Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge - Ruth Hogan - E-Book
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Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge E-Book

Ruth Hogan

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Beschreibung

Charmant, außergewöhnlich und liebenswert. Machen Sie sich mit Mr. Peardew auf die Suche nach verlorenen Dingen. Jeder Gegenstand, den Anthony Peardew auf der Straße findet, hat eine Geschichte. Er sammelt und archiviert sie alle in seinem gediegenen viktorianischen Haus und plant, sie eines Tages an ihre ursprünglichen Besitzer zurückzugeben. Denn er selbst sieht sich nur als Hüter der verlorenen Dinge. Vor Jahren hat er selbst etwas verloren, das er seitdem auf seinen Streifzügen sucht: ein Schmuckstück. Es gehörte seiner großen Liebe, und das Medaillon verbindet sie noch immer mit ihm. Anthony muss diese besondere Aufgabe jedoch an seine Erbin Laura weitergeben, ohne ihr von dem großen Geheimnis erzählt zu haben, das seine Sammlung umgibt.

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Seitenzahl: 375

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Das Buch

Vor vierzig Jahren hat Anthony das Liebespfand seiner Verlobten verloren. Am selben Tag ist Therese bei einem Unfall gestorben. Seitdem sucht Anthony Trost in den Dingen, die er auf der Straße findet. Sorgfältig archiviert er die Fundstücke in seinem behaglichen viktorianischen Haus. Zu jedem Gegenstand vermerkt er, wann und wo er ihn gefunden hat. Und zu einzelnen schreibt er kurze Erzählungen, die das Besondere in den verlorenen Dingen schildern.Sein großes Ziel ist es, die Besitzer ausfindig zu machen und ihnen alles zurückzugeben. Vielleicht hat jemand für ihn Thereses Liebespfand aufgehoben? Doch diese große Aufgabe muss er an Laura übergeben. Seine junge Assistentin, der er mehr zutraut als sie sich selbst. Anthonys Testament zieht für Laura eine Reihe äußerst unerwarteter Begegnungen nach sich. Denn auch sie möchte etwas finden …

Die Autorin

Ruth Hogan ist selbst begeisterte Sammlerin von Fundstücken. Sie lebt mit Mann und drei Hunden in einem etwas chaotischen viktorianischen Haus in Bedford, England. Ein schwerer Autounfall und eine Krebserkrankung brachten sie zum Schreiben. Die schlaflosen Nächte hat sie am Schreibtisch verbracht, das Ergebnis ist ihr Roman über das Finden von Dingen und Geschichten.

Ruth Hogan

Mr. Peardews Sammlung der verlorenen Dinge

Roman

Aus dem Englischenvon Marion Balkenhol

List

Die Originalausgabe erschien 2017unter dem Titel »The Keeper of Lost Things«bei Two Roads, einem Imprint vonJohn Murray Press, Hachette UK, London

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ISBN 978-3-8437-1470-9

© Tilbury Bean Books Ltd 2017© der deutschsprachigen Ausgabe2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: FAVORITBUERO, MünchenUmschlagabbildung: © AlexRoz/Shutterstock.com

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für Bill, meinen getreuen Flügelmann,und Prinzessin Tilly Bean

Wer aber nicht wagt, den Dorn zu fassen,der sollte sich nie nach der Rose verzehren.

Anne Brontë

1

Charles Bramwell Brockley reiste allein und ohne Fahrkarte in dem Zug um 14.42 Uhr von London Bridge nach Brighton. Die Keksdose von Huntley & Palmers, in der er reiste, schwankte bedenklich auf dem Rand des Sitzes, als der Zug in Haywards Heath ruckelnd anhielt. Aber gerade als die Dose nach vorn rutschte und auf den Boden des Waggons zu fallen drohte, wurde sie von zwei rettenden Händen aufgefangen.

Er war froh, zu Hause zu sein. Padua war eine solide viktorianische Backsteinvilla, deren Veranda von Geißblatt und Klematis umrankt war. Der kühle, nach Rosen duftende, widerhallende Eingangsbereich hieß ihn willkommen und bot ihm Schutz vor dem grellen Sonnenlicht draußen. Er stellte seine Tasche ab, legte seine Schlüssel in die Schublade des Garderobentischs und hängte seinen Panamahut an den Hutständer. Er war müde bis in die Knochen, doch das stille Haus beruhigte ihn. Still, aber nicht lautlos. Da waren das gleichmäßige Ticken einer Standuhr und das ferne Brummen eines alten Kühlschranks, und irgendwo im Garten sang eine Amsel. Das Haus aber war frei vom Tinnitus der Technologie. Es gab keinen Computer, keinen Fernseher, keinen DVD- oder CD-Player. Die einzigen Verbindungen zur Außenwelt waren ein altes Bakelittelefon in der Diele und ein Radio. In der Küche drehte er den Hahn auf, ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt war, und füllte eine Karaffe damit. Für einen Gimlet war es noch zu früh, für Tee zu heiß. Laura war schon nach Hause gegangen, hatte aber eine Notiz und einen Salat mit Schinken im Kühlschrank für sein Abendessen hinterlassen. Die Gute. Hastig trank er das Wasser.

Er ging wieder in die Diele, nahm einen einzelnen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss eine schwere Eichentür auf. Er holte seine Tasche, die er auf dem Boden abgestellt hatte, betrat den Raum und machte leise die Tür hinter sich zu. Regale und Schubladen, Regale und Schubladen, Regale und Schubladen. Drei Wände waren vollständig bedeckt, jedes Regal war beladen, jedes Schubfach gefüllt mit einem traurigen Sammelsurium, in vierzig Jahren gesammelt, beschriftet und beheimatet. Die Spitzengardinen vor der Verandatür nahmen dem hellen Licht der Nachmittagssonne die Kraft. Durch den Spalt zwischen ihnen drang ein einzelner, mit glitzernden Staubkörnern durchsetzter Strahl ins Halbdunkel. Der Mann nahm die Huntley&Palmers-Keksdose aus seiner Tasche und stellte sie vorsichtig auf einen großen Mahagonitisch, die einzige freie Oberfläche im Raum. Er hob den Deckel und untersuchte den Inhalt, eine hellgraue Substanz von der Beschaffenheit grobkörnigen Sandes. Etwas Ähnliches hatte er vor vielen Jahren im Rosengarten hinter dem Haus verstreut. Aber das hier waren doch bestimmt keine menschlichen Überreste? In einer Keksdose im Zug stehen gelassen? Er machte den Deckel wieder zu. Er hatte versucht, die Dose im Bahnhof abzugeben, doch der Schaffner, davon überzeugt, dass es Müll war, schlug vor, er solle sie in den nächsten Abfalleimer werfen.

»Sie würden sich wundern über den Schrott, den die Leute in Zügen lassen«, sagte er und entließ Anthony mit arrogantem Schulterzucken.

Anthony überraschte nichts mehr, doch ein Verlust, ob groß oder klein, bewegte ihn immer. Aus einer Schublade nahm er einen Gepäckaufkleber aus braunem Papier und einen Füllfederhalter mit goldener Feder. Sorgfältig hielt er mit schwarzer Tinte zuerst das Datum und die Uhrzeit fest, dann den Fundort, sehr penibel:

Huntley&Palmers-Keksdose,enthält Überreste einer Einäscherung?Gefunden im sechsten Waggon von vorn,im Zug um 14.42 Uhr von London Bridge nach Brighton.Verstorbener unbekannt.Der Herr sei mit dir, ruhe in Frieden.

Zärtlich streichelte er den Deckel der Dose, bevor er in einem der Regale eine Lücke fand und sie sanft hineinschob.

Das Läuten der Uhr in der Diele sagte ihm, dass es Zeit für einen Gimlet war. Er holte Eiswürfel und Limettensaft aus dem Kühlschrank und trug sie auf einem silbernen Tablett mit einem grünen Cocktailglas und einem kleinen Teller Oliven in den Wintergarten. Er hatte keinen Hunger, aber er hoffte, sie würden seinen Appetit anregen. Er wollte Laura nicht enttäuschen, wenn er ihren sorgfältig zubereiteten Salat stehen ließ. Er stellte das Tablett ab und öffnete das Fenster zum Garten hinter dem Haus.

Das Grammophon war ein hübsches Gerät aus Holz mit einem geschwungenen goldenen Horn. Er hob die Nadel an und legte sie sanft auf die lakritzfarbene Schallplatte. Die Stimme von Al Bowlly erklang und schwebte hinaus in den Garten, um mit der Amsel zu konkurrieren.

The very thought of you.

Das war ihr Lied gewesen. Er setzte sich in einen bequemen Ledersessel und streckte die langen Beine aus. In seinen besten Jahren hatte seine Körpermasse zu seiner Größe gepasst, und er war eine eindrucksvolle Gestalt gewesen, doch das Alter hatte das Fleisch dahinschmelzen lassen, und nun lag die Haut viel enger an den Knochen. Mit dem Glas in einer Hand prostete er der Frau zu, deren silbern gerahmtes Foto er in der anderen hielt.

»Auf dein Wohl, mein Schatz!«

Er trank einen Schluck von seinem Drink und drückte einen liebevollen, sehnsüchtigen Kuss auf das kalte Glas des Fotorahmens, bevor er ihn wieder auf den kleinen Tisch neben seinem Sessel stellte. Sie war keine klassische Schönheit gewesen; eine junge Frau mit lockigem Haar und großen dunklen Augen, die selbst auf einem alten Schwarzweißfoto leuchteten. Doch sie war hinreißend, mit einer Präsenz, die sich nach all den Jahren noch bemerkbar machte und ihn bezauberte. Sie war seit vierzig Jahren tot, aber sie war noch immer sein Leben, und ihr Tod hatte ihm seine Bestimmung gegeben. Er hatte Anthony Peardew zum Hüter der verlorenen Dinge gemacht.

2

Laura war hoffnungslos verloren und trieb auf den Wellen dahin. Nur mit knapper Not und einer unglückseligen Mischung aus Prozac, Pinot Grigio und guter Miene zum bösen Spiel – zu Vinces Affäre zum Beispiel – hielt sie sich über Wasser. Anthony Peardew und sein Haus hatten sie gerettet.

Als sie den Wagen vor dem Haus abstellte, rechnete sie nach, wie lange sie hier schon arbeitete. Fünf, nein, fast sechs Jahre. Sie hatte im Wartezimmer ihres Arztes gesessen und nervös die Zeitschriften durchgeblättert, als ihr eine Anzeige in der Lady ins Auge sprang:

Haushälterin/persönliche Assistentin für Schriftsteller gesucht. Bitte bewerben Sie sich bei Anthony Peardew – PO Box 27312.

Eigentlich war sie zum Arzt gegangen, um sich noch mehr Medikamente verschreiben zu lassen. Stattdessen verließ sie die Praxis und bewarb sich auf eine Stelle, die ihr Leben verändern würde, wie sich herausstellte.

Als sie den Haustürschlüssel umdrehte und ins Haus trat, empfing sie wie immer der Frieden, den es ausstrahlte. Sie ging in die Küche, füllte den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Anthony machte wohl gerade seinen Morgenspaziergang. Gestern hatte sie ihn gar nicht gesehen. Er war in London bei seinem Anwalt gewesen. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, durchstöberte sie den ordentlichen Papierstapel, den er ihr zur Bearbeitung hingelegt hatte: ein paar zu zahlende Rechnungen, ein paar Briefe, die sie für ihn beantworten sollte, und die Bitte, einen Termin bei seinem Arzt zu vereinbaren. Leichte Besorgnis überkam sie. Sie hatte versucht, darüber hinwegzusehen, dass er in den vergangenen Monaten nachgelassen hatte, wie ein schönes Porträt, das zu lange dem grellen Sonnenlicht ausgesetzt ist, an Schärfe und Farbe verliert. Als er vor Jahren das Bewerbungsgespräch mit ihr geführt hatte, war er ein großer, muskulöser Mann mit vollem dunklem Haar gewesen, leuchtend blauen Augen und einer Stimme wie James Mason. Sie hatte ihn für viel jünger als achtundsechzig gehalten. Laura hatte sich in Mr. Peardew und das Haus gleichermaßen verliebt, sobald sie durch die Tür getreten war. Die Liebe, die sie für ihn empfand, war keine romantische, eher die Zuneigung eines Kindes zum Lieblingsonkel. Seine freundliche Stärke, seine ruhige Art und seine makellose Höflichkeit waren Eigenschaften, die sie bei einem Mann zu schätzen gelernt hatte, wenn auch ein wenig spät. In seiner Gegenwart besserte sich ihre Laune, was dazu führte, dass ihr Leben ihr endlich wieder wertvoll erschien. Er war ein treuer Anhänger von Radio 4, Big Ben und »Land of Hope and Glory«. Aber immer ein wenig distanziert. Einen Teil von sich gab er nie preis; ein Geheimnis, das er stets bewahrte. Laura war darüber froh. Intimität, sei es körperliche oder emotionale, war immer eine Enttäuschung für sie gewesen. Mr. Peardew war der perfekte Arbeitgeber, der zu Anthony, einem guten Freund, geworden war. Aber einem, der ihr nie zu nahekam.

Im Grunde war es ein Deckchen auf einem Tablett gewesen, das dazu führte, dass Laura sich in das Haus verliebte. Anthony hatte ihr beim Bewerbungsgespräch Tee gekocht und ihn in den Wintergarten gebracht: Teekanne mit Wärmer, Milchkännchen, Zuckerdose und Zange, Tassen und Untertassen, silberne Teelöffel, Teesieb mit Ständer. Das alles auf einem Tablett mit Deckchen. Weißes, mit Spitze gesäumtes Leinen. Das Deckchen war eindeutig. Padua war offensichtlich ein Haus, in dem das alles einschließlich Deckchen zum Alltag gehörte, und Mr. Peardew war ein Mann, dessen Alltag genau das war, wonach Laura sich sehnte. Als sie frisch verheiratet waren, hatte Vince sie damit aufgezogen, dass sie versuchte, solche Dinge in ihrem Haus einzuführen. Wenn er je gezwungen war, sich seinen Tee selbst zu machen, ließ er den benutzten Teebeutel auf dem Abtropfbrett liegen, auch wenn Laura ihn noch so oft bat, ihn in den Abfalleimer zu werfen. Er trank Milch und Obstsaft direkt aus der Packung, stützte beim Essen die Ellbogen auf, hielt sein Messer wie einen Stift und sprach mit vollem Mund. Für sich genommen waren es Kleinigkeiten, wie die vielen anderen Dinge, die er tat und sagte. Laura versuchte sie zu ignorieren, doch sie gingen ihr trotzdem auf die Nerven. Im Lauf der Jahre nahmen sie zu, verhärteten Lauras Herz und zerstörten ihre zarten Sehnsüchte nach einem Leben, das sie einst bei ihren Schulfreundinnen zu Hause mitbekommen hatte. Als Vinces Hänseleien schließlich in Spott übergingen, wurde ein Deckchen auf dem Tablett für ihn zu einem Gegenstand, der nur Hohn verdiente. So wie Laura.

Das Bewerbungsgespräch hatte am Tag ihres fünfunddreißigsten Geburtstags stattgefunden und war erstaunlich kurz verlaufen. Mr. Peardew fragte sie, wie sie ihren Tee trinke, und schenkte dann ein. Beide hatten ein paar Fragen gestellt, bevor er Laura die Stelle anbot. Sie nahm an. Es war das perfekte Geburtstagsgeschenk, und Laura schöpfte wieder Hoffnung.

Das Pfeifen des Kessels drang in ihre Erinnerungen. Laura nahm ihren Tee, ein Staubtuch und Möbelpolitur mit in den Wintergarten. Zu Hause hasste sie es, zu putzen, besonders als sie noch mit Vince zusammengelebt hatte. Hier aber war es eine liebevolle Tätigkeit. Als sie angefangen hatte, waren das Haus und die darin befindlichen Gegenstände leicht vernachlässigt. Nicht schmutzig oder schäbig, nur übersehen. Viele Zimmer waren unbenutzt. Anthony verbrachte die meiste Zeit im Wintergarten oder in seinem Arbeitszimmer und hatte nie Gäste, die im Gästezimmer übernachteten. Leise und sanft hatte Laura einen Raum nach dem anderen wieder zum Leben erweckt. Bis auf das Arbeitszimmer. Das hatte sie nie betreten. Anthony hatte ihr gleich am Anfang gesagt, niemand außer ihm gehe ins Arbeitszimmer, und wenn er nicht darin war, blieb es abgeschlossen. Das hatte sie nie in Frage gestellt. Aber alle anderen Räume wurden so gepflegt, dass jeder sich hätte wohlfühlen können, auch wenn nie jemand kam.

Im Wintergarten nahm Laura das Foto im Silberrahmen in die Hand und polierte Glas und Silber so lange, bis es glänzte. Anthony hatte ihr erzählt, der Name der Frau sei Therese, und Laura wusste, dass er sie sehr geliebt haben musste, denn ihr Foto war eins von nur dreien im ganzen Haus. Die anderen waren Kopien eines Fotos von Anthony und Therese zusammen, eins stand auf einem kleinen Tisch neben seinem Bett, das andere auf der Kommode im großen Schlafzimmer auf der Rückseite des Hauses. In all den Jahren, seitdem sie ihn kannte, hatte sie ihn nie so glücklich gesehen wie auf dem Foto.

Als Laura sich von Vince trennte, war ihre letzte Tat, das gerahmte Hochzeitsfoto wegzuwerfen, nachdem sie darauf herumgetrampelt war und das zersplitterte Glas mit dem Absatz in sein grinsendes Gesicht gerieben hatte. Selina vom Kundendienst hatte ihn mit offenen Armen aufgenommen. Er war ein absolutes Arschloch. Sie war nur traurig darüber, so viele Jahre mit ihm vergeudet zu haben. Doch mit einer nicht abgeschlossenen Ausbildung, fehlender Berufserfahrung und ohne Geld war ihr nichts anderes übriggeblieben.

Als sie im Wintergarten fertig war, ging Laura durch die Diele und dann die Treppe hinauf, wobei sie mit ihrem Staubtuch einen Goldschimmer vom geschwungenen Holzgeländer strich. Sie hatte sich oft Gedanken über das Arbeitszimmer gemacht – natürlich. Aber sie respektierte Anthonys Privatsphäre ebenso wie er ihre. Das größte Schlafzimmer oben war auch das hübscheste, es hatte ein großes Erkerfenster mit Blick über den Garten hinter dem Haus. Das war das Zimmer, das Anthony einst mit Therese geteilt hatte, doch nun schlief er in dem kleineren Raum nebenan. Laura öffnete das Fenster, um ein wenig zu lüften. Die Rosen im Garten unten standen in voller Blüte, wogende rote, rosa und cremefarbene Blätter. An den Rändern der Beete standen Pfingstrosen, durchsetzt mit saphirfarbenen Speeren des Rittersporns. Der Duft der Rosen schwebte in der warmen Luft nach oben, und Laura atmete das schwere Aroma tief ein. Doch dieser Raum duftete immer nach Rosen. Selbst im Winter, wenn der Garten schlief und die Fenster mit einer Eisschicht überzogen waren. Laura richtete sich auf, strich über die ohnehin schon perfekten Bettdecken und schüttelte die Polster auf der Ottomane auf. Der Frisiertisch aus grünem Glas stand funkelnd im Sonnenlicht. Doch nicht alles war perfekt in dem Raum. Die kleine blaue Emaille-Uhr war wieder stehengeblieben. Sie zeigte 11.55 Uhr und tickte nicht. Jeden Tag blieb sie um dieselbe Zeit stehen. Laura schaute auf ihre Armbanduhr und stellte die Zeiger richtig. Vorsichtig drehte sie den kleinen Schlüssel, bis das leise Ticken einsetzte, und stellte die Uhr dann wieder an ihren Platz auf der Frisierkommode.

Als sie die Haustür unten hörte, wusste sie, dass Anthony von seinem Spaziergang zurück war. Daraufhin folgten das Aufschließen, Öffnen und Schließen der Tür vom Arbeitszimmer. Eine Geräuschfolge, mit der Laura sehr vertraut war. In der Küche machte sie eine Kanne Kaffee, die sie mit einer Tasse und Untertasse, einem silbernen Milchkännchen und einem Teller Kekse auf ein Tablett stellte. Sie trug es durch die Diele und klopfte leise an. Als die Tür aufging, reichte sie Anthony das Tablett. Er wirkte erschöpft; eher blass als durch seinen Spaziergang belebt.

»Danke, meine Liebe.«

Traurig stellte sie fest, dass seine Hände leicht zitterten, als er das Tablett entgegennahm.

»Möchten Sie etwas Bestimmtes zum Mittagessen?«, fragte sie.

»Nein, nein. Ich bin mir sicher, alles, wozu Sie sich entscheiden, wird köstlich schmecken.«

Die Tür ging zu. Zurück in der Küche, wusch Laura den schmutzigen Krug ab, der im Spülbecken aufgetaucht war. Bestimmt hatte Freddy, der Gärtner, ihn zurückgelassen. Er hatte vor zwei Jahren angefangen, im Padua zu arbeiten, doch ihre Pfade kreuzten sich selten, worüber Laura enttäuscht war, denn sie hatte das Gefühl, ihn vielleicht näher kennenlernen zu wollen. Er war groß und dunkelhaarig, aber nicht so gut aussehend, dass er dem Klischee vom Gärtner entsprochen hätte. Er hatte eine blasse Narbe, die senkrecht von der Nase zur Oberlippe verlief und seinen Mund ein wenig zu einer Seite kräuselte. Sie hatte außerdem den Effekt, sein Aussehen eher zu verbessern, statt zu verschlechtern, da sein Lächeln dadurch einen gewissen schiefen Charme erhielt. Er war freundlich, wenn sie sich zufällig über den Weg liefen, aber nicht mehr, und er ermutigte Laura daher nicht gerade, seine Freundschaft zu suchen.

Sie setzte sich an den Papierstapel und sah ihn erneut durch. Die Briefe würde sie mit nach Hause nehmen und auf ihrem Laptop tippen. Als sie angefangen hatte, für Anthony zu arbeiten, hatte sie seine Manuskripte auf einer alten elektrischen Schreibmaschine abgetippt, aber er hatte vor ein paar Jahren aufgehört zu schreiben, und das fehlte ihr. Als sie jünger war, hatte sie selbst daran gedacht, zu schreiben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, Romane oder vielleicht als Journalistin. Sie hatte alle möglichen Pläne gehabt. Sie war intelligent und hatte ein Stipendium für eine Mädchenschule am Ort bekommen, anschließend einen Platz an der Universität. Sie hätte sich ihr Leben selbst einrichten können – hätte es tun sollen. Stattdessen lernte sie Vince kennen. Mit siebzehn war sie noch verletzlich, unfertig, ihrer selbst unsicher. Sie war glücklich in der Schule, doch das Stipendium bedeutete, dass sie nie so richtig dazugehörte. Ihre Eltern, ein Fabrikarbeiter und eine Verkäuferin, waren so stolz auf ihre kluge Tochter. Geld wurde aufgetrieben – zusammengekratzt –, um die komplette Schuluniform zu kaufen; sogar solche Sinnlosigkeiten wie Schuhe für drinnen und für draußen. Alles musste neu sein, nichts Gebrauchtes für ihre Tochter. Laura war zutiefst dankbar. Sie wusste nur zu gut, welche Opfer ihre Eltern auf sich genommen hatten. Aber es war nicht genug. Intelligent und schön ausstaffiert zu sein reichte nicht, um sich nahtlos in die Gesellschaft derer einzufügen, aus denen die Schülerschaft hauptsächlich bestand. Mädchen, für die Ferien im Ausland, Theaterbesuche, Einladungen zum Dinner und Segelwochenenden nichts Ungewöhnliches waren. Natürlich hatte sie Freundinnen, Mädchen, die nett und großzügig waren, und sie nahm ihre Einladungen an, mit zu ihren netten und großzügigen Eltern in prächtige Häuser zu kommen. Prächtige Häuser, in denen Tee in Kannen serviert wurde, Toast in Gestellen, Milch in Krügen und Marmelade mit einem Silberlöffel. Häuser mit Namen statt mit Nummern, mit Terrassen, Tennisplätzen und Formschnitthecken. Und Deckchen auf den Tabletts. Sie sah eine andere Art zu leben und war bezaubert. Hoffnung keimte in ihr auf. Milch in einer Flasche, Margarine in einer Schachtel, Zucker in der Tüte und der Tee in einem Becher zu Hause waren Steine in ihren Taschen, die sie belasteten. Mit siebzehn war sie in die Lücke zwischen den beiden Welten gefallen und wusste nicht mehr, wohin sie gehörte. Dann lernte sie Vince kennen.

Er war älter, sah gut aus, war eingebildet und ehrgeizig. Sie fühlte sich geschmeichelt von seiner Aufmerksamkeit und war beeindruckt von seiner Selbstsicherheit. Vince war sich in allem sicher. Er hatte sogar einen Spitznamen für sich: Vince der Unbesiegbare. Er war Autohändler und fuhr einen roten Jaguar E-Type, ein Klischee auf Rädern. Lauras Eltern waren verzweifelt. Sie hatten gehofft, Lauras Ausbildung wäre der Schlüssel zu einem besseren Leben für sie, besser als das ihre. Ein Leben mit mehr Genuss und weniger Mühen. Sie hätten Deckchen für Tabletts vielleicht nicht verstanden, aber sie wussten, dass es bei der Art von Leben, das sie sich für Laura wünschten, um mehr ging als nur um Geld. Für Laura hingegen ging es nie um Geld. Für Vince Darby drehte sich alles nur um Geld und Status. Lauras Vater machte schon bald seinen eigenen Spitznamen aus Vinces Initialen: Venereal Disease, Geschlechtskrankheit.

Einige unglückliche Jahre später fragte sich Laura oft, was Vince wohl in ihr gesehen hatte. Sie war hübsch, aber nicht schön, und bestimmt nicht die Kombination aus Zähnen, Brüsten und Hintern, die er für gewöhnlich bevorzugte. Die Mädchen, mit denen Vince sich normalerweise verabredete, ließen ihre Unterwäsche ebenso selbstverständlich fallen wie den Buchstaben H beim Sprechen. Vielleicht war sie eine Herausforderung für ihn gewesen. Oder etwas Neues. Wie auch immer, er glaubte offenbar, sie gäbe eine gute Frau für ihn ab. Irgendwann kam Laura zu dem Schluss, dass sein Heiratsantrag ebenso von seinem Statuswunsch angetrieben war wie von körperlichem Verlangen. Vince hatte jede Menge Geld, doch das allein genügte nicht, ihn zu den Freimaurern oder in den Vorstand des Golfclubs zu bringen. Mit ihren feinen Manieren und ihrer Privatschulerziehung sollte Laura seinem Geld den Anschein sozialer Kultiviertheit geben. Er sollte bitter enttäuscht werden. Aber nicht so sehr wie Laura.

Als sie von Vinces Affäre erfuhr, war es leicht, ihm für alles die Schuld zu geben; ihm die Rolle eines stadtbekannten Flegels à la Austen zuzuschreiben, während Laura als die tugendhafte Heldin dastand, die zu Hause gelassen wurde, um Hüllen für Klopapierrollen zu häkeln und Bänder für ihre Haube zu nähen. Doch im Grunde ihres Herzens wusste Laura, dass das eigentlich Ausflüchte waren. Verzweifelt hatte sie nach einem Weg aus der unbefriedigenden Realität gesucht und ihren Arzt um Antidepressiva gebeten, aber er hatte darauf bestanden, sie solle sich an einen Therapeuten wenden, bevor er ihr die Medikamente gab. Für Laura war es ein Mittel zum Zweck. Sie ging davon aus, dass sie nur eine farblose Polyester-Pamela in mittleren Jahren vorführen musste, um ihr Rezept zu bekommen. Was sie bekam, war eine kesse, scharf gekleidete Blondine namens Rudi, die sie zwang, sich ein paar ziemlich unliebsamen Tatsachen zu stellen. Sie sagte Laura, sie solle auf die Stimme in ihrem Kopf hören, die sie auf unangenehme Wahrheiten hinwies und unbequeme Argumente vortrug. Rudi nannte es »sich auf ihre innere Sprache einlassen« und sagte, es würde »eine sehr erfreuliche Erfahrung« für Laura werden. Für Laura waren es Treffen mit der Wahrheitsfee, die sie ebenso erfreulich fand wie das Abspielen ihrer Lieblingsplatte, die einen tiefen Kratzer hatte. Die Wahrheitsfee hatte ein sehr misstrauisches Wesen. Sie beschuldigte Laura, unter dem Gewicht der elterlichen Erwartungen einzuknicken und Vince teilweise deshalb geheiratet zu haben, um nicht auf die Universität gehen zu müssen. Ihrer Meinung nach hatte Laura Angst vor dem Studium; davor, zu versagen; Angst, auf ihren eigenen Beinen zu stehen und dann aufs Gesicht zu fallen. Sie brachte auch die unglückliche Erinnerung an Lauras Fehlgeburt auf den Tisch und das nachfolgende, beinahe zwanghafte und letzten Endes erfolglose Bemühen um ein Kind. In Wirklichkeit rüttelte die Wahrheitsfee Laura auf. Doch als sie ihr Prozac bekam, hatte sie aufgehört, ihr zuzuhören.

Die Uhr in der Diele schlug eins, und Laura begann die Zutaten für das Mittagessen zusammenzustellen. Sie schlug Eier auf, mischte Käse hinein, dazu frische Kräuter aus dem Garten, schüttete die Mischung in eine heiße Pfanne auf dem Herd und sah zu, wie sie schäumte und blubberte und dann zu einem luftigen goldenen Omelett wurde. Auf das Tablett kam eine steife weiße Leinenserviette, silbernes Besteck und ein Glas Holunderblütensirup. An der Tür zum Arbeitszimmer tauschte sie es mit Anthony gegen die Reste seines Morgenkaffees ein. Die Kekse hatte er nicht angerührt.

3

Eunice

Vierzig Jahre zuvor … Mai 1974

Sie hatte sich für den kobaltblauen Filzhut entschieden. Ihre Großmutter hatte ihr einmal gesagt, man könne seine Gene und Nachlässigkeit in der Erziehung für Hässlichkeit verantwortlich machen, aber es gebe absolut keine Entschuldigung dafür, langweilig zu sein. Die Schule war langweilig gewesen. Eunice war ein kluges Mädchen, aber unruhig; der Unterricht hatte sie zu sehr gelangweilt, um eine gute Schülerin zu sein. Sie wollte Aufregung, das pralle Leben. Das Büro, in dem sie arbeitete, war langweilig, voll langweiliger Menschen, und so war auch ihr Job: Tippen und Ablage ohne Ende. Ihre Eltern fanden den Job respektabel, aber das war nur ein anderes Wort für langweilig. Ihre einzige Zuflucht waren Filme und Bücher. Sie las, als hinge ihr Leben davon ab.

Bis sie die Anzeige in der Lady sah:

Assistentin für bekannten Verleger gesucht. Das Gehalt ist eher dürftig, aber die Arbeit wird nie langweilig!

Offensichtlich war die Stelle wie für sie geschaffen, daher bewarb sie sich noch am selben Tag.

Ihr Bewerbungsgespräch fand um 12.15 Uhr statt. Sie war sehr früh losgegangen, deshalb konnte sie nun den Rest der Strecke gemächlich zurücklegen. Dabei nahm sie den Anblick und die Geräusche der Stadt in sich auf. Die Straßen waren überfüllt, und Eunice ließ sich durch den Menschenstrom treiben, hin und wieder verblüfft von einer Gestalt, die aus irgendeinem Grund aus der Menge herausragte. Sie nickte dem pfeifenden Kellner zu, der vor dem Restaurant The Swish Fish den Bürgersteig fegte, und machte einen Bogen, um einen unangenehmen Zusammenprall mit einer verschwitzten Touristin zu vermeiden, die so sehr in ihren Reiseführer vertieft war, dass sie beim Gehen nicht aufsah. Sie lächelte dem großen Mann an der Ecke Great Russell Street zu, der ihr aufgefallen war, weil er nett, aber besorgt wirkte. In dem Augenblick, als sie an ihm vorbeiging, nahm sie alles an ihm in sich auf. Er war stattlich gebaut und sah gut aus, mit blauen Augen und den Manieren eines gepflegten Mannes. Unruhig warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und schaute die Straße hinauf und hinunter. Offensichtlich wartete er auf jemanden, der sich verspätete. Eunice hatte noch Zeit. Es war erst fünf vor zwölf. Sie schlenderte weiter. Ihre Gedanken wanderten zu dem bevorstehenden Bewerbungsgespräch und ihrem neuen Chef. Sie hoffte, er würde so aussehen wie der Mann, den sie, an der Ecke wartend, hinter sich gelassen hatte. Aber vielleicht wäre es ja auch eine Frau; scharf und spitz wie eine auseinandergebogene Büroklammer, eine Frau mit kurzem schwarzem Haar und rotem Lippenstift. Als sie die glänzende grüne Tür in der Bloomsbury Street erreichte, bemerkte sie kaum die Menge, die sich auf dem Bürgersteig gegenüber angesammelt hatte, und das Heulen einer Sirene in der Ferne. Sie drückte auf die Klingel und wartete; den Rücken gerade, Füße nebeneinander, Kopf hoch. Sie hörte Schritte, die eine Treppe hinuntereilten, dann wurde die Tür aufgerissen.

Eunice verliebte sich auf der Stelle in den Mann. Körperlich war er eher unauffällig: mittelgroß, mittlere Statur, hellbraunes Haar, angenehmes Gesicht, zwei Augen und zwei Ohren, eine Nase, ein Mund. Zusammengenommen ergaben diese einzelnen Bestandteile jedoch auf magische Weise ein Meisterstück. Er ergriff ihre Hände, als wollte er sie vor dem Ertrinken retten, und zog sie hinter sich her die Treppe hinauf. Atemlos vor Anstrengung und Begeisterung begrüßte er sie auf dem Weg hinauf mit den Worten: »Sie müssen Eunice sein. Freut mich, Sie kennenzulernen. Nennen Sie mich Bomber. Das tun alle.«

Das Büro, in das sie am oberen Ende der Treppe stürmten, war groß und hell und gut durchorganisiert. Regale und Schubfächer zogen sich an den Wänden entlang, drei Aktenschränke standen unter dem Fenster. Eunice war fasziniert, dass sie mit »Tom«, »Dick« und »Harry« beschriftet waren.

»Nach den Tunneln«, erklärte Bomber, als er ihrem Blick folgte und ihr die Frage vom Gesicht ablas. Aber das sagte ihr nichts.

»In dem Film Gesprengte Ketten? Steve McQueen, Dickie Attenborough, Beutel mit Erdschutt, Stacheldraht und ein Motorrad?«

Eunice lächelte.

»Den haben Sie doch gesehen, oder? Einfach phantastisch!« Er begann die Titelmelodie zu pfeifen.

Eunices Entschluss stand sofort fest. Das war definitiv der richtige Job für sie. Sie würde sich – falls notwendig – an einen der Aktenschränke ketten, um die Stelle zu bekommen. Aber zum Glück war das nicht erforderlich. Dass sie den Film Gesprengte Ketten gesehen hatte und dafür schwärmte, reichte offenbar. Bomber machte ihnen eine Kanne Tee in der winzigen Küche neben dem Büro, um ihre Einstellung zu feiern. Ein eigenartiges rollendes Geknatter folgte ihm zurück in den Büroraum. Das Geräusch stammte von einem beige-weißen kleinen Terrier mit einem Ohr auf halbmast und einem braunen Fleck über dem linken Auge. Er saß mit dem Hinterteil auf einem hölzernen Rolluntersatz und bewegte sich mit den Vorderbeinen fort.

»Darf ich Ihnen Douglas vorstellen? Meine rechte Hand.«

»Hallo, Douglas«, begrüßte Eunice ihn ernsthaft. »Bader, vermute ich, wie der Jagdflieger der Royal Air Force.«

Bomber schlug begeistert auf den Tisch. »Ich wusste sofort, dass Sie die Richtige sind. Und, wie schmeckt Ihnen der Tee?«

Bei Tee und Keksen (Douglas trank aus einer Untertasse) erfuhr Eunice, dass Bomber den Hund als herrenlosen Welpen gefunden hatte, der von einem Wagen angefahren worden war. Der Tierarzt hatte empfohlen, ihn einschläfern zu lassen, aber Bomber hatte ihn stattdessen mit nach Hause genommen.

»Den Untersatz habe ich selbst gebastelt. Es ist eher ein Morris-1000-Kombi als ein Mercedes, aber es funktioniert.«

Sie vereinbarten, dass Eunice in der kommenden Woche anfangen sollte für ein Gehalt, das absolut angemessen war, nicht »dürftig«, und dass ihre Aufgaben so ziemlich alles beinhalteten, was zu tun war. Eunice war begeistert. Doch als sie gerade gehen wollte, wurde die Tür aufgerissen und die aufgebogene Büroklammer stürmte in den Raum. Die Frau bestand vor allem aus Nase, Ellbogen und Knien, die Kanten nicht durch Fleischpolster entschärft, mit einem Gesicht, das im Lauf der Jahre zu einem dauerhaften höhnischen Grinsen erstarrt war.

»Wie ich sehe, lebt deine verunstaltete kleine Ratte noch immer«, rief sie und zeigte mit ihrer Zigarette auf Douglas, während sie ihre Tasche auf einen Stuhl warf. Als sie Eunice erblickte, huschte ein verkniffenes Lächeln über ihr Gesicht.

»Gute Güte, Bruder! Jetzt sag mir nicht, dass du eine Geliebte gefunden hast.« Sie spuckte das Wort geradezu aus.

Bomber wandte sich mit matter Geduld an sie. »Das ist Eunice, meine neue Assistentin. Eunice, das ist meine Schwester Portia.«

Portia musterte Eunice mit ihren kalten grauen Augen von Kopf bis Fuß, reichte ihr aber nicht die Hand. »Ich sollte sagen, freut mich, Sie kennenzulernen, aber das wäre gelogen.«

»Gleichfalls«, entgegnete Eunice kaum hörbar. Portia hatte ihre Aufmerksamkeit bereits wieder auf ihren Bruder gerichtet, doch Eunice hätte schwören können, dass Douglas mit der Schwanzspitze wackelte. Sie überließ Bomber seiner abscheulichen Schwester und ging hinunter in den hellen Sonnenschein des Nachmittags. Das Letzte, was sie hörte, als sie die Tür hinter sich schloss, kam von Portia.

»Na, Schätzchen, wann wirst du mein Buch veröffentlichen?«, fragte sie in einem völlig anderen, aber noch immer unangenehmen, bettelnden Tonfall.

An der Great Russell Street blieb sie einen Augenblick stehen und dachte an den Mann, den sie angelächelt hatte. Sie hoffte, dass die Person, die er treffen wollte, ihn nicht allzu lange hatte warten lassen. Da fiel ihr Blick auf etwas Glitzerndes aus Gold und Glas mitten im Straßendreck zu ihren Füßen. Sie bückte sich, rettete den kleinen runden Gegenstand aus der Gosse und ließ ihn in ihre Tasche gleiten.

4

Es war immer dasselbe. Er sah nie nach oben, sondern schaute nur zu Boden und suchte den Bürgersteig und die Rinnsteine ab. Sein Rücken brannte, seine Augen wurden feucht, voll mit Staub und Tränen. Dann stürzte er zurück durch die Schwärze in die feuchten, zerknitterten Laken seines Bettes. Der Traum war immer derselbe. Endlose Suche, ohne das zu finden, was ihm endlich Frieden bringen würde.

Das Haus war erfüllt von der tiefen, weichen Dunkelheit einer Sommernacht. Anthony schwang seine müden Beine aus dem Bett, setzte sich auf die Kante und schüttelte die hartnäckigen Traumreste aus dem Kopf. Er sollte aufstehen. Schlaf würde er diese Nacht nicht mehr bekommen. Er tapste die Treppe hinunter, deren knarrendes Holz in seinen schmerzenden Knochen widerhallte. Er brauchte kein Licht, um in die Küche zu finden. Er kochte eine Kanne Tee, wobei er mehr Trost in der Zubereitung als im Trinken fand, und nahm ihn mit in sein Arbeitszimmer. Blasser Mondschein lag auf den Regalen und in der Mitte des Mahagonitischs. Hoch oben auf einem Regal in der Ecke stand die Keksdose. Er nahm sie vorsichtig herunter und stellte sie in den leuchtenden Lichtkreis auf dem Tisch. Von allen Gegenständen, die er jemals gefunden hatte, beunruhigte ihn dieser am meisten. Denn es war kein Ding, sondern ein Mensch, dessen war er sich sicher, ohne zu wissen, warum. Wieder einmal entfernte er den Deckel und untersuchte den Inhalt, wie jeden Tag in der letzten Woche, seitdem er die Dose mit nach Hause gebracht hatte. Er hatte sie schon mehrfach an einen anderen Platz im Arbeitszimmer gestellt, weiter nach oben oder außer Sichtweite, doch ihre Anziehungskraft blieb unwiderstehlich. Er konnte sie nicht in Ruhe lassen. Er tauchte mit der Hand in die Dose und ließ die grauen Körner sanft zwischen den Fingerspitzen hindurchgleiten. Die Erinnerung durchflutete ihn, nahm ihm den Atem und versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube. Wieder hielt er den Tod in den Händen.

Das Leben, das sie zusammen hätten haben können, war ein Phantasiegebilde, dem Anthony sich nur selten hingab, weil es zu sehr schmerzte. Vielleicht wären sie jetzt Großeltern. Therese hatte nie über Kinder gesprochen, aber sie hatten auch beide angenommen, dass sie alle Zeit der Welt haben würden. Ein tragischer Irrtum, wie sich herausstellte. Sie hatte immer einen Hund haben wollen. Anthony hatte es so lange wie möglich hinausgeschoben, hatte abgeknickte Rosen und Löcher im Rasen angeführt. Letzten Endes hatte sie ihn jedoch herumgekriegt, wie immer, mit einem unwiderstehlichen Cocktail aus Charme und schierer Sturheit. Sie hätten den Hund in der Woche nach ihrem Tod aus Battersea abholen sollen. Stattdessen wanderte Anthony den ganzen Tag durch das leere Haus und sammelte verzweifelt jede Spur von ihr ein, den Abdruck ihres Kopfes auf einem Kissen, tizianrote Strähnen in ihrer Haarbürste und verschmierten Lippenstift an einem Glas. Erbärmliche, aber kostbare Nachweise eines nun erloschenen Lebens. In den folgenden elenden Monaten bemühte sich Padua, das Echo von Thereses Existenz in seinen Wänden zu halten. Anthony kam in einen Raum und hatte das Gefühl, sie sei vor wenigen Momenten hinausgegangen. Tag für Tag spielte er mit ihrem Schatten Verstecken. Er hörte ihre Musik im Wintergarten, fing ihr Lachen im Garten auf und spürte im Dunkeln ihren Kuss auf seinen Lippen. Aber allmählich, unmerklich, in winzigen Schritten, ließ sie ihn los. Sie ließ ihn ein Leben ohne sie führen. Die einzige Spur, die bis zum heutigen Tag von ihr geblieben war, war der Duft von Rosen an Stellen, wo er nicht sein konnte.

Anthony wischte das graue Pulver von seinen Fingerspitzen und legte den Deckel wieder auf die Dose. Eines Tages würde er es sein. Vielleicht beunruhigte ihn die Asche deshalb so sehr. Er durfte nicht wie diese arme Seele in der Dose verlorengehen. Er musste zu Therese.

Laura lag hellwach, die Augen fest geschlossen, und versuchte vergeblich einzuschlafen. Tagsüber hielt sie die Sorgen und Zweifel mit ihrer Arbeit im Zaum, aber im Schutz der Dunkelheit kamen sie zurück und lösten die Fäden ihres bequemen Lebens auf wie Motten einen Kaschmirpullover. Das Knallen einer Haustür, laute Stimmen und Gelächter aus der Nachbarwohnung machten auch die letzte Hoffnung auf Schlaf zunichte. Das Paar, das nebenan eingezogen war, führte ein geselliges, ausuferndes Leben auf Kosten ihrer Mitbewohner. Kurz nach ihrer Rückkehr in Begleitung von mindestens zehn Partygängern begannen die dünnen Wände in Lauras Wohnung zum unablässigen Dröhnen von Trommeln und Bass zu pulsieren.

»Großer Gott, nicht schon wieder!«

Laura schwang die Beine aus dem Bett und schlug wütend mit den Fersen gegen die Seite des Diwans. Das war das dritte Mal in einer Woche. Sie hatte versucht, vernünftig mit ihnen zu reden. Sie hatte mit der Polizei gedroht. Am Ende und sehr zu ihrer Beschämung hatte sie auf Kraftausdrücke zurückgegriffen. Die Reaktion der Nachbarn war immer dieselbe: überschwängliche Entschuldigungen und leere Versprechungen, denen jedoch keinerlei Veränderung folgte. Sie ignorierten Laura einfach. Vielleicht sollte sie die Luft aus den Reifen ihres Golf GTI lassen oder Pferdemist in ihren Briefkasten werfen. Trotz ihrer Wut musste sie lächeln. Wo um alles in der Welt sollte sie Pferdemist herbekommen?

In der Küche machte sie Milch in einem Stieltopf warm, und mit einem anderen Topf schlug sie genervt gegen die Partywand. Ein Stück Putz in der Größe eines Tellers löste sich und zerplatzte auf dem Boden.

»Mist!«

Laura schaute den Stieltopf in ihrer Hand vorwurfsvoll an. Auf dem Herd zischte verbrannte Milch, als der Inhalt des anderen Stieltopfs überkochte.

»Mist! Mist! Mist!«

Nachdem sie das Chaos beseitigt und noch etwas Milch erhitzt hatte, setzt Laura sich an den Tisch und nahm ihren warmen Becher zwischen beide Hände. Sie spürte, wie die Wolken um sie herum sich zusammenzogen und der Boden unter ihren Füßen wegsackte. Ein Sturm zog auf, dessen war sie sich sicher. Nicht nur die Nachbarn beunruhigten sie, auch Anthony. In den letzten Wochen hatte sich etwas verändert. Sein körperlicher Verfall verlief schrittweise, was mit zunehmendem Alter unvermeidlich war, aber da war noch etwas. Eine undefinierbare Veränderung. Sie hatte das Gefühl, als entferne er sich von ihr wie ein enttäuschter Liebhaber, der heimlich einen Koffer packte und seinen Weggang plante. Wenn sie Anthony verlöre, würde sie auch Padua verlieren, und beide gewährten ihr Asyl vor dem Wahnsinn der wirklichen Welt.

Seit ihrer Scheidung von Vince war sie von den wenigen großen Wünschen, die ihren Kurs durch das Leben bestimmt hatten, abgedriftet. Nachdem sie ein Studium und die Chance, Schriftstellerin zu werden, aufgegeben hatte, um Vince zu heiraten, hatte sie sich Kinder gewünscht und alles, was eine Mutterschaft ihr bringen würde, und später vielleicht ein Fernstudium. Aber nichts davon war eingetreten. Sie war nur ein Mal schwanger geworden. Die Aussicht auf ein Kind hatte vorübergehend ihre bereits zerbröckelnde Ehe zusammengehalten. Vince hatte keine Kosten gescheut und das Kinderzimmer an einem Wochenende hergerichtet. In der Woche darauf hatte Laura eine Fehlgeburt. Die nächsten paar Jahre galten dem verbissenen Versuch, das Kind zu ersetzen, das nie geboren wurde. Der Sex wurde zu einer grimmigen Pflichtübung. Sie unterwarfen sich allen notwendigen invasiven und unwürdigen medizinischen Eingriffen, um festzustellen, wo das Problem lag, doch sie blieben ohne ein klares Resultat. Vince reagierte eher wütend als traurig, dass er nicht bekam, was er glaubte haben zu wollen. Schließlich hörten sie zu Lauras Erleichterung auf, miteinander zu schlafen.

Da begann sie, ihre Flucht zu planen. Als sie Vince heiratete, war er dagegen, dass sie arbeitete. Als klar wurde, dass sie kein Kind bekommen würde, war Lauras Mangel an Erfahrung und Qualifikationen ein Problem bei ihrer Suche nach einem Arbeitsplatz. Aber sie brauchte einen Job, weil sie Geld brauchte. Und sie brauchte Geld, um Vince zu verlassen. Laura wollte einfach nur so viel, um sich eine Wohnung zu nehmen und ihren Lebensunterhalt zu bezahlen. Sie plante, sich eines Tages davonzumachen, wenn Vince bei der Arbeit war, und sich dann aus sicherer Entfernung von ihm scheiden zu lassen. Doch die einzige Stelle, die sie fand, war schlecht bezahlte Zeitarbeit. Es reichte nicht. Schließlich fing sie an zu schreiben und von einem Bestseller zu träumen. Jeden Tag arbeitete sie stundenlang an ihrem Roman, verschwieg es Vince aber. Nach sechs Monaten war der Roman fertig, und mit großen Hoffnungen begann Laura, ihn an verschiedene literarische Agenturen zu schicken. Sechs Monate später war der Stapel der Absagen fast so dick wie der Roman selbst. Sie waren deprimierend einheitlich. Lauras Schreibweise habe mehr Stil als Substanz. Sie schreibe »schön«, aber ihre Handlung sei zu »ruhig«. Verzweifelt meldete sie sich auf eine Anzeige in einer Frauenzeitschrift. Darin wurden Schriftsteller gesucht, die Kurzgeschichten für ein Magazin schrieben, das sich einer rapide wachsenden Leserschaft erfreute. Die Kaution für ihre Wohnung bezahlte sie schließlich mit dem Geld, das sie für peinliche Erotikgeschichten für Feathers, Lace and Fantasy Fiction bekam – »eine Zeitschrift für leidenschaftliche Frauen, die vor Verlangen brennen«.

Als sie ihre Arbeit im Padua begann, hörte Laura auf zu schreiben. Die Kurzgeschichten brauchte sie Gott sei Dank nicht mehr für ihren Lebensunterhalt, und ihr Roman landete im Altpapier. Sie hatte jegliches Selbstvertrauen verloren, einen Neuanfang zu wagen. In ihren dunkelsten Momenten fragte Laura sich, inwieweit sie selbst an ihrem Versagen schuld war. War sie zu einem notorischen Feigling mutiert, der nicht kletterte, weil er Angst hatte zu fallen? Im Padua bei Anthony musste sie sich darüber keine Gedanken machen. Das Haus war ihre emotionale und körperliche Festung und Anthony ihr strahlender Ritter.

Sie tippte mit der Fingerspitze auf die Haut, die sich beim Abkühlen auf der heißen Schokolade bildete. Ohne Anthony und das Padua wäre sie verloren.

5

Anthony schwenkte den Gimlet in seinem Glas und lauschte den Eiswürfeln, die in der farblosen Flüssigkeit klimperten. Es war noch nicht Mittag, doch der kalte Alkohol weckte das bisschen Feuer, das noch in seinen Adern war. Das brauchte er jetzt. Er trank einen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch zwischen den beschrifteten Kram, den er aus einer Schublade geholt hatte. Er verabschiedete sich von den Gegenständen. Er fühlte sich klein in dem Lehnstuhl aus knorriger Eiche, wie ein Junge im Überzieher seines Vaters, doch da er sich seines Schrumpfens bewusst war, hatte er keine Angst. Denn er hatte einen Plan.

Als er vor vielen Jahren begonnen hatte, verlorene Dinge zu sammeln, hatte er keinen Plan gehabt. Er wollte sie einfach nur aufheben und, wenn möglich, eines Tages den Menschen zurückgeben, die sie verloren hatten. Oft wusste er nicht, ob das, was er gefunden hatte, Schrott oder ein Schatz war. Aber irgendjemand irgendwo wusste es. Dann hatte er wieder angefangen zu schreiben, hatte Kurzgeschichten um die Dinge gewoben, die er auf der Straße fand. Im Lauf der Jahre hatte er seine Schubladen und Regale mit Fragmenten aus dem Leben anderer Menschen angefüllt, und irgendwie hatten sie geholfen, sein Leben zu flicken, das so grausam zerschmettert war, und wieder ein Ganzes daraus zu machen. Natürlich nicht bildschön nach allem, was geschehen war – ein unförmiges Leben, noch immer voller Narben und Risse, aber dennoch lebenswert. Ein Leben mit blauen Flecken am grauen Himmel, wie das Stück Himmel, das er gerade in der Hand hielt. Der Beschriftung zufolge hatte er es vor zwölf Jahren im Rinnstein der Copper Street gefunden. Es war ein Einzelstück aus einem Puzzle, hellblau mit einem weißen Fleck am Rand. Es war nur ein Stück bunte Pappe. Die meisten Menschen hätten es nicht einmal bemerkt, andere hätten es als Abfall liegen lassen. Doch Anthony wusste, dass es für jemanden ein unschätzbarer Verlust sein konnte. Er drehte das Puzzlestück in der Hand. Wo gehörte es hin?

Puzzlestück, blau mit weißem Fleck.Gefunden im Rinnstein, Copper Street, am 24. September.

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