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Eine Schiffspassage nach Java wird für den jungen Kaufmannssohn Hans Heinrich Jacobsen und seinen treuen chinesischen Begleiter Chang Lee zu einer Fahrt in die Hölle. Ist etwa die seltsame Truhe, die er in Hongkong erworben hat, Schuld an alledem?
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2022
Meinem Sohn Hendrik
Dietmar Traulsen
Mukateph
Eine unheimliche Erzählung
. © 2022 Dietmar Traulsen
ISBN Softcover: 978-3-347-72715-1
ISBN Hardcover: 978-3-347-72716-8
ISBN E-Book: 978-3-347-72717-5
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
1. Aufbruch in das Reich der Mitte
2. Der alte Trödelladen
3. Die Freyja
4. Schreckmomente
5. Die Pfeifen-Philosophie
6. Mann über Bord
7. Ratten
8. Weitere Verluste
9. Das Tagebuch
10. Die Kanaille
11. Das Monstrum unter Deck
12. Abstieg ins Dunkel
13. Mukateph
14. Die Verschwörung
15. Tibet
16. Epilog
17. Danksagung
Inhalt:
Eine Schiffspassage nach Java wird für den jungen Kaufmannssohn Hans Heinrich Jacobsen und seinen treuen chinesischen Begleiter Chang zu einer Fahrt in die Hölle. Ist etwa die seltsame Truhe, die er in Hongkong erworben hat, Schuld an alledem?
Über den Autor:
Dietmar Traulsen wurde 1970 an einem Freitag den 13. als Sohn eines Zauberers und einer (verrückten) Hutmacherin geboren. Aufgewachsen in Kappeln an der Schlei, zeigte sich schon sehr früh sein Faible für unheimliche, phantastische Literatur. Noch bevor er überhaupt lesen konnte, sammelte er die Comic-Reihe „Gespenster Geschichten“, die er sich selbst anhand der Bilder erzählte. Mit zwölf Jahren schrieb er seine ersten Kurzgeschichten, entdeckte dann Autoren wie Tolkien, Lovecraft, Howard und King. Schließlich entschied er sich dafür, in einer Bibliothek arbeiten zu wollen. Parallel dazu sammelt der Großmeister der Tagträume seit Dekaden schon Geschichten, die er aus den bekannten – und aus weiteren Regionen der Traumlanden mitbringt. Von dort, wo die Nachtschatten hausen. Diese spannenden, unheimlichen, skurrilen und manchmal auch komischen Geschichten möchte er nun mit uns teilen.
Dies ist eine davon …
1. Aufbruch in das Reich der Mitte
Ich bin so alt wie dieses Jahrhundert und allein dieser Umstand macht mich zu einem Überlebenden. Zu einem Überlebenden zweier blutiger Weltkriege.
Für den Ersten war ich zu Beginn mit damals vierzehn Jahren noch zu jung. Für den Zweiten Weltkrieg fehlte mir schlichtweg das Interesse. Ende der dreißiger Jahre weilte ich gerade in Tibet, sodass mich tatsächlich die Nachricht vom Kriegsausbruch erst Wochen später erreichte. Ich zog es danach vor, sogenannte zivilisierte Gegenden eine Zeit zu meiden und reiste lange inkognito durch Asien und Südamerika. Nicht, dass ich grundsätzlich feige war oder keine patriotischen Gefühle hegte, aber der braune Mob, der in Berlin das Sagen hatte, widersprach meiner liberalen Einstellung und es gab brennendere Sorgen, die mich voll und ganz in Anspruch nahmen. Mir lag nichts weniger als die Sicherheit und die Zukunft der gesamten Menschheit am Herzen. Sie vor einer großen Gefahr zu schützen oder zumindest zu warnen war meine Mission. Denn ich habe den dämonischen Schatten gesehen und lebe seitdem in Angst. Mein halbes Leben suchte ich daraufhin weltweit nach Antworten, gab meine Reisen allerdings 1945 wieder auf. Der Grund war der Abwurf zweier Atombomben auf bewohntes Gebiet. Das ließ mich umdenken. Will die Menschheit überhaupt gerettet werden? Vieles spricht dagegen. Aber, vielleicht ist es falsch, und die gewaltigen Waffen, die der Mensch erschaffen hat, sind der Schlüssel zum Überleben unserer Spezies im Kampf gegen die Gefahr, welche da draußen lauert und in unsere Welt einzubrechen droht! Doch, nützen Bomben gegen Schatten?
Ich bin dieser Bedrohung begegnet, damals als junger Mann, Anfang der zwanziger Jahre.
Und nun, da ich alt und müde geworden bin, habe ich das Bedürfnis mir alles von der Seele zu schreiben. Die grauenvollen Ereignisse zu schildern, die mein Leben auf den Kopf gestellt und mehrere Menschenleben gekostet haben. Doch wo soll ich beginnen?
Ich sitze hier bequem in meiner kleinen Kieler Wohnung, einer der wenigen Altbauten, die den Bombenhagel überstanden haben, rauche Pfeife und schaue auf die noch weiße Seite in der Schreibmaschine. Eine der Katzen streift mein Bein und der Kater lümmelt sich faul auf der Fensterbank. Der Dolch liegt neben mir auf dem Schreibtisch. Ich benutze ihn heute nur noch als Brieföffner, aber er ist noch genauso scharf und gefährlich wie damals, als er mir buchstäblich zugeflogen kam. Sein Gewicht in meiner Hand vermittelt ein Gefühl von Schutz und Sicherheit. Seine Magie ist nicht verflogen. Aber bevor ich mit der Geschichte beginnen kann, muss ich ein paar einleitende Worte über meine Familie und die Umstände meiner abenteuerlichen Reise vorausschicken und über Chang. Den guten alten Chang.
Mein Vater war der anerkannte und erfolgreiche Kieler Kaufmann Georg Friedrich Jacobsen. Er war zeitlebens bekannt für seine Abenteuerlust, und so verwunderte es niemanden, dass er für mehrere Jahre in den Orient und den Fernen Osten aufbrach. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war China noch ein Kaiserreich. Auf einer seiner weitläufigen Reisen durch das Reich der Mitte rettete er einem Mann, der etwa in seinem Alter war, das Leben vor der Wut eines Provinzfürsten. Offensichtlich wurde der Mann beschuldigt, etwas gestohlen zu haben. Lebensmittel? Ein Huhn vielleicht? Schon Kleinigkeiten konnten einen armen Wicht damals das Leben kosten. Mein Vater setzte sich nun für ihn ein, beglich die Schuld des Mannes und versprach ab sofort für diesen die Verantwortung zu übernehmen. Der Provinzfürst willigte ein - ein Prozess, der sich über mehrere Tage hinzog. Mein Vater zog weiter, einige Goldstücke ärmer, aber bereichert durch die Anwesenheit eines beflissenen Chinesen, der jetzt eine Lebensschuld einzulösen hatte. Das war Chang. Da Vater den anhänglichen Mann sowieso nicht mehr loswurde, machte er ihn kurzerhand zu seinem Kammerdiener und gab ihm Unterricht in Deutsch, das er allerdings nie fehlerfrei erlernte. So reisten beide die nächsten paar Jahre gemeinsam durch China, durch Siam, nach Java und schließlich sogar bis Australien. Dank Vaters Geschäftstüchtigkeit und seines Geschicks Menschen für sich einzunehmen, gelang es ihm allerorts Freundschaften sowie Geschäftsbeziehungen zu knüpfen. Als er schließlich 1892 wieder nach Kiel zurückkehrte und sein Geschäft eröffnete, war er schnell sehr erfolgreich und legte den Grundstock zu unserem Familienvermögen. Chang folgte meinem Vater nach Deutschland und blieb weiterhin in seinem Dienst. Zwar gab es jenseits der Reisen nicht viel zu tun für einen Kammerdiener, da wir in Kiel schon Personal hatten, aber Vater versuchte stets wohlwollend eine Aufgabe für ihn zu finden, da er inzwischen mehr Freund als Diener war.
Im Jahre 1895 wurde dann mein älterer Bruder Karl Wilhelm geboren und im Jahre 1900 erblickte ich schließlich das Licht der Welt. Die ersten Jahre meines Lebens sind mir komplett ungetrübt in Erinnerung, bis dann im Jahre 1906 noch die kleine Elisabeth geboren wurde. Es gab Komplikationen bei der Geburt und unsere arme Mutter verstarb im Kindbett. Vater verfiel in eine große Trauer und ließ uns Kinder quasi alleine mit unserem Verlust. Es war Chang, der meinem Bruder und mir über die schlimmste Zeit hinweghalf und so wurde aus dem einfachen Kammerdiener und guten Geist des Hauses kurzerhand unser Onkel Chang, der immer für uns da war und mit daoistischem Gleichmut unsere Sorgen und Nöte aufzufangen wusste.
Nach einem Trauerjahr erklang wieder Lachen in unserem Haus, das wie in einem Dornröschenschlaf geruht hatte. Das lustige Lachen gehörte unserer Schwester Elisabeth, die jetzt ein Jahr alt war und zu sprechen anfing. Doch meistens lachte sie. Lachte ihr typisches glockenhelles Engelslachen, das sie auch ein Leben lang beibehalten sollte. Wir verliebten uns alle in die Kleine und auch unser Vater fand endlich ins Leben zurück. Er ließ der Kleinen alles durchgehen und war ihr nie wegen irgendwas böse. Die folgenden Jahre verliefen wieder sehr glücklich, wenn auch ereignislos.
Die nächste Verwerfung im Leben unserer Familie ereignete sich erst mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Mein Bruder war inzwischen fast neunzehn Jahre alt und sah es als seine Pflicht an, für Kaiser und Vaterland zu kämpfen. Er meldete sich sofort zur kaiserlichen Marine und wurde aufgrund unserer gesellschaftlichen Stellung und unseres guten Rufes auf die Kadettenanstalt nach Mürwik geschickt, um die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Er diente dann später als Leutnant auf einem kaiserlichen Schiff und erlebte dabei wie viele tausend junge Männer dieser Zeit seine eigenen „Abenteuer“. Aber immerhin überlebte er den Krieg und kehrte mit nur wenig körperlichen Blessuren, aber stiller und ernster nach Hause zurück. Er quittierte den Dienst und stieg dafür in das Geschäft meines Vaters ein, so wie dieser es sich gewünscht hatte. Ich selbst hatte inzwischen gerade meine Reifeprüfung abgelegt und lernte jetzt kaufmännisches Rechnen sowie Handelsrecht an einer renommierten Schule. Auch ich würde danach wohl in unseren Familienbetrieb einsteigen, wenngleich mein älterer Bruder natürlich als legitimer Nachfolger unseres Vaters galt. Doch die Dinge liefen wieder mal anders als erwartet.
Die Spanische Grippe kam. Erst als Gerücht, dann als Zeitungsnotiz und schließlich mit aller Härte auch zu uns. Mein Bruder und ich waren nicht betroffen, aber wir beide kannten ehemalige Klassen- oder Kriegskameraden, die der Grippe zum Opfer fielen. Als dann 1920 alles wieder abebbte und wir uns alle in Sicherheit wiegten, brach das Schicksal abermals über uns herein und nahm sich ausgerechnet unseren Sonnenschein, die kleine Elisabeth. Kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag holte sie die Lungenpest und mit ihr starb die Freude und die Leichtigkeit in unserem Haus. Vater zerbrach an diesem Verlust. Wochenlang vergrub er sich in seinem Arbeitszimmer und wollte niemanden sehen oder sprechen. Nur Chang ließ er in seine Nähe. Immer wenn dieser dann wieder aus Vaters selbstgewähltem Gefängnis trat, machte er ein kummervolles Gesicht, seufzte und schüttelte den Kopf. Mein Bruder übernahm nun notgedrungen allein die Geschäfte der Firma und vergrub sich seinerseits noch mehr in die Arbeit als zuvor. Ich versuchte es ihm gleichzutun und gab mein Bestes, doch die Trauer über den Verlust der kleinen Elisabeth und die Sorge um die Gesundheit meines Vaters raubten mir den Antrieb.
Fast auf den Tag genau zwei Monate nach der Beisetzung Elisabeths, traf meinen Vater der Schlag. Chang fand ihn spät am Abend regungslos in seinem Arbeitszimmer zwischen Landkarten und zahllosen Büchern, die überall verstreut herumlagen. Es wurde sofort ein Arzt geholt und mein Vater wurde daraufhin in das städtische Krankenhaus gebracht. Die Ärzte sprachen uns Mut zu und meinten, dass Vater überleben würde. Doch seine Genesung zog sich hin. Nach mehreren Wochen Aufenthalt im Sanatorium, kam er endlich nach Hause. Chang schob seinen Rollstuhl. Alleine zu gehen vermochte Vater nur noch für wenige unsichere Schritte. Auch sprach er jetzt langsam und schleppend. Von seiner vitalen Art war nichts mehr geblieben. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Wenige Monate später bestellte mich Vater zu sich in sein Arbeitszimmer. Er hatte seine Arbeit oder seine Studien, von denen er uns nichts erzählte, offenbar wieder aufgenommen, denn wieder lagen viele Landkarten und Bücher herum. Allerdings nicht mehr auf dem Fußboden, sondern auf dem Schreibtisch und weiteren Anrichten und Ablagen, die für ihn, auch als Invaliden erreichbar waren.
„Hans“, sagte er und machte dabei ein betrübtes Gesicht.
„Ich habe mich in der letzten Zeit viel zu wenig um dich und deinen Bruder gekümmert.“
„Wir wissen warum, Vater“, setzte ich an, aber er unterbrach mich.
„Meine Versäumnisse euch Kindern gegenüber reichen weit zurück, im Grunde sogar bis zum Tod eurer lieben Mutter. Dafür möchte ich dich um Verzeihung bitten. Ich bin ein alter Narr. Ein kranker alter Narr!“
„Du musst dich nicht rechtfertigen“, warf ich ein, doch wieder unterbrach er mich.
„Ich bin in vielem recht egoistisch gewesen in der letzten Zeit.“
Der Blick meines Vaters ging in Richtung Decke. So, als suche der dort nach den richtigen Worten. „Nach dem Tod von Elisabeth“, er schluckte kurz, „wurde mir hier alles zu viel und zu eng. Als hätte ich einen Strick um den Hals gelegt bekommen.“
„Vater!“
„Nein, warte! Ich beschloss daraufhin, mein Leben zu ändern und nochmal neu zu beginnen, dort wo ich am glücklichsten war und mich am sorglosesten gefühlt habe.“
Ich blickte meinen Vater fragend an.
„Wie du ja weißt, bin ich als junger Mann sehr viel gereist. Und besonders die Schönheit und die Fremdartigkeit des Fernen Ostens haben mich immer gereizt.“
„Deine Liebe für alles Exotische und insbesondere das Asiatische ist uns bekannt.“
„Und darum“, fuhr mein Vater unbekümmert fort „hatte ich beschlossen, mich auf den Weg zu machen und die Stätten meiner Erinnerung noch einmal zu besichtigen. Die Wunder Indiens, die Schönheiten Chinas und die Inselwelt der Philippinen, Sumatra, Siam“, mein Vater geriet sichtlich ins Träumen.
„Und natürlich hatte ich vor, Chang mitzunehmen!“
„Natürlich!“, ich lächelte. „Das lässt er sich niemals entgehen.“
„- seine alte Heimat wiederzusehen“, ergänzte mein Vater, „und seine Familie!“
„Chang hat Familie?“, fragte ich erstaunt.
„Ja, eine Schwester und einen Schwager samt einer unbestimmten Zahl von Kindern. Vier oder fünf sollen es wohl sein.“
„Davon wusste ich ja gar nichts! – Da ist der gute alte Onkel Chang also auch ein richtiger Onkel. Neffen oder Nichten?“
„So genau weiß ich das gar nicht“, murmelte mein Vater.
„Wie dem auch sei“, fuhr er mit seinem ursprünglichen Vortrag fort. „Wie du sicherlich einsiehst, bin ich nun selbst nicht mehr in der Lage, die Strapazen einer so langen Reise auf mich zu nehmen.“ Er räusperte sich kurz. „Und darum habe ich beschlossen, dass du statt meiner Reisen sollst!“
„Ich? Aberwieso? Wieso nicht Karl?“
„Dein Bruder? Nun, den brauche ich hier in der Firma. Er leitet sie de facto ja schon!“
„Aber ich…“
„Bitte höre mich an! Diese Reise ist keine reine Vergnügungsreise. Auch wenn ich hoffe, dass du deinen Spaß dabei haben wirst. Ich hatte vor, viele Geschäftspartner im Fernen Osten zu treffen und somit unsere Handelsbeziehungen weiter auszubauen und zu festigen. Das ist etwas, was ich keinem außer einem meiner Söhne anvertrauen würde. Du sprächest in meinem Namen, als Repräsentant unserer Firma.“
„Das ist eine zu große Ehre, Vater. Ich bin mit meinen Studien ja noch beschäftigt.“
„Unsinn! Was kannst du auf einer Schule schon lernen, was das Leben dir nicht besser beibringen könnte? – Außerdem möchte ich dir Chang an die Seite stellen.“
„Chang würde dich nie allein lassen“, warf ich ein.
„Doch, das wird er. Ich habe schon alles mit ihm besprochen.
Die Reiseroute steht auch schon fest. Ihr werdet auch bei seiner Schwester haltmachen.“
„Also gut“, langsam freundete ich mich mit dem Gedanken an, für meinen Vater und die Firma durch die Welt zu reisen. „Wenn es dein Wunsch ist, will ich es tun, auch wenn mich die Verantwortung schreckt.“
„Du musst gar nicht viel tun, außer präsent zu sein und ein paar Briefe von mir zu übergeben. Diese Schreiben werden dir viele Türen von alleine öffnen.“
„Also gut“, sagte ich noch einmal. „Auf ins Abenteuer! Wann soll es losgehen?“
„Schon nächsten Monat“, sagte mein Vater, „aber wir haben noch genug Zeit, die Einzelheiten zu besprechen. Ihr nehmt ein Schiff von Hamburg und fahrt von dort über Rotterdam nach Le Havre. Dort werdet ihr in den Zug steigen und nach Griechenland reisen. Da lebt ein alter Freund von mir. Von Griechenland aus geht es mit dem Schiff nach Ägypten und durch den Suezkanal, ein Wunder der menschlichen Baukunst, welches zu meiner Zeit noch nicht zur Verfügung stand. Dann weiter nach Bombay. Mit dem Zug reist ihr schließlich durch Indien nach China. Changs Familie wohnt in der Nähe von Shanghai. Dort könnt ihr eine Zeitlang bleiben. Danach müsst ihr noch einmal in dir Provinz Yunnan. Ein wichtiger Geschäftsfreund lebt und arbeitet da. Weiter geht es nach Hongkong, wo ihr wieder ein Schiff besteigen werdet und nach Java reist.“
„Genug, genug“, rief ich lachend und hielt die Hände wie zur Abwehr nach oben. „Ich denke, fürs Erste reicht´s. Ich habe doch schon ja gesagt!“
Vater und ich lachten herzlich und das erste Mal seit langer Zeit spürte ich wieder dieses behagliche Gefühl von familiärer Wärme und Geborgenheit in unserem Haus.
Unsere Fahrt zu Schiff und mit dem Zug verlief wie erwünscht und Chang und ich sahen und erlebten viele kleine Abenteuer, wie es Reisende auf großer Fahrt gewöhnlich zu tun pflegen. Allerdings spielen diese für die unheimlichen Ereignisse, die sich später im südchinesischen Meer ereigneten, keine größere Rolle und der Leser mag mir verzeihen, wenn ich sie weglasse. Erwähnen möchte ich nur, dass wir nach etwa zwei Monaten bei Changs Familie in der Provinz Jiangsu eintrafen. Seine Schwester und sein Schwager empfingen uns mit aller nur denkbaren Freundlichkeit. Die fünf Kinder hatten noch nie einen Europäer gesehen und meine blonden Haare wurden begutachtet und bewundert. Ich war der Mann mit den goldenen Haaren und zog neben Changs Neffen und Nichten alle Kinder und schließlich auch alle Erwachsenen des kleinen Ortes an. So wurde ich ganz plötzlich wie eine Art Buddha verehrt. Mir war das zunächst peinlich, aber Chang beruhigte mich lächelnd und tatsächlich gewöhnten sich die Bewohner und ich langsam aneinander. Wir blieben vier Wochen bei Changs Familie. Dann rissen mich Pflichten fort. Ich hatte eine Einladung von einem englischen Generalkonsul bekommen, der mit meinem Vater eine enge Freundschaft pflegte. Ich sah, dass Chang mit diesem Umstand haderte und unglücklich war, seine Familie, die er so viele Jahre entbehrt hatte, nun schon wieder verlassen zu müssen.
„Chang“, sagte ich zu ihm. „Ich habe nachgedacht und beschlossen, allein zum Konsul zu reisen. Es ist nur eine kurze Bahnfahrt von einem halben Tag und ein Wagen wird mich am Ziel abholen. Ich könnte dir also freigeben und du hättest Zeit noch bei deiner Schwester zu bleiben.“
„Aber, wenn Herr Jacobsen mich brauchen?“, kam der Einwand.
„Ich komme schon zurecht. Du könntest noch ein paar Tage hierbleiben und wir treffen uns dann in Hongkong wieder. Hauptsache, du bist rechtzeitig da, wenn unser Schiff abfährt. Ich möchte nicht ohne dich nach Java reisen müssen“, sagte ich lachend.
„Chang werden da sein!“, versprach er feierlich und lächelte selig.
Genau so machten wir es, und ich reiste allein zum Konsul, im Gepäck, die besten Wünsche meines Vaters und noch bessere geschäftliche Angebote vonseiten unserer Firma. Nach einer Woche dann fuhr ich dann weiter nach Hongkong. Ich war sehr gespannt und freute mich auf die wimmelnde Metropole im Süden Chinas. Der Empfang hielt allerdings eine unangenehme Überraschung für mich bereit. Mein Gepäck, das ich am Bahnhof aufgegeben hatte, war komplett verschollen! Überall wurde fieberhaft danach gesucht und Schaffner und Gepäckträger schrien sich auf Chinesisch an. Ich verstand nur einzelne Worte. Ein Bahnaufseher kam, dann ein Oberaufseher und immer mehr Menschen standen und liefen aufgeregt herum und riefen und schrien einander an. Mein Gepäck blieb allerdings verschwunden. Frustriert und nur mit meiner kleinen Reisetasche, die ich als Handgepäck dabeihatte, kam ich im „The Hongkong Hotel“ an.
Chang erwartete mich bereits in unserer Suite. Ich erzählte von meiner Misere und Chang war sehr erbost. Es war, als sehe er das Versagen seiner chinesischen Landsleute, mein Gepäck zu beschaffen, als persönlichen Affront. Er ging selbst noch einmal zu Rezeption und führte verschiedene Telefonate. Schließlich kam er mit seinen neuen Erkenntnissen zu mir.
„Gepäck seien in falschen Zug auf Weg nach Peking!“, sagte er bekümmert. „Fehler seien entdeckt, doch Gepäck brauchen viele Tage, um zu kommen, nach Hongkong!“
„Was mache ich denn jetzt?“, fragte ich. „Ich kann doch nicht mit nur einem Anzug weiterreisen und unser Schiff geht in drei Tagen!“
Chang beruhigte mich und das ganz zu Recht, wie sich herausstellte. Sollten Sie einmal in meine unerquickliche Lage geraten, passiert Ihnen das hoffentlich auch in Südostasien. Chang schleppte mich zu mehreren Schneidern, die sofort Maß nahmen und sich gleich an meine neue Garderobe machten. Sie versprachen alle vor Ablegen des Schiffes fertig zu werden. Für mich grenzte die Geschicklichkeit und der Fleiß, mit dem alle zu Werke gingen an ein Wunder. Anzüge wurden geschneidert, Hemden geändert. Wir suchten Krawatten aus und passende Einstecktücher. Auch Leibwäsche, Strümpfe und Taschentücher vergaßen wir nicht. Dann brauchte ich noch neues Waschgeschirr. Ein Rasiermesser, Pinsel, Seife, eine Zahnbürste und Zahnpulver, Kämme und Bürsten, eine Nagelschere und weitere Kleinigkeiten. Größere Schwierigkeiten machte das Schuhwerk. Doch schließlich fanden wir einen englischen Schuhmacher, der Stiefel und Schuhe in meiner Größe führte.