Mühlensommer - Martina Bogdahn - E-Book
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Mühlensommer E-Book

Martina Bogdahn

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Beschreibung

Warmherzig und humorvoll erzählt Martina Bogdahn in »Mühlensommer« von einem Leben zwischen zwei Welten. Von einer Jugend auf dem Land, einer Flucht in die Stadt und davon, dass man manchmal zurückblicken muss, um sich selbst zu finden. Ein drückend heißer Sommertag. Mit ihren beiden Töchtern macht sich Maria auf den Weg in ein langes Wochenende fern von Stadt, Stress und Schule. Doch dann ruft Marias Mutter an: Der Vater hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Die Mutter ist bei ihm, und auf dem Bauernhof der Familie müssen Schweine, Kühe und Hühner versorgt werden – aber auch die demente Großmutter.  Maria fährt sofort zum Hof. Doch dort, vor der alten Mühle, erwartet sie neben der unermüdlich Äpfel schälenden Oma auch die Erinnerung an ihre Jugend zwischen Schulbus und Schweinestall, Dreimeterbrett und Kirchenbank, an starre Traditionen und lauter kleine Freiheiten.  Als am Tag darauf die Mutter aus dem Krankenhaus heimkehrt und plötzlich auch Marias Bruder Thomas auf dem Hof steht, ist die Familie versammelt. Sie eint die stille Sorge um den Vater. Bis Thomas das Schweigen bricht und endlich zur Sprache kommt, was sie alle lang verdrängt haben … Man weiß nie, wo es hingeht im Leben, aber man weiß immer, wo man herkommt. »Martina Bogdahn weiß um das Leben, um seinen Anfang und das Ende, und sie führt uns humorvoll versiert mitten hindurch. Ein Buch, das jede Seele heimwärts führt. Ich bin tief berührt und zugleich erfüllt von sommerlicher Leichtigkeit!« Luise Kinseher, Kabarettistin

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Seitenzahl: 370

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Martina Bogdahn

Mühlensommer

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Kurzübersicht

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Titelseite

Über Martina Bogdahn

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Martina Bogdahn

Martina Bogdahn, geboren 1976 in Weißenburg, ist auf einem Einödhof in Mittelfranken aufgewachsen und hat in Nürnberg Kommunikationsdesign studiert. Sie lebt und arbeitet als Fotografin in München.

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Über dieses Buch

In »Mühlensommer« erzählt Martina Bogdahn warmherzig und humorvoll von einer Frau und ihrem Leben zwischen zwei Welten: von einer Jugend auf dem Land, einer Flucht in die Stadt und einer folgenreichen Rückkehr. Von Müttern und Töchtern und davon, dass man manchmal zurückblicken muss, um sich selbst zu finden.

Ein drückend heißer Sommertag. Mit ihren beiden Töchtern macht sich Maria auf den Weg in ein langes Wochenende fern von Stadt, Stress und Schule. Doch dann ruft Marias Mutter an: Der Vater hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Die Mutter ist bei ihm, und auf dem Bauernhof der Familie müssen Schweine, Kühe und Hühner versorgt werden – aber auch die demente Großmutter.

Maria fährt sofort zum Hof. Doch da erwartet sie nicht nur die seit Stunden schon Äpfel schälende Oma, sondern auch die Erinnerung an ein fast vergessenes Leben zwischen Schulbus und Schweinestall, Dreimeterbrett und Kirchenbank, an den Duft von frischem Holzofenbrot und an endlose Hopfenernten, starre Traditionen und lauter kleine Freiheiten.

Als am Tag darauf die Mutter aus dem Krankenhaus heimkehrt und plötzlich auch Marias Bruder Thomas auf dem Hof steht, ist die Familie versammelt. Sie eint die stille Sorge um den Vater. Bis Thomas das Schweigen bricht und endlich zur Sprache kommt, was sie alle lang verdrängt haben …

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Impressum

Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln

© 2024, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung Barbara Thoben, Köln

Covermotiv © plainpicture/Bernd Webler

 

ISBN978-3-462-31288-1

 

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Motto

Prolog

Ein kurzer, heftiger Sommerregen …

Ich bin zehn Jahre alt …

Ich halte die Schneekugel …

»Eins!« …

Mein Handy vibriert …

Ab Mitte November …

Draußen wird dreimal gehupt …

Eine Schneeflocke trudelt durch die Luft …

Ich bleibe noch eine Weile im Gras sitzen …

Irgendwann war auch in diesem Jahr der Tag gekommen …

»Diesen Gestank hält doch keine Sau aus!« …

Wir lieben unseren Onkel Herbert …

Als wir aus dem Stall kommen …

Die Blumfelder Kirchenglocken läuten …

Charlottes Handywecker klingelt …

Ein heißer Sommer …

Können wir nicht einfach jetzt schon …

Ich renne von der Landstraße …

Die schwere Holztür klemmt …

Die letzten Tage bis zu den Sommerferien …

Das Festnetztelefon steht …

In den nächsten Tagen …

Helen und Albert sitzen im Hof …

Es ist der dritte Freitag in den Ferien …

Eine Stallschwalbe saust knapp an meinem Kopf vorbei …

Noch am selben Abend wäscht ein starker Regenguss …

Das Streichholz in meiner Hand …

Nun liegen die getrockneten Dolden …

»Mira! Charlotte!« …

Die letzten Ferientage verstreichen wie im Flug …

Es ist Montag …

Am Gymnasium gefällt es mir …

Es ist finster …

Heute liegt vor dem dunklen Scherenschnitt …

Epilog

Dank

wegen Thees

 

für Mona

With your feet on the air and your head on the ground

Pixies, Where Is My Mind?

Prolog

Ich fahre eine Allee mit alten Bäumen entlang, schalte einen Gang runter, und dann noch einen. An einem der Bäume lehnt ein Schild: Frisches Holzofenbrot. Hinter der nächsten Kurve taucht eine Mühle auf. Weißer Rauch steigt aus einem Holzbackofen in den Himmel. Ich setze den Blinker, biege in die Einfahrt. Ein Mann holt mit einem langen Schieber gerade ein Brot aus dem Ofen, und aus dem Hofladen kommt eine Frau. Sie hält eine Papiertüte im Arm und lächelt. Ich lasse die Fensterscheibe herunter und atme tief ein. Es riecht nach frisch gebackenem Brot. Es riecht wie daheim.

Ein kurzer, heftiger Sommerregen. Das Wasser läuft an den Fensterscheiben herab und trägt den Staub und die Hitze eines heißen Augusttages davon. Die Pflastersteine auf dem Promenadenplatz dampfen. Ein paar Touristen eilen in Richtung U-Bahn-Haltestelle. Ich werfe einen Blick auf meine Uhr. Eigentlich wollte auch ich längst in der Bahn sein. Stattdessen hänge ich seit heute Vormittag in einer Besprechung. Der neue Kunde redet und redet. Da tröstet weder die Aussicht auf ein langes Wochenende noch die auf das schöne alte Rathaus gegenüber. Ich klebe an meinem Sitz, es fühlt sich an, als säße ich schon seit Tagen hier. Ich versuche unauffällig an meiner Bluse zu riechen. Dann wandert mein Blick zur Decke. Unser Kunde, wir nennen ihn nur O.K., weil er ausschließlich Hemden mit seinen eingestickten Initialen trägt, hat sich in Rage geredet. Dunkle Schweißflecken breiten sich unter seinen Armen und auf seiner Brust aus. Er hat es noch nicht bemerkt. Wir schon. O.K. ist ein Mann der großen Gesten. Schwungvoll zeichnet er Kreise in die Luft und sticht dann mit dem Zeigefinger hinein. Uns beide trennt unter anderem ein langer weißer Tisch. Ich sitze am gegenüberliegenden Kopfende. Zwischen O.K. und mir stehen neun halb leere Wasserflaschen und drei Kaffeekannen. Und da liegt auch das Ding, weswegen wir hier sind. Auf einer kleinen batteriebetriebenen Scheibe dreht sich schnurrend der Prototyp eines schlanken silbernen Nassrasierers.

Anne, die Leiterin des Onlinemarketings, Inka, unsere Programmiererin, Bertil, der Grafikdesigner, und meine Assistentin Fernanda hören den Ausführungen von O.K. angestrengt zu. »Arme Fernanda!«, schießt es mir durch den Kopf, und ich muss an ihren wunderbaren Akzent denken. Keine rollt das R so schön wie sie. Ihr Mantra: »Damenbart, das Trauma jeder dunkelhaarigen Frau!« Fernanda hat sich vor der Geburt ihres ersten Kindes geweigert, in die Klinik zu fahren, obwohl die Wehen bereits alle fünf Minuten kamen. Ihr Mann hat verzweifelt bei uns angerufen und mich gebeten, seine schwer atmende Frau davon zu überzeugen, dass sie jetzt dringend losmüssten. Doch Fernanda stöhnte ins Telefon: »Oh, Maria, ich kann auf gar keinen Fall schon ins Krankenhaus! Mein Waxingtermin ist erst in zwei Tagen.« Jetzt starrt sie gedankenverloren auf den Nassrasierer und streicht mit den Fingerspitzen über die Stelle zwischen Nase und Oberlippe. Anne zupft währenddessen nervös an ihrem T-Shirt. Ihr dritter Entwurf wird soeben mit einer schwungvollen Bewegung hinweggefegt. Sie sieht blass aus, ich weiß, dass sie keinen weiteren Vorschlag in petto hat.

»Maria!« O.K. richtet sich auf, stützt die linke Hand auf die Tischplatte und beugt sich nach vorn. »Jetzt noch einmal in aller Deutlichkeit. Das Erscheinungsbild der neuen Kampagne muss sich von Grund auf ändern. Wir brauchen auch in den Visuals ein absolutes Alleinstellungsmerkmal!« Bei diesen Worten fixiert er mich, als würde er mir gerade eine Akupunkturnadel in den Atlaswirbel schieben. »Die Kampagnenfarbe kann nicht einfach nur ein simples Schwarz sein. Der Farbton, den ich mir vorstelle ist …« Er greift nach einem roten Marker und schreibt in Großbuchstaben ein einziges Wort auf das Flipchart. BLACK.

Ich nicke und notiere: Aus Schwarz wird Black. Im Augenwinkel sehe ich, wie Anne, Inka, Bertil und Fernanda sich auf ihren Stühlen winden. Es entsteht eine unangenehme Stille. In diesem Augenblick vibriert mein Handy. O.K. streckt den Rücken durch. Ein kurzer Blick aufs Display. Es ist Mira. Ich schicke ihr ein: Ich kann gerade nicht sprechen. Mira ist das egal. Es vibriert erneut. Ich entschuldige mich und gehe auf den Flur.

»Mira, mein Schatz, was ist denn so wich...«

»Mama, wo hast du das Ladekabel?«

»Hin«, reflexhaft beende ich den unvollständigen Satz meiner Teenagertochter und antworte: »Ich habe keine Ah...«

Es tutet. Mira hat aufgelegt.

Das Display zeigt einen verpassten Anruf. Meine Mutter. Da rufe ich später zurück. Zuerst brauche ich ein Okay von O.K. Und, noch dringender, eine Abkühlung. Vielleicht finde ich noch ein paar Eiswürfel im Kühlschrank. Fehlanzeige. Aber wie gut es tut, in der Agenturküche für einen Moment die Augen zu schließen und beide Handgelenke unter fließend kaltes Wasser zu halten.

Als ich danach ins Besprechungszimmer zurückkomme, hat sich die Stimmung wider Erwarten gedreht. O.K. lehnt entspannt am geöffneten Fenster und raucht. Der Schauer ist vorbei. Anne klappt lächelnd ihren Rechner zu, und Bertil grinst beim Hinausgehen. In der Mitte des Tisches liegt ein Blatt Papier, auf dem nur ein einziges Wort steht. ROYALBLACK.

Auf dem Weg zur Bahn fällt mir das Brot ein. Mist, ich wollte ja noch Brot besorgen! Meine Freunde Bea und Oli haben uns dieses Wochenende auf ihre Berghütte eingeladen. Und ich habe vorgeschlagen, etwas von der Brotmanufaktur Brendel mitzubringen. Das Brot von Brendel ist so was wie das neue Statussymbol in unserem Viertel. Hätte sich vor ein paar Jahren noch niemand vorstellen können, aber es ist nun einmal Das beste Brot der Stadt. Zumindest behaupten sie das auf ihren Papiertüten. Darunter steht: Gebacken mit frischem Felsquellwasser.

Ich stöhne innerlich auf, als ich die Schlange vor der Bäckerei sehe. Jede vernünftige Person würde jetzt abdrehen, aber Bea und ihr Mann haben ziemlich genaue Vorstellungen davon, was es für ein perfektes Wochenende auf ihrer Berghütte braucht. Sie planen gerne und wollen es allen so schön wie möglich machen. Also muss es ein Brot von Brendel sein. Am liebsten das mit fermentierten Birnen.

In der Schlange vor dem Laden zähle ich vierzehn weiße Paar Turnschuhe. Genau die, die ich auch trage. Die Schuhe sind vegan, fair, nachhaltig, teuer und dafür schrecklich unbequem. Ob die anderen auch diese fiese kleine, schmerzhaft aufgescheuerte Stelle oberhalb der linken Ferse haben? Meine Handtasche vibriert. Es ist schon wieder Mira. Ich lasse es klingeln, puste mir eine Strähne aus dem Gesicht. Schweiß klebt mir die Haare in den Nacken. Die Hitze drückt von oben, die Schuhe von unten, und der kurze Sommerregen vorhin hat leider nur wenig Abkühlung gebracht. Direkt vor mir wartet eine Dame mit Dackel. In der linken Hand hält sie eine lederne Hundeleine, in ihrer Armbeuge baumelt eine dazu farblich passende teure Handtasche. Sie fächelt sich unter leisem Summen Luft zu, während ihr Dackel mich vorwurfsvoll beobachtet.

Als ich endlich den Verkaufsraum betrete, ist eine gute halbe Stunde vergangen. Aber ein Schritt über die Schwelle, und ich bin schon überzeugt, dass all das hier jede Mühe, jedes Geld und jede Minute Wartezeit wert ist. Es duftet herrlich. Drei Exemplare des besten Brots der Stadt werden wie Schmuckstücke auf einem breiten Tresen in Marmoroptik präsentiert. Dahinter steht eine schlanke junge Frau in einer Schürze aus fliederfarbenem Leinenstoff und lächelt mich an. Ich deute auf das mittlere der drei Brote: »Ich hätte gerne zwei Laib Bioroggen mit fermentierten Birnen.«

»Tut mir leid, aber das ist schon seit heute Vormittag aus«, antwortet die junge Frau.

»Ach, dann nehme ich einfach das Ausstellungsstück hier vom Tresen und dazu ein normales Brot.«

»Tut mir leid, aber das geht nicht.«

»Wie, das geht nicht?«

»Das ist unser Ausstellungsstück.«

»Das sehe ich, aber es ist doch auch einfach das letzte Brot von dieser Sorte …«

»Es tut mir wirklich leid, aber ich darf es nicht vom Tresen nehmen. Unser Signature-Brot soll immer zusammen mit den anderen Ikonen aus der Roggen-Kollektion präsentiert werden …«

Ich verlasse den Laden maximal genervt mit zwei normalen Broten unter dem Arm und weiß genau, dass Bea nachher die Lippen zusammenkneifen wird, weil das Brot nicht das richtige ist. Aber jetzt muss ich erst einmal heim und unter die Dusche.

Zu Hause ist das Badezimmer besetzt. Wie immer. Ich hatte für einen kurzen Moment verdrängt, dass ich Mutter von zwei halbwüchsigen Töchtern bin. In der Wohnung herrscht Chaos. Und die Tüte Müll von heute Morgen steht noch immer mitten im Flur. Jetzt allerdings in einer Pfütze ausgelaufener Flüssigkeit. Es riecht vergoren. Daneben liegen Wanderschuhe, ein Picknickkorb und zwei Rollkoffer. Wenigstens haben die beiden ihre Sachen schon gepackt. Ich rufe: »Wollt ihr wirklich mit Koffern auf den Berg wandern?« Keine Antwort. Vermutlich haben die beiden ihre Kopfhörer auf. Ich tippe eine Nachricht in den Familienchat: Mira, Charlotte, wir fahren in 20 Minuten los! Ich will schnell noch duschen, lasst mich bitte ins Bad! Keine Antwort, obwohl ich sehen kann, dass sie meine Nachricht gelesen haben. Ich tippe weiter: Sonst schalte ich dasWLANab. Die Tür zum Badezimmer öffnet sich innerhalb weniger Sekunden, und die beiden begrüßen mich beiläufig. Das Handy zeigt zwei weitere verpasste Anrufe meiner Mutter, erst aber muss ich ins Bad.

 

Eine gute Stunde später brechen wir auf. Bevor ich einsteige, halte ich einen Augenblick inne. Seit Tagen habe ich mich auf diesen Ausflug gefreut, und seit Wochen waren wir drei nicht mehr gemeinsam unterwegs. Ich atme einmal tief ein, versuche, die Anspannung abzuschütteln. Die beiden können ja nichts für den Stress in der Agentur. Dann strecke ich mich kurz und steige ein. Mira und Charlotte sitzen schon auf der Rückbank, ich schlage den beiden vor, während der Fahrt ausnahmsweise mal zusammen Musik zu hören. »Aber auf keinen Fall deine Playlist, Mama!« Ich muss lachen. Die Playlist von Mira allerdings ertrage ich keine fünf Minuten und bitte die beiden, ihre Kopfhörer wieder aufzusetzen. Es wird still im Auto. Ich schalte hoch und beschleunige. Alle Ampeln stehen auf Grün. Ich drehe das Radio auf, hole meine Sonnenbrille aus dem Handschuhfach, lasse die Scheibe runter und halte den Arm aus dem Fenster. Warme Sommerluft streicht über meine Haut. Es geht los.

 

Kies knirscht unter den Reifen, als wir auf dem Parkplatz zum Stehen kommen. Bea und Oli sind schon da. Die beiden sitzen mit ihren fünfjährigen Zwillingen Helen und Albert im Wagen und streiten. Dumpf dringen einige unschöne Worte aus ihrem Auto. Unsere Ankunft scheinen sie nicht zu bemerken. Wir holen das Gepäck aus dem Kofferraum und schlüpfen in unsere Wanderschuhe. Als die Rucksäcke geschultert sind, sehe ich, wie sich drüben die Beifahrertür öffnet. Bea steigt aus und kommt auf uns zu. Ihre Haare sind zerzaust, die Wangen gerötet, und ihr Shirt ist verrutscht.

»Na?«

»Tut mir leid, dass wir so spät sind, aber …«

»Kein Problem, Oli und ich hatten sowieso noch eine Kleinigkeit zu besprechen.« Sie schiebt sich ihre Sonnenbrille ins Haar. »Dass Männer auch nach hunderttausend Jahren immer noch Affen sind.« Sie grinst. »Wollen wir?«

Schweigend lädt Oli das Gepäck aus, und ich bitte Mira und Charlotte, die Zwillinge von der Rückbank zu holen. Helen und Albert sehen mit ihren Locken fast aus wie meine Töchter, nur in Klein. Auch sie tragen Funktionskleidung und Wanderschuhe, haben winzige Rucksäcke auf dem Rücken und schon jetzt keine Lust mehr auf eine Bergwanderung an einem viel zu heißen Sommertag. Ihrer Mutter hingegen scheint die Hitze nichts auszumachen. Sie lehnt an meinem Wagen und ruft über den Parkplatz: »Oli, kommst du?«

Oli hievt stöhnend einen letzten riesigen Rucksack aus dem Kofferraum. Bea lacht: »Er hat schon wieder die halbe Küche eingepackt.«

Ich kenne die beiden schon seit vielen Jahren. Sie haben in der Wohnung über uns gewohnt. Er war Finanzberater bei einer Versicherung, sie hat als freie Übersetzerin gearbeitet. Wir haben uns am Tag ihres Einzugs kennengelernt. Oli ist nicht der geschickteste Handwerker. Und so stand Bea schon wenige Stunden nach dem Einzug bei mir vor der Tür, um ein Erste-Hilfe-Set auszuleihen. Kurz darauf hat es wieder geklingelt. Diesmal war es Oli. Bea könne kein Blut sehen. Sie liege benommen auf dem Küchenboden. Ob ich vielleicht helfen könne? Nachdem ich die Beule an Beas Hinterkopf und Olis blutenden Daumen versorgt hatte und die zwei mir ihre halbe Lebensgeschichte erzählt hatten, blieb mir gar nichts anderes übrig, als sie ins Herz zu schließen. Wir haben den blutigen Einstand noch am selben Abend mit reichlich Prosecco begossen.

Bea und ich wurden Freundinnen und verbrachten viele Abende plaudernd auf dem Balkon. Der Gesprächsstoff ging uns nicht aus, weil wir in vielen Dingen eine ähnliche Meinung oder zumindest die gleichen Themen hatten. Als dann die Zwillinge auf die Welt kamen, haben Bea und Oli gefragt, ob ich Helens Patin sein möchte. Ich habe keine Sekunde nachdenken müssen und Ja gesagt. Wenig später haben die zwei ein Start-up gegründet und vertreiben seitdem traditionelle Gewürzmischungen aus nachhaltigem Anbau. Schon nach drei Jahren konnten sie in ein eigenes Haus ziehen, haben jetzt einen Pool und zwei Anlageberaterinnen.

 

Wir laufen los. Die Sonne brennt vom Himmel herab. Ich versuche mich auf meine Schritte zu konzentrieren. Zur Hütte sind es knapp zwei Kilometer, und die Erholung wartet, so viel ist sicher, erst oben. Anfangs geht es einen geteerten Forstweg steil bergauf. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn. Bea hingegen scheint die Hitze noch immer nicht zu stören, schwungvoll hakt sie sich bei mir ein und plaudert drauflos. Sie erzählt von der neuen Babysitterin, von Helens Klavierlehrer, dem Sommerfest im Wichtelkindergarten und dass sie es nicht fassen könne, dass die Zwillinge schon bald in die Schule kämen. Ich lasse sie reden und setze einen Fuß vor den anderen, während der arme Oli unter seinem schweren Rucksack schon nach einer Viertelstunde so weit zurückgefallen ist, dass man sein Ächzen nur noch leise hören kann. Nach der nächsten Kehre stellt dann aber auch Bea ihre Plauderei ein. Es ist steil, anstrengend, und neben alldem beschleicht mich das Gefühl, dass unsere Themen inzwischen immer seltener die gleichen sind und wir uns vielleicht doch nicht mehr so viel zu sagen haben.

Nach unzähligen Wegbiegungen und viel zu kurzen Verschnaufpausen taucht in der Ferne die Hütte auf. Endlich! Ich spüre Erleichterung. Auch Helen und Albert entdecken nun das Ziel und rennen mit neuer Energie die letzten Meter, während Mira strahlt: »Hier gibt es sogar gutes Netz, Mama!«

Und als hätte es auf diesen Augenblick gewartet, klingelt mein Handy. Es ist meine Mutter. Schon wieder.

»Mama?«

»Endlich! Mensch, Maria, dich kann man ja überhaupt nicht erreichen. Ich hab es schon den ganzen Tag versucht.« Meine Mutter klingt abgehetzt.

»Mama, beruhig dich, nicht so schnell, was ist denn?« Ich ertappe mich bei dem Gedanken, ob ich ihr vielleicht versprochen hatte, dass wir sie am Wochenende besuchen würden.

»Du musst sofort ins Auto steigen und zu uns kommen, hier ist heute …«

Ich falle ihr ins Wort: »Mama, warte, bevor du weiterredest. Ich bin mit den Mädchen in den Bergen, und wir sind gerade …«

»Du musst kommen!«

»Ja, aber wir kommen hier gerade bei der Hütte an und …«

Meine Mutter schluchzt. »Es ist ein Notfall, Maria!«

»… wir wollen jetzt gleich …« In diesem Augenblick legt sich in meinem Kopf ein Schalter um. »Notfall, was für ein Notfall?«

»Ein Unfall!«

Ich setze mich auf die kleine Holzbank vor der Hütte, die Träger meines Rucksacks rutschen mir von den Schultern.

»Oh Gott, was ist denn passiert?«, mir wird flau im Magen. »Ist was mit Oma?«

»Nein, der Oma geht es gut, aber deinem Vater ist heute im Wald die Seilwinde gerissen und ein Baumstamm quer gefallen. Er lag da stundenlang, bis ein Spaziergänger vorbeigekommen ist und den Notruf gewählt hat.« Ihre Stimme zittert, als sie weiterspricht, bei mir sind es die Knie. »Ich darf gar nicht daran denken, wenn der Mann da nicht vorbeigekommen wäre … Ich weiß noch überhaupt nicht, ob dein Vater sich was gebrochen hat oder wie es ihm geht. Im Krankenhaus haben sie mir gesagt, dass sie mich anrufen, sobald die ersten Untersuchungen durch sind, aber ich kann schon den ganzen Tag einfach niemanden erreichen! Weder im Krankenhaus und auch sonst nicht. Dein Bruder ist mit seiner Familie in Brandenburg. Dein Onkel mit dem Motorrad in Südtirol, und ich hab doch immer noch solche Rückenprobleme, ich schaff das alles hier einfach nicht ohne dich.« Ihre Stimme stockt. »Außerdem besitzt dein Vater nicht einen einzigen ordentlichen Schlafanzug. So kann der doch nicht im Krankenhaus bleiben. Was sollen die Leute denn von uns denken. Und die Oma, die kann ich hier auch nicht alleine lassen.« Jetzt klingt sie verzweifelt: »Du musst einfach kommen, und bevor du fragst, beim Maschinenring hab ich schon zehnmal angerufen, es gibt vor Dienstag keinen Betriebshelfer, es ist doch langes Wochenende.«

Mein Mund ist auf einmal ganz trocken, ich verspreche ihr, so schnell es geht aufzubrechen. Ich lege auf, den Kopf in meine Hände und schließe die Augen. Mein Rücken ist klatschnass. Ich könnte auf der Stelle heulen. Charlotte und Mira kommen auf mich zu.

»Mama, was ist denn?« Die Mädchen legen besorgt ihre Hände auf meine Schultern, und Mira nimmt mir den Rucksack ab. »Du zitterst ja voll.« Charlotte kniet sich vor mir auf den Boden und schaut mich mit großen Augen an.

Ich schlucke. »Opa hatte im Wald einen Unfall. Wir müssen zurückfahren. Die brauchen uns jetzt auf dem Hof.«

Bea setzt sich neben mich und legt ihre Hand auf meinen Arm. »Meine Liebe, du bist ja ganz blass. Ist alles in Ordnung?«

Ich atme tief ein und versuche zu erklären, was passiert ist. Bea zeigt Verständnis. Sie schlägt sogar vor, dass ich erst einmal alleine zu meinen Eltern fahren soll und die Mädchen hier auf der Hütte bleiben können. Oli, die Zwillinge und vor allem sie selbst hätten sich ja schon so sehr auf die Zeit mit uns und das feine Brot mit den fermentierten Birnen gefreut.

»Ach ja, das Brot. Also, Bea, da muss ich dir leider was sagen …« Ihre Lippen werden schmal, als sie sich wegdreht.

 

Und dann hetze ich den ganzen langen Weg wieder zurück. Ich laufe so schnell, dass es sich anfühlt, als würde mir ein heißer Föhn ins Gesicht blasen. Ich bin völlig fertig, als ich auf dem Parkplatz ankomme. Verschwitzt und verheult setze ich mich ans Steuer und starte den Motor. Mein Magen knurrt. Stumpf starre ich auf die Straße vor mir und fahre an einem nicht enden wollenden Stau vorbei. Ich gebe Gas. Und während die Sonne in Richtung Horizont rutscht, drehe ich die Musik laut auf. Where is my mind?

Als die Sonne zwei Stunden später dunkelrot hinter einem bewaldeten Hügel verschwindet, biege ich auf das letzte Stück Landstraße ab. Birkenmühle 3 km. Ein paar Kurven noch, und ich bin endlich da. Im Hof ziehe ich den Zündschlüssel ab und atme durch.

Vor dem Haus steht eine Bank. Dort sitzt meine Großmutter. Sie schält Äpfel. Vor ihr auf dem Tisch türmt sich bereits ein Haufen Früchte. Eine kleine weiße Katze streicht um ihre Beine, und gleich neben der Bank suchen ein paar Hühner zwischen den Pflastersteinen nach Futter. Idyllisch sieht das aus. Ich steige aus, strecke mich und sehe mich um, sauge die Luft ein: So riecht es wirklich nur hier. Eine Mischung aus Apfel, Erde, Gras und Mist.

»Hallo, Oma.«

Meine Großmutter schneidet mit ihrem alten kleinen Obstmesser einen Apfel entzwei, mustert mich und runzelt die Stirn.

»Wer bist jetzt du? Sag, bist du der Herbert?«

»Aber Oma, erkennst du mich nicht? Ich bin die Maria, der Herbert, das ist dein Sohn.«

»Du hast ja richtig lange Haare bekommen.«

»Ich hab doch schon immer so lange Haare.«

»Ach geh, Herbert, du hast doch noch nie lange Haare gehabt.«

Ich lege ihr die Hand auf die Schulter, und sie hält mir einen Apfelschnitz hin, während sie mich aus ihren kleinen blaugrauen Augen anschaut. Eine lange weiße Strähne hat sich aus ihrem Haarknoten gelöst, ihre Haut sieht aus wie Butterbrotpapier, das man schon viele Male verwendet hat.

»Willst du mir beim Schälen helfen?«

Auf dem Tisch vor ihr liegt ein zusammengefalteter Zettel. Für Maria steht da in der ordentlichen Schrift meiner Mutter, ich falte ihn auseinander:

Liebe Maria, ich muss jetzt los, das Krankenhaus hat gerade angerufen. Ich kann Papa sehen, aber ich muss ihm noch einen Schlafanzug kaufen, bevor Kleider Hoffmann zumacht. Ich hoffe, die Oma sitzt noch bei den Äpfeln auf der Bank. Bitte schick sie nachher ins Bett, das kann sie alleine. Heute hat sie am Küchenherd das Gas aufgedreht, das habe ich jetzt vorsichtshalber abgestellt. Wenn du Hunger hast, musst du dir ein Brot machen.

Bei dem Wort Brot merke ich, dass ich halb verhungert bin. Meine Mutter bäckt seit ein paar Jahren selbst im alten Holzbackofen auf dem Hof. Der Ofen war lange außer Betrieb, obwohl, in meiner Kindheit hat er unserem Hofhund Rex als Hundehütte gedient. Bis meine Mutter irgendwann begonnen hat, nach einem alten Rezept Sauerteigbrot zu backen. Ein ganz schlichtes Brot. Und doch ist es für mich das beste.

Oma reicht mir ein weiteres Apfelstück. Eines mit Wurm.

»Herbert, wo kommst du denn um die Uhrzeit her?«

»Oma, ich bin die Maria!«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich hab dich nicht gefragt, wie du heißt, sondern wo du herkommst.«

Ich geb’s auf. »Direkt aus den Bergen.«

»Aus den Bergen? Ja, in Herrgotts Namen, was suchst du denn in den Bergen?«

Oma nimmt den nächsten Apfel und beginnt die Schale in einem einzigen schmalen Streifen abzulösen.

»Wir wollten auf eine Hütte wandern und oben auf dem Berg in der Sonne Brotzeit machen.«

Sie schüttelt wieder den Kopf. »Kann man unten denn keine Brotzeit machen?«

Ich blicke erneut auf den Zettel:

Die Kühe sind versorgt, aber du musst noch zu den Schweinen. Das Futter habe ich schon hergerichtet. Die Muttersau hinten links gefällt mir nicht. Kannst du Fieber messen? Die anderen …

Der Rest des Satzes ist durchgestrichen und dahinter steht:

Gib jeder Sau zwei Schaufeln Schrot! Bei mir wird es spät, du musst nicht auf mich warten.

Mama

PS: Ich kann mein Handy nicht finden.

Kopfschüttelnd hole ich meinen Rucksack aus dem Auto. Eigentlich ist es egal, dass meine Mutter ihr Handy nicht findet, denn es ist ja sowieso nie geladen. Ich stelle meine Sachen zu Oma auf die Bank und atme noch einmal tief ein. Dann mache ich mich an die Arbeit.

Die Stallkleidung finde ich am Ende des Flurs im Heizungsraum. Aus einem alten Bauernschrank, wuchtig und grob, hole ich eine Arbeitshose und binde mir ein ausgewaschenes Tuch meiner Mutter um den Kopf. Neben dem Schrank stehen die Schuhe. Schwere Treter mit Stahlkappen für die Waldarbeit neben dunkelgrünen Gummistiefeln für den Stall, und, ich stutze, da steht tatsächlich ein Paar, das früher einmal mir gehört hat. Das kann eigentlich gar nicht sein, aber ich erkenne sie sofort. Hat meine Mutter die wirklich so lange aufgehoben?

Ich nehme einen der Stiefel in die Hand. Damit bin ich doch einmal in einen rostigen Nagel getreten. Im Stiefel steckt vergilbtes Zeitungspapier. Als ich es herausziehe und den Schuh umdrehe, rieseln kleine Steinchen und etwas Staub zu Boden. Ich falte das Papier auseinander und lese die Schlagzeile: Weiterer Brand im Landkreis. Zündler gefasst. Es sind tatsächlich meine Stiefel. Denn in der Sohle ist ein kleines Loch zu sehen. Es schüttelt mich, ich erinnere mich genau an den Moment, als das spitze Metall durch das Gummi in meinen Fuß eingedrungen ist. Wie mit einem langen dünnen Stachel war ich plötzlich untrennbar mit einem Holzbrett verbunden. Niemand hatte sich damals getraut, den verrosteten Nagel samt Brett aus meinem Fuß zu ziehen, und so blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich selbst davon zu befreien. Ob die mir überhaupt noch passen? Das Plastik ist schon recht porös. Ich ziehe meine Turnschuhe aus und schlüpfe barfuß in die alten Stiefel. Kaum zu glauben, aber sie passen. Den Weg zum Stall lege ich in weiten Schritten zurück, denn da ist gerade mal nichts, was scheuert, drückt oder reibt.

 

Die schwere Holztür vom Schweinestall klemmt. Ich muss mit beiden Händen kräftig ziehen, um sie mit einem Ruck und unter lautem Quietschen zu öffnen.

Was für ein Gestank! Aber vor allem ist es die Hitze hier, die mich fast umhaut. Den Geruch hatte ich total verdrängt. Ammoniak zieht mir wie Schnupftabak durch die Neben- bis direkt in die Stirnhöhle. Mir steigen Tränen in die Augen, ich atme durch den Mund. Was für ein Lärm! Die Schweine quieken in der Lautstärke eines lockeren Keilriemens. Ich drehe mich im Kreis. Wo ist das Futter? In der Ecke steht ein alter Holzschlitten, darauf zwei Eimer mit grob gemahlenem Getreide.

Ich schütte jedem Schwein so schnell ich kann zwei Schaufeln Schrot in den Trog. Sobald eine Sau etwas zu Fressen hat, ist sie still. Dafür quieken die anderen umso lauter. Ich spüre die Schweißperlen auf meiner Stirn. Anschließend nehme ich einen aufgerollten Wasserschlauch von der Wand und fülle damit die Tröge. Die Schweine antworten mit einvernehmlich zufriedenem Schmatzen. Ich sehe mich um und wische meine Hände an der blauen Arbeitshose ab. Das Schlimmste scheint geschafft, und obwohl ich an der rechten Hand schon eine kleine Blase bemerke, fühle ich mich mit einem Mal besser. Alle sind satt, zufrieden, niemand reklamiert, meckert oder will noch einmal über das gesamte Konzept sprechen.

Hinten im letzten Stall ist das kranke Schwein, das meine Mutter erwähnt hat. Diese Sau will als einzige nichts fressen. Sie hat kleine Ferkel, die bestimmt nicht älter als einen Tag sind. Tapsig laufen sie um ihre Mutter herum und grunzen leise, ich glaube, sie sind auf der Suche nach Milch. Doch die Sau lässt die Kleinen nur für einen kurzen Moment trinken, bevor sie schreckhaft aufspringt. Vermutlich hat sie Schmerzen. Ich hole das Thermometer und messe. 40 Grad. Zu viel. Während ich die Temperatur ablese, kraule ich der Sau den Rücken. Im Gegenzug versucht sie mir die Hand abzubeißen. Da werde ich wohl die Tierärztin bestellen müssen.

Ich richte mich auf, schalte den kleinen Ferkeln eine Wärmelampe über ihrem Schlafplatz ein, klopfe der Sau aufmunternd auf den Nacken und rede ihr gut zu. Zuletzt bringe ich ihr noch ein paar Gabeln frisches Stroh und schließe die Stalltür mit einem festen Ruck.

 

Oma sitzt noch genau wie vorhin und wie vermutlich schon seit heute Morgen auf der Bank und schält den nächsten Apfel. Sie hält ihren Kopf leicht geneigt und beobachtet, wie ich jetzt blöderweise nicht aus den Stiefeln komme. Meine Füße scheinen durch die Hitze mit dem alten Gummi verschmolzen. Ich hätte einfach Socken anziehen sollen. Ich ärgere mich über mich selbst. Weiß man doch eigentlich, dass man nicht barfuß in Gummistiefel steigt. Immer und immer wieder versuche ich die jetzt plötzlich viel zu engen Stiefel loszuwerden. Keine Chance.

»Herbert?«

Ich stöhne auf: »Ja, Oma?«

»Hast du’s mitbekommen? Die Maria ist jetzt wieder daheim.«

Fluchend rutsche ich endlich aus den Schuhen und lande dabei mit dem Hintern hart auf den Pflastersteinen. Immerhin: In der Küche finde ich ein kaltes Bier und schneide mir eine dicke Scheibe Brot ab, die ich mit Butter beschmiere. Damit setze ich mich neben meine Großmutter auf die Bank.

»Also, Oma, wie war das gleich noch mal? Die Maria ist wieder daheim?«

Meine Großmutter berührt mit ihrer alten runzligen Hand ihre Stirn, ihr Dekolleté und dann ihre linke und rechte Brust. »Ja, und ich glaube, die bleibt jetzt länger, Gott bewahre.«

Hat sie sich gerade tatsächlich bekreuzigt? Sie greift sich den nächsten Apfel. »Und, Herbert, wo steckt dein Vater schon wieder? Ich hab ihn heute überall gesucht, im Ofen ist ein Apfelkuchen, den mag er doch so gern.«

Meiner Oma beim Apfelschälen zuzusehen hat etwas Beruhigendes. Beunruhigend ist allerdings, dass ihr Mann schon vor über dreißig Jahren gestorben ist. Und überhaupt, was sollen wir mit all den geschälten Äpfeln anfangen?

»Herbert?«

Ich seufze: »Ja, Oma?«

»Der Apfel hier, siehst du den?«

Ich nicke.

»Der fällt nicht weit vom Stamm, und du, du auch nicht.«

»Ich weiß, Oma, ich weiß. Ich glaube aber, du hast für heute genug geschält. Jetzt wird es Zeit, dass du mal ins Bett gehst.«

Oma legt das Messer weg, knetet ihr linkes Knie, streicht mit den Händen ein paarmal über die Schürze und richtet sich mühsam auf. Wie klein sie ist. Sie reicht mir kaum noch bis zu den Schultern. Und es braucht nur einen kurzen Blick auf ihren krummen Rücken, um zu erkennen, dass diese Frau ihr Leben lang viel und hart gearbeitet hat.

»Gute Nacht, Herbert.«

»Gute Nacht, Oma, schlaf gut.« Sie greift an den Rahmen der Haustür und zieht sich mühsam die drei Treppenstufen hoch, bevor sie im Haus verschwindet.

 

Ich reibe mir die Oberarme und spüre die Anstrengung in meinen Muskeln. Müde setze ich mich auf die von der Sonne aufgewärmten Steinstufen an der Haustür. Diesen Platz mochte ich schon immer gern. Um mich wird es allmählich dunkel. Als würde man mit einer feinen Nadel Löcher in einen blauen Samtvorhang stechen, leuchten die ersten Sterne auf. Einige blinken. Während die Grillen ihr Lied anstimmen, schwirren über meinem Kopf ein paar Fledermäuse durch das letzte Abendlicht, und es kehrt Ruhe ein.

Und aus dem Nichts ist es die Angst um meinen Vater, die hochkocht wie Nudelwasser, überläuft und laut zischend auf der Herdplatte verdampft. Was ist eigentlich los? Warum meldet sich meine Mutter nicht? Sie weiß doch, dass ich längst hier bin. Ist es so ernst, dass sie nicht daran denkt, mal kurz durchzurufen? Vielleicht hat sie in all der Aufregung aber auch einfach vergessen, dass sie nicht die Einzige ist, die sich sorgt? Vermutlich ist es genau so, versuche ich mich zu beruhigen, lehne meinen Kopf an die noch warme Hauswand und schließe meine Augen. Mit einem Mal wird mir bewusst, wie wunderbar ruhig es hier jetzt ist. Was wohl wäre, wenn ich jeden Abend hier sitzen könnte. Würde mir die Ruhe guttun? Würde sie mich erdrücken? Könnte ich die Arbeit in der Agentur auch remote erledigen oder vielleicht ganz damit aufhören und hierher zurückkommen, mehr mit den Händen und weniger mit dem Kopf arbeiten? Es müsste ja nicht gleich die Landwirtschaft sein. Vielleicht ließe sich auch anders Geld verdienen. Und so kreisen meine Gedanken. Und kreisen. Steigen schließlich gen Himmel und verlieren sich im Nachtblau.

 

An diesem Abend dusche ich spät. Dann bringe ich meinen Rucksack in den ersten Stock. Immer wenn ich über Nacht hier bin, schlafe ich in meinem alten Bett. Mein Kinderzimmer wurde nie renoviert, und ich würde es zwar nicht offen zugeben, aber genau so gefällt es mir eigentlich am besten. Wie ich es liebe, mit den Fingern über die alte Raufasertapete zu streichen. Ich öffne das Fenster und lausche. Der Bach fließt direkt am Haus vorbei, ich höre das Wasser glucksen. Ein halber Mond wirft schwaches Licht auf den weißen Stamm einer Birke, die am Ufer des Bachs steht. Wie oft habe ich als Kind aus diesem Fenster gesehen? Wie viele Jahre sind vergangen, in denen ich kaum hier war? Warum eigentlich?

Mit fünfzehn schnitt ich mir meine langen blonden Zöpfe ab, färbte mir die Haare in schrillen Tönen, hatte in der Schule endlos viele Fehlstunden und rauchte heimlich hinter dem Schweinestall die Zigaretten meines Onkels. Hatte ich damals schon beschlossen, den Hof zu verlassen, oder waren es alle guten Geister, die mich verlassen haben? Ich verlachte meine Eltern, die die Felder bestellten und tagtäglich den vollen Milchtank an die Landstraße schleppten, schüttelte den Kopf über meinen Bruder, der die Berufsschule besuchte, und war mir sicher: Irgendwann würde ich es schaffen, zu den Besseren zu gehören.

Wenn mich damals ein Junge mit dem Auto abholen wollte, fuhr mein Vater mit dem vollen Güllefass so lange ums Haus, bis es leer war und die Verehrer wegen des Gestanks fluchtartig den Hof verließen, während meine Mutter es irgendwann seufzend aufgab, die Löcher in meinen Hosen zu flicken. Oma schimpfte zu dieser Zeit aus ihrem Fenster im ersten Stock, wann auch immer ich nach Hause kam. Sobald ich mit der Schule fertig war, packte ich meine Sachen und verließ die Mühle, meine Familie und Heimat, ohne mich auch nur einmal umzudrehen. Ich wollte in die Stadt. Ich wollte in einer Straße wohnen, in der es keinen einzigen Baum gibt.

 

Und jetzt sitze ich hier auf meinem alten Bett und rieche trotz der frisch gewaschenen Haare noch ein bisschen nach Schwein. Mein Blick wandert durch den Raum. Es hat sich nichts verändert. Die Tapete könnte schon bald wieder modern werden, im Regal liegen noch ein paar Kinderbücher und Hörspielkassetten. Daneben steht eine Schachtel. Mit dicken Buchstaben ist etwas darauf geschrieben und wieder durchgestrichen worden.

DASKANNWEG und UNBEDINGTAUFHEBEN.

Neugierig öffne ich den Deckel. Unter mehreren raschelnden Lagen Seidenpapier ertasten meine Hände eine glatte runde Form. Als mir einfällt, was es ist, muss ich lächeln, denn ich sehe plötzlich meinen Bruder Thomas vor mir, wie er mir vor vielen Jahren dieses Ding zu Weihnachten überreicht. Selbst gebastelt und irgendwie trotzdem geglückt.

Es ist eine Kugel aus Glas, gefüllt mit einer klaren Flüssigkeit. Darin schweben Hunderte winzige weiße Partikel, die jetzt langsam auf den Grund sinken. Auf dem Boden der Schneekugel stehen ein paar kleine Gebäude, die wie zufällig im Kreis auf einer grünen Fläche angeordnet und von einem blauen Band umgeben sind. Es ist ein Fluss, der sich vor den Gebäuden in zwei Bäche aufteilt, um hinter ihnen wieder zusammenzufließen. Ich erkenne eine kleine Kapelle, einen Kuhstall mit angeschlossener Weidefläche, einen Hühnerstall, einen Schweinestall, einen Misthaufen, einen alten gemauerten Holzbackofen und eine Scheune neben einem in lichtem Blau gestrichenen Haus mit dunkelgrünen Fensterläden, das sein spitzes rotes Ziegeldach in die Höhe streckt. An der Rückseite des Hauses dreht sich ein schlichtes Wasserrad aus schiefergrauem Holz. Gleichmäßig bewegt sich seine Achse und überträgt die Kraft über ein großes Zahnrad, das in weitere Zahnräder greift und damit die zentnerschweren Mühlsteine im Inneren der Mühle antreibt.

Der Hof liegt wie auf einer Insel. Um ihn trockenen Fußes zu betreten, muss man eine kleine Brücke überqueren. Am Hof vorbei führt eine schmale von Kastanien gesäumte Landstraße, die in einer sanften Kurve hinter einer Anhöhe verschwindet, auf der ein sandiger Kartoffelacker und ein Hopfengarten liegen.

Ich folge der Straße bis zum nächsten Ort. Hübsche schmale Fachwerkhäuser in hellen Farben reihen sich im Kreis um einen Marktplatz, über den eine Fronleichnamsprozession zieht. Vorneweg trägt ein Pfarrer unter einem Baldachin aus rotem Samt eine vergoldete Monstranz. Schweiß färbt den Kragen seines Festtagsornats dunkel. Ihm folgt, angeführt von einer Frau im hellblauen Wollkostüm, eine Schar Kommunionkinder in weißen Kleidern und dunkelblauen Anzügen. Dahinter läuft ein Mann mit einer riesigen goldenen Kette um den Hals. Das muss der Bürgermeister sein. Er ist umringt von Anzugträgern und deren Familien, die stolz Kinn oder Brust oder beides nach vorne strecken. Schließlich folgen die einfachen Leute. Mit gebeugten Schultern bilden sie das Ende der Prozession. Am Rand des Marktplatzes parkt ein Bus. Der linke Scheinwerfer ist zerbrochen, an der Tür lehnt der Fahrer. Er beißt in eine Leberwurstsemmel und winkt dann einem Mann, der auf einem alten Traktor sitzt und gerade auf die Landstraße zurück in Richtung Einödhof abbiegt. Der Traktor hält neben einem goldenen Opel Ascona. Ich kann ein paar Hühner erkennen, die geschäftig zwischen den Pflastersteinen herumpicken und nach Futter suchen.

Meine Erinnerung sinkt mit den weißen Flocken immer tiefer, bis auf den Grund der Kugel, und in dem Moment, in dem die ersten Schneekristalle den Boden berühren, öffnet sich die Tür des Wohnhauses, und ich sehe, wie ein Junge und ein Mädchen herauskommen. Ich kann sie rufen hören: »Es schneit!« Dabei breitet das Mädchen die Arme aus, legt den Kopf in den Nacken, öffnet den Mund weit und schließt die Augen. Und auch ich schließe jetzt meine Augen, denn das Mädchen, das bin ich.

Ich bin zehn Jahre alt, heiße Maria und lebe mit meinen Eltern, meinem Bruder Thomas, meinem Onkel Herbert und unserer Oma hier auf dem Hof, der schon seit jeher meiner Familie gehört. Die nächsten Häuser liegen zwei Kilometer den Fluss hinauf. Und der Ort, in dem mein Bruder und ich zur Schule, Mama zum Einkaufen, Papa zum Stammtisch und Oma zur Beichte gehen, ist gute vier Kilometer von hier entfernt.

 

Heute ist der zweite Samstag im November. Es ist schon seit ein paar Tagen eiskalt, und gerade schneit es das erste Mal in diesem Jahr. Ich springe auf und renne zur Haustür. Oh, wie ich diesen kurzen Augenblick der Freude genieße, wenn das allererste Mal im Jahr zarte Schneeflocken vom Himmel trudeln und man gar nicht schnell genug nach draußen rennen kann, um jede einzeln willkommen zu heißen.

Der Himmel spannt sich wie eine blickdichte Feinstrumpfhose über uns. Ich schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken und mache den Mund weit auf. Ich spüre jeden einzelnen Schneekristall, der auf meiner Zunge landet und dort mit einem zarten Seufzer schmilzt. Die Flocken werden dicker und das Schneetreiben dichter und leiser, und langsam verschwinden das satte Grün der Wiese, das matte Rot des Kuhstalldaches und das glänzende Grau der feuchten Pflastersteine im Hof. Das Wasser im Mühlbach, der uns umfließt, wird dunkelblau, bis er daliegt wie ein Schal aus Seide. An seinem Ufer schwingen die langen feinen Äste einer großen schlanken Birke gleichmäßig im Wind. Sie hat ihre Wurzeln im Wasser, und ist damit auch im heißesten Sommer gut versorgt. Der Baum steht direkt vor meinem Kinderzimmer. Ich habe mein Bett neben das Fenster geschoben, und so ist die Birke das Erste, was ich jeden Morgen sehe, und ihr gilt auch mein letzter Blick, bevor ich am Abend einschlafe. Im Frühling bringt sie Hunderte oder sogar Tausende kleine Würstchen und leuchtend grüne Blätter hervor, und wenn im Winter der Mond durch die unzähligen dünnen Äste scheint und sich im Wasser spiegelt, sieht das so unglaublich schön aus, dass man einen kurzen Moment aufhören muss zu atmen.

 

Der Schnee fällt weiter und wird immer dichter. Mein Bruder und ich toben herum, bis wir unsere Finger und Zehen nicht mehr spüren. Unsere Gesichter sind knallrot, bei Thomas ist sogar der Rotz an der Nase festgefroren. »So läuft er wenigstens nicht.« Er lacht und versucht mit der Zunge ranzukommen. »Willst du auch mal?« Ich schüttle mich und presse die Lippen fest aufeinander.

Wir gehen rein, bevor unsere Füße absterben, und müssen unsere verfrorenen Hände lange unter den kalten Wasserstrahl am Spülbecken halten. Es knistert wohlig, der Küchenofen ist angeschürt. Davor stehen zwei Stühle. Gleich passiert eine der besten Sachen im Winter: Mama klappt die Bratröhre auf, und wir dürfen unsere Eisbeine auf die Klappe legen und ein Stück weit in den Ofen hineinstrecken.

So sitzen wir da und kichern, denn das Blut pumpt kräftig durch unsere Füße und Zehen, und auch der Rotz beginnt wieder zu laufen. Erst wenn wir rufen, dass unsere Socken gleich Feuer fangen, bekommen wir warmen Kakao aus Tassen, die fast so groß sind wie unsere Köpfe. Und nachher, also, da wollen wir aber schon noch mal raus. Ich muss nämlich nach meiner Katze Elisabeth schauen. Die hat vor sechs Tagen auf dem Heuboden über dem Kuhstall Junge bekommen. Ausgerechnet jetzt, wo der Winter so zeitig beginnt und die Katzenbabys bestimmt frieren. Ich habe mich trotzdem wie verrückt gefreut. Es ist Elisabeths erster Wurf, und da sind vier winzige, putzige Katzenkinder auf die Welt gekommen, die jetzt alle zu mir gehören. Drei davon sind süße kleine weiße Katzenmädchen mit lustigen schwarzen Flecken in ihrem weichen Fell, und dann ist da noch ein kleiner schwarzer Kater, der ein weißes Dreieck auf der Brust trägt.

Die Oma hat geschimpft, als sie von dem Wurf erfahren hat. »Wir brauchen keine Herbstkatzen, die taugen nichts.« So klagt und grantelt sie vor sich hin. »Und hört gefälligst auf, die zu füttern. Eine Katze, die satt ist, fängt keine Maus.« Ich nehme das aber nicht ernst, denn die Oma schimpft eigentlich immer. Wenn ich recht überlege, kenne ich sie wirklich nur so: keifend, meckernd, motzend, kreischend, brüllend, geifernd, spuckend und lästernd. Dabei verrutscht oft ihr Gebiss, weil sie sich erstens immer gleich so ereifert und zweitens an der