Murgunstrumm - Hugh B. Cave - E-Book

Murgunstrumm E-Book

Hugh B. Cave

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Ohne Zweifel ein Klassiker des Pulp Horror Ein Mann flieht aus einer Irrenanstalt, um zu beweisen, dass er und seine Verlobte nicht verrückt sind. Er behauptet, dass in dem abgelegenen Gasthaus ›Gray Toad Inn‹ Vampire hausen. Und der Wirt dient den Blutsaugern, um mit den Körpern der Opfer perverse Versuche anzustellen … Diese Novelle ist eine der gruseligsten aus den Zeiten der amerikanischen Pulp-Magazine. Knallig, spannend und mit einer düsteren Atmosphäre in einer klaustrophobischen Kulisse. Als hätte Dashiell Hammett eine Vampirgeschichte geschrieben. Mit den makabren Illustrationen des unnachahmlichen Lee Brown Coye, dem wohl besten Horror-Illustrator des 20. Jahrhunderts.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 175

Veröffentlichungsjahr: 2020

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Aus dem Amerikanischen von Susanne Picard

Impressum

Copyright © 1932 by The Clayton Magazines, Incorporated,

for Strange Tales, January 1933.

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Lee Brown Coye

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-903-9

www.Festa-Verlag.de

Kapitel 1

DREI UHR MORGENS

Die Nacht ist schrecklich in den Wäldern, so fern von den belebten Straßen und den Stimmen geistig gesunder Menschen. Man hört, so weit fort von den Städten, das Stöhnen einsamer Winde, das unheimliche Raunen im Laub der Bäume, ab und an gar das jammervolle Heulen eines Sturms. Das alles bringt Menschen, die ohnehin schon am Rand des Wahnsinns stehen, nur noch mehr um den Verstand und macht die Furcht, die haltlosen Selbstgespräche, die Schreie grauenvoller Qual nur noch schlimmer. Noch tausendmal übler wird es, wenn wildes, grausiges Gelächter durch die Stille hallt.

Die Schrecknisse der Dunkelheit ließen die Angst des Mannes, der alledem so dringend entkommen wollte, in dieser Nacht noch schaurigere Höhen erklimmen. Die Schrecken der Vergangenheit, die er ohnehin kaum zu ertragen vermochte, tauchten erneut aus den düsteren Abgründen seiner Erinnerung auf, Visionen der Zukunft türmten sich furchterregend vor ihm auf und wurden groß und bedrohlich. Sicher würde man ihn gleich entdecken.

Die Leuchtziffern auf der Wanduhr am Ende des Korridors, im Verschlag des Wachtpostens, verrieten dem Fliehenden, dass es drei Uhr morgens war. Die Stunde, in der die Nacht noch dunkler wird, bevor der Morgen graut, wenn man der schaurigen Anderswelt so nahe ist, dass ein kurzes Aufflackern des Unterbewusstseins, ein bloßer Lidschlag, den Kontakt mit namenlosen Monstrositäten ohne Gestalt und mit all ihren furchterregenden Auswirkungen wiederherstellen kann. In dieser Stunde würden das Wachpersonal in diesem düsteren, grauen Gebäude und der einsame Posten draußen vor dem Haus am unaufmerksamsten sein. Es war seine Stunde, die, auf die er sieben lange, sieben endlose Monate gewartet hatte!

Seine Augen waren weit aufgerissen. Voller Furcht starrten sie in die Finsternis. Leise wie eine Katze schlich er den Korridor entlang und lauschte auf jedes einzelne Geräusch. Irgendwo in den Zellen über ihm schrie ein Mann aus voller Kehle und hämmerte mit den Fäusten wie wild gegen seine Tür. Wahrscheinlich Kennery, den man erst vor einer Woche gewaltsam hierhergebracht hatte. Man hatte ihn gewarnt, in der Nacht Ruhe zu geben. Armer Teufel. Morgen früh würde er die grauenvolle Einsamkeit und die Stille einer Einzelzelle kennenlernen. Du lieber Gott! Dass solche Menschen auch weiterhin ihr Leben fristen und auf den Tod warten mussten, kam dieser doch viel zu langsam!

Er arbeitete sich behutsam weiter vor. Er zitterte, tastete mit knochigen Fingern immer weiter die Wand entlang. Noch drei Ecken, drei Korridore, dann hätte er den Hof erreicht. Er umklammerte fieberhaft den Schlüssel und warf ein ums andere Mal einen verlangenden Blick darauf. Der Hof. Dahinter kam das letzte Tor zur Freiheit, dann …

Seine tastenden Finger strichen über eine Tür. Verschlossen. Er blieb sofort stehen. Über seinem Kopf verriet ihm das Türschild, dass es sich um Raum Nr. 23 handelte. Die Station für Geschlechtskrankheiten. Ihn schauderte. Jemand darin murmelte, lachte … natürlich Halsey, der arme, kranke Idiot, der schon 18 endlos lange Jahre hier war. Wahrscheinlich krabbelte er auf Händen und Knien über den Boden und suchte nach Ungeziefer. Er suchte immer danach, suchte und suchte, bis er schließlich triumphierend für Stunden auf seiner Pritsche saß, ein panisches Insekt in den hohlen, riesigen Händen, während er selbst schadenfroh und keckernd über die verzweifelten Versuche des Tierchens lachte, sich zu befreien.

Der Flüchtende unterdrückte die Welle der Übelkeit, die ihn zu übermannen drohte, und huschte dann flink weiter den Gang entlang. Du lieber Himmel, wie froh würde er sein, wenn diese verrückte Kakofonie endlich hinter ihm läge, wenn er nur erst dort hinten um die Ecke gebogen war! Der Gedanke blieb in seinem Verstand hängen, während er auf Zehenspitzen das Ende des Korridors erreichte. Fiebrige Freude glomm in seinen Augen auf.

Der Schlüssel in seiner Hand gehörte ihm. Ihm ganz allein! Er hatte ihn ganz allein durch seine eigene Findigkeit erhalten. Den ganzen letzten Monat über hatte er sich jedes einzelne der Schlösser angesehen, die er auf dem Weg in die Freiheit würde überwinden müssen. Verstohlen, unbemerkt hatte er mit Kaugummi Abdrücke von jedem dieser teuflischen Schlösser gemacht. Niemand hatte es bemerkt oder wusste davon. Niemand außer Martin LeGeurn, Ruths Bruder, der jede Woche am Besuchstag kam, um ihn zu sehen; er hatte die Abdrücke mit sich in die Stadt genommen und einen Hauptschlüssel anfertigen lassen. Einen Hauptschlüssel! Zuerst hatte es nicht geklappt. Aber er selbst hatte mit einer Stahlfeile jede Nacht aufs Neue gefeilt und gefeilt, bis er passte. Und jetzt … heute Nacht …

Vorsichtig schlich er die Treppe hinab, tastete sich Stufe um Stufe weiter nach unten. Inzwischen war es schon zehn nach drei.

Die Notaufnahme war immer offen.

Dort stank es nach Äther, dort standen auf Rollen die grausigen weißen Krankenliegen. Dort konnte er sich verstecken, bis die Wache ihre Runde gedreht hatte. Jeder Schritt musste nach einem genauen Plan erfolgen.

Die Tür stand offen. Er schlich darauf zu, erreichte sie und hielt kurz inne, um sich furchtsam umzublicken. Dann huschte er wie der Blitz über die Schwelle, drückte sich an die Wand und lauschte in die Dunkelheit. Dann begann das Warten.

Gefühlt vergingen Stunden. Angstvolle Zeiträume voller Zweifel und Unsicherheit. Seltsame Schatten tauchten aus dem Nichts vor ihm auf, seinem strapazierten Verstand entsprungen, um ihn in die Irre zu führen und ihn zu verraten. Du lieber Gott! Würden diese Erinnerungen denn nie verblassen? Würden die Schrecken dieser Stunden des Wahnsinns, die schon sieben Monate weit hinter ihm lagen, ihn dennoch für immer quälen, Nacht um Nacht, und ihm die Visionen dieser grauenvollen Gestalten lebendigen Todes und der schrecklichen humpelnden Kreatur dieses Rasthauses immer wieder ins Gedächtnis rufen? War es nicht genug, dass sie ihn zu diesem kranken Wrack von einer Seele gemacht und ihn in diese schwarze Anstalt der Furcht gebracht hatten? Würden sie ihn für immer …

Schritte! Er hörte Schritte, sie kamen näher, draußen im Korridor. Näher, immer näher. Dann schlurften sie vorbei, mit einem unheimlichen schlff-schlff-schlff, und wurden leiser. Genau wie das gedämpfte Rasseln des großen Schlüsselbunds am Gürtel des Wachmanns. Schließlich erstarben die Laute.

Der Flüchtende richtete sich auf und huschte mit hastigen Schritten hinaus in den Flur, bis er schließlich den Gang in entgegengesetzter Richtung davonhetzte. Eine massive Tür tauchte schemenhaft aus der Dunkelheit auf. Er rannte darauf zu, stieß den mitgebrachten Schlüssel ins Schloss, die Tür schwang auf … Kalte, frische Luft strömte ihm entgegen und ins Gesicht. Vor ihm lag der Hof. Öde, leer, umgeben von Mauern, die die Welt dahinter ausschlossen.

Doch jetzt hatte er keine Angst mehr. Seine Bewegungen waren jetzt präzise wie die einer Maschine. Lautlos schloss er hinter sich ab und huschte weiter, wobei er sich eng an der Mauer des Gebäudes hielt. Wenn er auch nur das geringste Geräusch von sich gab, auch nur die kleinste falsche Bewegung machte, dann würden die drohenden, anklagenden und durchdringenden Suchscheinwerfer mit lautem Knall aufflammen und auch die kleinste Nische des Innenhofs ausleuchten. Die Sirene würde losheulen, eine klagende Warnung, die meilenweit in der Umgebung zu hören sein und der Welt verkünden würde, dass Paul Hill entkommen war.

Aber wenn er vorsichtig blieb, lautlos, dann bliebe er Teil der Dunkelheit. Kein Mond schien. Es war stockdunkel. Der Wachposten auf der Mauer würde ihn nicht sehen. Einen Schritt nach dem anderen arbeitete er sich an den Steinmauern weiter voran. Er achtete genau auf jede Unregelmäßigkeit. Nun lagen nur noch 30 Meter zwischen ihm und dem Haupttor. Dann nur noch 15 Meter. Noch immer hatte ihn der Wachposten nicht gehört. Dann waren es nur noch fünf Meter …

Ihm stockte der Atem, als er die letzten Meter hinter sich brachte. Eng an dieses letzte Hindernis gedrückt kämpfte er mit dem großen Schloss. Seine Finger drehten den Schlüssel mit einer Langsamkeit, die den Verstand strapazierte, sodass kein verräterisches, fatales Klicken hörbar wurde. Dann schob er mit den Schultern das schwere Gewicht des Tores von sich. Zentimeterweise gab der Türflügel nach.

Ohne einen Laut presste er sich durch den engen Spalt, der entstanden war. Die Zähne hatte er zusammengebissen, die Lippen schmeckten nach Blut. Aber dann war er draußen … draußen! Und niemand hatte ihn gesehen! Fieberhaft schob er den eisernen Riegel wieder an Ort und Stelle. Auf Händen und Knien kroch er am Fuß der Mauer entlang, immer weiter, auf allen vieren, bis der düstere Geschützturm auf der Mauerkrone hinter ihm nur noch eine grimmige Silhouette gegen den ebenso schwarzen Nachthimmel war. Dann sprang er auf die Beine und stolperte in die endlose Dunkelheit, die jenseits der Anstaltsmauern lag.

»Gott sei Dank!«, wisperte er heiser, während er sich gewaltsam einen Weg durch das verworrene, schwarze Unterholz bahnte.

Über ihm schwebten dunkel die dicht belaubten riesigen Baumkronen und dahinter der nur noch schemenhaft zu erahnende tintenschwarze Himmel.

Kapitel 2

ARMAND LEGEURN

Niemand sah die ausgemergelte, grau gekleidete Gestalt, die in dieser Nacht blindlings aus dem Wald wankte und lautlos hinab zur Landstraße taumelte. Niemand sah die unheilige Lust an der Freiheit in den Augen oder auf den dünnen, weißhäutigen Lippen.

Er hatte schreckliche Angst. Immer wieder blickte er hinter sich, aber seine Hände waren entschlossen zu Fäusten geballt. Sollte diese schreckliche Sirene jetzt noch aufheulen, jetzt, wo er der Freiheit so nahe war, dann würden sie ihn nicht lebend wieder dorthin zurückbringen! Niemals! Einmal in den vergangenen sieben höllischen Monaten des Eingesperrtseins war die Sirene kreischend losgegangen. Damals, als Jenson – dieser dumme, idiotische Jenson, der so vollkommen verrückt war wie ein Märzhase! – versucht hatte auszubrechen. Die Bluthunde hatten sein Versteck mitten in den Wäldern aufgespürt und man hatte ihn gebrochen und winselnd zurückgebracht.

Aber das würde diesmal nicht passieren! Und diesmal war der entkommene Flüchtling auch nicht verrückt. Schrecken, nicht Wahnsinn, hatte ihn in diese Hölle von keckernden Idioten und kreischenden Narren gebracht. Schieres Grauen, das aus einer Erfahrung stammte, die der menschliche Verstand kaum zu fassen vermochte. Der Schrecken einer anderen Welt, einer Welt des Todes und der untoten Dämonen. Und heute Nacht, um vier, würde Martin LeGeurn an der Kreuzung auf ihn warten. Mit einem Auto. Martin würde sich nicht verspäten.

Paul Hill begann zu laufen. Weiter und immer weiter. Einmal drehte er sich abrupt um und tauchte hinter dem nahen Waldrand unter, als ein Bus mit dröhnendem Motor hinter ihm heranrauschte. Dann, als der Bus vorbeigedonnert war, huschte er wieder an den Straßenrand und lief wie von Furien gehetzt weiter.

Ein Schluchzen der Erleichterung entrang sich seiner Kehle, als er um eine letzte Kurve lief und in der Ferne einen parkenden Wagen erblickte, dessen abgeblendete Scheinwerfer ihm den Weg wiesen. Er strauchelte, fing sich aber wieder. Seine Beine waren taub und schwer und schmerzten dumpf, aber er taumelte weiter. Dann griff er mit gefühllosen, blutleeren Fingern an die Seitentür des Wagens, dann zerrte Martin LeGeurn ihn ins Wageninnere.

Sie durften jetzt nicht zögern. Alles war arrangiert! Der Motor heulte laut auf. Der Sportwagen fuhr ruckartig an, gewann dann aber rasch an Geschwindigkeit. Die Uhr auf dem Armaturenbrett verriet ihm, dass es fünf Minuten nach vier war. Um fünf wären sie in der Stadt. Der Stadt. Bei Ruth und … dann hätte er die Freiheit. Die Freiheit, all diesen Schrecken auf seine Weise ein Ende zu bereiten. Die Freiheit, zu kämpfen!

Er tastete nach der Ledertasche unter dem Sitz.

»Warum ist Ruth nicht mitgekommen? Wollte sie mich nicht sehen?«

»Hör doch!«, zischte Martin LeGeurn.

Paul wurde starr vor Schreck. Er hörte es jetzt auch. Es war ein stöhnendes Jammern, das die bisher so stille Luft zum Erzittern brachte. Es übertönte das stetige Dröhnen des Motors, wurde schriller, klarer und vibrierte und pulsierte wie eine menschliche Stimme. Pauls Finger gruben sich panisch in den gepolsterten Ledersitz, auf dem er saß. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht.

Er kannte dieses Geräusch. Es war jetzt zu einem durchdringenden Heulen angeschwollen und erfüllte die Nacht mit schrillem Alarm. Die Nachtpatrouille hatte seine Abwesenheit bemerkt. Irgendetwas musste er übersehen haben. Eine offen gelassene Tür, ein Streich, den ihm das Schicksal spielte und den er nicht hatte vorhersehen können … und schon stand dort oben im Wachtturm ein schwarzgesichtiger Dämon, der den Antrieb der Sirene schneller und schneller drehte und die Schadenfreude des höllischen Klangs in immer durchdringendere Höhen trieb. Es war das gleiche, grauenvolle Klagen, das über die Landschaft schallte, als Jenson vor vier Monaten in die Wälder geflohen war.

Ein grausames Schaudern erschütterte Pauls Körper. Er klammerte sich an seinen Gefährten, aller Mut verließ ihn. Er murmelte Zusammenhangloses in sich hinein.

»Sie wissen es«, meinte Martin kurz angebunden. »In zehn Minuten sind die Straßen gesperrt und jedes Auto wird angehalten und kontrolliert. Schnell, zieh dich um!«

Paul erstarrte. Dann setzte er sich auf und ballte die Hände fest zu Fäusten.

»Die werden mich nie erwischen! Ich werde sie töten! Hörst du, ich werde sie alle umbringen!«

Dann riss er die Tasche auf, die er zwischen den Knien hielt.

Schließlich hatte er sie geöffnet und zerrte den leichten, braunen Anzug hervor, das beigefarbene Hemd, die Krawatte und die Schuhe. Fieberhaft, während Martin LeGeurn übers Lenkrad gebeugt den Wagen mit rücksichtsloser Geschwindigkeit dahinjagte, riss er sich die Anstaltskleidung vom Leib und fuhr in den Anzug. Hastig stopfte er die abgelegten grauen Lumpen in die Ledertasche und verschloss sie.

»Du musst von dieser Straße runter. Bieg dahinten gleich rechts ab.«

Martin warf ihm einen zornigen Seitenblick zu. »Das ist doch verrückt. Wenn wir die Geschwindigkeit nur beibehalten, dann kriegen sie uns vielleicht nicht …«

»Das schaffen wir nicht. Die Polizei wird …«

»Aber wenn wir abbiegen …«

»Ich sage dir, ich kenne den Weg! Lass einfach mich ans Steuer.«

Martin trat auf die Bremse. Noch bevor der Wagen endgültig stehen geblieben war, riss Paul die Tür auf seiner Seite auf und sprang heraus. Und als er durch das Licht der Scheinwerfer huschte, war er nicht länger eine furchterregende Gestalt in krankem Grau. Er war ein schlanker, kraftvoller junger Mann, der anständig gekleidet, entschlossen und ehrgeizig war und der seinen Ängsten mutig ins Auge sah. Er schlüpfte auf der Fahrerseite wortlos hinter das Steuer, dann schoss der Wagen wieder vorwärts, diesmal offenbar unter kundigeren Händen. Er knatterte über den Scheitelpunkt des Hügels hinweg, bog scharf nach rechts ab und holperte über eine ungepflasterte Nebenstraße davon.

Die Sirene hinter ihnen kreischte immer noch, immer noch pulsierte ihr infernalisches Jammern und Klagen auf und ab. Den ganzen Rest der Nacht würde sie ihre Botschaft in unglaubliche Fernen tragen und nie, nie damit aufhören!

Aber Paul achtete nicht mehr darauf. »Hol die Tasche unter dem Sitz hervor«, befahl er. »Wirf sie hinaus. Hier wird man sie nie finden.«

Martin gehorchte.

Kaum war die Tasche verschwunden, fragte Paul plötzlich mit finsterer Miene: »Warum ist Ruth nicht mitgekommen?«

»Sie … Sie konnte wirklich nicht, Paul.«

»Warum?«

»Das würdest du nicht verstehen.«

»Sie wartet doch jetzt auf mich, oder?«

»Ich …« Martin starrte geradeaus aus dem Fenster und kaute auf seiner Lippe herum. »Ich weiß es nicht, Paul.«

»Sie hat mich nie unterstützt«, meinte Paul bitter. »Um Himmels willen, sie wusste doch, warum ich dadrin war! Sie hätte doch zu Kermeff und Allenby gehen und es ihnen sagen können.«

»Sie hatten die Stadt verlassen«, murmelte Martin.

»Das ist eine Lüge.«

»Sie …«

»Ich weiß schon«, unterbrach ihn Paul mit schwerer Stimme. »Sie ist zu ihnen gegangen und sie haben ihr nicht zugehört. Das war auch zu erwarten. Doktor Anton Kermeff und Doktor Franklin Allenby …«, diese Namen schmeckten bitter wie Galle auf der Zunge, »… die sind, was sie sind. Sie nehmen sich viel zu wichtig, als dass sie die Wahrheit glauben würden. Es war ihr Job, mich wegzusperren und die Bescheinigung zu unterzeichnen, dass ich verrückt sei. Alles andere interessierte sie nicht.«

»Ich glaube nicht, dass Ruth sich mit ihnen getroffen hat, Paul.«

Pauls Hände umklammerten das Lenkrad noch fester. Er versteifte sich zusehends. Der Wagen scherte zur Seite aus, doch er riss das Steuer wieder herum, sodass er schließlich wieder geradeaus fuhr.

»Du … Du verstehst das nicht, Paul«, fühlte Martin sich gezwungen zu sagen. »Bitte! Warte, bis du mit Vater gesprochen hast.«

»Vater?« In Pauls Stimme schwang plötzliches Misstrauen. »Warum denn nicht Ruth?«

»Du wirst bald alles erfahren, Paul. Bitte.«

Paul schwieg. Er sah seinen Gefährten nicht mehr an. Vage begann nun ein Verdacht, eine Furcht an ihm zu nagen. Da stimmte irgendetwas nicht. Er wusste es, er konnte es fühlen, wie einen lauernden Schatten, der schadenfroh neben ihm vor sich hin grinste. Wie diese anderen lauernden Schatten, damals, vor sieben Monaten. Aber Martin LeGeurn konnte ihm nichts sagen. Martin war sein Freund. Jemand anderes würde mit der Wahrheit herausrücken müssen.

Der große Sportwagen rauschte durch die Nacht.

Der Tag war bereits angebrochen, als sie die Stadt erreichten.

Es war ein düsteres, unheilgeschwängertes Tageslicht, das von Nieselregen beinahe erstickt wurde. Noch glommen die Straßenlaternen über den tropfnassen Bürgersteigen. Der stahlfarbene Himmel spannte sich über ihnen, düster und Feuchtigkeit ausschwitzend und beinahe bedrohlich. Die Stille, die sie in der letzten Stunde auf den finsteren Landstraßen begleitet hatte, wich dem dumpfen Rauschen der Stadt.

»Lass mich jetzt lieber wieder ans Lenkrad«, meinte Martin LeGeurn ausdruckslos. Und als Paul den Wagen an den Straßenrand gesteuert hatte, fügte er hinzu: »Wir sind jetzt in Sicherheit. Hier suchen sie nicht nach dir. Noch nicht.«

Noch nicht! Pauls Lachen war reiner Spott. Bevor der Tag zu Ende gegangen wäre, würde seine Flucht Schlagzeilen gemacht haben, überall hier in der Stadt. Die Zeitungsjungen würden es schrill verkünden, die Radiostationen die Meldung an Millionen Hörer weitergeben. »Sonderausgabe! Sonderausgabe! Heute in aller Frühe konnte Paul Hill, 23 Jahre alter Insasse der Staatlichen Nervenklinik, entkommen!«

Das Auto setzte seinen Weg durch den immer stärker werdenden Regen fort. Der Scheibenwischer klickte und wischte monoton und schien Paul die Worte nur noch stärker ins Hirn zu treiben: »Die Polizei dieses und der Nachbarstaaten sind bereits auf der Suche nach dem entflohenen Geistesgestörten, der der Fahndung bisher entkommen konnte …«

»Willst du direkt zum Haus?«, wollte Martin LeGeurn auf einmal wissen.

»Natürlich. Warum denn nicht?«

»Ich werde nicht mitkommen.«

»Warum?«

»Ich habe noch etwas zu erledigen. Ich muss nach Morrisdale, und zwar noch vor heute Abend. Aber Vater wartet schon auf dich. Mit ihm kannst du reden.«

Martin fuhr weiter. Die Straßen waren hier, in diesem Teil der Innenstadt, noch leer. Der Sportwagen schlängelte sich durch ein Gewirr von Nebenstraßen und Abkürzungen und fuhr schließlich in die South Side, wo er, wie von einem Uhrwerk angetrieben, die Prachtboulevards entlangfuhr.

»Du willst also nach Morrisdale?«, fragte Paul mit gerunzelter Stirn.

»Ja.«

»Aber warum denn?«

»Für … Ruth«, erwiderte Martin grimmig. »Ich habe die Idee von dir, Paul. Dein Plan zu entkommen. Ich selbst wäre nicht darauf gekommen, auch wenn ich Nacht um Nacht dasaß und mich verrückt gemacht habe.«

»Was meinst du?«

»Das sag ich dir, wenn … wenn es vorbei ist«, murmelte Martin. Er starrte durch die geschwungene Windschutzscheibe vor sich. Die Lippen hatte er so fest aufeinandergepresst, dass das Blut aus ihnen gewichen war. »Wir sind gleich da«, wechselte er das Thema.

Sie waren im Villenviertel der South Side angekommen. Der Wagen fuhr jetzt langsamer. Paul sah sich um, erinnerte sich an die Häuser, die große Kirche dort an der Ecke, die Ladenzeilen; Dinge, die er in den letzten Monaten vergessen hatte. Schließlich bog Martin um eine Kurve in eine Allee, rechts und links gesäumt mit adretten Häusern hinter makellos gepflegten Auffahrten und weiten Rasenflächen, die jetzt im Regendunst grau aussahen.

Schließlich wurde der Wagen langsamer und hielt beinahe verlegen an.

Martin wandte sich ihm zu und streckte die Hand aus.

»Leb wohl, Paul. Mach dir keine Sorgen.«

»Aber …«

»Ich muss los. Muss noch heute Abend nach Morrisdale. Sprich mit Vater, Paul. Und vertrau mir.«

Paul ergriff die ausgestreckte Hand. Dann war er schon aus dem Wagen und eilte die Auffahrt hinauf.

Der Motor des Sportwagens röhrte und verschwand die Straße hinab wie ein Windhund im Schleier des Regens.

Pauls Finger drückte die Klingel und wartete ab. Er war nervös. Die Tür öffnete sich. Der alte Armand LeGeurn, Ruths Vater, stand mit ausgebreiteten Armen auf der Schwelle.

Danach wurden die Bilder verschwommen. Die Tür schloss sich hinter ihm und Paul schritt Arm in Arm mit LeGeurn über den dicken Teppich. Dann war er plötzlich in der luxuriös ausgestatteten Bibliothek, sank in einen großen Sessel und verschränkte unablässig die Hände, während der alte LeGeurn sanft und langsam mit ihm sprach.

»Sie konnte dich nicht besuchen, Paul. Man hat sie fortgeschickt. Es waren die beiden Ärzte, Kermeff und Allenby. Kaum eine Woche nachdem man dich weggesperrt hatte. Verrückt, sagten sie. Es sind wichtige Männer, Paul. Zu bedeutend. Sie kam gar nicht mehr nach Hause, nachdem sie das Krankenhaus in Marssen verlassen hatte, man hat sie von dort direkt nach Morrisdale gebracht.«

»Morrisdale«, murmelte Paul fiebrig in sich hinein. Plötzlich war er auf den Beinen, angespannt und mit weit aufgerissenen Augen. »Martin ist dorthin gefahren!«

»Er ist oft dort, Paul. Deshalb hast du die Briefe. Er hat sie von hier aus abgeschickt. Sie wollte nicht, dass du es weißt.«

»Aber es muss doch einen Weg geben, sie dort rauszuholen.«