlich war, fühlte ihm unter den Ledermanschetten seinen Puls.

Burt blinzelte und befeuchtete sich die trockenen Lippen. Dann sog er die kühle Kellerluft tief in seine Lungen. »Ich war auf dem Weg von Albuquerque nach Norden«, sagte er. »Sie haben ja sicher mitbekommen, wo ich jetzt arbeite.«

Fossey nickte. Als Dr. Burt Yale verlassen und eine Stelle bei der Firma Gene-Dyne angenommen hatte, hatte man sich in Kollegenkreisen wieder einmal darüber mokiert, daß die Privatwirtschaft den Universitäten ihre besten Köpfe abspenstig machte.

»Wir machen in einem Labor in der Wüste von New Mexico Experimente mit Schimpansen. Das Labor ist ziemlich klein, so daß wir Wissenschaftler oft gezwungen sind, uns unser Material selbst zu besorgen. Deshalb habe ich in der Gene-Dyne-Niederlassung in Albuquerque ein paar Laborartikel und Chemikalien geholt, darunter auch einen von uns entwickelten Stoff, den wir für die Tests benötigen. Es handelt sich dabei um ein synthetisches Phenylcyclidinderivat, das ich in einem gasdichten Glasbehälter im Auto mitnahm.«

Fossey nickte abermals. Phenylcyclidin – auch Angel Dust genannt – war in gasförmigem Zustand ein starkes Halluzinogen, das man einatmen konnte wie Lachgas. Er wunderte sich, wofür alles Forschungsgelder ausgegeben wurden.

Burt war Fosseys Blick anscheinend nicht entgangen. Er lächelte kurz – oder hatte das Zucken seiner Lippen eine andere Ursache? Fossey war sich nicht sicher. »Wir wollten herausfinden, ob das Phenylcyclidin eher durch das Lungengewebe oder durch die Lungenbläschen aufgenommen wird. Nun, jedenfalls war ich auf der Rückfahrt übermüdet und dadurch einen Augenblick lang unaufmerksam, so daß ich gleich hinter Los Lunas von der Straße abgekommen und in einen Graben gefahren bin. Es ist nicht viel passiert, aber der Glasbehälter hinten im Wagen ging dabei in die Brüche …«

Fossey brummte zustimmend. Das erklärte so manches. Er wußte genau, was sogar die harmloseste Form von Angel Dust mit einem ansonsten vollkommen normalen Menschen anstellen konnte. In hoher Dosis verabreicht, löste es in ihm Symptome aus, die dem Verhalten eines gefährlichen, aggressiven Verrückten täuschend ähnlich waren. Fossey hatte dieses Phänomen schon bei mehreren Patienten beobachtet. Auch sie hatten übrigens blutunterlaufene Augen gehabt.

Eine ganze Weile sagten weder Fossey noch Burt etwas. Fossey bemerkte, daß Burts Pupillen normal groß und nicht übermäßig geweitet waren. Gesunde Gesichtsfarbe. Leichte Tachykardie, aber Fossey wußte genau, daß auch sein Herz schneller als sonst schlagen würde, wenn er sich an eine Trage gefesselt in einer Gummizelle wiederfinden würde. Ansonsten konnte er an Burt keinerlei Anzeichen für eine akute Psychose entdecken.

»Was dann geschah, weiß ich nicht mehr«, sagte Burt, der auf einmal sehr erschöpft aussah. »Irgendwann muß ich wohl im Krankenhaus von Albuquerque gelandet sein. Ich hatte keinerlei Papiere bei mir, außer meinem Führerschein, und meine Frau Amiko ist gerade mit ihrer Schwester in Venedig. Verwandte habe ich keine, die man hätte verständigen können, und außerdem haben die mich da so sehr mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt, daß ich kaum einen zusammenhängenden Satz herausgebracht habe.«

Langsam wurde Fossey so manches klar. Welcher überarbeitete Arzt in der Notaufnahme eines Krankenhauses würde einem unbekannten, völlig verstörten und möglicherweise auch gewalttätigen Mann schon glauben, der behauptete, er sei ein angesehener Molekularbiologe? Da war es viel einfacher, den Mann unter Medikamente zu setzen und in eine psychiatrische Anstalt abzuschieben. Fossey schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Was für Idioten.

»Dem Himmel sei Dank, daß ich ausgerechnet auf Sie getroffen bin, Lloyd«, sagte Burt. »Ich kann Ihnen ja gar nicht sagen, was das für ein Alptraum war. Wo bin ich hier überhaupt?«

»Im Featherwood-Park-Sanatorium, Dr. Burt«, antwortete Fossey.

»So etwas habe ich mir fast gedacht«, sagte Burt und nickte. »Ich bin mir sicher, daß Sie die Sache rasch wieder in Ordnung bringen werden. Wenn Sie wollen, können Sie gleich bei meiner Firma anrufen. Ich hätte gestern wieder im Labor sein sollen, und meine Kollegen machen sich bestimmt schon Sorgen wegen mir.«

»Ich rufe an, sobald ich kann, Dr. Burt«, sagte Fossey. »Das verspreche ich Ihnen.«

»Danke, Lloyd«, sagte Burt. Sein Mund zuckte wieder, diesmal stärker als vorhin.

»Stimmt etwas nicht?« fragte Fossey sofort.

»Nichts Ernstes«, sagte Dr. Burt. »Es sind nur meine Schultern. Sie tun mir etwas weh, weil sie so fest an diese Trage gefesselt sind.«

Fossey zögerte nur einen Augenblick, dann trat er an die Trage, um Burt die Riemen aufzumachen. Die Wirkung des PCP mußte mittlerweile ebenso nachgelassen haben wie die des Haldol. Außerdem hatten Burts graue Augen einen ruhigen Blick, wie ihn Patienten, die dem Arzt nur vortäuschen, daß sie geistig gesund sind, nicht zustande bringen. »Einen Augenblick, ich werde Ihnen die Brustgurte und die Armriemen lösen, dann können Sie sich aufsetzen«, sagte er.

Burt lächelte erleichtert. »Vielen Dank. Ich hätte es nie gewagt, Sie direkt darum zu bitten. Ich kenne die Vorschriften in psychiatrischen Kliniken schließlich sehr genau.«

»Tut mir leid, daß ich Sie nicht sofort befreit habe, Dr. Burt«, sagte Fossey und fing an, die Schnallen aufzumachen. Wenn er erst einmal dieser Posse mit ein paar Telefonanrufen ein Ende gesetzt hatte, würde er mit dem Arzt in der Notaufnahme des Krankenhauses in Albuquerque noch ein ernstes Wörtchen reden müssen. Die Schnallen waren so fest zugezogen, daß Fossey sich einen Augenblick überlegte, ob er nicht Will hereinrufen sollte. Aber Will war ziemlich penibel, wenn es um die Einhaltung der Vorschriften ging, und so verzichtete Fossey auf seine Hilfe.

»So ist es viel besser«, sagte Burt, als er sich langsam aufsetzte und seine verspannten Schultern massierte. »Sie machen sich ja keine Vorstellung, was für eine Qual es ist, wenn man stundenlang vollkommen bewegungsunfähig herumliegen muß. Ich habe es vor ein paar Jahren nach einer Gefäßoperation schon einmal zehn Stunden lang über mich ergehen lassen müssen. Es ist fürchterlich.« Er bewegte seine Beine in den Fußfesseln.

»Wir müssen noch ein paar Tests mit Ihnen machen, bevor wir Sie entlassen können, Dr. Burt«, sagte Fossey. »Ich werde sofort den dafür zuständigen Kollegen rufen lassen. Oder wollen Sie sich zuerst ein wenig ausruhen?«

»Nein, danke«, sagte Burt und rieb sich mit einer Hand den Nacken. »Je früher ich hier rauskomme, desto besser. Wenn Sie wieder einmal an der Ostküste sind, dann müssen Sie einmal zu uns zum Abendessen kommen und meine Frau kennenlernen.« Seine Hand bewegte sich nach vorn an seine Wange.

Fossey stand neben der Trage und notierte etwas in der Krankenakte, als er hörte, wie Burt Atem holte. Es klang wie das Raspeln von Sandpapier. Fossey drehte sich um und sah, wie Dr. Burt sich das Pflaster von der Schläfe riß.

»Anscheinend haben Sie sich bei dem Unfall verletzt«, sagte Fossey und klappte die Krankenakte zu. »Ich werde Sie gleich frisch verbinden lassen.«

»Armer Alpha«, murmelte Burt und starrte auf das blutige Pflaster in seiner Hand.

»Wie bitte?« fragte Fossey. Als er sich herunterbeugte, um sich die Wunde anzusehen, stieß Franklin Burt seinen Kopf mit einer abrupten Bewegung nach oben und rammte ihn Fossey unters Kinn. Fosseys Schneidezähne schlugen mit solcher Wucht zusammen, daß er sich die Zungenspitze abbiß. Während er, den Mund voller Blut, zurücktaumelte, ließ Burt sich wieder auf die Trage fallen.

»Armer Alpha!« schrie er laut und versuchte verzweifelt, die Beine aus den Fußfesseln zu ziehen. »ARMER ALPHA!«

Fossey stürzte zu Boden und wollte, rückwärts krabbelnd, Will zu Hilfe rufen, doch das erstickte Gegurgel, das er hervorbrachte, ging in Burts Gebrüll völlig unter. Burt strampelte jetzt so wild, daß er mitsamt der Trage von deren Untergestell herunterfiel. Kurz darauf kam Will zur Tür hereingestürzt. Burt schlug und biß wild um sich, während er versuchte, die Trage von seinen Füßen zu streifen.

Fossey sah dem wilden Treiben zu und hatte den Eindruck, als geschähe alles in Zeitlupe. Er sah, wie Will und der neue Pfleger alle Hände voll zu tun hatten, Burt zu bändigen. Wütend wie ein Hund, der gerade einen Hasen zerreißt, biß Burt sich in die eigenen Handgelenke und spuckte Blut in einem dicken Strahl dem neuen Pfleger direkt auf die Brille. Nach einer Weile schafften es die beiden mit viel Mühe, Burts Arme wieder auf die Trage zu drücken und mit den Lederriemen festzuschnallen. Als sie ihm auch noch die Brustgurte angelegt hatten, holte Will seinen Panikpiepser aus der hinteren Hosentasche, während Burt mit unverminderter Lautstärke weiterbrüllte. Fossey wußte, daß er von selbst nicht wieder aufhören würde.

[home]

TEIL EINS

Als Guy Carson schon wieder an einer roten Ampel anhalten mußte, warf er einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett seines Wagens. Er würde nun schon zum zweitenmal in dieser Woche zu spät zur Arbeit kommen. Die Schnellstraße durch Edison, New Jersey, machte wieder einmal ihrem Namen überhaupt keine Ehre. Die Ampel wurde grün, aber als Carson sich ein paar Wagenlängen weiter vorgeschoben hatte, war sie schon wieder rot. Es war ein Alptraum.

»Verdammtes Mistding«, murmelte Carson und schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett. Die Scheibenwischer schlappten über die Windschutzscheibe, auf die Dauerregen prasselte. Als die Ampel wieder grün wurde, schaffte Carson es sogar bis über die Kreuzung, nur um gleich darauf wieder am Ende einer langen Reihe von nacheinander aufleuchtenden Bremslichtern zum Stehen zu kommen. An diese ständigen Staus würde Carson sich ebensowenig gewöhnen wie an den verdammten Regen, das wußte er genau.

Nachdem er sich quälend langsam eine Anhöhe hinaufgearbeitet hatte, konnte Carson in fünfhundert Metern Entfernung hinter grünen Rasenflächen und künstlichen Teichen die blendendweiße Fassade des Gene-Dyne-Gebäudes in Edison sehen. Irgendwo in diesem postmodernen Meisterwerk lag Fred Peck auf der Lauer und wartete auf ihn.

Carson schaltete das Radio ein, und der pulsierende Sound der Gangsta Muthas erfüllte das Innere des Wagens. Carson drehte weiter, aber als aus dem Lautsprecher die schrille Stimme von Michael Jackson drang, drückte er angewidert auf den Ausschaltknopf. Daß es in diesem verdammten Drecksloch hier keinen einzigen anständigen Countrysender gab, war fast noch deprimierender als der Gedanke an Fred Peck.

Als Carson das Labor betrat, waren seine Kollegen alle schon längst bei der Arbeit, aber wenigstens war von Peck weit und breit nichts zu sehen. Carson schlüpfte hastig in seinen Laborkittel und nahm vor seinem Computerterminal Platz. Er wußte, daß die Einschaltzeit automatisch im Firmennetz gespeichert wurde. Selbst wenn Peck also heute krank sein sollte, würde er Carsons Zuspätkommen irgendwann einmal bemerken. Es sei denn, er wäre tot. Dieser Gedanke gab Carson wieder ein wenig Auftrieb. Peck sah sowieso ständig so aus, als stünde er kurz vor einem Herzinfarkt.

»Na, Mr. Carson, auch schon da?« hörte er auf einmal eine spöttische Stimme von hinten sagen, und seine Hoffnung schwand dahin. »Wie freundlich von Ihnen, uns heute morgen schon so zeitig mit Ihrer werten Anwesenheit zu beehren.« Carson schloß die Augen, atmete tief durch und drehte sich um.

Die Neonröhren an der Decke verliehen der plumpen Gestalt seines Vorgesetzten eine Art Heiligenschein. An dem Fleck auf Pecks brauner Krawatte konnte Carson erkennen, daß es bei ihm heute Rührei zum Frühstück gegeben hatte, und seine feisten Wangen waren vom Rasieren stark gerötet. Carson atmete durch die Nase aus und versuchte vergeblich, den herben Schwaden von Pecks billigem Aftershave zu entgehen.

Schon an seinem ersten Arbeitstag hatte sich Carson darüber gewundert, bei Gene-Dyne – immerhin einer der führenden Biotechnik-Firmen der Welt – einen Mann wie Fred Peck vorzufinden. In den achtzehn Monaten, die inzwischen vergangen waren, hatte Peck Carson immer nur für die einfachsten und lästigsten Arbeiten im Labor eingeteilt. Offenbar ärgerte es Peck, der nur ein bescheidenes Diplom von der Syracuse University vorzuweisen hatte, daß Carson seinen Doktor am renommierten Massachusetts Institute of Technology gemacht hatte. Oder vielleicht hatte er auch bloß etwas gegen Farmersöhne aus dem Südwesten der Vereinigten Staaten.

»Tut mir leid«, sagte Carson und hoffte, daß er dabei ein aufrichtig zerknirschtes Gesicht machte. »Ich habe leider im Stau gesteckt.«

»So, so, im Stau«, wiederholte Peck, als ob er das Wort noch nie gehört habe.

»Ja«, sagte Carson, »da war eine Umleitung …«

»Eine Umleitung«, äffte Peck Carsons Dialekt nach.

»Die Schnellstraße war praktisch dicht, und ich …«

»Sieh mal einer an, die Schnellstraße«, höhnte Peck.

Carson sagte nichts mehr.

Peck räusperte sich. »War bestimmt ein furchtbarer Schock für Sie, daß Sie mitten im dichtesten Berufsverkehr in einen Stau gekommen sind, Sie Ärmster.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Um ein Haar hätten Sie auch noch Ihre Sitzung verpaßt.«

»Was für eine Sitzung?« fragte Carson. »Davon weiß ich ja gar nichts …«

»Wie sollten Sie auch? Ich habe es ja selbst erst vor ein paar Minuten erfahren. Auch das ist übrigens ein Grund, weshalb man pünktlich zur Arbeit erscheinen sollte, Carson.«

»Ja, Mr. Peck«, sagte Carson. Er stand auf und folgte seinem Vorgesetzten durch ein Labyrinth aus kleinen Arbeitsnischen, die alle einander glichen wie ein Ei dem anderen. Peck, Speck, Dreck, murmelte Carson unhörbar vor sich hin. Wie gerne hätte er dem schleimigen Kerl einmal ordentlich die Fresse poliert. Aber so ging man hier nicht miteinander um. Wenn Peck der Vorarbeiter auf einer Ranch gewesen wäre, dann wäre er längst schon einmal mit dem Hintern im Dreck gelandet.

Peck öffnete eine Tür, auf der VIDEOKONFERENZRAUM II stand, und winkte Carson hinein. Erst als Carson den großen, leeren Tisch sah, fiel ihm ein, daß er immer noch seinen fleckigen Laborkittel trug.

»Setzen Sie sich«, sagte Peck.

»Wo sind denn die anderen?« fragte Carson.

»Es gibt keine anderen. Es ist eine Konferenz für Sie allein«, antwortete Peck und ging zur Tür.

»Und Sie? Bleiben Sie denn nicht hier?« Carson hatte auf einmal ein ungutes Gefühl. Er fragte sich, ob er nicht eine wichtige E-Mail übersehen hatte, die ihn auf diese Sitzung hätte vorbereiten sollen. »Worum geht’s denn hier überhaupt?«

»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Peck. »Aber nach der Konferenz kommen Sie unverzüglich in mein Büro, Carson. Wir müssen uns dringend über Ihre Arbeitsmoral unterhalten.«

Nachdem sich die schwere Eichentür mit einem satten Klicken geschlossen hatte, setzte sich Carson zögernd auf einen der Stühle an dem massiven Tisch aus Kirschholz und sah sich um. Eine Wand des Raumes, der geschmackvoll mit viel handpoliertem Holz ausgestattet war, bestand nur aus Fenstern, von denen aus man über die Wiesen und Teiche des Gene-Dyne-Geländes blickte. Dahinter erstreckte sich ein endloses, tristes Industriegebiet. Carson versuchte, sich im Geiste für das zu wappnen, was möglicherweise auf ihn zukam. Vielleicht hatte sich Peck ja bei der Personalabteilung so oft über ihn beschwert, daß ihm jetzt ein Rüffel vom Personalchef bevorstand, wenn nicht Schlimmeres.

Irgendwie, dachte er, hatte Peck sogar recht: Seine Arbeitsmoral war wirklich nicht die beste. Manchmal kam es Carson so vor, als müßte er dringend etwas gegen die Sturheit und Verbitterung tun, die schon seinem Vater zum Verhängnis geworden war. Niemals würde Carson den Tag vergessen, an dem sein Vater auf seiner Ranch einen Vertreter der Bank grün und blau geschlagen hatte. Aber auch mit diesem Gewaltakt hatte er die Zwangsversteigerung seines Besitzes nicht verhindern können. Carsons Vater war sich selbst sein schlimmster Feind gewesen, und Carson wollte um keinen Preis dieselben Fehler machen wie er. Auch wenn es noch so viele Pecks auf dieser Welt gab.

Trotzdem war es eine Schande, daß die vergangenen eineinhalb Jahre hier in der Firma größtenteils für die Katz gewesen waren. Dabei war der Job bei Gene-Dyne Carson zunächst wie die große Chance seines Lebens vorgekommen, für die er seine ganze Studienzeit über so hart gearbeitet hatte, und noch immer hatte er die Hoffnung nicht gänzlich aufgegeben, daß er bei dieser Firma doch noch etwas wirklich Bedeutendes zustande bringen könne. Aber an jedem neuen Tag in diesem fürchterlichen New Jersey, an dem er in seiner winzigen, vollgestopften Wohnung erwacht war, in den grauen Himmel voller Industrieabgase geblickt und mit Schrecken an Fred Peck gedacht hatte, war ihm ein kleines bißchen von dieser Hoffnung abhanden gekommen.

Die Lichter im Konferenzraum wurden dunkler und gingen schließlich ganz aus, während vor den Fenstern automatische Rollos heruntergingen. An der hinteren Wand fuhr ein Stück der Holztäfelung zur Seite und gab den Blick auf eine Reihe von Tastaturen und einen großen Videoprojektionsschirm frei.

Als nach einigem Geflimmer auf dem Schirm das Gesicht eines Mannes erschien, wurde Carson starr vor Schreck. Zu gut kannte er die abstehenden Ohren, das sandfarbene Haar mit der störrischen Stirnlocke, die dicke Brille, das unvermeidliche schwarze T-Shirt und den leicht verschlafenen und dennoch zynischen Gesichtsausdruck. Es war kein anderer als Brentwood Scopes, der Gründer von Gene-Dyne, dessen Konterfei erst unlängst die Titelseite des Time-Magazins geziert hatte. Die Ausgabe lag noch immer auf Carsons Couchtisch. Scopes, der an der Wallstreet eine Legende war, den seine Angestellten vergötterten und seine Konkurrenten fürchteten, regierte seine Firma fast ausschließlich über elektronische Medien. Was sollte das hier sein? fragte sich Carson. Ein Motivationsfilmchen für Unverbesserliche?

»Hi«, sagte das Bild von Scopes auf dem Schirm. »Na, wie geht’s, Guy?«

Einen Augenblick lang war Carson sprachlos.Du meine Güte, dachte er, das ist ja gar kein Film. »Äh, hallo, Mr. Scopes, Sir. Mir geht es gut, danke. Tut mir leid, daß ich nicht richtig angezogen bin für ein Gespräch mit …«

»Bitte, nennen Sie mich Brent. Und blicken Sie in Richtung Bildschirm, wenn Sie sprechen, dann kann ich Sie nämlich besser sehen.«

»Ja, Sir.«

»Nicht Sir. Brent.«

»Natürlich. Danke, Brent.« Carson fand es ausgesprochen schwierig, den obersten Boß von Gene-Dyne mit dem Vornamen anzusprechen.

»Ich sehe meine Angestellten gerne als Kollegen an«, sagte Scopes. »Schließlich haben Sie ja, wie alle anderen auch, bei Ihrem Eintritt in die Firma Aktien unseres Unternehmens bekommen. Das bedeutet, daß wir alle miteinander im selben Boot sitzen.«

»Ja, Brent.« Hinter Scopes konnte Carson unscharf einen großen, vieleckigen Raum erkennen.

Scopes lächelte, als freue er sich über die Nennung seines Vornamens, und sah dabei trotz seiner neununddreißig Jahre wie ein Teenager aus. Irgendwie kam Carson dieses Gespräch immer unwirklicher vor. Warum sollte Scopes, das Universalgenie, das aus ein paar alten Maiskörnern ein Vermögen von vier Milliarden Dollar gemacht hatte, ausgerechnet mit ihm sprechen wollen? Mist, ich habe wohl noch mehr verbockt, als ich gedacht habe.

Scopes blickte nach unten, und Carson konnte das Klicken einer Tastatur hören. »Ich habe mir mal Ihre Qualifikationen angeschaut, Guy«, sagte Scopes. »Sehr beeindruckend. Ich kann gut verstehen, warum meine Leute Sie eingestellt haben.« Carson hörte weiteres Tippen. »Nur will mir nicht so recht in den Sinn, weshalb Sie immer noch als … Moment … als Labortechniker der Stufe drei arbeiten.« Scopes blickte wieder auf. »Entschuldigen Sie bitte, Guy, wenn ich ohne Umschweife zur Sache komme. Es gibt hier in der Firma eine sehr wichtige Stelle, die momentan nicht besetzt ist. Ich glaube, daß Sie genau der Richtige dafür sind.«

»Was ist denn das für eine Stelle?« platzte Carson heraus und ärgerte sich darüber, daß er so aufgeregt klang.

Scopes lächelte abermals. »Ich würde es Ihnen ja gerne erklären, aber sie hat etwas mit einem äußerst vertraulichen Projekt zu tun. Sie haben sicherlich Verständnis dafür, wenn ich sie Ihnen auf diesem Wege nur in ganz groben Zügen beschreiben kann.«

»Natürlich, Sir.«

»Guy, sehe ich für Sie wirklich wie ein ›Sir‹ aus? Es ist noch gar nicht so lange her, da war ich nichts weiter als ein verpickelter Streber, der von den anderen Jungen auf dem Schulhof dauernd gehänselt wurde. Nun gut. Reden wir von der Stelle, die ich für Sie herausgesucht habe. Sie hat etwas mit dem wichtigsten Produkt in der Firmengeschichte von Gene-Dyne zu tun. Einem Produkt, das für die Menschheit von unschätzbarem Wert sein wird.«

Als Scopes Carsons Gesichtsausdruck sah, mußte er grinsen. »Es ist toll«, sagte er, »wenn man den Menschen helfen und gleichzeitig ein reicher Mann werden kann.« Er kam mit dem Gesicht ganz dicht an die Kamera. »Guy, was ich Ihnen anbiete, ist ein sechsmonatiger Aufenthalt in unserem Labor in der Jornadadel-Muerto-Wüste, das Ihnen vermutlich besser unter dem Namen Mount Dragon bekannt sein dürfte. Sie werden dort in einem erlesenen Team zusammen mit den besten Mikrobiologen arbeiten, über die unsere Firma zur Zeit verfügt.«

Carson war auf einmal ganz aufgekratzt. Schon der Name Mount Dragon allein war in der Firma so etwas wie eine magische Geheimformel, eine Art wissenschaftliches Shangri-La.

Jemand von außerhalb des Bildschirms legte neben Scopes eine Pizzaschachtel auf den Tisch. Er öffnete den Deckel und warf einen Blick hinein. »Aha! Sardellen. Wissen Sie, was Churchill einmal über Sardellen gesagt hat? ›Eine Delikatesse, die von englischen Lords und italienischen Huren gleichermaßen geschätzt wird.‹«

Nach einer kurzen Pause fragte Carson: »Dann werde ich also nach New Mexico gehen?«

»Sie haben’s erfaßt, Guy. Das ist doch Ihr Heimatstaat, stimmt’s?«

»Ja, ich bin dort aufgewachsen. In einer Ortschaft namens Cottonwood Tanks.«

»Ich erinnere mich dunkel daran, den Namen in Ihrer Personalakte gelesen zu haben. Womöglich finden Sie als Einheimischer ja Mount Dragon nicht ganz so schlimm wie viele andere, denen es in der Wüste viel zu heiß und zu einsam ist. Aber Ihnen macht das Leben dort vielleicht sogar Spaß. Wir haben dort zum Beispiel einen Stall mit einigen Pferden. Ich schätze mal, daß Sie als Sohn eines Ranchers ein ziemlich guter Reiter sind.«

»Sie haben recht, ich kenne mich wirklich ein wenig mit Pferden aus«, sagte Carson. Scopes hatte sich offenbar gründlich über ihn informiert.

»Allerdings werden Sie dort kaum Zeit zum Reiten haben, denn Sie müssen arbeitsmäßig wirklich ranklotzen, anders kann ich es nicht ausdrücken. Aber Sie werden finanziell voll dafür entschädigt. Ich zahle Ihnen für diese sechs Monate ein ganzes Jahresgehalt und außerdem eine Prämie von fünfzigtausend Dollar bei erfolgreichem Abschluß des Projekts. Darüber hinaus ist Ihnen meine persönliche Dankbarkeit sicher.«

Carson konnte es kaum fassen. Die Prämie allein war schon mehr, als er in einem ganzen Jahr verdiente.

»Sie wissen vermutlich, daß meine Managementmethoden ein wenig unorthodox sind«, fuhr Scopes fort. »Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Guy: Diese Medaille hat nämlich auch eine Kehrseite. Sollten Sie es nicht schaffen, innerhalb dieser sechs Monate das Projekt zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen, muß ich Sie leider entlassen.« Er grinste und entblößte dabei seine etwas zu großen Schneidezähne. »Aber ich setze mein volles Vertrauen in Sie. Ich würde Ihnen diese Stelle nie anbieten, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, daß Sie ihr auch gewachsen sind.«

»Ich frage mich natürlich, wieso Sie unter all den vielen Talenten hier in der Firma ausgerechnet mich ausgewählt haben.« Carson konnte nicht anders, er mußte diese Frage stellen.

»Nicht einmal das kann ich Ihnen jetzt beantworten. Aber bei Ihrem Einstellungsgespräch am Mount Dragon wird Ihnen alles klar werden, das verspreche ich Ihnen.«

»Wann soll ich anfangen?«

»Noch heute, Guy. Unsere Firma braucht das Produkt, deshalb haben wir keine Zeit zu verlieren. Ich möchte, daß Sie noch vor dem Mittagessen im Flugzeug nach New Mexico sitzen. Ich werde dafür sorgen, daß sich jemand um Ihre Wohnung, Ihr Auto und all die anderen lästigen Kleinigkeiten kümmert. Haben Sie eine Freundin?«

»Nein«, antwortete Carson.

»Das vereinfacht die Sache.« Scopes strich sich seine widerspenstige Stirnlocke glatt.

»Was ist mit Fred Peck, meinem Vorgesetzten? Soll ich dem …«

»Dazu ist jetzt keine Zeit. Nehmen Sie einfach Ihren Laptop und gehen Sie. Draußen wartet ein Fahrer, der Sie zu Ihrer Wohnung bringen wird, wo Sie ein paar Dinge zusammenpacken können. Ich werde diesem – wie war doch gleich der Name? Peck? – eine Nachricht zukommen lassen, die alles erklärt.«

»Brent, ich würde Ihnen noch gerne sagen, daß …«

Scopes hob die Hand. »Bitte nicht. Dankbarkeitsbezeugungen sind mir zuwider. Am Schluß ist ja doch Undank der Welt Lohn, wie schon das Sprichwort sagt. Sie haben zehn Minuten, um sich mein Angebot zu überlegen, Guy. Aber bitte bleiben Sie hier im Konferenzraum.«

Bevor der Schirm schwarz wurde, sah Carson noch, wie Scopes mit der Hand in die Pizzaschachtel griff.

Als das Licht wieder anging, verwandelte sich das unwirkliche Gefühl, das Carson bei dem Gespräch mit Scopes gehabt hatte, in eine nie gekannte Hochstimmung. Zwar fragte Carson sich nach wie vor, weshalb Brent Scopes unter den rund fünftausend promovierten Wissenschaftlern in Diensten von Gene-Dyne ausgerechnet auf ihn gekommen war, der in den letzten eineinhalb Jahren mit nichts anderem als endlosen Titrieranalysen und Qualitätskontrollen beschäftigt gewesen war, aber im Augenblick war ihm das egal. Er stellte sich vor, was der Fettsack Peck wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er von einem Dritten erfuhr, daß Scopes höchstpersönlich ihn, Carson, nach Mount Dragon versetzt hatte. Mit einem tiefen Summen fuhren die Rollos an den Fenstern wieder nach oben und gaben den Blick auf die triste, regenverhangene Industrielandschaft von New Jersey frei. In der grauen Ferne konnte Carson die Hochspannungsleitungen und die Schornsteine sehen, aus denen irgendwelche giftigen Emissionen in die bleigrauen Wolken stiegen. Er dachte an den blauen Himmel, der sich viele tausend Kilometer weiter westlich über der Wüste mit ihren scharf riechenden Kreosotsträuchern wölbte, an die dunklen, schroffen Berge am Horizont und daran, daß man dort tage- und nächtelang reiten konnte, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Mitten in dieser Wüste befand sich Mount Dragon, wo auf Carson die Chance seines Lebens wartete.

Zehn Minuten später, als die Rollos herunterfuhren und der Projektionsschirm wieder hell wurde, wußte Carson, was er Scopes antworten würde.

Carson trat hinaus auf die windschiefe Veranda, stellte seinen Seesack neben die Tür und setzte sich in den alten, abgenutzten Schaukelstuhl. Der Stuhl knarzte laut, als nähme das alte Holz Carsons Gewicht nur unter Protest auf. Carson lehnte sich zurück, streckte die Beine aus und ließ die Blicke über die weite Jornada-del-Muerto-Wüste schweifen.

Die Sonne – ein brodelnder Ball aus explodierendem Wasserstoff – zeigte sich gerade über der Silhouette der San-Andres-Berge. Obwohl es auf der morgendlichen Veranda mit fünfzehn bis achtzehn Grad noch relativ kühl war, spürte Carson bereits die Strahlung des Himmelskörpers auf seinem Gesicht. In weniger als einer Stunde würde es hier über vierzig Grad heiß sein. Der tiefviolette Himmel wurde langsam blau, später, in der Mittagshitze, würde er eine fast weiße Farbe annehmen.

Carson schaute die ungeteerte Straße entlang, die vor dem Haus vorbeilief. Engle war einer jener Geisterorte, wie es sie in der Wüste von New Mexico häufig gibt: eine Handvoll Lehmziegelbauten mit schrägen Wellblechdächern, eine verwaiste Schule, ein aufgelassenes Postamt und eine Reihe toter Pappeln, denen der Wind längst die letzten Blätter geraubt hatte. Wenn hier überhaupt mal etwas vorbeikam, dann war es höchstens eine Windhose. Nur in einer Hinsicht war Engle keine typische Wüstenstadt: Die Firma Gene-Dyne hatte den ganzen Ort aufgekauft und verwendete ihn jetzt ab und zu als Zwischenstation für die Fahrt nach Mount Dragon.

Carson schaute auf den Horizont. Gut hundertfünfzig Kilometer entfernt, am anderen Ende eines staubigen, felsigen, sonnenverbrannten Streifens, den nur Einheimische eine Straße nannten, befand sich der Gebäudekomplex, der zwar offiziell »Testlabor der Firma Gene-Dyne« hieß, allgemein aber nach einem alten Vulkankegel gleich in der Nähe Mount Dragon genannt wurde. In diesem hochmodernen Labor machte Gene-Dyne gentechnische Experimente an Mikroorganismen, die für bewohntere Gebiete viel zu gefährlich waren.

Carson sog die trockene Wüstenluft tief in seine Lungen. Dieser Geruch nach Staub und Mesquitsträuchern war es, den er in den vergangenen eineinhalb Jahren am meisten vermißt hatte. Es war der saubere Geruch der Trockenheit. New Jersey kam ihm jetzt geradezu unwirklich vor, wie ein Alptraum aus einer fernen Vergangenheit. Er fühlte sich wie jemand, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, einem grünen, überfüllten und feuchten Gefängnis voller Autoabgase, Tankstellen und riesigen Einkaufszentren. Auch wenn sein Vater schon vor vielen Jahren seine gesamte Ranch an die Banken verloren hatte, fühlte sich Carson hier noch immer daheim. Trotzdem hatte diese Heimkehr einen merkwürdigen Aspekt, denn schließlich kam er nicht, um Vieh zu züchten, sondern um an einem Projekt im Grenzbereich der Wissenschaft zu arbeiten, bei dem er noch immer nicht wußte, worum es sich genau handelte.

Am fernen Horizont war jetzt im Dunst ein kleiner, dunkler Fleck auszumachen. Bald darauf erkannte Carson, daß es eine Staubwolke war, die sich in seine Richtung bewegte. Er beobachtete sie noch ein paar Minuten, dann stand er auf und ging ins Innere des alten Hauses, wo er den Rest kalten Kaffee in die Spüle schüttete und die Tasse auswusch.

Als er drinnen nachsah, ob er alles eingepackt hatte, hörte er, wie draußen ein Auto vorfuhr. Carson trat hinaus auf die Veranda und sah einen großen, weißen Geländewagen, der in einer Staubwolke zum Stehen kam. Es war ein Hummer, die zivile Version des schweren Militärjeeps Humvee, den Carson aus den Fernsehberichten über den Golfkrieg kannte. Die getönten Fenster blieben geschlossen, und der kraftvolle Dieselmotor brummte im Leerlauf vor sich hin.

Dann stieg ein untersetzter, schwarzhaariger Mann mit Halbglatze aus, der ein Polohemd und weiße Shorts trug. Sein freundliches, offenes Gesicht hatte eine tiefbraune Farbe, die in einem merkwürdigen Gegensatz zu den blassen, in schweren Stiefeln steckenden Beinen stand. Der Mann trottete mit einem beflissenen Lächeln auf Carson zu und streckte ihm seine plumpe Hand entgegen.

»Sind Sie mein Fahrer?« fragte Carson und wunderte sich über den laschen Händedruck des Mannes.

»Irgendwie schon, Guy«, antwortete der Mann. »Mein Name ist Singer.«

»Dr. Singer!« sagte Carson erstaunt. »Ich hätte nie erwartet, vom Direktor persönlich abgeholt zu werden.«

»Bitte, nennen Sie mich doch John«, sagte Singer freundlich. Er nahm Carson seinen Seesack ab und öffnete den Kofferraum des Hummer. »Wir am Mount Dragon sprechen uns fast alle mit dem Vornamen an. Bis auf Nye natürlich. Haben Sie gut geschlafen?«

»So gut wie seit achtzehn Monaten nicht mehr«, sagte Carson und grinste.

»Tut mir leid, daß Sie hier übernachten mußten«, antwortete Singer und legte den Seesack in den Laderaum des Geländewagens, »aber es ist verboten, das Testgelände nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen. Nicht einmal ein Hubschrauber darf es überfliegen, außer im Notfall.« Er warf einen Blick auf den Banjokasten, der zu Carsons Füßen lag. »Ist das ein fünfseitiges?« fragte er.

»Richtig«, sagte Carson und trat auf den Wagen zu.

»Und wie spielen Sie? Drei Finger? Rhythmus? Melodie?«

Carson blieb auf dem Weg zum Kofferraum stehen und blickte Singer an, der ihm freundlich zulächelte. »Das wird ja lustiger, als ich dachte«, sagte der Direktor. »Steigen Sie ein.«

Im Inneren des Wagens schlug Carson eine Welle eiskalter Luft entgegen. Er war erstaunt, wie bequem die Sitze waren. Singer saß eine Armlänge von ihm entfernt jenseits einer massiven Kühlbox, die sich zwischen den Vordersitzen befand. »Da kommt man sich ja fast wie in einem Panzer vor«, sagte Carson.

»Für die Wüste gibt es nichts Besseres. Diese Dinger kann nur eine senkrechte Felswand stoppen. Sehen Sie diese Skala da? Das ist der Reifendruck, den man bei diesem Wagen sogar im Fahren über einen Kompressor verändern kann. Auf Knopfdruck kann ich ihn höher oder niedriger stellen, je nachdem, auf welchem Boden ich gerade fahre. Alle Geländewagen von Mount Dragon sind übrigens mit Reifen ausgerüstet, die auch mit einem Plattfuß noch fünfzig Kilometer weit fahren können.«

Gleich hinter dem Ort fuhren sie auch ein Viehtor, zu dessen beiden Seiten sich ein langer Stacheldrahtzaun endlos in die Ferne zu erstrecken schien. Im Abstand von dreißig Metern waren an diesem Zaun Schilder mit folgender Aufschrift angebracht: ACHTUNG! MILITÄRISCHES SPERRGEBIET. BETRETEN STRENGSTENS VERBOTEN. WSRB-WEA.

»Hier beginnt das Gelände des Raketenversuchsgeländes White Sands«, sagte Singer. »Unser Labor am Mount Dragon liegt mittendrin auf einem Stück Land, das Gene-Dyne vom Verteidigungsministerium gepachtet hat. Das ist noch ein Überbleibsel aus der Zeit, in der wir fürs Militär gearbeitet haben.«

Singer trat aufs Gas, und der Wagen beschleunigte auf der unebenen Schotterstraße und zog eine lange Staubwolke hinter sich her.

»Ich fühle mich wirklich geehrt, daß Sie persönlich gekommen sind, um mich abzuholen«, sagte Carson.

»Das müssen Sie nicht. Ich bin immer froh, wenn ich einmal für eine Weile aus dem Labor herauskomme. Schließlich bin ich dort ja nur der Direktor. Die eigentliche Arbeit leisten andere.« Er schaute hinüber zu Carson. »Außerdem nehme ich gerne die Gelegenheit wahr, ganz ungestört mit Ihnen zu reden. Ich gehöre nämlich zu der Handvoll Menschen, die Ihre Dissertation gelesen und auch verstanden haben. Transformationen der tertiären und quartären Proteinstrukturen der Virushülle, das war doch der Titel, nicht wahr? Eine brillante Arbeit.«

»Danke«, sagte Carson. Aus dem Mund eines früheren Professors für Biologie an der CalTech-Universität war das ein großes Lob.

»Allerdings muß ich gestehen, daß ich sie erst gestern gelesen habe«, sagte Singer und zwinkerte Carson verschmitzt zu. »Scopes hat sie mir zusammen mit Ihrer Personalakte übers Computernetz geschickt.« Er lehnte sich zurück und lenkte den Wagen mit einer Hand. Das schwere Fahrzeug bretterte mit hundert Stundenkilometern in einen quer über der Fahrspur liegenden Sandstreifen und kam ins Schlingern. Unwillkürlich drückte Carson mit dem rechten Fuß ein imaginäres Bremspedal bis zum Bodenblech durch. Dieser Mann fuhr fast so schlimm wie sein Vater.

»Um was geht es eigentlich bei dem Projekt, an dem ich arbeiten soll?« fragte Carson.

»Was wollen Sie wissen?« Singer wandte den Blick von der Straße auf Carsons Gesicht.

»Nun, ich habe in New Jersey alles stehen- und liegengelassen und bin Hals über Kopf hier herausgekommmen. Das macht einen nun mal neugierig.«

»Dazu ist noch genug Zeit, wenn wir erst einmal in Mount Dragon sind«, sagte Singer und lächelte. Der schwere Wagen war gefährlich nach links gedriftet und streifte mit dem Außenspiegel eine Yucca-Palme. Mit einem Ruck am Lenkrad brachte Singer ihn wieder auf Kurs.

»Dieser Job hier muß für Sie ja so etwas wie eine Heimkehr sein«, sagte er.

Carson nickte. Er hatte die Anspielung verstanden. »Meine Familie lebt schon seit Generationen hier im Westen.«

»Länger als die meisten anderen vermutlich.«

»Das stimmt. Kit Carson, einer der ersten Pioniere hier, war mein Ururgroßvater. Als Teenager hat er Vieh den Spanish Trail entlanggetrieben. Mein Urgroßvater war der einzige Sohn aus der Ehe mit seiner letzten Frau. Er hat sich im Hidalgo County Land gekauft und ist Rancher geworden.«

»Und Sie haben dann die heimatliche Ranch verlassen und sind auf die Universität gegangen«, spekulierte Singer.

Carson schüttelte den Kopf. »Nein. Mein Vater war leider ein lausiger Geschäftsmann. Wenn er sich mit der normalen Viehzucht begnügt hätte, wäre alles in Ordnung gewesen, aber er hatte hochfliegende Pläne. Einer davon war übrigens, eine völlig neue Rinderrasse zu züchten, und so bin ich schon als Junge mit der Genetik in Berührung gekommen. Das Projekt war, ebenso wie vieles andere, was mein Vater anpackte, ein Reinfall, und schließlich haben die Banken die Ranch bekommen.«

Carson verstummte und betrachtete die unendlich weite Wüste ringsum. Die Sonne stand jetzt schon ziemlich hoch am Himmel, und ihr Licht war nicht mehr gelblich, sondern weiß. In einiger Entfernung sah Carson ein paar Gabelantilopen, die mit ihrem grauen Fell vor dem grauen Hintergrund der Wüste kaum zu erkennen waren. Singer summte fröhlich die Melodie von Soldier’s Joy vor sich hin.

Nach längerer Fahrt begann vor ihnen ein dunkler Vulkankegel am Horizont aufzutauchen, dessen Gipfel von einem Kranz aus Funkmasten und Parabolantennen umgeben war. Als sie näher kamen, konnte Carson am Fuß des Berges einige schlichte weiße Gebäude erkennen. Im Licht der Morgensonne glitzerten sie wie ein Gitter aus Salzkristallen.

»Da ist es«, sagte Singer stolz und ging vom Gas. »Mount Dragon. Ihre Heimat für die nächsten sechs Monate.«

Bald kam ein langer Maschendrahtzaun in Sicht, der mit zusätzlichem Stacheldraht vor dem Überklettern geschützt war. Vor dem Gebäudekomplex ragte ein Wachturm auf, der durch die Hitzeschlieren über dem Wüstenboden leicht zu schwanken schien.

»Momentan ist er nicht besetzt«, sagte Singer mit einem leisen Kichern. »Aber das soll nicht heißen, daß unser Sicherheitsdienst nicht verdammt effektiv wäre. Sie werden schon noch früh genug mit ihm in Berührung kommen. Den weitaus besten Schutz vor ungebetenen Besuchern bietet uns allerdings die Wüste.«

Als sie näher kamen, nahmen die Gebäude langsam Gestalt an. Carson, der eigentlich häßliche Betonbauten und Wellblechhütten erwartet hatte, war erstaunt: Die Häuser wirkten weiß und kühl und sahen direkt schön aus.

Singer bremste den Wagen vor einer Straßensperre aus Beton ab und hielt neben einem Wachhaus. Ein junger Mann – er trug ganz normale Zivilkleidung – kam heraus und ging auf den Wagen zu. An seinem Gang merkte Carson, daß er ein steifes Bein hatte.

Der Direktor ließ das Fenster herunter. Der Mann legte seine muskulösen Unterarme auf die Wagentür und steckte den kurzgeschorenen Kopf herein. Kaugummikauend grinste er die beiden Männer im Wagen an. Er hatte leuchtendgrüne Augen und ein von der Sonne fast schon lederartig verbranntes Gesicht.

»Howdy, John«, sagte er und ließ die Blicke durchs Innere des Geländewagens streifen, bis sie schließlich an Carson hängenblieben. »Wen haben wir denn da?«

»Das ist Guy Carson, unser neuer Wissenschaftler. Guy, das ist Mike Marr vom Sicherheitsdienst.«

Der Mann nickte und schaute sich noch einmal im Auto um, während er Singer seinen Ausweis zurückgab.

»Papiere?« fragte er Carson mit einer fast verträumt klingenden Stimme. Carson gab ihm seine mitgebrachten Dokumente: Reisepaß, Geburtsurkunde und den Firmenausweis von Gene-Dyne. Marr sah sie ohne großes Interesse durch. »Und jetzt die Brieftasche, bitte.«

»Meinen Sie den Führerschein?«

»Nein, die ganze Brieftasche, wenn’s recht ist.« Marr grinste kurz, und Carson sah, daß er gar nicht auf einem Kaugummi, sondern einem breiten, roten Gummiband herumkaute. Konsterniert gab er ihm seine Brieftasche.

»Ihr Gepäck müssen Sie auch noch beim Sicherheitsdienst zur Durchsuchung abgeben«, sagte Singer. »Aber machen Sie sich nichts draus, vor dem Abendessen bekommen Sie alles zurück. Bis auf Ihren Paß natürlich. Der wird Ihnen erst wieder ausgehändigt, wenn Ihre sechs Monate hier vorüber sind.«

Marr trat vom Wagenfenster zurück, holte Carsons Seesack und sein Banjo aus dem Gepäckraum und ging damit zurück in das klimatisierte Wachhaus. Dabei zog er sein steifes, rechtes Bein neben sich her, als könne es jeden Augenblick abfallen. Von drinnen fuhr er die Schranke hoch und winkte den Wagen durch. Im Vorbeifahren sah Carson durch die dicke, blau getönte Fensterscheibe, wie Marr den Inhalt seiner Brieftasche inspizierte.

»Hier gibt es keine Geheimnisse, fürchte ich, außer denen, die man im Kopf behält«, sagte Singer mit einem angedeuteten Lächeln. »Und selbst auf die muß man aufpassen.«

»Wozu soll das gut sein?« fragte Carson.

Singer zuckte mit den Achseln. »Das ist wohl der Preis, den man dafür zahlen muß, daß man in einer Hochsicherheitseinrichtung arbeitet. Angst vor Industriespionage und unliebsamen Presseberichten und so weiter. Im Grunde ist es dasselbe wie bei Gene-Dyne in New Jersey, nur zehnmal schärfer.«

Singer fuhr den Wagen auf den Autohof und schaltete den Motor ab. Als Carson ausstieg, schlug ihm die heiße Wüstenluft entgegen. Er sog sie tief in die Lungen. Diese Luft war wunderbar. Ein paar hundert Meter hinter den Gebäuden konnte er den mächtigen Kegel von Mount Dragon aufragen sehen. Eine offenbar erst vor kurzem angelegte Schotterstraße führte an einer seiner Flanken hinauf zu den Antennenmasten.

»Und jetzt«, sagte Singer, »machen wir eine Betriebsbesichtigung. Danach gehen wir in mein Büro und unterhalten uns bei einem kühlen Drink.«

»Dieses Projekt …«, begann Carson.

Singer, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, blieb abrupt stehen und drehte sich um.

»Scopes hat wohl nicht übertrieben, oder?« fragte Carson. »Es ist wirklich sehr wichtig, oder?«

Singer blinzelte gegen die Sonne hinaus in die weite, leere Wüste. »Wichtiger, als Sie es sich auch nur zu erträumen wagen«, sagte er.

Die Percival Lecture Hall an der Harvard University war voll bis auf den letzten Platz. Gut zweihundert Studenten saßen mit aufgeschlagenen Notizbüchern vor sich in den ansteigenden Stuhlreihen und blickten aufmerksam nach vorn. Dr. Charles Levine, ein kleiner, drahtiger Mann mit einem wildgelockten Haarkranz um den viel zu früh kahl gewordenen Kopf, ging vor den Studenten ruhelos auf und ab. Die Ärmel seines Jacketts waren weiß vom Kreidestaub, und an seinen derben Schuhen befanden sich noch immer die Salzflecken vom vergangenen Winter. Doch sein schlampiges Äußeres tat der intensiven Wirkung keinen Abbruch, die seine Gesten und Worte auf die Studenten hatten. Während er sprach, deutete er mit einem Stück Kreide immer wieder auf die hieroglyphenartig-komplizierten biochemischen Formeln und Nukleotidsequenzen an der großen Tafel hinter ihm.

In der letzten Stuhlreihe saß eine kleine Gruppe von Leuten mit Kassettenrecordern und Videokameras. Schon ihre Kleidung ließ erkennen, daß sie keine Studenten waren, außerdem wiesen sie an Jackenkragen und Gürtel gut sichtbar befestigte Plastikkarten als Presseleute aus. Medienpräsenz war bei Vorlesungen von Professor Levine keine Seltenheit, schließlich war der Vorsitzende der Stiftung für Verantwortungsbewußte Gentechnologie immer für eine Überraschung gut. Bei dieser Vorlesung allerdings hatte Genetic Policy, das Fachblatt der Stiftung, schon im Vorfeld dafür gesorgt, daß ihr ein gehöriges Medienecho sicher war.

Levine hörte auf herumzulaufen und trat ans Rednerpult. »Und damit möchte ich meine Erörterungen über die Tuittsche Konstante unter besonderer Berücksichtigung der Sterblichkeitsrate in Westeuropa abschließen, denn ich würde gerne Ihre Aufmerksamkeit noch auf etwas anderes richten«. Er räusperte sich. »Könnte ich bitte die Leinwand haben?« Das Licht im Hörsaal wurde dunkler, und von der Decke kam ein weißes Stück Stoff vor die Tafel heruntergefahren.

»In ein paar Minuten werde ich Ihnen auf dieser Leinwand ein Dia zeigen«, sagte Levine. »Ich habe keine Genehmigung, das zu tun, und mache mich damit genaugenommen sogar einer Verletzung der staatlichen Geheimhaltungsbestimmungen schuldig. Und wenn Sie jetzt hierbleiben, tun Sie das auch. Ich persönlich mache das ständig, wie Sie an meinen Artikeln in der Genetic Policy sicher schon erkannt haben. Es gibt eben nun mal Informationen, die öffentlich gemacht werden müssen, ganz gleich, um welchen Preis. Aber das nur nebenbei. Ich gebe jetzt allen, die lieber den Hörsaal verlassen möchten, Gelegenheit dazu. Bitte gehen Sie, wenn Sie wollen, denn ich kann von niemandem verlangen, daß er hierbleibt.«

In dem schwach erhellten Saal waren aufgeregtes Geflüster und das Rascheln von Notizbuchseiten zu hören, aber niemand stand auf.

Levine blickte zufrieden in die Runde, bevor er dem Studenten am Diaprojektor zunickte. Kurz darauf war auf der Leinwand ein Schwarzweißbild zu sehen.

Levine, dessen Schatten am unteren Rand des Dias aussah wie der eines Mönches mit Tonsur, blickte hinauf zu dem Bild. »Diese Aufnahme wurde am 1. Juli 1985 vom Aufklärungssatelliten TB-17 gemacht, der in einer sonnensynchronen Bahn in achthundert Kilometern Höhe um die Erde kreist«, begann er. »Offiziell ist dieses Bild noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben, obwohl es das durchaus verdient hätte.« Levine lächelte, und im Hörsaal kam vereinzelt nervöses Gelächter auf.

»Was Sie sehen, ist der Ort Nowo Druschina in Westsibirien. An der Länge der Schatten können Sie erkennen, daß das Bild am frühen Vormittag aufgenommen wurde, was übrigens eine ideale Zeit für Aufklärungsaufnahmen ist. Beachten Sie bitte die beiden geparkten Autos an der Straße und die reifenden Kornfelder rings um den Ort.«

Das Dia wurde durch ein anderes ersetzt.

»Und hier sehen wir denselben Ort drei Monate später. Fällt Ihnen dabei etwas Besonderes auf?«

Niemand im Hörsaal sagte etwas.

»Nun, die Autos stehen immer noch an genau derselben Stelle, und die Felder sind jetzt so reif, daß sie dringend abgeerntet werden müßten.«

Wieder war ein neues Dia zu sehen.

»Hier haben wir noch einmal den Ort Nowo Druschina, diesmal im April des folgenden Jahres. Die Autos haben sich noch immer nicht bewegt, und die Felder liegen brach. Das Getreide wurde noch immer nicht geerntet. Dieses Bild fanden die Fotoauswerter der CIA ausgesprochen interessant.«

Levine machte eine Pause und blickte in die Runde der gespannt zuhörenden Studenten.

»Es war nämlich nicht nur hier so. Überall in der sogenannten Sperrzone vierzehn, einem etwa zweihundert Quadratkilometer großen Gebiet, in dem es außer Nowo Druschina noch ein weiteres halbes Dutzend Ortschaften gab, bot sich dasselbe Bild. Nirgends waren auch nur die geringsten menschlichen Aktivitäten zu beobachten. Also beschlossen unsere Militärs, sich die Sache aus der Nähe zu betrachten.«

Ein neues Dia erschien.

»Das ist eine digital verstärkte Vergrößerung der ersten Aufnahme, bei der die meisten Aufnahmefehler elektronisch herausgefiltert wurden. Beachten Sie den verwischten, länglichen Gegenstand neben der Straße vor der Kirche. Er sieht zwar aus wie ein Holzscheit, ist aber eine menschliche Leiche, wie Ihnen jeder Fotoexperte des Pentagon bestätigen kann. Nun zeige ich Ihnen denselben Ausschnitt aus der Aufnahme sechs Monate später.«

Alles war genauso wie auf dem vorherigen Dia, nur daß der längliche Gegenstand jetzt nicht mehr grau, sondern weiß aussah.

»Die Leiche ist jetzt bereits vollständig skelettiert. Beim Auswerten vieler solcher Vergrößerungen fanden die Militärs unzählige Skelette, die, ohne begraben worden zu sein, auf den Straßen und mitten in den Feldern lagen. Zuerst wußten sie nicht, wie sie sich das erklären sollten, und es machte sogar die Mutmaßung die Runde, es könne sich um einen kollektiven Selbstmord handeln wie damals in Jonestown. Denn schließlich …«

Ein neues Dia war zu sehen.

»… war, wie Sie unschwer erkennen können, die Natur noch vollkommen lebendig. Pferde grasten auf den Wiesen, und hier, in der oberen linken Ecke, können Sie ein Rudel offenbar verwilderter Hunde sehen. Auf anderen Vergrößerungen hat man Rinder gefunden. Nur die Menschen waren tot, und dabei muß der Tod so rasch eingetreten sein, daß sie keine Zeit mehr hatten, in ihre Häuser zu gelangen.«

Levine machte wieder eine Pause.

»Es fragt sich bloß, woran sie gestorben sind.«

Im Hörsaal war es still.

»Vielleicht hat man ihnen Essen aus unserer Mensa zukommen lassen?« schlug einer der Studenten vor.

Alles brüllte, und Professor Levine stimmte herzhaft ins allgemeine Gelächter ein. Dann nickte er, und der Student am Projektor schob ein weiteres Dia ein. Es war wieder eine Luftaufnahme, auf der die stark zerstörte Ruine eines Gebäudekomplexes zu sehen war.

»Leider war es das nicht, mein Freund. Mit der Zeit fand die CIA nämlich heraus, daß es ein todbringender Stoff war, der in diesem Labor hier hergestellt wurde. An den Kratern können Sie sehen, daß es aus der Luft bombardiert wurde.

Jahrelang war außerhalb Rußlands über diesen Vorfall nichts Genaueres zu erfahren gewesen, aber Anfang dieser Woche hat sich ein Oberst der russischen Armee in die Schweiz abgesetzt und einen dicken Packen von Akten der ehemaligen Sowjetarmee mitgebracht. Dieselbe Quelle, die mir das eben gezeigte Bildmaterial zur Verfügung gestellt hat, machte mich auch auf den Oberst aufmerksam. Ich flog sofort in die Schweiz und konnte als erster westlicher Wissenschaftler einen Blick in diese Akten werfen. Das, was ich Ihnen im folgenden darlegen werde, ist bisher noch nie öffentlich bekannt gemacht worden.

Zunächst einmal war alles nur ein relativ primitives Experiment, dem niemand einen politischen, ökonomischen oder gar militärischen Wert beimaß. Sie wissen ja, daß vor zehn Jahren die Russen in der Genforschung noch meilenweit hinter uns herhinkten und alles taten, um den Anschluß zu finden. In dem geheimen Labor in Nowo Druschina experimentierten sie beispielsweise mit der Herstellung tödlicher Viren. Sie nahmen dazu ein einfaches Virus, das Herpex simplex Ia+, das wir alle als Verursacher von unangenehmen Hautbläschen kennen. Es ist ein Virus, das weitgehend erforscht ist und mit dem es sich gut arbeiten läßt. Die russischen Forscher experimentierten mit seinem Erbgut, indem sie ihm menschliche Gene in seine DNA einschleusten.

Wir wissen immer noch nicht, was sie genau mit diesem Herpesvirus gemacht haben, aber auf einmal hatten sie einen fürchterlichen, neuartigen Krankheitserreger erzeugt. Anfangs wußten die Russen noch nicht, was er genau beim Menschen bewirkte, außer daß das genmanipulierte Virus extrem langlebig war und sich per Inhalationsinfektion übertrug.

Am 23. Mai 1985 schließlich ereignete sich in dem Labor von Nowo Druschina ein kleinerer Unfall. Offenbar hatte ein Angestellter beim Umgang mit dem Virus seinen Schutzanzug beschädigt. Spätestens seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wissen wir ja, wie lächerlich niedrig die sowjetischen Sicherheitsstandards waren. Der Angestellte verschwieg den Vorfall seinen Vorgesetzten und ging am Abend, so als wäre nichts geschehen, nach Hause zu seiner Familie, die in einer nahen Siedlung wohnte.

Drei Wochen lang vermehrte sich das Virus unbemerkt in seiner Bauchhöhle, bis der Mann am 14. Juni hohes Fieber bekam und sich ins Bett legte. Wenige Stunden später klagte er über starken Druck in seinen Gedärmen und sonderte eine Menge übelriechender Gase ab. Seine Frau, der das alles nicht mehr geheuer war, rief einen Arzt.

Noch bevor dieser bei ihm war, hatte ihr Mann allerdings – entschuldigen Sie bitte diese drastische Beschreibung – sich durch den After sämtlicher Gedärme entledigt, die sich in seinem Bauch in eine Art eitrigen Brei verwandelt hatten. Ich brauche wohl nicht extra zu erwähnen, daß der Mann lange vor dem Eintreffen des Arztes bereits tot war.«

Levine hielt inne und blickte herum, als erwarte er eine Wortmeldung aus dem Hörsaal, die aber nicht kam.

»Da dieser Vorfall geheimgehalten wurde, hat das Virus bis heute noch keinen offiziellen Namen. Es ist nach wie vor nur als Stamm 232 bekannt. Wir wissen jetzt, daß ein Mensch bereits vier Tage nach seiner Ansteckung andere damit anstecken kann, obwohl die eigentlichen Krankheitssymptome erst nach mehreren Wochen auftreten. Die Sterblichkeitsrate nach einer Infektion mit Stamm 232 liegt praktisch bei hundert Prozent. Bis der Arbeiter starb, hatte er Dutzende, wenn nicht Hunderte von Menschen in seiner Umgebung angesteckt, und drei Tage nach seinem Tod klagten alle von ihnen über denselben Druck in den Gedärmen und erlitten dasselbe grausame Schicksal wie er.

Eine weltweite Epidemie konnte nur deshalb verhindert werden, weil die Krankheit in einer sehr abgelegenen Gegend ausbrach. Im Jahr 1985 wurde das Sperrgebiet vierzehn so abgeriegelt, daß niemand mehr hinein- oder herauskam. Kurz nach Bekanntwerden der ersten Krankheitsfälle brach in Nowo Druschina und Umgebung eine Panik aus. Manche Menschen luden ihre Habe auf Autos, Lastwagen und Pferdefuhrwerke, während andere alles stehen- und liegenließen und versuchten, auf dem Fahrrad oder zu Fuß zu fliehen.

Aus den Unterlagen, die der Oberst aus Rußland mitgebracht hat, wissen wir, wie die sowjetische Armee auf diese Massenflucht reagierte. Spezialeinheiten in Schutzanzügen errichteten Straßensperren und besetzten die Kontrollpunkte an den Zäunen, mit denen das Sperrgebiet rings um das geheime Labor gesichert war. So gelang es ihnen, die Ausbreitung der Krankheit auf die Gegend um Nowo Druschina zu begrenzen, wo ganze Familien auf Straßen, Plätzen oder Feldern starben. Zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und dem qualvollen Tod des Infizierten lagen oft keine drei Stunden. Die Panik war so groß, daß die Soldaten an den Straßensperren den Befehl hatten, ausnahmslos auf jeden zu feuern, der auch nur in Sichtweite kam. Das taten sie und erschossen auch alte Männer, Kinder und schwangere Frauen. Flugzeuge warfen massenhaft Schützenminen über Feldern und Wäldern ab, und wen die nicht aufhielten, der starb im Stacheldraht oder den Panzerfallen am Zaun. Tausende von Menschen wurden so geopfert, damit die Seuche nicht auf den Rest des Landes übergreifen konnte.

Schließlich wurde das Labor selbst mit einem Bombenteppich belegt. Natürlich geschah das nicht, um das Virus zu töten, dem Bomben nichts anhaben konnten, sondern um die Spuren des gräßlichen Unglücks vor den Augen des Westens zu verbergen.

Nach acht Wochen war im Quarantänegebiet kein menschliches Wesen mehr am Leben. Die Dörfer waren verlassen, Schweine und Hunde fraßen vor lauter Hunger die überall herumliegenden Leichen, und die Kühe liefen ungemolken herum. Über den verlassenen Ortschaften muß ein grauenvoller Verwesungsgestank gehangen haben.«