Mutterliebe - Erin Kelly - E-Book
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Mutterliebe E-Book

Erin Kelly

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Beschreibung

Du bist vor der Wahrheit geflohen. Hast dein Geheimnis bewahrt. Doch jetzt musst du reden, wenn du deine Tochter retten willst. Packende Spannung von Bestsellerautorin Erin Kelly. Sie war siebzehn, als sie in die Großstadt floh, ihre Familie und ihren Freund Jesse zurückließ. Und die Leiche, die sie beide begruben. Jetzt ist Marianne zurück, doch die Bedrohung von damals noch immer spürbar. Jesse hat ihr nie verziehen, dass sie ihn damals verließ, er droht ihr, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das kann sie nicht zulassen, sie muss ihr neues Leben, ihre kleine Familie, ihren Mann und ihre sensible Tochter schützen. Für sie würde sie alles tun. Doch würde sie auch die Wahrheit sagen? Oder muss erst jemand zum Schweigen gebracht werden, damit sie ihr Glück weiterleben kann? Ein packender und eindringlicher psychologischer Spannungsroman von einer meisterlichen Erzählerin in ihrem Genre. Erin Kelly ("Vier.Zwei.Eins", "Broadchurch. Das Buch zum Film") versteht es vorzüglich, einer Geschichte eine völlig neue Wendung zu geben, und den Leser bis zum Schluss in rätselhafter Spannung zu halten. "Ein fantastisches Buch!" Ruth Ware "Eine wunderbare, tragische Geschichte von Menschen, die ihre Vergangenheit einholt…." Nicci French "Das Buch ist großartig!" Marian Keyes "Ein packender, clever aufgebauter Roman." Paula Hawkins

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Seitenzahl: 515

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Erin Kelly

Mutterliebe

Weil du liebst, musst du lügen

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Goga-Klinkenberg

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Jahresbericht]1. Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel2. Teil21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel3. Teil38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel4. Teil62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. KapitelMein Dank giltDie folgenden Bücher haben mir geholfen, das Nazareth-Hospital zu erschaffen:

Für Owen Kelly, dessen Hausfriedensbruch mich zu diesem Buch inspiriert hat

Wir freuen uns, ein Jahr nach Inbetriebnahme berichten zu können, dass diese Anstalt in der Region und darüber hinaus ihresgleichen sucht. Das Gebäude ist für die modernsten Behandlungen ausgestattet, und die erforderliche Ruhe ist gewährleistet durch die gesunde Umgebung, die großzügigen Räume und Galerien. Die Fenster lassen Luft und Sonne herein. Der Neigung des weiblichen Geschlechts zu Geisteskrankheiten wurde Rechnung getragen durch die Aufteilung in achtzehn Frauenstationen und vierzehn Männerstationen. Viele Frauen, die wegen häuslichen Zwists oder eines Übermaßes an Schwangerschaften eingewiesen wurden, bitten sogar darum, bleiben zu dürfen.

 

Sir Warwick Chase, Oberinspektor für Irrenanstalten und Berater der Kommission für Geisteskrankheit, Auszug aus dem ersten Jahresbericht der Irrenanstalt für Bedürftige in East Anglia, 1868

1. Teil

Park Royal Manor

2018

1

Die Augenbinde tut weh. Der Knoten zeugt von mangelnder Erfahrung. Er ist fest, aber ungeschickt gebunden, eine Haarsträhne hat sich darin verfangen. Wann immer wir zu schnell um eine Ecke biegen, kippe ich zur Seite, der Gurt schneidet in meine Schulter, und meine Kopfhaut schmerzt wie von Nadelstichen. Wenn er ohne Vorwarnung bremst, werde ich nach vorn geschleudert. Die violette Seide lockert sich an meiner rechten Schläfe und lässt ein wenig Licht herein, aber keine Informationen.

Er hat sich für einen vollständigen Reizentzug entschieden. Keine Musik, nur der Rhythmus unseres Atems, der Bass des Motors, die Veränderungen, wenn er schaltet. Radio wäre hilfreich. Anhand einer Abfolge dreiminütiger Popsongs könnte ich die Zeit messen. Ich schätze, wir sind seit einer Stunde unterwegs, doch es könnte ebenso gut eine halbe sein oder zwei. Ich weiß, dass wir London hinter uns gelassen haben. Wir müssen jetzt ziemlich weit draußen sein. Auf den ersten Kilometern konnte ich die Strecke an den Ampeln und Temposchwellen mitverfolgen. Man braucht zehn Minuten in jede Richtung, um die Tempo-30-Zone von Islington zu verlassen. Ich bin mir sicher, dass ich das Grillrestaurant in der City Road gerochen habe, aber ich vermute, dass er zweimal durch den Kreisverkehr in der Old Street gefahren ist, um mich zu verwirren. Danach habe ich die Orientierung verloren.

Nachdem wir die Stadt verlassen hatten und schneller vorankamen, war mir mehrfach Brandgeruch in die Nase gestiegen – passend zur Jahreszeit –, aber es roch eher holzig, wie private Lagerfeuer, nicht nach Landwirtschaft oder Industrie. Bisweilen kommt es mir vor, als wären wir mitten im Nirgendwo und wänden uns durch enge Landstraßen, dann wieder rollen wir mühelos dahin, und der vorbeirauschende Verkehr verrät mir, dass wir auf einer Hauptverkehrsstraße sind. Falls wir unterwegs zum Flughafen wären, müsste man den Lärm der Jets über der Autobahn hören. Ich werde nicht ins Flugzeug steigen.

»Scheiße«, murmelt er und bremst wieder. Die letzten Haarsträhnen lösen sich aus dem Knoten. Ich merke, wie er auf seinem Sitz herumrutscht, sein Atem streift meine Wange, als er langsam zurücksetzt. Ich nutze die Gelegenheit, um nach meinem Kopf zu tasten, doch er hat mich ebenso im Blick wie den Verkehr.

»Marianne! Du hast es mir versprochen!«

»Tut mir leid. Aber es geht mir allmählich auf die Nerven. Wenn ich nun die Augen zumache, während ich die Haare neu binde? Du kannst das auch gern übernehmen.«

»Netter Versuch. Es ist nicht mehr weit.«

Wie nah ist nicht weit? Noch eine Minute? Oder dreißig? Wenn ich mit der Wange zucke, kann ich ein bisschen mehr erkennen. Das Licht flackert jetzt heftig vor dem dünnen violetten Stoff. Sonnenlicht, das durch einen Zaun fällt? Das Muster ist kaum wahrnehmbar und zu unregelmäßig. Wir befinden uns in einem Tunnel aus Bäumen, also auf einer Landstraße, also …

»Sam! Hast du etwa ein Spa für uns gebucht?«

Ich höre das Lächeln in seiner Stimme. »Noch besser.«

Meine Schultern entspannen sich, ich spüre die Hände der Masseurin. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen als zwei Tage, in denen mich muskulöse junge Frauen in weißen Kitteln durchkneten. Es ist sicher dieses Bioding an der Küste von Essex, in das ich schon immer wollte. In Essex könnte ich mich entspannen. Ich wäre in einer Stunde bei Mum und in zweien bei Honor. Vielleicht hat Sam auch Honor hierher eingeladen.

Die Straße ist jetzt uneben, Schotter und Schlaglöcher, und ich hebe die Hände, um das Tuch abzunehmen.

»Noch zwei Minuten!« Seine Stimme steigt eine Oktave höher. »Ich kann kaum erwarten, es dir zu zeigen.« Die Reifen knirschen. Ich warte geduldig, die Hände im Schoß, während die Einparkhilfe zu piepsen beginnt. »Na schön«, sagt er und löst theatralisch den Knoten. »Willkommen in Park Royal Manor.«

Ich kenne den Namen aus den Broschüren und auch das Bild, bin aber so geschockt, dass ich den Anblick nur nach und nach in mich aufnehme.

Ich sehe lauter Architekturmerkmale – Zinnenmauern und Giebel, penibel restauriertes graues Mauerwerk, abweisend hohe Fenster –, kann die ganze Dimension des Gebäudes aber nicht erfassen.

»Ich bin zu nah dran«, sage ich flüsternd.

Das Nazareth-Hospital, die ehemalige Irrenanstalt für Bedürftige in East Anglia, war dazu gedacht, von weitem betrachtet zu werden – bei der Einweisung, bei der Entlassung oder Flucht, mit einem letzten gequälten Blick über die Schulter. So hatte ich den Ort zum letzten Mal gesehen und sehe ihn noch immer so in meinen Träumen. Das Gebäude scheint den ganzen Horizont zu füllen. Es kauert breit auf einer Erhebung, die man hier Hügel nennt, eine Warnung an das flache Umland. Die Anstalt wurde erbaut, um drei Grafschaften zu versorgen, und ihre schwindelerregenden viktorianischen Dimensionen passen so gar nicht ins bescheidene Suffolk.

Ich kann beinahe auf Autopilot von London nach Nusstead fahren. Warum also habe ich die Strecke nicht erkannt?

Sam reibt sich freudig die Hände. »Wie sehr liebst du mich jetzt? Na los, schauen wir es uns genauer an.« Er greift an mir vorbei und löst meinen Sicherheitsgurt. Ich fühle mich wie gelähmt. Ein Schrei krallt sich in meine Kehle.

Die Bilder in der Broschüre spiegeln die Veränderungen völlig unzureichend wider. Man hat die Gitter von den deckenhohen Fenstern entfernt, Hunderte intakter Scheiben in neue Rahmen gesetzt. Efeu und Sommerflieder, die aus schiefen Schornsteinen und verrotteten Fensterstürzen sprossen, sind wildem Wein gewichen, dessen restliche tiefrote Blätter nun die silbrigen Ziegel enthüllen. Die gewaltige Doppeltür wurde durch gläserne Automatiktüren ersetzt, auf denen in dunklen Schnörkeln »Park Royal Manor« eingeätzt ist. Meine Augen weigern sich, höher hinaufzuschauen.

»Was …?«, setze ich an. »Was tun wir hier, Sam? Was bitte tun wir hier?«

Er hält meine Panik für Überraschung. »Ich habe dir eine kleine Zweitwohnung besorgt. Dann brauchst du nicht mehr auf Colettes Sofa zu schlafen oder dir ein Hotel zu suchen.«

Ich schaue nach unten, aber das macht es nur schlimmer. Zwar sehe ich nun nicht mehr den restaurierten Uhrturm, wohl aber seinen Schatten, der an eine gigantische Sonnenuhr erinnert, die mit ihrem dunkelgrauen Finger auf mich zeigt. Dieser Uhrturm war immer nur ein mit viel Schmiedeeisen getarnter Wachturm, denn im Nazareth-Hospital herrschte eine eigene Zeitrechnung. Ich fühle mich beobachtet und ziehe mir die Binde wieder über die Augen, wobei sich der Saum des Tuches in meinem Mund verfängt.

»Marianne?« Sam starrt mich an. »Was ist denn los mit dir?«

Ich schreie nicht, eher im Gegenteil, ich sauge, trocken und verzweifelt, Luft ein, die mehr Staub als Sauerstoff enthält. »Ich kann da nicht reingehen«, stoße ich hervor. »Bitte, Sam, schick mich nicht hierher zurück.«

2

»Was zum Teufel ist mit dir?« Wir parken an der kurvigen Auffahrt unter einer gewaltigen Zeder, weit genug entfernt, so dass ich das Gebäude nicht mehr sehen muss. Über uns spannt sich ein schwarzer Baldachin aus Nadeln. Ich schäme mich für meine heftige Reaktion und versuche verzweifelt, sie herunterzuspielen, doch dafür ist es zu spät. Sams Gesicht hat sich verändert. Die Begeisterung, die ich vor zwei Minuten noch darin gelesen habe, ist jenem Ausdruck gewichen, mit dem er den ersten Anruf wegen meiner Mutter entgegengenommen hat oder mit dem er in der Rezeption auf mich wartet, wenn Honor wieder in The Larches eingeliefert worden ist. Er reicht mir eine Wasserflasche. Die Zedern wispern leise.

Jesse hat unsere Initialen in einen dieser Bäume geschnitzt, JJB & MS, umrahmt von einem Herzen. Manche dieser Schnitzereien treten im Laufe der Jahre deutlicher hervor, wenn der Baumstamm wächst und die Narben sich ausdehnen.

»Es tut mir so leid.« Mehr bringe ich nicht heraus, weil ich wieder siebzehn bin und durch die hallenden Krankenstationen laufe. Worte gehen in Flammen auf, das Leben reduziert sich auf alte Matratzen und düstere Gänge. Schlüssel, die sich in Schlössern drehen. Zerschmettertes Glas, rennende Füße. Alles, was mich ausmacht – Mutter, Ehefrau, Arbeit –, löst sich auf. Der Titel vor meinem Namen schwindet, ich bestehe nur noch aus Vergangenheit. Der Gedanke, dorthin zurückzukehren, fühlt sich – überaus passend – wie ein elektrischer Schlag an.

»Ich dachte, du würdest begeistert sein«, sagt Sam. »Ich dachte, ich würde dich über die Schwelle tragen – im Kühlschrank steht Champagner. Wenn dir das Haus nicht gefällt, warum hattest du dann die Maklerbroschüren unter dem Bett? Ich habe nicht geschnüffelt; du hast sie nicht versteckt.«

Eine verdammt gute Frage und eine, deren Antwort er nie erfahren darf. Ich verspüre den Drang, den Ort im Auge zu behalten, genau wie Jesse. Beziehungen zu Menschen und Orten können intensiv und zögerlich zugleich sein. Ich habe die Broschüren gelesen, wenn ich allein war, meine geheime Gutenachtgeschichte, habe langsam umgeblättert, als könnte ich die Lüge fassen und die dunkle Wahrheit daran hindern, aus den glanzvollen Seiten aufzusteigen. Wenn der masochistische Zwang, die Bilder anzusehen, zu stark wurde, musste ich mich mit etwas so Starkem ausknocken, dass ich nur noch das Heft zu Boden fallen ließ und das Bewusstsein verlor. »Ich dachte, es sei dein Traumhaus, dass du sie darum gehortet hast. Ich habe mir ein Bein ausgerissen, um ohne dein Wissen eine Hypothek aufzunehmen. Na schön, vielleicht hätte ich dich nicht damit überraschen sollen, aber du tust, als hätte ich etwas Schlimmes getan.«

Eine wilde Sekunde lang spiele ich mit dem Gedanken, ihm die Wahrheit zu sagen, aber: »Es ist eine Phobie«, sage ich zu meinem Schoß. Meine Scham ist nicht gespielt: Ich belüge jemanden, der es nicht verdient hat. »Eine Phobie aus der Kindheit. Ich … es ist einfach dieser Ort. Ich hatte nicht damit gerechnet.«

»Aber du kannst von Colettes Haus aus hierhersehen. Und es hat dich nie gestört.«

»Es sind fünf Kilometer bis zu Colette«, sage ich ausweichend, habe aber Herz und Kopf wieder unter Kontrolle. »Als wir Kinder waren, war das Nazareth-Hospital unser Spukhaus. Wir haben uns beim Zelten Geschichten darüber erzählt. Von entflohenen Geisteskranken, die mit Fußfesseln durchs Moor liefen, um einen aus dem Bett zu stehlen. Ich hatte Albträume deswegen.« Das ist richtig, nur das Tempus nicht.

»O Liebling.« Er klingt belustigt. »Tut mir leid. Aber ironisch ist es schon, das musst du zugeben. Eine Dozentin für Architekturgeschichte, die sich vor einem alten Gebäude fürchtet.«

»Ich weiß.« Ich lächle schwach. Natürlich ist es weder Ironie noch Zufall. Meine ganze Karriere ist darauf ausgerichtet, diesen Ort zu verstehen und zu beherrschen.

»Und dann kommst du zum ersten Mal tatsächlich hierher, und ich überfalle ich dich damit wie in einem blöden Horrorfilm. Ich mache einfach alles falsch.«

Plötzlich wird mir klar, was Sam alles für mich getan hat: Er hat Zeit, Mühe und Geld investiert, um eine Wohnung zu kaufen, ganz allein, ohne meine Hilfe, während er mitten in einem Riesenprojekt steckt. Und all das nur, um der Frau, die er zu kennen glaubt, und der Familie, in die er eingeheiratet hat, das Leben zu erleichtern.

»Mein Gott, du musst mich wirklich für eine undankbare Kuh halten. Danke, Sam. So etwas Nettes hat noch nie jemand für mich getan.« Ich zwinge mich zu lächeln. Es fühlt sich an, als würden meine Lippen aufplatzen, doch es funktioniert: Sam scheint wieder mit sich zufrieden.

»Gut. Ich weiß, wie viel es deiner Mum bedeutet.«

Mein Kopf schießt hoch. »Du hast meiner Mum davon erzählt? Hat sie es überhaupt verstanden?«

»Colette kann sie ja daran erinnern.«

»Colette weiß es auch? Ich frage mich gerade, was erstaunlicher ist: dass du mir hinter meinem Rücken eine Wohnung gekauft hast oder dass sie ein Geheimnis für sich behalten hat.« Meine Schwester ist die größte Klatschtante in Nusstead, ein Titel, den sie von meiner Mutter übernommen hat.

»Ich bin eben ein stilles Wasser.« Es soll ein Witz sein, aber er gefällt mir nicht. Auf stille Wasser bin ich nicht scharf. Amanda, die Leiterin meines Instituts, hatte einmal Lobeshymnen über ihren komplexen, rätselhaften Ehemann gesungen und behauptet, sie habe ihn geheiratet, weil sie ihn niemals ganz durchschauen werde. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Sam ist nicht oberflächlich, aber ganz klar. Seine Unternehmungslust gilt dem Zeichenbrett, nicht seiner Ehe. Er ist solide, vom Wesen wie auch vom Körperbau. Wir sind in allem einer Meinung, außer – gelegentlich – wenn es um unsere Tochter geht. Ich vertraue ihm. Natürlich nicht genug, um es ihm zu erzählen, aber ich weiß, dass er mir nicht weh tun wird. Wer glaubt, Vorhersagbarkeit sei nichts wert, hat sich nie wirklich gefürchtet.

Die Sonne taucht hinter das Gebäude des ehemaligen Hospitals, und die Temperatur fällt abrupt. So war es schon immer, daran erinnere ich mich: Auf dem Vorplatz brach der Abend schon Stunden vor dem echten Sonnenuntergang herein.

»Es wird kalt«, sagt Sam und reibt über meine Arme. »Lass uns auspacken. Ich meine – es war doch nur der Schock, oder? Nun, da du weißt, was dich erwartet, können wir doch reingehen. Du fühlst dich sicher besser, wenn wir erst ausgepackt und es uns gemütlich gemacht haben. Du weißt ja aus den Broschüren, wie es drinnen aussieht. Es ist überhaupt nicht unheimlich.« Sein Magen knurrt laut. »Wir können was zu essen bestellen.«

»Sam, du bist in Suffolk auf dem Land. Hier gibt es einen einzigen Imbiss, und der liefert nicht. Gehen wir essen.«

Hauptsache, ich kann diesen Ort hinter mir lassen. Hauptsache, ich gewinne Zeit.

3

Sam hat einen Finger am Schalter, mit dem man die Scheinwerfer heben und senken kann. Früher konnte man hier fünf Minuten entlangfahren, ohne einem anderen Auto zu begegnen, und auch jetzt ist die Straße ziemlich verlassen. Die Asylum Road – oder Regal Drive, wie sie jetzt heißt – ist eine Sackgasse. Vom Nazareth nach Nusstead sind es nur etwa fünf Kilometer, doch die Asphaltstraße macht einen Bogen um das unpassierbare Nusstead-Moor. Bilder zucken durchs Scheinwerferlicht: Äste, Bankette, Hecken und gelegentlich winzige Augen auf Stoßstangenhöhe. Ein rosafarbenes Bauernhaus taucht auf und verschwindet sofort wieder. Eine kleine Kirche an der Ecke und dahinter, in der flachen Dunkelheit, das glitzernde Moor, auf dem Michelles Asche verstreut wurde. Suffolk ist dünn besiedelt und nirgendwo einsamer als in diesem flachen Tal, nur wenige Meter südlich des River Waveney, der die natürliche Grenze zu Norfolk bildet.

»Es gibt nichts Gruseligeres als eine Landstraße bei Nacht«, sagt Sam. »Ich rechne ständig damit, dass ein junges Mädchen im blutverschmierten Nachthemd mit ausgestreckten Armen vor mir auf die Straße taumelt.«

»Die übliche Samstagabendunterhaltung in Nusstead.« Wiedergefunden: mein Sinn für Humor. Vielleicht schaffe ich es doch.

Sam deutet nach rechts, als wir das Crown erreichen. »Hier nicht«, sage ich. »Da läuft Sky Sports, da kann man sich nicht unterhalten. Fahr bis nach Eye hinein. Wir essen im Hotel.« Sam bremst, wendet aber nicht. »Ich habe wirklich keinen Bock, die ganze Strecke bis nach Eye zu fahren. Der Zweck der Wohnung besteht darin, dass wir nicht kilometerweit entfernt wohnen.«

Eigentlich hätten wir nie ins Hotel gemusst. Bevor Colette Mum in ihrem Wohnzimmer aufnahm, bot sie uns stets ihr Schlafsofa an. Es ist nicht so, dass ich meine Familie von Sam fernhalten will. Sie leben in unterschiedlichen Welten, aber sie kommen gut miteinander aus – mein Ehemann, der Akademiker, und meine Schwester, die mit sechzehn die Schule verlassen hat. Sie haben den gleichen Instinkt für Familie und sind beide sehr direkt. Falls eine Kluft besteht, habe ich sie erschaffen. Ich habe stets darauf bestanden, nicht bei Colette zu schlafen, und damit angedeutet, Sam sei ihr Haus nicht gut genug und sie wiederum wolle ihn nicht bei sich zu Hause haben. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Der Fallout meiner Vergangenheit legt sich wie Staub über alles.

Nein, ich verstecke Sam im Eye Hotel, als wäre er mein heimlicher Liebhaber und nicht der Mann, mit dem ich seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet bin, weil ich fürchte, Sam könne sich auf die Suche nach echtem Ale machen und im Crown auf Jesse treffen. Jesse könnte sich nicht beherrschen, würde bestenfalls eine hinterhältige Andeutung fallenlassen und schlimmstenfalls ein volles Geständnis ablegen. Und Sam würde Jesse über den Weg laufen. Sobald ich herkomme, ist er überall. Die Brames gehörten noch nie zu denen, die gern zu Hause zu bleiben, und das hat sich auf die jüngere Generation übertragen. Ich kann mich an keinen Besuch in Nusstead erinnern, bei dem ich nicht Mark mit Trish im Rollstuhl oder Madison mit Kinderwagen gesehen hätte. Clays neuestes Motorrad parkt immer vor dem Crown. Von Jesses jüngeren Kindern leben drei in Suffolk, wurden mir aber nie offiziell vorgestellt, und ich würde sie auch nicht erkennen. In meinen paranoideren Momenten frage ich mich, ob Jesse seine Familie zu einer Art Patrouille eingeteilt hat, damit ich nie durch meine Heimatstadt gehen kann, ohne Menschen zu begegnen, die mich an meine Schuld erinnern und an das, was aus mir hätte werden können. Weil ich das aber nicht erklären kann, sage ich einfach nur: »Jesse trinkt im Crown.«

»Ah.« Sam lässt die Bremse los. Ich habe ihn Jesse vorgestellt, weil ich dachte, Angriff sei die beste Verteidigung. Es lief nicht gut. Der eine verfügt jeweils über jene Eigenschaften, die dem anderen fehlen, und darum fühlen sich beide unterlegen. Selbst wenn Jesse reich wäre, würde er nie Sams ungezwungenes soziales Selbstvertrauen haben, und keine Frau schaut bei Sam genauer hin.

Wir kommen an der Main Street vorbei und an dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Zwei Zimmer oben, zwei Zimmer unten, Haustür zur Straße. Rechts von uns das Kriegerdenkmal, dessen Größe und Namensliste überhaupt nicht zu dem winzigen Ort passen, davor verfrühte Mohnblumen. Der Co-op-Supermarkt ist halb mit Brettern zugenagelt, die Bibliothek dunkel. Eine Minute später hält Sam vor Colettes roter Doppelhaushälfte. Bryans Wagen parkt auf der Straße, er hat eine Ruhepause zwischen den langen Fahrten zum Kraftwerk an der Küste. Im Wohnzimmer brennt kein Licht, was bedeutet, dass Mum schläft. Wenn Colette und ihre Familie mal einen Abend für sich haben, darf ich sie keinesfalls stören. Ich schüttele den Kopf. »Nicht auf leeren Magen.«

»Ich hatte überlegt, eins von denen hier zu kaufen, aber sie hatten nur absolute Ruinen im Angebot. Auf ein Bauprojekt kann ich gut verzichten«, sagt Sam und deutet auf die Reihe kleiner Cottages. »Allerdings sind sie recht hübsch.«

»Das mag wohl sein.« In unserer Ecke von Islington, wo Cottages und umgebaute Stallungen Höchstpreise erzielen, würden sie für eine Million verkauft. Hier bringen sie vielleicht ein Achtel. Sie wurden in den 1870ern für die Anstaltsmitarbeiter erbaut. Ganze Generationen von Familien arbeiteten dort. Die Anstalt war groß, bediente die ganze Region. Als Nazareth geschlossen wurde, gab es keinen Ersatz für diese Jobs. Aus dem erhofften Tourismus wurde nichts nach dem Cunniffe-Skandal. Der Ferienhausboom gelangte nie nach Nusstead. Bei uns gab es keine Gentrifizierung, weil die viktorianischen Cottages auf drei Seiten von einer Sozialsiedlung umrahmt wurden. Kastenförmige Häuser mit Kieselrauputz, die in den 1950ern auf die Schnelle hochgezogen wurden, um das Personal der Anstalt unterzubringen. Das Nazareth-Hospital war damals überfüllt, so dass das Schwesternwohnheim als zusätzliche Station herhalten musste. Die Häuser wurden im Hinblick auf eine künftige Erweiterung gebaut, die niemals kam. Die Bewohner von Nusstead nennen sie auch sechzig Jahre später noch »die neuen Häuser«. Sie haben niedrige Decken und kleine Zimmer, sind gut geheizt und verderben kaum die Aussicht, sind aber nicht gerade malerisch und werden nie Leute von außerhalb anlocken.

»Wie wäre es damit?«, fragt Sam und deutet auf den Social mit den erleuchteten Fenstern. »Wir könnten Sushi essen. Oder Tapas.«

Der Witz soll mich beruhigen, gefällt mir aber nicht. Der Social serviert paniertes Hähnchen und Pommes mit allem, das weiß er ganz genau. Es ist ein einstöckiges Fertighaus, das zusammen mit der Siedlung errichtet wurde, eine Art Arbeiterclub für die Krankenschwestern und Pfleger. Als es irgendwann mehr Arbeitslose als Arbeitende gab, übernahm die Gemeinde die Einrichtung. Damals gehörte Mum zur Putztruppe; heute hilft Colette dort aus. Der Social ist mir noch immer so vertraut wie mein eigenes Schlafzimmer: der grün-orangefarbene Teppich, so abgenutzt, dass er glänzt, während die hölzerne Tanzfläche nur glänzt, wenn sie nass ist. Der Social ist ein wichtiger Teil meiner Vergangenheit. Wer ihn beleidigt, beleidigt meine Heimatstadt, meine Familie, mich.

»Sei kein Snob.« Ich scherze nicht, aber Sam lacht dennoch. Es ist dumm, ihn Snob zu nennen. Wäre er ein Snob, hätte er mich nicht geheiratet.

4

Das Eye Hotel punktet mit georgianischen Sprossenfenstern, geschmackvoll angeordneten Pflanzen und glänzend polierten AA-Sternen. Man kennt uns dort gut und gerät in Panik, weil sie befürchten, sie hätten unsere Reservierung verschlampt.

»Marianne!«, sagt Nancy am Empfang. »Habt ihr gebucht? Ich habe kein Zimmer frei …«

»Wir sind nur zum Essen hier. Habt ihr einen Tisch für uns?«

Auf ihrem Gesicht macht sich Erleichterung breit. »Für euch doch immer. Wie geht’s deiner Mum?«

»Eigentlich unverändert. Danke, dass du fragst.«

Das Restaurant ist mit alten Gemälden geschmückt, und es gibt Vorspeisen für zehn Pfund, um Touristen und die Londoner Schickeria glücklich zu machen; Ralph-Lauren-Hemden und rote Chinos, so weit das Auge reicht. Sam und ich fügen uns nahtlos ein. Jesse würde niemals hierherkommen. Wenn ich Sam von Jesse fernhalte, schütze ich Jesse auch vor meinem jetzigen Leben. Er weiß natürlich, was ich mache, soll aber nicht das ganze Ausmaß der sozialen Unterschiede sehen: dass ich nach den Maßstäben unserer Kindheit reich bin. Du schuldest mir was, hatte er vor Jahren gesagt. Das war, bevor ich zu Geld kam, aber die Überzeugung gilt noch immer, genau wie meine angebliche Schuld. Heutzutage schütze ich Jesses Stolz, indem ich meine eigenen Annehmlichkeiten herunterspiele und mitfühlend nicke, weil er es so schwer hat und vom Gehalt eines Sanitäters Alimente für die Kinder so vieler verschiedener Frauen zahlen muss. Jesse wird schnell obsessiv und geht in die Defensive, brütet ewig über dahingeworfene Bemerkungen und eingebildete Kränkungen. Damit unser spinnwebdünnes Vertrauen überlebt, muss er mir auf Augenhöhe begegnen. Unsere Beziehung ist durchzogen von Bruchlinien aus Geld und Sex, Täterschaft und Schuld. Letztlich läuft es nur auf eins hinaus: Das Leben, das ich jetzt führe und von dem Jesse ein gewaltiger und zugleich winziger Teil ist, wurzelt in der Tatsache, dass ich das Geld benutzt habe, um ihn zu verlassen.

Natürlich könnte jeder, der ein bisschen Ahnung hat, den Umsatz von Thackeray & Khan recherchieren, aber dafür fehlte es Jesse immer an Energie; das gehörte auch zu den Dingen, die mich irgendwann frustriert hatten. Ein Blick auf unser Haus in der Noel Road, und er hätte sofort gewusst, wie weit wir uns voneinander entfernt hatten, aber er hasst London zu sehr, um mich zu besuchen.

»Ich nehme den farcierten Krebs«, sagt Sam und legt entschlossen die Speisekarte weg. Ich bestelle den Salat aus Roter Bete und Feta und ein großes Glas Cabernet Sauvignon. Als Sam auf die Toilette verschwindet, bedeute ich Nancy, es nachzufüllen. Sam überprüft im Restaurant nie die Rechnung, während ich sie beim Hinausgehen unwillkürlich überschlage, ein Überbleibsel meiner Kindheit, in der meine Mutter die Preise lautlos mitsprach, bevor sie irgendetwas in den Einkaufswagen legte. Ich klappe die maßgeschneiderte Handyhülle auf, die Honor mir geschenkt hat, das Wort »Vaterkomplex« in gestochener Schrift auf himmelblauem Kalbsleder. Aus Gewohnheit schaue ich auf ihr Instagram, bevor ich meine Mails abrufe. Sie hat mit ihren fünftausend Followern zwei neue Bilder geteilt: eine Karte der Strecke, die sie heute Morgen gelaufen ist, sechs Kilometer über den Thames Path. Eine anständige Strecke, weder zu lang noch zu kurz, obwohl mir die Route nicht gefällt, da sie durch die Sozialsiedlungen und Hinterhöfe von Kennington führt. Dazu ein stark bearbeitetes Foto von Avocadopüree auf Sauerteigbrot, in dem jemand eine Zigarette ausgedrückt hat. Sie hat es mit ihrem Namen getaggt, also ist es eines ihrer Werke, und ich verdrehe die Augen, obwohl mich niemand sieht. Wer glaubt, ich könnte unserer Tochter nicht objektiv begegnen, muss mich nur nach meiner Meinung über ihre Kunst fragen. Trotzdem. Nichts Besorgniserregendes. Sie ist »gefestigt«, wie es ihre Psychiaterin ausdrücken würde.

Abgesehen von einigen Memos ist mein beruflicher E-Mail-Account leer. Ich habe ihn ohnehin nie für persönliche Zwecke verwendet, und die Mails meiner Studierenden werden umgehend an Amanda weitergeleitet. Es ist seltsam, mitten im Semester nicht zu wissen, wie viele Studienanfänger es gibt, und nicht an die Doktorandinnen zu denken, die ohne meine Aufsicht still vor sich hin arbeiten.

Ich lege das Handy mit dem Display nach unten und atme tief durch. Ich kann das. Ich kann nach Nazareth zurückkehren. Warum auch nicht? Das Gebäude dürfte komplett entkernt sein. Sein besonderer Charakter liegt in der Außenansicht, und die verbliebenen Beweise dürften allesamt verschwunden sein. Der Uhrturm könnte schwierig werden, je nachdem, wo sich die Wohnung befindet, aber ich muss ihn ja nur zweimal täglich sehen. Wenn Sam fährt, mache ich die Augen zu, und wenn ich selbst am Steuer sitze, konzentriere ich mich auf die Einfahrt und schaue nicht nach oben.

Sam setzt sich und trinkt von seinem Bitter, als wäre es ein guter Wein. »Du siehst jetzt viel besser aus.« Ich verschlucke ein saures Aufstoßen, und er bemerkt mein Glas, das nachgefüllt und schon wieder halb leer ist. »Sieht aus, als müsste ich fahren.«

»Danke. Ich komme mir ein bisschen albern vor.« Er streckt mir die Hand entgegen. Nur wenige Männer haben schöne Hände, Sam gehört dazu. Seine Nägel sind einer der Gründe, weshalb ich mich in ihn verliebt habe; er lässt sie einmal wöchentlich maniküren und polieren. Seine Hände waren das Erste, was mir an ihm aufgefallen ist, als ich ihn unter der hohen Decke der Bibliothek des Royal Institute of British Architects am Portland Place zum ersten Mal gesehen habe. Seine Finger strichen über meine, als wir nach demselben Buch griffen, einem trockenen, leinengebundenen Ziegelstein über den europäischen Rationalismus in der Architektur. Ich schrieb seit einigen Monaten an meiner Doktorarbeit und war wie berauscht von Jugendstil und der Pariser Metro; Sam arbeitete an den ersten Phasen einer neuen Kirche und ließ sich von den geschwungenen Linien in Gaudís Barcelona inspirieren. »Ladys first«, er reichte mir das Buch und blieb auch höflich, als ich die zwei Kilo Sekunden später auf seinen Fuß fallen ließ. »Es ist nicht nötig, die Konkurrenz gleich zum Krüppel zu machen«, sagte er. Als er es mir zurückgab, bemerkte ich seine glänzenden eckigen Nägel, und im weiteren Verlauf des Tages sah ich, wie sich seine Hände behutsam um einen Kaffeebecher schlossen, den Stiel eines Weinglases stützten, einen Kognakschwenker umfassten. Wochen später legten sich die Finger um die Klinke meiner Schlafzimmertür. Sams gepflegte Hände und wohlüberlegte Berührungen eröffneten mir ein Leben voller Ordnung und Fürsorge, und ich brauchte nur zuzugreifen. Es war, als könnte ich mich endlich setzen, nachdem ich zeitlebens auf den Füßen gewesen war.

In einem seltenen Augenblick betrunkener Klarheit erzählte mir Mum, sie habe sich in meinen Vater auch wegen seiner schönen Hände verliebt. Ich muss mich auf ihr Wort verlassen.

»So«, sage ich und ziehe meine Hand weg. »Das passt nicht zu dir.«

»Farcierten Krebs zu bestellen?«

»Zugegeben, das ist gewagt, aber … du weißt, was ich meine. Spontan sein.« Ich verstecke meinen Ärger hinter finanziellen Argumenten. »Können wir uns das leisten?« Ich habe mich mit meinem Glück abgefunden, ihm aber nie so ganz vertraut.

»Wenn wir aufpassen, schon. Es ist nicht so viel teurer als dieses Hotel.« Er deutet nach oben zu den Zimmern. »Gut, in diesem Jahr ist kein Urlaub drin, aber wenn du wieder arbeitest, trägt sich die Wohnung selbst. Dein Sabbatical wird ja nicht ewig dauern.« Dann wird ihm klar, was er gesagt hat. Meine Karrierepause wird so lange dauern, wie meine Mutter am Leben ist. »O Gott, Marianne, das tut mir leid. Das war ungeschickt von mir.« Ich tue es mit einer Handbewegung ab. Er weiß, dass ich weiß, wie es gemeint war.

»Vielleicht war das Sabbatical ohnehin eine schlechte Idee.« Das war es nicht, sondern nur ein offizieller Name für das, was ihm vorausgegangen war: der viele Sonderurlaub, die Studierenden, die vor meinem Büro warteten, wenn ich unterwegs nach Nusstead oder zu Honor war, wo immer sie gerade sein mochte. »Ich kann morgen anrufen und fragen, ob Amanda mich für zwei Tage in der Woche zurücknimmt.«

»Marianne. Die Arbeit läuft dir nicht weg. Aber du hast nur eine Mutter. Bleib bei Debbie. Schenk ihr diese Monate.« Der Drang zu weinen, ist stark, aber auch mein Gegenreflex. Die Tränen bleiben, wo sie sind.

Man serviert unser Essen. Sam knackt die Schere seines Krebses, und sie riecht nach Meer, nach seltenen Kindheitsausflügen an die Küste. Mein Salat wirkt dagegen dünn und wenig verlockend.

»Wenn du jetzt sagst, dass du das Falsche bestellt hast und mit mir tauschen willst, verlasse ich dich«, sagt er, ohne aufzublicken.

»Könnten wir halbe-halbe machen?« Ebenso resigniert wie geübt schaufelt er sein halbes Essen auf meinen Teller, und ich kippe eine Masse aus Karminrot, Weiß und Grün auf seinen.

»Oh, Moment mal.« Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. »Die Familientherapie.«

»Ich hab mich drum gekümmert«, sagt er. »Dr. Adil meint, sechs Wochen würden uns nicht schaden. So hätten wir vielleicht auch Zeit, um das, was wir bisher besprochen haben, zu verarbeiten. Sie wird natürlich die Einzelsitzungen mit Honor weiterführen. Ich dachte, du wärst erleichtert.«

Erleichterung ist gar kein Ausdruck. In den vergangenen Monaten haben wir zu dritt in einem Behandlungszimmer gesessen und über Konzepte wie Co-Abhängigkeit, Vermaschung und weitere Euphemismen für meine angebliche Unfähigkeit, die Kontrolle abzugeben, diskutiert.

»Na schön. Aber keine unilateralen Entscheidungen mehr, einverstanden?«

Bei meiner ironischen Bemerkung zieht er die Augenbrauen zusammen; ein häufiges Thema in der Familientherapie ist, dass ich in Honors früher Kindheit, als Sam himmelhohe Gebäude errichtete und ich auf dem Boden blieb, große Entscheidungen vorangetrieben hatte, ohne sie mit ihm abzusprechen. Er zahlt es mir mit gleicher Münze heim. Honor ist unser gemeinsamer Nenner, aber auch unser Schlachtfeld. Wenn ich etwas Falsches sage, drehen wir uns wieder nur im Kreis.

»Wie laufen die Bauarbeiten?« Was ich eigentlich meine: Können wir bitte das Thema wechseln? Er schluckt trocken, und ich erkenne, dass er ebenso erleichtert ist wie ich, über die Arbeit zu reden. Da ich zurzeit keine habe, redet Sam, und ich höre zu. In seinen Augen ist er eher Ingenieur als Architekt. Er kümmert sich um die Funktion und sein Partner Imran um die Form. Sie entwerfen Gebäude, die selbst Damian Greenlaw gefallen würden. Zurzeit arbeiten sie an einer »bedarfsgerechten« Sonderschule in Finnland und befinden sich, wie Sam mir ausführlich darlegt, in einer verfahrenen Situation, was den genauen Winkel eines Oberlichts angeht.

Dann kommen die Hauptgerichte: Steak für Sam, gebratener Lachs mit Zucchini-Pommes für mich. »Ich war schon mal da«, platze ich plötzlich heraus. Es ist die Untertreibung des Jahres, aber die Wahrheit verpackt die Lüge. »In der Klinik. Mum hat vor Ipswich dort gearbeitet. Und davor meine Oma.«

»Marian mit einem N«, nickt Sam. Sie ist meine Namensvetterin, und ihr Arbeiterklassename wurde eigens für mich mit einer längeren Änderung verschnörkelt. Mum verschnörkelt alles: Dosen für Kosmetiktücher, Tagesdecken, Namen.

»Das stimmt. Es gab eine Gartenparty, irgendein Jubiläum oder so.« Wie alt war ich damals? Colette war noch nicht geboren, aber Jesse war mit seinen drei Brüdern da, also lebte Butch noch … »Ich muss etwa sechs gewesen sein.«

»Also hattest du nicht immer diese Phobie?«

Er bekundet Interesse an meiner Kindheit, und doch kommt es mir wie ein Verhör vor.

»Das Fest fand im Garten statt. Wir sind nicht reingegangen.«

»Du bist nie wirklich drin gewesen.«

»Nein.« Ich zerknülle meine Serviette auf dem Schoß.

»Ich verstehe nicht, weshalb du die Broschüren gesammelt hast, wenn du dich vor dem Gebäude fürchtest.«

»Morbide Neugier, berufliches Interesse. Ich komme schon klar. Es war vorhin nur der Schock, sonst nichts.« Ich lege Messer und Gabel weg. »Ich habe dich noch gar nicht gefragt, ob es eine Wohnung oder ein Haus ist.« Man hat einige der Villen zu Cottages umgebaut. Welche Geister dort auch lauern mögen, es sind nicht meine, selbst wenn ich vom Fenster aus den Uhrturm sehen kann.

»Für ein Cottage hat es leider nicht gereicht. Aber die Wohnung ist richtig schön, versprochen. Zwei Schlafzimmer, also kann Honor uns besuchen, wann immer sie möchte.«

Die Wohnungen. Also auf den alten Stationen. Wo die Patienten schliefen, wo sich die Maschinen befanden. »Wie schön!«, stoße ich gezwungen hervor. »Und wo ist unsere Wohnung? Ich meine, weißt du, was sie früher mal war?« Die alten Schilder blitzen in meinem Kopf auf. Beschäftigungstherapie. Sporthalle. Laden. Physikalische Rehabilitation. Elektrotherapie.

»In der Tat. Die Immobilienfirma wirbt nicht gerade mit den düsteren Aspekten der Geschichte, aber ich habe die Pläne online recherchiert. Ich habe mich sogar bis zu den ursprünglichen Grundrissen durchgeklickt. Ein paarmal habe ich versehentlich das iPad benutzt und bin in Panik geraten, weil ich fürchtete, du würdest etwas merken. Andere Männer löschen wegen Pornos den Verlauf und ich wegen der Blaupausen einer viktorianischen Irrenanstalt.«

»Sam.«

»Sorry. Unsere kleine Wohnung befindet sich im ehemaligen Frauenflügel. Eine normale Station mit Einzelräumen.«

Die Kellnerin kommt vorbei, und ich halte ihr zitternd mein leeres Glas hin. »Die Viktorianer bezeichneten ihre Irrenanstalten als steinerne Mütter«, sage ich, um Sam, der sich neben seiner Familie nur für Architektur interessiert, von meiner Nervosität abzulenken. »Damals glaubte man tatsächlich, die Gestaltung des Gebäudes könnte die Kranken heilen. Ich meine, im Grunde glaubst du das auch, aber das psychologische Wissen damals war äußerst rudimentär. Die meisten großen viktorianischen Irrenanstalten wurden Ende des 19. Jahrhunderts errichtet, und dann kam natürlich der Erste Weltkrieg mit seinen Kriegstraumata, die alles veränderten, was man über Psychiatrie zu wissen glaubte. Diese Einrichtungen waren für die Soldaten völlig ungeeignet. Es war eine in sich abgeschlossene Philosophie; nichts an der Bauweise ist zufällig – die Absonderung und all die Bäder, in denen der Wahnsinn im wahrsten Sinne des Wortes weggewaschen werden sollte. Sie waren wie Arbeitshäuser gebaut, nicht wie Krankenhäuser. Und schon wenige Jahre nach der Eröffnung völlig überholt.«

»Und doch dauerte es noch einmal an die neunzig Jahre, bis sie tatsächlich geschlossen wurden«, sagt Sam leichthin. Für ihn ist die Schließung der Anstalten eine historische Fußnote, kein Dreh- und Angelpunkt. »Mir war gar nicht bewusst, dass Dingsbums dahinterstand. Du weißt schon, diese einschüchternde Abgeordnete mit der spacigen Frisur, die ständig alte Leute auffordert, einen Marathon zu laufen.« Er schaut mich erwartungsvoll an und scheint nicht zu bemerken, wie das Blut in meinen Wangen pocht. »Die aussieht wie ein Hai mit Lippenstift. Wie heißt sie doch gleich?«

»Helen Greenlaw.« Der Name geht mir glatt über die Lippen, und ich spreche mit einer kühlen Selbstbeherrschung, auf die selbst Helen Greenlaw stolz wäre. Sams Beschreibung trifft ins Schwarze, obwohl ich mich nicht an ihren Mund erinnere, sondern an ihre Augen, ein leuchtendes Tory-Blau mit einer Verfärbung in der rechten Iris, einem dunkelblauen Spritzer, als hätte man einen Haken in den Rand der Pupille geschlagen und die dunkle Farbe herausgezogen.

»Genau die meine ich. Hab sie nie leiden können«, sagt er zerstreut und sägt an seinem Steak herum. Mein Gesicht brennt. Falls er es bemerkt hat, führt er es wohl auf eine Hitzewallung zurück, die er taktvoll ignoriert. »Gott weiß, wie sie den Pool in der alten Kapelle an den Denkmalschützern vorbeigeschmuggelt haben – Hut ab vor den Planern. Die haben sogar die ehemalige Kanzel in einen Whirlpool umgewandelt. Geradezu ein Sakrileg, aber es wäre auch schade drum gewesen, nicht wahr? Die Bewohner haben freien Zutritt, du kannst also jeden Tag schwimmen gehen. Falls Colette ein bisschen Erholung braucht, darf sie die Einrichtung sicher auch benutzen.«

»Das klingt gut.« Ich drücke die Hand flach auf die baumwollene Tischdecke und versuche, ihre Kühle in mich aufzunehmen. In Sams Augen ist nichts Besonderes passiert. Helen Greenlaw wurde erwähnt, ohne dass der Himmel eingestürzt ist, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Meine Wangen kühlen ab, meine Gedanken ordnen sich und kehren heim. Wenn ich hier eine Zweitwohnung habe, kann Colette schwimmen gehen, sich in einem Spa entspannen, im Liegestuhl ein Buch lesen. Sie hat ihre berufliche Laufbahn als Krankenschwester so lange auf Eis gelegt, wie Mum sie braucht. Sieben Tage die Woche, rund um die Uhr, ohne Pause. Plötzlich wird mir klar, dass Sam es ebenso sehr für sie wie für mich getan hat.

Ich esse langsam, um die Rückkehr aufzuschieben. Nancy faltet diskret die Servietten fürs Frühstück, als ich noch einen Kaffee für unterwegs bestelle, doch irgendwann müssen wir zurückfahren oder im Auto übernachten. Auf der Rückfahrt plappere ich nervös über das, was ich von nun an Park Royal Manor nennen muss.

»Was soll das überhaupt heißen, Park Royal Manor?«, frage ich, als wir an dem Leuchtschild rechts abbiegen, das Ihr luxuriöses Domizil im Herzen von Suffolk ankündigt. »Meines Wissens gibt es hier keinerlei königliche Verbindung.«

»Sie konnten es wohl kaum Irrenanstalt Nazareth nennen, oder?«

»Das Wort ›Irrenanstalt‹ hatten sie schon gestrichen, als ich ein Kind war. Es hieß einfach nur Nazareth-Hospital. Wohl, um das Stigma loszuwerden.«

Die schwarzen Zedern über unseren Köpfen berühren einander, bilden einen zweiten, sternlosen Himmel. Ich schwatze weiter, während der Wagen auf das Haus zurollt. »Wusstest du, dass sich der Begriff go round the bend für ›verrückt werden‹ auf die Anstalten bezog? Man legte die Zufahrten in einer Kurve statt in einer geraden Linie an, damit sich die Insassen von der Außenwelt abgeschirmt fühlten. Um die Kurve gefahren zu werden, hieß, dass sie einen in die Anstalt brachten.«

Mir kommt ein anderer Gedanke. Zu meiner Schulzeit sagten wir, jemand »nimmt die Nummer sechs«. Nach der Stilllegung der Bahnlinie verkehrte die Buslinie 6 nämlich zwischen Nusstead und Nazareth. Ich hielt es damals für eine allgemeine Redewendung. Als ich nach Cromer Hall wechselte, war mir klar, dass ich den Ausdruck, zusammen mit meiner Geschichte und meiner Schuld, zensieren und meinen Akzent wie eine alte Haut abstreifen musste.

5

Abends wird die Fassade von Flutlicht erhellt, und ein einzelner Strahl aus blassgoldenem Licht ist auf den Uhrturm gerichtet. Vor dem Einsturz war der Turm innen von eisernen Streben durchzogen, die Selbstmörder abhalten sollten. Ich frage mich, wie er jetzt aussehen mag, ob er noch immer Sicherheitszwecken dient oder rein dekorativ ist. Der rankende Wein erglüht scharlachrot. Er wird sicher regelmäßig beschnitten, damit er die Fenster einrahmt, ohne in die alten Ziegel einzudringen.

»Alles gut?«, fragt Sam und ergreift meine Hand. Seine ist warm und trocken, meine ist klamm. »Mein Gott, das ist wirklich eine große Sache für dich, was? Das menschliche Gehirn und seine irrationalen Ängste. Das habe ich wirklich nicht geahnt.«

Die gewaltigen Glastüren öffnen sich automatisch, dahinter liegt die Eingangshalle. Man könnte das Haus glatt für ein Luxushotel halten, das der ländlichen Armut eine lange Nase dreht. Die ehemalige Patientenaufnahme ist jetzt die Rezeption, auf der Theke stehen Lilien und Oleander in einer eleganten Glasschale. Über den beiden Türen rechts und links sind noch die in Stein gemeißelten Worte FRAUEN und MÄNNER zu lesen.

Die prächtige geschwungene Treppenanlage wurde restauriert, breite Holzstufen, die zur Galerie führen, wo sich früher die Verwaltung befand. Das Holz ist zu schimmernder Vollkommenheit poliert. Ich kann mir auf der Treppe eher eine Braut oder Debütantin vorstellen als eine Patientin, die zu einem Gespräch mit ihrem Arzt geführt wird. Die Schuld und Grausamkeit meiner Tat – unserer Tat – stürmt durch die Jahrzehnte heran und überrollt mich.

»Alles gut?«, wiederholt Sam. Ich kann nur nicken.

Oskar, der uniformierte Jüngling an der Rezeption, verbeugt sich beinahe vor uns.

»Guten Abend, Mr. Thackeray«, sagt er mit starkem polnischem Akzent.

»Nenn mich einfach Sam. Das ist meine Frau Marianne.«

»Guten Abend, Marianne«, sagt Oskar, dem diese Vertraulichkeit offensichtlich nicht behagt.

»Hi«, knurre ich.

Der Aufzug ist mit weicher Glasfolie verspiegelt, die uns aus der Zeit schleudert. Mein jüngeres Ich ist so gegenwärtig, dass ich beinahe damit rechne, es in diesem Spiegel zu erblicken. Aber nein, da bin ich mit meinen ganzen siebenundvierzig Jahren. Verdächtig glatte Stirn, die Augen gesenkt, bierbraunes Haar, das ich laut Modepresse einige Zentimeter zu lang für mein Alter trage. Wer mich nicht kennt, könnte staunen, dass ich eine erwachsene Tochter habe. Ich war schon siebenundzwanzig, als Honor geboren wurde, ungewöhnlich für Nusstead, eine Londonerin eben. Aber ein Mädchen aus Nusstead bleibt ein Mädchen aus Nusstead … In dieser Gegend sind die Generationen enger beieinander. Als Colette mit zweiundzwanzig Jack bekam, arbeitete sie seit fünf Jahren und hatte seit zwei Jahren Ehemann und Hypothek. In Islington ziehen Nachbarinnen in meinem Alter Sechsjährige auf. Ich hatte angenommen, dass ich später mehr Freiheit hätte, wenn ich früher Mutter würde. Allerdings hatte ich nicht mit dem zweiten inoffiziellen Mutterschaftsurlaub gerechnet, den ich nehmen musste, als Honor in der Pubertät war. Sam – Typ Teddybär, ergrauende Locken, die geschnitten werden müssen – überprüft seine perfekten Zähne auf Spinatreste. »Wie viel Hausgeld nehmen die hier?«, frage ich.

»Marianne. Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das schon hin.« Bin ich paranoid, oder ist das ein Rückschritt nach dem Wir-können-es-uns-leisten von vorhin? »So, es ist ein Stück zu laufen. Hast du wirklich keine Angst?«

Ich zwinge mich hinzusehen. Brandschutztüren unterteilen den Flur. Mit achthundert Metern war der Personalflur im Geschoss darunter einst der längste in Europa. Die Einheimischen waren auf bizarre Weise stolz, weil Nazareth weitläufiger war als der Buckingham Palace.

Man hat sich für Rekonstruktion statt Restauration entschieden. Statt der alten Heizungen mit den dicken Farbschichten stehen hier glatte pulverbeschichtete Nachbildungen. Selbst das glänzende Parkett ist neu. Rothko-Drucke ersetzen die primitiven Patientengemälde aus der Beschäftigungstherapie und die Fotos, auf denen sie Körbe flechten oder Schuhleisten drechseln. Hier und da hängen gerahmte Originalpläne und Luftaufnahmen vom alten Nazareth-Hospital. Von oben betrachtet, sieht das Hauptgebäude wie der Bart eines altmodischen Schlüssels aus, der mit langen eckigen Zähnen besetzt ist.

Mir fällt auf, dass sie die gerundeten Wände und geschwungenen Sockelleisten beibehalten haben, wohldurchdachte Details, die verhindern sollten, dass die Patienten sich verletzen. Aber die Decke mit dem Wabenmuster haben sie verputzt und in den Bogen Punktstrahler eingesetzt. Wo früher der Putz von den Wänden blätterte, prangen heute Metrofliesen, glänzend weiße Rechtecke, die man jetzt überall sieht – man kann nirgendwo Kaffee bestellen, ohne sich wie in einem altmodischen städtischen Schwimmbad zu fühlen. Sie sollen dem Ganzen Authentizität verleihen, aber ich finde sie grotesk. Ursprünglich befanden sich diese Fliesen an schrecklichen Orten: heruntergekommenen öffentlichen Toiletten, gruseligen Vorortbahnhöfen, vernachlässigten Krankenhäusern. Solche Fliesen ummauerten die Armen und Verzweifelten. Solche Fliesen haben mich in meinen schlimmsten Augenblicken gesehen.

»Unsere Wohnung war die Musterwohnung, daher ist sie noch nicht nach unserem Geschmack eingerichtet«, sagt Sam und stößt die nächste Brandschutztür auf. Als gäbe es so etwas wie unseren Geschmack. Ich könnte keinen einzigen Gegenstand in unserem Haus benennen, den Sam ausgewählt hätte.

»Na schön, da wären wir. Willkommen in unserem bescheidenen Heim.«

Das Schloss öffnet sich lautlos, und ich bin froh darüber. Ich kann mich nur zu gut an das Knirschen der alten Schlüssel erinnern. Die Wohnung sieht neutral und gefällig aus, wie Musterwohnungen eben sind, in dunklem Beige und Taupe, Hellbeige und Champignon-Braun, doch die Fadheit an sich wirkt schon beleidigend. Ich muss auf meinen roten Mantel sehen, um mich zu vergewissern, dass hier drinnen überhaupt Farbe existieren kann. Das Wohnzimmer ist doppelt so groß wie die Schlafzimmer, die Decke dort doppelt so hoch. Eine Wendeltreppe krümmt sich um eine der Eisenstreben, die früher mitten auf den Stationen standen. Nur sie und die Fenster, zweiunddreißig verbundene Scheiben, die auf die alten Freilufthöfe hinunterblicken, zeugen von der Geschichte des Gebäudes. In der Küche gibt es natürlich wieder Metrofliesen. Ich verwette unsere zweite Hypothek darauf, dass man sie auch oben findet. Der beliebte Einrichtungstrend von heute ist das avocadogrüne Badezimmer von morgen.

»Was sagst du?« Sams Augen flehen um Zustimmung. »Ich weiß, es ist ein bisschen schlicht, aber …«

»Man erahnt jedenfalls nicht mehr, was es einmal war.« Ich trete ans Fenster und schaue aufs Moor hinaus. Nusstead gleicht einer Ansammlung von Pailletten am Horizont. Einer dieser winzigen Lichtpunkte ist mein altes Schlafzimmerfenster. Hinter mir bewegt sich etwas, und ich sehe Sam im Fenster, der in jeder Hand ein Champagnerglas hält.

»Ich hoffe, es ist nicht unfein, auf die neue Wohnung anzustoßen«, sagt er. »Ich wünschte, du müsstest nicht mehr herkommen. Aber ich hoffe, wenn du hier ein Heim hast – ich hoffe, es macht das Bevorstehende irgendwie leichter.«

Ich drehe mich um und küsse ihn. »Dafür liebe ich dich.«

Sam trinkt seinen Champagner zu schnell und verzieht das Gesicht, als ihm die Kohlensäure in die Nase steigt.

»Ich weiß nicht, ob ich das sagen soll. Ich wollte es schon im Pub sagen und habe es dann doch gelassen, aber es ist besser, offen darüber zu reden. Ich habe ein bisschen geschnüffelt und – ich weiß Bescheid über den Mord.«

Im Laufe der Jahre habe ich gelernt, dass mein Körper auf schlechte Nachrichten sehr spezifisch reagiert – er drängt weg von der Quelle. Der unwillkürliche Schritt, mit dem ich von Sam zurückweiche, wird zu einem heftigen Satz, der mich durchs halbe Zimmer befördert und mein Glas überschwappen lässt. Sam ist tief beschämt, schon zum zweiten Mal an diesem Abend. »Es tut mir leid, Liebling. Ich wusste nicht, dass es dich so treffen würde. Du warst so jung. Darum habe ich gedacht, dass es dir nichts mehr ausmacht. Hör zu, alles ist gut. Es ist Vergangenheit.« Er kommt näher, zieht ein Taschentuch hervor, um mein Kleid abzuwischen. »Du weißt, dass Darius Cunniffe tot ist, oder? Er starb 2013 in Broadmoor. Ich hatte in den Nachrichten von dem Fall gehört, wusste aber nicht, dass es hier geschehen ist, bis ich mich mit dem Ort beschäftigt habe.«

Erleichterung ist eine bessere Droge als Alkohol: Sie durchflutet meine Adern, sprudelt förmlich in mir hoch. Sam spricht von dem berüchtigten Mord, dem Mord an Julia Solomon, von dem alle wissen. Von dem anderen weiß er nichts. Er ist das letzte Geheimnis, das Nazareth je hüten musste.

6

Colette schlürft einen Latte aus der Maschine, die zur Wohnungsausstattung gehört. Meine Mutter trinkt Ribena-Saft durch einen Strohhalm. Sie sind einander so ähnlich, kleine vogelähnliche Frauen in Leggings und mit Haargummis, die in dem überhohen Zimmer geradezu schrumpfen. Neben ihnen komme ich mir doppelt so groß vor, kerngesund und hochgewachsen dank der Wikingergene, die sich durch meine DNA schlängeln.

»Wir könnten uns daran gewöhnen«, sagt Colette und hebt ihren Kaffeebecher. »Stimmt’s, Mum?« Colette spricht jetzt für beide. Debbie Smy, ehemals Stationsschwester und Klatschtante olympischen Ausmaßes, sagt kaum noch etwas. Seit dem ersten Schlaganfall habe ich mich nicht mehr richtig mit ihr unterhalten. Es war nicht wirklich der erste Schlaganfall, nur der erste, der diagnostiziert wurde. Die vaskuläre Demenz arbeitet schleichend, eine Reihe winziger Schlaganfälle, die einem zunehmend Würde und Gedächtnis rauben.

»Bleibt Sam nicht hier?« Ich zucke zusammen. Meine Schuld.

»Er musste arbeiten. Ich habe ihn heute Morgen zum Bahnhof gebracht.«

Ich verschweige, dass wir seinen Zug um drei Minuten verpasst haben, weil in Stradbroke die Straße gesperrt war und die Lichter am Bahnübergang in Hoxne geschlagene zehn Minuten blinkten, bevor tatsächlich ein Zug vorbeifuhr. Nusstead befindet sich in einer Art Bermudadreieck des öffentlichen Nahverkehrs. Jeder Bahnhof ist angeblich vierzig Autominuten entfernt, aber heute Morgen haben wir eine Stunde bis Diss gebraucht, das gleich hinter der Grenze in Norfolk liegt. Das Nazareth-Hospital hatte früher eine eigene Bahnstrecke, mit der die Patienten direkt aus Ipswich herkamen, doch die Schienen wurden schon vor hundert Jahren entfernt und die Haltestelle in den fünfziger Jahren überbaut. Vielleicht hätte ich Richtung Süden nach Darshamim oder gleich nach Ipswich fahren sollen. Ich muss eine Art internen Algorithmus entwickeln, um die Länge der Zugfahrt auf die Straßenverhältnisse abzustimmen. Dabei fällt mir etwas ein.

»Wann wurde die Asylum Road eigentlich umbenannt?«

»Als sie mit den Bauarbeiten angefangen haben. Keine Ahnung, warum sie sich die Mühe gemacht haben. Alle, die ich kenne, sagen immer noch Asylum Road.« Colette pustet auf ihren Kaffee. »Ich weiß nicht, wie du hier allein schlafen kannst. Erinnerst du dich an Kim Wittle aus meiner Schulklasse?« Ich erinnere mich nicht, nicke aber trotzdem. »Sie ist zu einer Konferenz nach London gefahren, und das Airbnb, in dem sie übernachtet hat, war früher eine alte Kirche, die in Wohnungen umgewandelt wurde. Mit Blick auf einen Friedhof. Über dem Bett war ein altes Buntglasfenster mit einem blonden Jesus am Kreuz, sein Blick folgte ihr durchs ganze Zimmer. Sie hat kein Auge zugetan. Am Ende ist sie ins Premier Inn gezogen. Was ich ihr nicht verdenken kann. Hier drinnen ist es genauso. Ich könnte nicht schlafen, all die Leute, die im Lauf der Jahre verrückt geworden sind.« Dann wird ihr klar, was sie gesagt hat. »War nicht so gemeint.«

»Ich weiß.«

Sie dreht sich zum Fenster. »Ich meine, schau dir die Leute da draußen an, die tun, als wäre es das Normalste auf der Welt, Tennis zu spielen, wo die arme Frau gestorben ist.«

Ich blicke über ihre Schulter. Sie liegt völlig falsch. »Das war der sogenannte Freilufthof, wo sich die Patienten die Beine vertreten konnten. Es ist vermutlich einer der wenigen Orte, die noch für den ursprünglichen Zweck genutzt werden. Auf dem Gelände gibt es auch ein richtiges Denkmal für Julia Solomon. Einen Rosengarten.«

»Ihr Sohn dürfte jetzt auch schon über dreißig sein, oder? Armer Kerl. Man darf gar nicht dran denken.« Colette denkt nicht gerne über unangenehme Dinge nach. Sie streicht über die Küchenrückwand. »Du hast diese hübschen Fliesen. Die hätte ich auch gern, falls ich zu Geld komme. Dieses Wochenende gibt es einen Jackpot.«

»Wenn du in der Lotterie gewinnst, kannst du dir hier eine Immobilie kaufen«, schlage ich vor. »Vielleicht eine der Villen.« Laut Oskar wurden nur wenige Objekte an Leute aus Nusstead verkauft. Für die Einheimischen sind sie zu teuer. Meist wohnen hier Zugezogene, Pendler, dazu gibt es eine Handvoll Zweitwohnsitze wie unseren.

»Nein danke«, sagt Colette und erschauert. »Alles gut mit dir, Mum?«

Unsere Mutter starrt aus dem Fenster, die trüben braunen Augen auf den Horizont gerichtet. »Eins davon ist dein altes Haus«, sage ich. »Nächstes Mal bringe ich mein Fernglas mit, dadurch müsste man das Dorf ganz gut erkennen können. Wenn du genau hinschaust, siehst du auch das Kriegerdenkmal.«

»Habe ich euch mal erzählt, wie ich ein Kind war und der Alarm losging?« Es ist der längste Satz, den meine Mutter seit Monaten gesprochen hat. Colette und ich sind sofort still. Als wir klein waren, hat sie uns die Geschichte unzählige Male erzählt; wie alle guten Märchen ist es eine in eine Erzählung gekleidete Warnung.

»Nein! Lass hören.«

Ich drücke die Aufnahmetaste auf meinem Handy, damit ich die Geschichte für immer bewahren kann. Colette versteht es. Ihr Gesicht zittert, so sehr bemüht sie sich, nicht zu weinen.

»Ich muss etwa vier gewesen sein«, sagt Mum und drückt die Luft aus ihrem Getränkekarton, wobei sie fasziniert zuschaut, wie sich eine Blase am Ende des Strohhalms bildet und zerplatzt. »Ein Pädo oder Kinderschänder, wie wir sie damals nannten, ist über die Mauer geklettert. Er trug noch, was wir Kraftkleidung nannten, diese schrecklichen Hosen aus Sackleinen, die die schlimmsten von ihnen anziehen mussten. Mein Gott, das Geräusch dieser Sirene. Wir alle hatten Anweisung von unserer Mum, sofort nach Hause zu rennen, wenn man das Geräusch hörte. Es ging so: Awuuuuu …« Sie ahmt die Sirene nach, hebt und senkt langsam die Stimme, ein vertrautes Geräusch aus Schwarz-Weiß-Filmen über den Luftkrieg. Sie scheint gar nicht mehr aufzuhören, aber wir bringen es nicht übers Herz, sie zu unterbrechen. »Ihr Mädchen habt Glück, ihr seid ohne dieses Sirenengeheul aufgewachsen. Da gefriert einem das Blut in den Adern. Sie hatten sogar einen richtigen Hubschrauber, es war das erste Mal, dass die Kinder im Dorf einen gesehen haben, und wir blieben stehen und winkten ihm zu. Wir waren so aufgeregt, dass wir gar keine richtige Angst vor dem Verrückten hatten. Wenn damals was passierte, hatte es immer mit der Klinik zu tun.«

Der Strohhalm fällt aus dem Getränkekarton, sie versucht vergeblich, ihn wieder durch das kleine Loch zu stecken, und verzieht frustriert das Gesicht. »Haben sie den Mann erwischt?«, fragt Colette, obwohl wir wissen, dass sie ihn binnen einer Stunde in der Pfadfinderhütte entdeckt hatten.

»Welchen Mann?«, fragt Mum. Es ist, als hätten die vergangenen Minuten nicht stattgefunden. »Welcher Mann?« Wieder versucht sie, den Strohhalm hineinzustecken, und funkelt Colette an wie ein aufgebrachtes Kind. Ich beende die Aufnahme. Ich werde sie wenige Sekunden vor dem Ende ausschalten, falls ich es jemals übers Herz bringe, sie anzuhören.

»Nichts«, sagt Colette, steckt den Strohhalm wieder ins Loch und drückt Mums Schulter. Während ich über das Queen-Anne-Revival oder die Gartenstadtbewegung unterrichtet habe, hat Colette geputzt und gewischt und getröstet. Sam hat recht. Ich muss hier sein. Ich hätte schon vor Monaten herkommen sollen. Nicht nur meine Mutter braucht jemanden, der sich um sie kümmert.

»Hey, Marianne, da wir gerade vom Töchter-Einschließen reden«, sagt Colette. »Jesse hat gestern Abend im Pub nach dir gefragt. Er ist seit letztem Monat wieder solo.«

Mein Herz hämmert. »O Gott, wirklich?« Wenn Jesse keine Freundin hat, ist er immer besonders gefährlich.

»Soweit ich weiß, hat er es diesmal geschafft, Schluss zu machen, ohne sie vorher zu schwängern, das ist also ein Fortschritt.«

»Ha.« Dann fällt es mir schlagartig ein. »Bitte sag, dass du ihm nicht von dieser Wohnung erzählt hast.«

Ihr Gesicht verrät mir, dass sie genau das getan hat. Na super. Das ist schlimmer, als nur ein Urlaubsziel zu verraten. Einen Zweitwohnsitz kann man kaum verstecken. Ich trinke Kaffee und wünsche mir, es wäre Wein.

»Jesse wusste also noch vor mir, dass ich jetzt hier eine Wohnung habe?«, frage ich stöhnend. »Ich dachte, du hättest Sam geschworen, nichts zu sagen.«

»Klar, dir nicht. Was ist denn schon dabei? Er war froh, dass du es so gut getroffen hast. Tut mir leid.« Eine Sekunde lang ist sie nicht die kompetente Krankenschwester, Ehefrau und Mutter, sondern meine kleine Schwester, die schmollt, um ihre Kränkung zu verbergen. Sie hat mir nicht übelgenommen, dass ich weggegangen bin – auf dem Land war die Jugendarbeitslosigkeit damals schon schlimm, und noch immer verlassen viele Leute Nusstead, um woanders Arbeit zu suchen, so dass die Grundschule ständig vor der Schließung steht –, sondern, wie ich es gemacht habe.

Dann gibt sie nach und kichert sogar, in ihr blitzt wieder das Mädchen auf, das für Jesse geschwärmt hat. »Er hat mich betrunken gemacht. Muss gut bei Kasse sein, hat ausnahmsweise mal eine Runde geschmissen, der Geizkragen.« Ich sollte erleichtert sein, aber das Geld wird nicht lange reichen. Hätte er im Lotto gewonnen, würde er mit einem gigantischen siebenstelligen Scheck in allen Zeitungen protzen und ein Jahr später, wenn er alles verloren hätte, seine tragische Geschichte für fünfhundert Pfund an dieselben Zeitungen verkaufen. »Was hast du denn erwartet? Dass du um die Ecke wohnst, ohne dass er davon erfährt?«

Idealerweise schon, aber wir sind hier in Nusstead, wo man in einer Gemeinschaft lebt und mit seiner Privatsphäre dafür bezahlt. Sie hat recht. Vielleicht ist es sogar besser, dass er es hintenherum erfahren hat. So kann er allein mit seinem Groll zurechtkommen.

»Ich finde es ziemlich süß«, sagt Colette. »Dass ihr euch nach all den Jahren noch immer gernhabt.«

Dazu kann ich nichts sagen und bin beinahe froh, als Mum uns unterbricht.

»Ich kann euch beide hören, wie ihr unten auf dem Sofa herumfummelt.« Sie ist wieder im Zimmer, wenn auch nicht in der Gegenwart. »Ihr seid nicht so leise, wie ihr glaubt. Ich bin doch nicht von gestern. Verhütet ihr wenigstens?« Ich schaue Colette halb belustigt, halb entsetzt an. Nur gut, dass Sam nicht hier ist. »Immerhin«, fährt sie fort, während Colette sich auf die Lippe beißt, um nicht zu lachen, »strengt er sich an. Das muss er wohl, nach dem, was mit dem Bruder passiert ist. Als müsste er es wiedergutmachen. Du weißt schon, der, der ins Gefängnis musste, der wie eine Kartoffel aussieht, den sie wegen Drogenhandel drangekriegt haben. Und Dingsbums, der auf den Kreuzfahrtschiffen arbeitet, habt ihr seine Frisur gesehen? Marianne, versprich mir, dass du mit dem nichts anfängst. Du willst doch Karriere machen, raus aus Nusstead und dir einen richtigen Freund suchen.«

Ich drücke ihre knochige kleine Hand. »Das werde ich«, sage ich, um sie glücklich zu machen und weil es leichter ist, etwas zu versprechen, das man schon gehalten hat.

7

»Nur einen Spaltbreit, um frische Luft hereinzulassen.« Ich öffne das Fenster, obwohl ich weiß, dass Mum es wieder schließen wird, sobald ich ihr den Rücken kehre. In Colettes Haus riecht es nach Anstaltsmief. Draußen sind zwölf Grad, aber die Heizung ist so hoch aufgedreht, dass man kaum atmen kann. Vielleicht hat Mum es gerne warm, weil unser altes Haus so kalt war, aber als Londonerin empfinde ich es als Beleidigung der wunderbaren Frischluft hier, wenn man nicht so viel wie möglich davon einatmet.

Colette ist einkaufen gefahren und hat getan, als hätte ich ihr eine Woche Ibiza geschenkt. Erst jetzt begreife ich, dass sie einen Solotrip zu Aldi mittlerweile als Luxus empfindet. Ich helfe Mum beim Händewaschen, reinige die Toilette, weil sie ein bisschen danebengetroffen hat, überprüfe, ob sie sich ordentlich abgewischt hat, und räume alles auf, bevor ich sie vor dem Fernseher parke, wo Come Dine With Me läuft. Ich kann durch diese Aufgaben powern, weil ich noch nicht davon zermürbt bin wie Colette. Ich habe Zeit, eine Menge Wäsche zu waschen, den Kühlschrank von innen zu putzen, zu saugen und sogar Staub zu wischen. Mum hat im Wohnzimmer ihr eigenes Regal, über Colettes Büchern und unter den Sporttrophäen von Maisie und Jack. Es ist vollgestopft mit Nippsachen aus Porzellan und Kinderbildern von uns in silbernen Rahmen. Eins von mir aus dem Sommer vor Jesse: massenhaft Sommersprossen und rosige Wangen.

Ich lege eine Pause ein, um mich online bei Honor zu melden. Sie hat einige kunstvolle Fotos der Royal Vauxhall Tavern bei Sonnenaufgang gepostet. Es sind wunderschöne Bilder, aber ich kann sie nicht genießen, weil ich weiß, dass sie das Pub nur sehen kann, wenn sie sich in einem todesmutigen Winkel aus dem Fenster beugt. Es gibt auch ein neues Kunstwerk, das mir ausnahmsweise gefällt: Honor hat aus Tabletten und Blisterpackungen ein menschliches Gehirn konstruiert. Ich schreibe darunter: Bin stolz auf dich, Süße! Mum. X

Sie schreibt zurück.

Könntest du bitte aufhören, mein Instagram zu kommentieren? Das sieht wirklich unprofessionell aus. Ich musste es löschen.

Ich habe einen Abschluss in Kunstgeschichte! Das war eine professionelle Meinung.

Dann unterzeichne zumindest nicht mit Mum.

Sie schließt mit einem lächelnden Smiley, einem peinlich berührten Smiley und einem Oma-Smiley, um zu zeigen, dass sie es eigentlich nicht so meint.

Gemäß Colettes seitenlanger Anweisung muss es um zwölf Uhr Mittagessen geben.

Sei streng – sorge dafür, dass sie mindestens zwei Drittel davon isst.