Mrozek - Ramona Ambs - E-Book

Mrozek E-Book

Ramona Ambs

4,8

Beschreibung

Die Würde des Menschen ist paragraphierbar. Das lernt Mila Mrozek recht schnell, nachdem sie von ihrem Freund, mit dem sie bisher als Puppenspielerin durch Europa gezogen ist, allein in einer fremden Stadt zurückgelassen wird. Sie kommt in einer WG unter und wird vom Arbeitsamt in ein Pflegeheim vermittelt, wo sie unter anderem den alten Anwalt Heinrich Jakob kennen lernt. Die Freundschaft zu dem kauzigen Alten hilft ihr, im neuen Leben Fuß zu fassen. Obwohl da immer wieder ein paar Paragraphen im Weg sind...

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Seitenzahl: 224

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für Peter

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Vorbemerkung

Die Würde des Menschen ist paragraphierbar. Und nicht nur die Würde, sondern auch der ganze restliche Rest, der sich Leben nennt.

Es sind Paragraphen, die dich als Kind in die Schule schicken und Paragraphen, die bestimmen, wie du beerdigt werden darfst. Paragraphen sind überall. Und dabei sehr heimtückisch. Man kennt sie nicht, weiß nicht, wie sie genau heißen, aber wenn man sie übertritt, dann lernt man sie von ihrer unangenehmen Seite kennen. Das ist nicht gerade sympathisch. Dabei sieht der kleine Paragraph so nett aus:

§

Wie eine Acht, die heimlich durchs Gebüsch gekrochen ist. Oder wie zwei große S, die akrobatische Übungen für eine Zirkusvorstellung machen. Oder wie ein kleines e auf einem besonders schnellen Karussell. Jedenfalls sieht der Paragraph ganz lieb aus.

Und lieb aussehen, wenn man sonst nur aus Buchstaben besteht, die einem das Leben schwer machen, das ist schon immerhin etwas.

Zum Glück gibt es noch keinen Paragraphen, der besagt, dass Bücher zwangsläufig aus einzelnen Kapiteln bestehen müssen. Deswegen wird diese Geschichte auch in Paragraphen, statt in Kapiteln, erzählt. Das passt viel besser. Denn alle Figuren, die hier so durch die Seiten stolpern, haben Probleme mit Paragraphen... -und mit dem restlichen Rest, der sich Leben nennt.

§ 1

Sie steckt mit ihrem Rollator im Schnee fest. Das tut sie dauernd. Sie wuchtet sich mit dem sperrigen Ding raus auf die schneebedeckte Wiese hinterm Haus, ächzt ein paar Meter voran und bleibt dann etwa in der Mitte des Gartens stehen. Dann streckt sie ihre Zunge raus und versucht damit Schneeflocken zu fangen.

Wie viele Schneeflocken auf ihrer alten Zunge schmelzen, bis sie bemerkt wird, ist täglich unterschiedlich. Aber wenn sie dann, unter großem Geschimpfe wieder ins Heim zurück gebracht wird, haben sich ihre dicken Stoffpuschen mit Wasser vollgesaugt und dann streift man sie ihr von den Füßen, stellt sie zum Trocknen ins Bad und schnallt Rosalind wieder am Bett fest. Rosalind schluckt dann brav ihre Pillen und schläft meistens durch bis zum nächsten Tag. Wenn dann aber ihre Schuhe getrocknet sind, sie vom Bett losgeschnallt wird und sie sich am Frühstückstisch gestärkt hat, dann schiebt sie ihren Rollator wieder nach draußen. Zum Schneeflockenfangen mit der Zunge.

Rosalind ist dürr. Das wird man, wenn man nur ein Frühstück hat und zum Nachtisch Schneeflocken mit Schlaftabletten. Weil, man verbraucht ja auch im Schlaf Kalorien. Immer wenn ich die Werbung von Schlank im Schlaf sehe, denke ich an die dürre Rosalind. Denn: wer schläft, der isst nicht. Langfristig spart man so ne Menge Geld. Rosalind ist für das Heim und die Pharmaindustrie ein echtes Geschäft. Manchmal halten die Pillen aber nicht so lange. Kürzlich ist sie mitten in der Nacht aufgewacht und wollte den Sonnenuntergang angucken. Ich hatte Nachtdienst und das mag ich am liebsten, aber Rosalind mag die Nacht nicht. Sie mag tanzende Schneeflocken und Sonnenuntergänge. Aber nicht was danach kommt. Die Nacht also ... Ich versteh das. Jedenfalls stand sie vor mir und wollte einen Sonnenuntergang sehen. Also hab ich meinen Laptop rausgeholt und auf youtube einen Sonnenuntergangs-Clip für sie angeklickt. Sie hat den Film viermal hintereinander geguckt. Dann wollte sie frühstücken. Aber es war noch viel zu früh, und deshalb haben wir zusammen die Haferkekse aus dem Aufenthaltsraum gegessen. Rosalind war bester Stimmung und ich war traurig, als die Nacht zu Ende war und der Morgendienst mich abgelöst hat.

Ich bin noch nicht lange hier. Drei Monate, um genau zu sein. Das ist eine ABM, eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die heutzutage aber EEJ heisst. Also Ein Euro Job, vermittelt von der ARGE, die eigentlich Arbeitsamt heißt. Namen ändern sich, aber der Mist bleibt der Gleiche. Jedenfalls soll das eine Chance sein für Leute wie mich, die auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance haben. Ich habe keine Chance. Ich habe meine Schule in der elften Klasse erfolgreich abgebrochen, um als Puppenspielerin mit Matteo durch die Welt zu ziehen. Er kam mit seinem Marionettentheater in unsere Stadt und gab abends am Uniplatz eine Vorstellung. Ich habe mich sofort verliebt. In ihn und in seine Puppen. Ich war siebzehn, hatte die Nase voll von Schule und meinem versoffenem Vater und als ich Matteo mit seinen Marionetten sah, wußte ich sofort, dass ich mit ihm zusammen sein wollte. Und weil ich nichts zu verlieren hatte, hatte ich es ihm auch genauso und ganz direkt gesagt. Er mochte es. Er mochte mich und drei Tage später, als er weiterzog, saß ich mit meinen wenigen Habseligkeiten in einem kleinen Koffer bei ihm im Wagen. Wir waren ganze zehn Jahre zusammen unterwegs. In ganz Europa. Und wir waren glücklich. Dachte ich zumindest. Ich war es wenigstens. Und eigentlich lief unser fahrendes Theater auch gut. Unser Leben von Stadt zu Stadt, abends spontan Vorstellungen geben und danach mit Hut durch die Reihen tingeln. An manchen Sommerabenden verdienten wir dabei so gut, dass wir genug zum Zurücklegen für die Wintermonate hatten, in denen - außer am Rande der Weihnachtsmärkte - oft kaum was in die Kasse kam, und wir in unserem Wohnbus froren und manchmal auch hungerten. Aber wir liebten uns, wir hatten unsere Marionetten, viel Phantasie und Lust auf dieses wilde schöne Leben.

Aber dann hat sich Matteo entliebt und mich ausgesetzt. Ziemlich abrupt. In dieser Stadt. Zu Beginn diesen Jahres. Im kalten Januar.

Geblieben ist mir nur die Eisprinzessin, eine kleine Holzmarionette, die ich heimlich in meinen Koffer mit eingepackt habe, als ich aus unserem - also aus Matteos - Wohnwagen ausgezogen bin. Sie hängt nun in meinem Zimmer am Fenster und starrt nach draußen, als hätte sie unendliches Fernweh.

Das war eigentlich Diebstahl, aber ich wollte mich nicht einfach so wegschicken lassen, so ohne nichts. Ein Marionettenkind wollt ich bei mir behalten - und die Eisprinzessin wurde immer von mir gespielt...

Ich verstehe bis heute nicht, warum sich Matteo entliebt hat und warum er mich weggeschickt hat, und warum ich nichts davon gemerkt hab, aber letztlich ist es egal. Als ich vor dem Wagen stand mit meinem Koffer und Matteo abfuhr mit seinen Puppen, sind auch alle meine Träume davongefahren. Und meine Kraft. Sonst wär ich ja nicht einfach hier geblieben, wär nicht einfach ins nächstbeste WG-Zimmer gezogen und hätte mich ganz sicher nicht beim Arbeitsamt arbeitssuchend gemeldet. Hab ich aber. Das alles. Weil ich nicht gewusst hab, wohin und was nun. Weiß ich immer noch nicht. Manchmal denk ich, ich sollte versuchen, wieder irgendwas aus meinem Leben zu machen. Aber da ist nichts mehr. Nur eine große Leere und Ahnungslosigkeit. Und ein schwarzes Loch, das Matteo mir hinterlassen hat. Ich fühle mich einfach nur steinalt und abgesetzt. Man kann sich nämlich auch mit 27 steinalt fühlen. Man fühlt sich nämlich dann steinalt, wenn man keine Pläne mehr macht und die Beine so schwer sind, dass man kaum vorwärts kommt. Jedenfalls schlugen all meine Versuche, mich seither wieder irgendwo einzugliedern, fehl. Und ein erfolgreicher Schulabbruch qualifiziert einen allenfalls für eine Karriere im kriminellen Milieu, aber dafür fehlen mir etwa drei Gramm Härte und Verschlagenheit. Und fünf Kilo Coolness. Zu viel also, um richtig ordentlich Leute abzuzocken und dabei reich zu werden.

Und so wird man eben zum Hintern abwischen insAltenheim versetzt. So hat das Manuel, mein Mitbewohner, genannt, als er gehört hat, wohin man mich beordert hat. Ich find das gar nicht schlimm. Also den Leuten den Hintern abzuwischen. Die wollen ja auch einen schönen sauberen Popo haben. Ich finds eher schlimm, dass man das irgendwie eklig findet. Manuel ist manchmal gemein. Vor allem wenn er sich zu viele Drogen reinpfeift. Aber er ist eigentlich ok, hat mich immerhin hier einziehen lassen, obwohl ich damals noch kein Geld hatte. Er ist nämlich Hauptmieter unserer WG. Aber er ist auch immer ein wenig verspult und merkt dann gar nicht, was für ein dummes Zeugs, er dann redet. Deswegen sag ich ihm das nicht. Also, dass ich das gemein finde, was er da sagt, sag ich ihm nicht. Alles was man sagt, soll wahr sein, aber nicht alles was wahr ist, sollte man auch sagen, hat Voltaire gesagt und da hat er Recht.

Überhaupt hat der Voltaire ne Menge kluger Sachen gesagt und ich frag mich manchmal, ob er auch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in dem Heim hier hatte. Viele seiner Zitate lassen das vermuten... Zum Beispiel hat er gesagt: Das Überflüssige ist eine sehr notwendige Sache! Und das muss er von hier haben, denn hier gibt es nichts Überflüssiges mehr. Hier gibt es nur das Notwendigste. Die notwendigste Zuneigung und Pflege, damit der Mensch nicht gleich stirbt. Aber eben nur soviel wie notwendig ist, dass er nicht stirbt, niemals soviel, dass er wirklich leben kann. Um leben zu können, braucht es nämlich Überfluss. Überfluss an Liebe und Zuneigung. Soooviel, dass man genug davon hat, um anderen davon abzugeben. Um eben zu leben. Mein Vater sagte immer, man soll erst etwas spenden, wenn man soviel spenden kann, dass der Beschenkte seinerseits wieder in der Lage ist zu geben. Also mindestens zwei Münzen geben, damit der Empfänger in der Lage ist, eine Münze weiterzugeben. Alles andere sei beschämend, weil man sein Gegenüber damit klein hält und dauerhaft abhängig machen würde. Abhängig von Almosen. Und das sei nicht recht. So habe er das vom Rabbi gelernt. Niemand sollte dauerhaft beschämt werden, weil er nur nehmen kann und selbst nichts geben. Deshalb ist Überfluss wichtig. Überfluss beim Geben. Aber mein Vater schwadronierte meist nur oberflächlich von diesen jüdischen Sachen. Und auch nur in seinen lichten Momenten. Die hatte er aber nicht oft. Das einzige, was er im Überfluss hatte, war der Alkohol, der Suff. Und mit Voltaire bräucht ich ihm sowieso nicht zu kommen. Dem hat er niemals verziehen, was er so über die Juden gesagt hat, der Voltaire. Ist ja auch mies. Aber davon abgesehen hat er manchmal doch auch kluge Ideen gehabt. Der Voltaire.

Der Voltaire ist mein Liebling im Zitatenbuch. Ich les nämlich nur noch Zitatenbücher. Die heißen dann „Lebensweisheiten“ oder „Sprüche zum Glück“ oder „Zitatenschatz“. Also Bücher mit klugen Sätzen von klugen Leuten. Oder solchen, die dafür gehalten werden. Zitate sind jedenfalls schnell gelesen. Alles andere ist mir zu anstrengend. Früher mit Matteo im Wohnmobil, da lasen wir oft stundenlang, Theaterstücke, Dramen oder dicke Romane mit hunderten Seiten. Aber die Ruhe, die man braucht, um große Bücher zu lesen, ist mit Matteo und den Puppen davongefahren. Bleiben mir nur die Zitate. Aber Zitate sind ja auch was sehr Schönes. Man hat einen Satz und der kann einen genauso lange beschäftigen wie ein gutes Buch. Und Voltaire fehlt in fast keinem Zitatenbuch. Jedenfalls hat er sehr Recht gehabt, mit der These vom Überfluss. Vor allem die alten Menschen, hier im Heim, bräuchten Überfluss. Weil sie nämlich oft so schwach und krank sind, dass sie nicht mehr viel geben können. Außer eben zum Beispiel Geschichten, die sie erzählen können. Kluge Dinge, Erfahrungen, die sie gemacht haben. Aber dafür bräuchte man Zeit zum zuhören. Zeit im Überfluss. Zeit, damit man sich in Ruhe neben sie setzen und ihnen endlos zuhören kann.Damit sie nicht sterben, weil sie noch nicht zu Ende erzählt haben. Und man könnte immer weiter fragen und sich immer mehr erzählen lassen. Kann man aber nicht. Weil Zeit hier nicht nur nicht im Überfluss nicht vorhanden ist, sondern sogar extrem knapp. Viel zu knapp. Immer zu wenig davon da. Und deshalb leben die Leute hier auch nicht mehr richtig. Sie werden nur am Leben erhalten. Und notdürftig versorgt, damit sich niemand beschwert, weil sie zu schnell sterben. Sterben tun sie dann aber trotzdem. Meistens an mangelnder Zuneigung. Wenn man nämlich merkt, dass man nicht mehr gebraucht wird und nur noch allen lästig ist, dann will man sterben. Und dann hat der Tod ein leichtes Spiel...

§ 2

Heinrich Jakob ist neu im Heim. Er ist mittags angekommen und in das Zimmer von Frau Herschner gezogen, die vor zwei Tagen gestorben ist. Schon als ich ankomme, winkt mich Mazlum ins Pflegerzimmer. Mazlum ist mein Lieblingskollege hier im Heim. Er ist ein bisschen älter als ich, etwa dreimal so schwer und zehnmal so kräftig. Er versucht immer alle aufzuheitern, obwohl er selbst unglaublich viel Stress hat hier. Aber grade ist er begeistert:

«Das ist vielleicht einer! - Der hat heut schon die Heckmann zusammengeschachtelt, dass die Wände gewackelt haben!»

«Was war?»

«Er hat erst das Zimmer komplett umgeräumt und dabei laut Musik gehört. Die Heckmann hat natürlich rumgemosert. Da hat dieser Jakob das Kreuz von der Wand genommen und es nach ihr geschmissen. Hat voll rumgetobt, so von wegen, dass es ja wohl möglich sein muss, sich hier gemütlich einzurichten, wenn man schon abkratzen soll, zu dem Preis, und dass er das Scheißkreuz nicht in seinem Zimmer will»

«Stark! Und wie hat sie reagiert?»

«Naja, wie wohl..? Hat erst voll rumgenervt, dass das nicht ginge und so weiter und hat sich dann mit dem Kreuz verzogen und hat gesagt, sie wird für ihn beten...und dann hat er ihr nachgebrüllt, sie soll viel und lange beten, weil sie in der Zeit schon nix Schlimmeres anstellen kann! Der ist voll krass drauf, der Alte. Aber der ist auch noch voll fit!»

Es klingelt. Mazlum macht sich auf den Weg zu Zimmer acht. Frau Zimmermann klingelt meistens so gegen zehn nochmal , weil sie aufs Klo muss. Sie ist unglaublich rund und schwer, weil ein Tumor alles durcheinanderbringt in ihrem Körper. Deshalb ist sie auch hier, im Pflegeheim, obwohl sie eigentlich noch nicht so alt ist...

Ich stell meinen Rucksack ab, werfe einen Blick auf den Dienstplan und blättere schließlich durch die Akte Jakob, Heinrich. Die medizinischen Fachausdrücke sagen mir immer noch nichts. Aber mit dem Geburtsdatum kann ich was anfangen. Es sagt mir nämlich, dass Herr Jakob nun 84 Jahre alt ist. «Frau Mrozek!» Ich fahre herum. Vor mir steht Frau Heckmann, die Leiterin des Heims: «Wieso stehen Sie hier rum und stecken Ihre Nase in Akten, die Sie nichts angehen. Machen Sie sich gefälligst fertig, sonst muss ich Meldung beim Arbeitsamt machen.» Ich schnappe meinen Rucksack und gehe zur Garderobe. Eilig hole ich meinen Kittel aus dem Spind und schließe danach meine Sachen ein. Ich hasse Frau Heckmann. Normalerweise seh ich sie nie beim Nachtdienst, weil sie immer pünktlich nachmittags um vier das Heim fluchtartig verlässt und ich sie nur dann treffe, wenn ich zu einem Besprechungstermin gebeten werde. Das kam in den drei Monaten nur zweimal vor. Und natürlich seh ich sie, wenn ich vormittags Dienst habe. Das ist dann ziemlich schrecklich, weil man sie dann auch erleben muss. «Haben Sie inzwischen den Basiskurs absolviert?» fragt die Heckmann, die mir offenbar in die Garderobe gefolgt ist...

«Nein, da war kein Platz mehr frei und die Frau vom Arbeitsamt wollte sich bei mir melden, wenn wieder so ein Kurs stattfindet.»

«Na großartig. Und darauf verlassen Sie sich natürlich. Sie müssen aktiv werden, Frau Mrozek. Sie dürfen sich nicht immer nur passiv verhalten. Grade hier in der Pflegeassistenz ist es wichtig, bestimmte Kompetenzen zu erwerben. Ich habe Sie ja eigentlich nur unter der Voraussetzung eingeteilt, dass sie sich um einen solchen Basiskurs baldmöglichst bemühen.»

«Aber das hab ich doch... » versuch ich sie zu unterbrechen, aber sie fährt fort: «Wir brauchen hier in unserer Einrichtung motivierte, engagierte und sozialkompetente Menschen, die bereit und willig sind, sich um die Pflegebedürftigen zu kümmern. Leute, die mit ihrem Leben nicht klarkommen, sind hier falsch. Sie brauchen eine positive Haltung gegenüber kranken, behinderten und alten Menschen. Phantasie, Empathie, Kreativität und Flexibilität sowie psychische Stabilität sind hier gefragt und werden in den Basiskursen antrainiert. All das kann ich bei Ihnen nicht erkennen. Sie sind nun schon seit drei Monaten hier und haben noch nicht mal den Basiskurs absolviert. Und kommen Sie mir jetzt nicht wieder damit, dass es keinen Platz gegeben hätte. Wer wirklich etwas will, der bekommt es auch. Nur mangelnder Einsatz wird bestraft. Also denken Sie daran. Ich erwarte, dass Sie mir in den nächsten Tagen eine Bestätigung bringen über die Teilnahme an diesem Kurs. Habe ich mich klar ausgedrückt?»

«Ja» sage ich und mach mich auf den Weg zurück ins Pflegezimmer. Die Heckmann zieht sich ihren Mantel über und geht.

Endlich.

Die ist so widerlich, diese Heckmann. Teilt mich seit Monaten zu Diensten ein, die ich gar nicht machen dürfte, lässt mich grundsätzlich zwei Stunden länger arbeiten als vorgesehen und macht dann aber auch noch Druck, wegen eines Kurses, der wahrscheinlich eh nichts bringt...

Mazlum biegt um die Ecke. Blendender Laune: «Du hast heute die ganz besondere Ehre, gemeinsam mit mir die Weihnachtsdeko aufhängen zu dürfen!»

«Was ...? Jetzt?... Mitten in der Nacht?»

«Ja. Die Heckmann meinte, das würde weniger stören als tagsüber und der Hausmeister hat die Kisten zwar noch hochgetragen, aber sich dann krank gemeldet! Und in drei Tagen ist der erste Advent, also muss es ja mal sein!»

«Ok, wenn sie meint.»

Unschlüssig folge ich Mazlum in den Gemeinschaftsraum, wo tatsächlich zwei Kartons auf dem Tisch stehen. Der Gemeinschaftsraum liegt direkt neben dem Pflegerzimmer. Es gibt eine einfache Küchenzeile und eine große Fensterfront zum Garten. Seit zwei Wochen schaut man da draußen in eine weiße Glitzerlandschaft, denn seit Mitte November schneit es fast ohne Unterlass. Und Rosalinds Spuren, die sie seither immer wieder mit dem Rollator und ihren Puschen auf der schneebedeckten Wiese hinterlässt, werden täglich neu zugeschneit.

Mazlum öffnet die erste Kiste. Er zieht eine Girlande mit bunten Eiern und Häschen aus dem Karton. Er geht mit ihr zum Fenster und hängt die eine Seite ein und will gerade das andere Ende der Girlande auf der anderen Seite einhängen als ich ihn unterbreche: «Ähm, Mazlum, also, ich kenn mich ja nicht sooo gut aus mit diesen Traditionen, aber ist das nicht ne Ostergirlande?» Mazlum schaut erst mich, dann die Girlande verständnislos an und fängt dann zu lachen. Er will erst die Girlande wieder abnehmen, hält dann aber inne: «Naja..., die Heckmann hat gesagt, wir sollen die Sachen aus den Kartons aufhängen....» Er grinst mich breit an.

«Neee, Junge! Vergiss es! Dann bin ich meinen Job gleich wieder los.»

«Aber du willst dich doch nicht den Anweisungen von Frau Heckmann widersetzen, oder?» Einen kurzen Moment zögere ich. Es wär schließlich echt lustig, wenn es hier morgen dekorativ nur so von Osterhäschen, Blumen und bunten Eiern wimmeln würde... aber dann schüttle ich den Kopf: «Neee, lass uns im Keller nach den richtigen Sachen suchen.» Mazlum grummelt und hängt die Häschengirlande wieder ab. Er verstaut sie im Karton, wirft einen kurzen Blick in die andere Kiste, stellt sie dann übereinander und trägt sie runter in den Keller. «Bin gleich wieder da!» ruft er hinter dem Kartonberg hervor. Ich schaue in den Garten. Es schneit noch immer. Viele kleine schnelle Flöckchen, die es offenbar sehr eilig haben von den Wolken wegzukommen, segeln in den Heimgarten. Als Kind hätte ich so gerne mal Weihnachten gefeiert. Alle anderen Kinder in der Klasse haben es gefeiert. Aber mein Vater weigerte sich beharrlich Wir sind Juden! Wir feiern kein Weihnachten. -Klar, es gab Chanukkah und da wurde ich manchmal auch beschenkt und manchmal fiel das zeitlich sogar mit Weihnachten zusammen, aber das war nicht das Gleiche. Ich wollte dazugehören. Ich wollte mitreden können. Ich wollte einen bunten großen Tannenbaum haben. Ich wollte Rauschegoldengel und Lametta. Ich wollte einfach alles.

In der Schule hatten wir einen Adventskalender. Jeden Tag durfte ein Kind ein Säckchen aufmachen und sich über ein kleines Geschenk freuen. Das habe ich geliebt und gehasst zugleich, denn einerseits durfte ich mitmachen, andererseits war das aber dann eben auch schon alles.

Und je näher es auf Weihnachten zuging, desto weihnachtlicher wurde auch das Programm im Fernsehen. Man entkam ihm nicht, diesem Weihnachten. Und jedes Jahr hoffte ich, dass mir das Christkind vielleicht doch auch ein Geschenk bringen würde, obwohl ich jüdisch war. Aber es kam nie. Später war mir dann auch klar warum. Es lag jedenfalls nicht daran, dass ich jüdisch war, sondern daran, dass das Christkind nicht existierte. Das war ein Glück, denn sonst hätt`ich mir sicherlich irgendwann gedacht, dass das Christkind ein Antisemit ist, weil es jüdischen Kindern nichts bringt. Aber das Thema hatte sich dann spätestens in der dritten Klasse erledigt. Wer nicht existiert, kann auch kein Antisemit sein. Obwohl...

Ein Räuspern reißt mich aus meinen Gedanken. Hinter mir steht auf einen Stock gestützt ein älterer Herr. Es gibt hier im Heim selten ältere Herren oder ältere Damen. Meist sind es alte Männer und Frauen, die hier sind. Manche davon sind nur noch fragmentarisch einem eindeutigen Geschlecht zuzuordnen. Aber dieser Mann ist ein richtiger Herr. Er ist relativ groß und hat, von leichten Geheimratsecken abgesehen, eine volle, fast weiße Haarpracht und ein markantes Gesicht. Über einem blaukarierten Hemd trägt er einen beigen Pullunder und eine schwarze Hose, die ein wenig glänzt. Das muss Herr Jakob sein. Der Neue.

«Guten Abend Herr Jakob, Kann ich was für Sie tun?» «Ja, Sie können sich erstmal vorstellen, junge Frau. Wir haben uns schließlich noch nicht gesehen. Verstehen Sie?»

«Oh,ähm ja. Mein Name ist Mila Mrozek und ich bin die Ein-Euro-Kraft hier im Haus.»

«Mrozek? Sie heissen Mrozek?»

Ich nicke.

«Na das passt ja zum Wetter!»

«Sie sprechen polnisch?» frag ich, aber ich bekomme keine Antwort. Stattdessen geht Herr Jakob auf die Küchenzeile zu: «Einen Tee hätte ich gerne.»

«Soll ich Ihnen einen Tee machen und dann aufs Zimmer bringen?»

Er schnaubt verächtlich: «Seh ich aus, als könne ich mir nicht mal mehr einen Tee zubereiten?» Er nimmt sich eine Tasse aus dem Regal, füllt den Wasserkocher mit Wasser und stellt ihn an. Dann fängt er an nach Teebeuteln zu suchen.

«Tee ist oben rechts.» sagt Mazlum, der gerade mit zwei Kartons wieder rein kommt. «Dankeschön!» sagt Herr Jakob und sucht sich durch die Teesorten. «Mein Gott, ist das eine erbärmliche Auswahl. Sollen die Leute hier an schlechtem Tee zugrunde gehen?» schimpft er, während er Schächtelchen um Schächtelchen aus dem Regal nimmt, daran riecht und dann verächtlich auf die Ablage zurück stellt. Missmutig zieht er schließlich einen Beutel Darjeeling aus einem Kästchen und hängt es in eine Tasse. «Wer sagts denn!» sagt Mazlum und zieht einen Makramee- Schneemann aus einem Karton und zeigt ihn mir strahlend. «Sie wollen diesen hässlichen Staubfänger doch hoffentlich nicht aufhängen?» grummelt Herr Jakob.

«Doch, will ich. Die meisten Bewohner freuen sich an weihnachtlicher Dekoration.» versuch ich Heckmanns Ton nachzuäffen.

«Scheiß-WG-Leben» sagt Herr Jakob und schenkt sich das Wasser in die Tasse. «Leute ohne Sinn und Verstand... keine Kultur, -Verstehen Sie? ... kein Sinn für Ästhetik...» murmelt er vor sich und verschwindet mit seiner Tasse. Mazlum drückt mir einen Salzteig-Engel in die Hand: «Häng den mal auf!»

§ 3

Als ich gegen Mittag aufwache, sind schon alle fort. In meiner kleinen WG wohnen außer mir drei Seltsame und eine Ratte. Die drei Seltsamen heißen Manuel, Lisa und Faris. Die Ratte heißt Rita und gehört Manuel. Manuel studiert Soziologie, aber das ist nicht so schlimm wie es sich anhört. Aber weil er weiß, dass das irgendwie peinlich ist, heutzutage noch Soziologie zu studieren, sagt er immer, er studiere Pharmazie. Das ist zwar auch nicht hipp, aber irgendwie nicht ganz so peinlich. Und da kennt er sich wenigstens ein bisschen aus. Lisa studiert Ernährungswissenschaften, weil sie sehr dick ist und sie hofft, dass sie durch das Studium abnimmt, aber bisher war das noch nicht so. Sie ist aber auch erst im zweiten Semester. Allerdings hat sie bisher nur zugenommen, weil sie neben den vielen Süßigkeiten, die sie gegen den allgemeinen und den besonderen Lebenskummer braucht, nun auch noch gesunde Sachen isst, um sich ausreichend mit Nährstoffen und Vitaminen zu versorgen. Das bedeutet, dass sie eben auch Hirsebrote, Grünkernbratlinge und Sojasprossen zu sich nimmt. Neben den Chips, den Gummibärchen und der Schokolade.

Faris hingegen isst kaum was, weil er Physik und Mathematik studiert und einem Zahlen offenbar den Appetit verderben. Bei so Wörtern wie Stringtheorie weiß man ja auch nicht genau, ob es sich um eine physikalische Theorie oder um ein neues Diätrezept handelt. Jedenfalls isst Faris fast nie etwas. Vielleicht hätte Lisa lieber Mathematik studieren sollen...aber vielleicht kommt Faris` Appetitlosigkeit auch daher, dass er traumatisiert ist. Er ist aus dem Iran geflohen und erst seit kurzem anerkannter Asylberechtigter. Kaum war er das, hat er sich um Anerkennung seiner Papiere bemüht und schließlich das Studium aufgenommen. Inzwischen jedenfalls ist er im zweiten Semester, jobbt an einer Tankstelle und verbreitet stets stille Heiterkeit und Optimismus. Nur das Essen vergisst er immer wieder. Aber wir erinnern ihn dran. Sonst würde er vielleicht verhungern, hier im freien Land in Sicherheit zwischen all den Anträgen, Vorschriften und Lebensmitteln. Und dann wär er ganz umsonst geflohen...

Faris und ich schlafen manchmal miteinander... - wir sind nicht verliebt, aber wir mögen es miteinander zu schlafen. Wir mögen es, nackt beieinander zu liegen. Weil wir beide nicht viel reden und man weniger miteinander reden muss, wenn man nackt beieinander liegt, als wenn man angezogen zusammen am Tisch sitzt. Außerdem erzählen wir uns beim Sex mehr voneinander, als Wörter und Buchstaben es vermögen würden. Unsere Körper erzählen die Geschichten. Seine Narben am Rücken, sein Tempo, wie er sich in mir bewegt, seine rauen Haare. Es ist geschwisterlicher Sex, den wir haben. Ohne Geilheit, aber mit viel Zärtlichkeit...

Ich gehe in die Küche, greife nach der Thermoskanne und schüttle sie. Wunderbar. Da ist noch Kaffee drin. Lisa macht jeden Morgen eine Riesenkanne Kaffee für alle und im Laufe des Tages trinken wir sie leer. Vor einigen Wochen dachte sie, sie müsse auf Roibosch- Tee umstellen... aber nach zwei Tagen hat sie zum Glück eingesehen, dass Kaffee morgens besser ist. Zumindest für die Harmonie in der WG. Ich gieße mir eine große Tasse ein und schaue durchs Fenster auf den Innenhof. Alles weiß. Ich kann mich nicht erinnern, wann zum letzten Mal sooo viel Schnee lag. Einmal, als ich Kind war, zu Chanukkah, da gabs auch so viel Schnee. Mama hat noch gelebt und David,