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Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Dieses Dornröschen ist aufgewacht ... in einem Albtraum! OLIVER: Normalerweise locke ich Frauen mit Amnesie nicht in eine Ehe. Aber ich nehme an, es gibt für alles ein erstes Mal. Wenn mir die Frau meiner Träume in den Schoß fällt, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, was sie in dieser Position noch so alles tun kann. Sie ist hier. In meinem Haus. Meiner Gnade ausgeliefert. Und sie denkt, dass wir das ganze Jahrzehnt, das wir getrennt waren, ein Liebespaar waren. Briar und ich waren immer eine unerledigte Angelegenheit. Jetzt ist es an der Zeit, das Geschäft zu besiegeln. BRIAR: Ich heirate ein wunderschönes Ungeheuer. Einen korrupten Betrüger. Amerikas reichsten Junggesellen. Er behauptet, dass wir uns lieben, doch alles, was ich in unseren Küssen schmecke, ist Hass und Lust. Ich weiß nicht mehr, warum oder wie es dazu gekommen ist. Aber ich weiß ganz genau, dass er der Feind ist. Jetzt stecke ich in einem Albtraum fest. Und Oliver wird alles tun, um mich im Dunkeln zu lassen. Willkommen zurück in der Dark Prince Road – wo das Wetter kalt ist, aber die Männer noch kälter sind. Perfekt für Fans von Lauren Asher und Ana Huang In Band 3 der neuen Romance-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin L. J. Shen mit Parker S. Huntington erwarten dich unter anderem diese Tropes: - Sleeping Beauty retelling - billionaire romance - forced proximity - amnesia - only one bed - fake engagement Auch einzeln als Standalone lesbar. Dieses Buch beinhaltet Themen, die bei manchen Menschen ungewollte Reaktionen auslösen können. Bitte achtet daher auf die Liste mit sensiblen Inhalten, die wir im Buch zur Verfügung stellen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 750
Veröffentlichungsjahr: 2025
L. J. Shen / Parker S. Huntington
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Patricia Woitynek
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Ich war ein Dorn in seinem Fleisch. Aber noch ahnte er nicht, wie sehr ich ihn zum Bluten bringen würde.
Ich heirate ein wunderschönes Ungeheuer.
Einen korrupten Betrüger. Amerikas reichsten Junggesellen.
Er behauptet, dass wir uns lieben, doch alles, was ich in unseren Küssen schmecke, ist Hass und Lust.
Ich weiß nicht mehr, warum oder wie es dazu gekommen ist.
Aber ich weiß ganz genau, dass er der Feind ist.
Jetzt stecke ich in einem Albtraum fest.
Und Oliver wird alles tun, um mich im Dunkeln zu lassen.
Düster, provokant und mitreißend – bekommen Dornröschen und ihr dunkler Prinz eine zweite Chance in dieser Billionaire-Romance?
Der heiß ersehnte dritte Band der Dark-Prince-Road-Reihe. Auch einzeln als Standalone lesbar!
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
CONTENT NOTES - HINWEIS
WIDMUNG
MOTTO
PROLOG
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
KAPITEL 22
KAPITEL 23
KAPITEL 24
KAPITEL 25
KAPITEL 26
KAPITEL 27
KAPITEL 28
KAPITEL 29
KAPITEL 30
KAPITEL 31
KAPITEL 32
KAPITEL 33
KAPITEL 34
KAPITEL 35
KAPITEL 36
KAPITEL 37
KAPITEL 38
KAPITEL 39
KAPITEL 40
KAPITEL 41
KAPITEL 42
KAPITEL 43
KAPITEL 44
KAPITEL 45
KAPITEL 46
KAPITEL 47
KAPITEL 48
KAPITEL 49
KAPITEL 50
KAPITEL 51
KAPITEL 52
KAPITEL 53
KAPITEL 54
KAPITEL 55
KAPITEL 56
KAPITEL 57
KAPITEL 58
KAPITEL 59
KAPITEL 60
KAPITEL 61
KAPITEL 62
KAPITEL 63
KAPITEL 64
KAPITEL 65
KAPITEL 66
KAPITEL 67
KAPITEL 68
KAPITEL 69
KAPITEL 70
KAPITEL 71
KAPITEL 72
KAPITEL 73
KAPITEL 74
KAPITEL 75
KAPITEL 76
KAPITEL 77
KAPITEL 78
KAPITEL 79
KAPITEL 80
KAPITEL 81
KAPITEL 82
KAPITEL 83
KAPITEL 84
KAPITEL 85
KAPITEL 86
KAPITEL 87
KAPITEL 88
KAPITEL 89
KAPITEL 90
KAPITEL 91
KAPITEL 92
KAPITEL 93
KAPITEL 94
KAPITEL 95
KAPITEL 96
KAPITEL 97
KAPITEL 98
KAPITEL 99
EPILOG
CONTENT NOTES
Bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb findest du am Ende des Buches eine Liste mit sensiblen Inhalten.
Für jedes Mädchen, das sich selbst gelehrt hat, wie Liebe sich anfühlt …
Ihr habt gebrochene Fragmente in Rüstungen und Narben in Geschichten verwandelt.
»Hundert Jahre für ein standhaftes Herz sind wie ein Tag«– Dornröschen
Briar
Ich bin nicht die Heldin in meiner Geschichte.
Aber auch nicht die Schurkin.
Sondern eine Nebenfigur in den Büchern anderer Menschen. Das ungewollte Kind, das nicht einmal die eigenen Eltern liebenswert finden.
Früher war ich unsichtbar, eine Rose, die zwischen den randvollen Seiten fremder Erzählungen dahinwelkte. Doch dann erlöste er mich aus meinem Schattendasein und überschüttete mich mit Licht, bis ich zu der Person erblühte, von der er wusste, dass sie in mir steckte.
Oliver von Bismarck.
Mein bester Freund. Mein heimlicher Schwarm. Meine erste Liebe.
Heute empfinde ich nur noch erbitterte Feindschaft für ihn.
Ollie mag mich vergessen haben, aber ich spüre noch immer die Narben, die er hinterlassen hat. Es heißt, die beste Rache sei es, sich kein Beispiel an seinem Feind zu nehmen. Ich wurde zu Freundlichkeit, Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewusstsein erzogen. Tugenden, die ihm allesamt fehlen.
Dank ihm bin ich inzwischen keine Rose mehr.
Ich bin ein Dorn.
Briar Rose
Er ist nicht hier. Hör auf, nach ihm Ausschau zu halten.
Ich zwang mich, meinen Blick von der Party loszureißen und ihn auf die Wellen zu richten, die unter dem gespenstisch anmutenden Mond ans Ufer schwappten. Die Sterne am Himmel waren meine einzige Gesellschaft, während ich auf der Brüstung einer gepflasterten Terrasse des Château de Chillon saß.
Überall um mich herum sprudelte es vor Lebensfreude, lachten, tanzten und flirteten Menschen, trotzdem hatte ich mich nie einsamer gefühlt.
Jeden Sommer veranstalteten die von Bismarcks anlässlich ihrer Ankunft in der Schweiz einen großen Ball. Dann strömten die Aristokraten und Finanzgrößen Europas in Scharen zu der prachtvollen, direkt am Genfer See gelegenen mittelalterlichen Burg, um sich mit ihrer Verbindung zu einem der ältesten Adelsgeschlechter der Welt zu brüsten. Natürlich durften auch meine blasierten Eltern auf dieser Veranstaltung nicht fehlen.
Eigentlich müsste Oliver inzwischen hier sein und durch die Säle stromern oder irgendeinen ausgeklügelten Streich vorbereiten. Aber er würde sich erst dann die Ehre geben, wenn er für seinen großen Auftritt bereit wäre, und keine Sekunde früher.
Such nicht nach ihm. Hab etwas Selbstdisziplin.
Zu spät.
Mein treuloser Körper gehorchte mir nicht. Ganz ohne mein Zutun wandte sich mein Blick wieder der Festivität zu, in der Hoffnung, einen hellblonden Lockenschopf und ein Paar schelmisch blitzender Augen zu erspähen.
Aber selbst, wenn Oliver da wäre, könnte ich ihn in der Gästemenge, die die Tanzfläche bevölkerte, nicht ausmachen. Pastellfarbene Ballkleider wirbelten mit routinierter Leichtigkeit wie Zuckerwattewolken über die Steinplatten.
Auf der mehrstufigen Bühne spielte ein Barockorchester einen meiner Lieblingswalzer, der von Aram Chatschaturjan für das Theaterstück Maskerade komponiert worden war.
Ich strich den Rock meiner altrosa Satinrobe glatt. Sie war etwas staubig von den exponierten Mauersteinen der Terrasse, aber ich wusste, dass meine Eltern mich nicht wegen meines respektlosen Umgangs mit dem hübschen Outfit schimpfen würden. Denn dazu müssten sie sich meiner Existenz erst einmal bewusst werden. Und das versuchten sie, nach besten Kräften zu vermeiden.
Ich blickte auf das, was unterhalb der Veranda lag. Wenn ich fiele, würde ich erst auf einem Dach und dann im gekiesten Hof landen. Ich würde ungefähr zwanzig Meter tief stürzen und aller Voraussicht nach das Zeitliche segnen. Meine Eltern standen ein Stück entfernt von mir und unterhielten sich mit einem befreundeten Ehepaar.
Sie bemerkten nicht, dass ich auf der Brüstung saß, nahmen keinerlei Notiz von mir.
»Also«, hörte ich die mit einem olivgrünen Kleid herausgeputzte Frau namens Fabienne sagen, während sie meinen Eltern mit ihrem Champagnerglas zuprostete, »wohin wird es euch als Nächstes verschlagen, da die Züricher Filiale jetzt läuft?« Ihr vornehmer Akzent fügte Silben an Stellen hinzu, wo keine vorgesehen waren.
Mein Vater arbeitete für die Boutique-Investmentbank Luxor Trust, die darauf spezialisiert war, »reichen Arschlöchern die Eier zu kraulen«. Seine Worte, nicht meine. Er war für das Management zuständig, und sein Job beinhaltete exzessive Speichelleckerei, das Eröffnen neuer Niederlassungen, um den internationalen Anforderungen an die Bank gerecht zu werden, sowie das permanente Umsiedeln seiner Familie von einer Milliardärs-Enklave zur nächsten.
Ich hatte nie etwas anderes gekannt, als aus dem Koffer zu leben. Ein Zuhause zu haben, war ein abstraktes Konzept, mit dem nur andere Kids vertraut waren. In den letzten vierzehn Jahren hatte ich bereits in London, Tokio, Paris, Montreal, Zürich, Riad und Budapest gelebt.
Zwar besaß ich einen amerikanischen Pass, trotzdem hatte ich bisher alles in allem nur wenige Monate in den Staaten verbracht. Wenn jemand mich fragte, woher ich stammte, lautete meine Antwort New York. Aber in Wahrheit hatte ich keine Wurzeln und meine Geschichte somit keinen Anfang.
Jedenfalls nicht, wenn es nach Oliver von Bismarck geht – vorausgesetzt, ich kann ihn dazu bringen, die Dinge so zu sehen.
»Oh, wo soll ich da bloß anfangen? Auf uns wartet ein unglaubliches neues Abenteuer.« Mom fuhr sich mit ihren manikürten Fingernägeln durch ihren schwarzen Bob und krallte die andere Hand in das Jackett von Dads Prada-Smoking. »Jasons Firma möchte, dass er eine weitere Niederlassung in Buenos Aires eröffnet. Du weißt, wie sehr ich diese Stadt liebe. Kein Wunder, schließlich bin ich zur Hälfte Argentinierin.«
»Wie kommt Briar Rose mit den vielen Ortswechseln zurecht?«, erkundigte sich Fabiennes Mann und ließ den Wein in seinem Glas kreisen. »Unsere Kinder haben getobt, als Fabienne und ich aus beruflichen Gründen mal für drei Jahre mit ihnen nach Alaska umgezogen sind. So ein unstetes Leben muss schwer sein für einen Teenager.«
Mom straffte den Rücken. Das tat sie immer, wenn das Thema zur Sprache kam, das sie am wenigsten mochte: nämlich ich. »Ihre schulischen Leistungen waren immer hervorragend. Sie wird von den besten Privatlehrern Europas unterrichtet und beendet nächste Woche ihren Kurs in mehrdimensionaler Analysis, den sie zusätzlich als externe Schülerin in Oxford belegt hat. Das Institut Le Rosey hat letztes Jahr zweimal angeboten, sie aufzunehmen, aber ihr wisst ja, wie schwierig es ist, sich auf irgendetwas festzulegen, wenn man so häufig umzieht wie wir.« Sie presste einen Seufzer zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen hervor.
Was sie nicht erwähnte, war, dass ich bloß deshalb an dem Kurs teilnahm, weil ich gehört hatte, dass Oliver möglicherweise zeitgleich für ein paar Tage in Birmingham sein würde, nur eine Stunde mit der Bahn von Oxford entfernt.
Du versuchst noch nicht mal, einen auf cool zu machen, Briar Rose.
Dieser Zug war abgefahren, als ich angefangen hatte, in Klatschzeitschriften zwischen Artikeln über den bedenklich hohen Avocado-Konsum der britischen Royals und teuren Hollywood-Scheidungen nach Neuigkeiten über die Familie von Bismarck zu stöbern.
Fabienne tätschelte Moms Schulter. »Tja, Briar Rose war schon immer ein kluges Mädchen. Daran bestand nie ein Zweifel.«
Im Gegensatz zu dieser mir fremden Frau gab ich mich nicht der Illusion hin, dass Moms lobende Erwähnung meiner schulischen Leistungen gleichzusetzen war mit unbändigem mütterlichem Stolz. Ihre Haltung drückte pure Abwehr aus, sie war so steif, dass ein einziger Windstoß sie hätte umblasen können.
»Wie sieht’s mit ihrem sozialen Umfeld aus? Hat sie Freunde?«, hakte Fabienne mit gespieltem Interesse nach.
»Nun ja …« Moms Miene wurde verschlossen, und sie kniff so fest die Lippen zusammen, dass sie Diamanten zwischen ihnen hätte zermahlen können. »Sie ist von Natur aus etwas schüchtern und introvertiert. Ich denke nicht, dass ihr das sehr wichtig ist.«
O doch, Mom. Es ist mir so wichtig, dass ich manchmal das Gefühl habe zu ersticken.
»Herrgott noch mal! Wir können ihr zuliebe unser Leben nicht komplett auf Eis legen.« Dad nahm Mom ihr Champagnerglas ab und stellte es auf das Tablett eines Kellners, der gerade vorbeikam. »Wir halten nichts von diesem neumodischen Ansatz der Kindererziehung. Das Einzige, was dabei herauskommt, sind ungezogene Rotzgören.«
Die Worte taten so weh, dass ich ein Brennen in den Augen spürte. Um mich davon abzulenken, fokussierte ich mich auf die tanzenden Paare. Unter den Stoffschichten meines Rocks bewegte ich die Füße zum Rhythmus des Walzers, wobei meine Fersen mit jeder angedeuteten Drehung gegen die Verandabrüstung stießen.
Linker Fuß nach hinten. Rechter Fuß zur Seite. Beine schließen. Rechter Fuß nach vorn. Linker Fuß zur Seite. Und das Ganze noch einmal.
Meine Muskeln kribbelten. Jede Faser meines Körpers sehnte sich danach, zu tanzen. Wie gebannt beobachtete ich die ausgelassen über die Tanzfläche wirbelnden Leute.
Buenos Aires.
Es war das erste Mal, dass ich von diesem Plan hörte. Jason und Philomena Auer würden mir niemals erlauben, ihnen unangemessene Fragen zu stellen. Erst recht nicht, wenn sie meine Zukunft betrafen, über die meine Eltern die alleinige Entscheidungsgewalt hatten.
»Deine selbstsüchtigen Einwände regen deinen Vater auf«, schalt mich meine Mutter, wann immer ich unsere häufigen Umzüge zur Sprache brachte. »Schämst du dich nicht dafür, wie undankbar und verzogen du bist? Denkst du, jedes Kind wächst so privilegiert auf wie du?«
Nein, das dachte ich keineswegs.
Das Problem war, dass ich absolut keinen Wert auf Designerkleidung, Penthouse-Wohnungen in Wolkenkratzern oder Gourmetrestaurants legte. Was ich wollte, waren Freunde, auf die ich mich hundertprozentig verlassen konnte, hausgemachtes Essen und Rommé-Partien mit meinen Eltern an gemütlichen Sonntagabenden.
Ich kannte all das nur aus Olivers Erzählungen, die so wundervoll und märchenhaft klangen, dass sie unmöglich wahr sein konnten. Gleichzeitig hoffte ich inständig, dass sie es waren.
Eines Tages wird so mein Leben aussehen.
Ich werde glücklich und frei sein und von Freunden umgeben, die mir so nahestehen, als wären sie meine Familie.
Meine Mutter seufzte erneut. »Jedenfalls haben wir eine Lösung gefunden.«
Das war mir neu. Eine Lösung wofür? Meine Einsamkeit? Vielleicht würden sie mir endlich erlauben, einen Hund zu haben.
Ich schwenkte meinen Kopf in ihre Richtung, als Fabienne sich im selben Moment vorbeugte und fragte: »Nämlich?«
Dad nestelte an einem seiner Manschettenknöpfe, bis unser Familienwappen nach oben zeigte. »Briar Rose wird ab September das Surval Montreux besuchen.«
Mir gefror das Blut in den Adern. Die Rede war von einem Mädcheninternat. In der Schweiz. Sie würden mich hier zurücklassen. Ohne auch nur mit mir darüber gesprochen zu haben.
»Das Surval Montreux?« Fabiennes olivgrünes Ballkleid wogte, als sie sichtlich erschüttert einen Schritt zurückwich. »Warum nicht Le Rosey?«
Meine Mutter betastete ihre Mikimoto-Perlenkette, die den Ausschnitt ihrer Oscar-de-la-Renta-Robe zierte, und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Das Gespräch schien sie zu langweilen. »Nun, wir können schließlich nicht riskieren, dass sie unbeaufsichtigt mit irgendwelchen Jungs in Europa umhertingelt, oder?«
Anders ausgedrückt: Wozu einen vermeidbaren Skandal heraufbeschwören, anstatt meine Tochter einfach weiter unglücklich sein zu lassen?
Dad legte die Hand auf Moms unteren Rücken und massierte ihn sacht. Dabei betrachtete er sie voller Hingabe, als wäre sie das Wichtigste auf der Welt für ihn. Und das war sie, während ich überhaupt keine Rolle spielte.
»Es ist für alle Beteiligten das Beste. Unser letzter Wohnort war Zürich, und Briar Roses Französischkenntnisse sind überragend. Außerdem bietet die Schule Kurse auf College-Niveau an, sodass es keine Probleme hinsichtlich des Lehrplans geben wird. Sie wird jede Menge Gelegenheiten haben, neue Freundinnen zu finden.«
Meine Eltern wollten mich auf ein Internat schicken.
Sie würden ohne Skrupel nach Südamerika umsiedeln und mich in Europa abladen.
Aber das Schlimmste war, dass ich, obwohl ich vor Angst und Wut am ganzen Leib zitterte, nicht den Mut fand, zu rebellieren und ihnen mitzuteilen, dass ich unter keinen Umständen bereit war, von ihnen getrennt zu leben. Nicht, weil sie als Eltern taugten, sondern weil sie die einzige Normalität waren, die ich kannte, so armselig und jämmerlich das auch sein mochte.
»Knuddelmaus?« Die vertraute Stimme riss mich aus meinen dunklen, trübseligen Gedanken.
Ich blickte zur Seite und sah den Jungen, dem sie gehörte, mit gelassenen Schritten in einem dreiteiligen Anzug auf mich zukommen. Die Menschen um uns herum hielten inne und verfolgten jede seiner Bewegungen, aber er hatte nur Augen für mich.
Unsere Blicke versenkten sich ineinander, und um seine Mundwinkel zuckte dieses spitzbübische Lächeln, das sein Markenzeichen war.
Wilde Freude durchströmte mich. Obwohl sie so kurzlebig sein würde wie ein flüchtiger Kuss, machte ich mir nicht die Mühe, mich daran festzuklammern. Ich wusste, dass ich sie noch öfter spüren würde.
Weil er endlich eingetroffen war.
Oliver von Bismarck.
Graf von Carinthia.
Ältester Sohn Felix von Bismarcks, des Herzogs von Carinthia.
Und mein ganz persönlicher Untergang.
Briar Rose
Mit seinen welligen, weizenblonden Haaren und leuchtend blauen Augen erinnerte Oliver mich an Hermes, den griechischen Gott der Fruchtbarkeit, der Redekunst und der Diebe. Ein Haarwirbel war die einzige winzige Unvollkommenheit an seinem ansonsten hinreißend perfekten Erscheinungsbild. Ich empfand diesen kleinen Makel als persönlichen Triumph, weil er mir bewies, dass auch er ein Mensch war und kein himmlisches Wesen, das weit über uns Sterblichen stand.
Ollie runzelte die Brauen. »Hey, was ist los?« Er fasste meine Hand und zog mich von der Brüstung runter. »Du sitzt gefährlich nah am Rand, und du siehst aus, als würdest du am liebsten losheulen.«
Kein Wunder. Meine Eltern wollten mich in der Schweiz zurücklassen. Hatten sie vor, mir das irgendwann zu sagen, oder würde ich eines Morgens ohne Vorwarnung in einem leeren Haus aufwachen?
Meine Handflächen glänzten vor Schweiß. Könnte ich noch etwas anderes empfinden als blankes Entsetzen, wäre es Panik. Ich wollte mich Ollie anvertrauen und gleichzeitig auch wieder nicht. Er war der einzige Mensch, für den ich mehr war als nur eine Nebensächlichkeit, darum widerstrebte es mir, ihn mit meinen Problemen zu belasten. Unsere gemeinsamen Sommer sollten Spaß machen und unbeschwert sein.
Ich zwang mich zu einem Lachen und klopfte kleine Mauersteinchen von meinem Hinterteil. »Wie kommst du denn darauf?«
»Deine Wimperntusche ist verlaufen. Sag mir nicht, dass das der neueste Trend ist. Letzten Sommer waren es Gesichtshaar-Extensions. Wenn du wüsstest, wie traumatisch es ist, nach einem Langstreckenflug aus dem Flieger zu steigen und einer Horde Plüschbären gegenüberzustehen. Ich dachte, ich wäre auf dem falschen Planeten gelandet.«
Fast wäre mir ein Kichern entschlüpft. Ich wischte mir mit den Fingern unter den Augen entlang, um die Spuren von Mascara zu beseitigen, die Moms Visagist mir aufgenötigt hatte. Ich drehte mich um und fand mich sofort im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder. Daran würde ich mich nie gewöhnen. Nicht, dass das nötig gewesen wäre, denn schließlich passierte es nur, wenn ich mit Ollie zusammen war. Von ihm ging eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, die jeden in den Bann zog, der seinen Weg kreuzte.
»Meine Augen brennen. Wahrscheinlich bin ich vorhin zu nah an die Feuershow unten im Hof rangegangen.« Ich schlängelte mich ohne konkretes Ziel zwischen den uns neugierig taxierenden Gästen hindurch. »Was wollen wir machen?«
Wir liebten es, Streifzüge durch das Schloss und die Umgebung zu unternehmen und aus der Küche Gebäck zu stibitzen, wenn das Personal gerade nicht hinsah. Unsere stille Übereinkunft besagte, dass wir alle Sommerferien zusammen verbrachten. Das ebenfalls direkt am See gelegene Haus meiner Eltern befand sich nur einen Katzensprung von hier entfernt. Jedes Jahr befürchtete ich, dass Ollie es sich anders überlegen könnte und lieber ein Sommercamp besuchen oder bei seinen Freunden in Maryland bleiben würde. Aber er kam immer zu mir zurück.
Ollie hielt mich im Gehen fest und baute sich vor mir auf. Er überragte mich um ein gutes Stück. »Als Erstes tanzen wir.« Er nahm meine Hand und zog mich auf die Tanzfläche.
Mir entfuhr ein leises Keuchen, als ich gegen seine Brust prallte. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Er war umwerfend attraktiv, aber gleichzeitig auch mein bester Freund. Mein einziger, um genau zu sein.
Er war ein Jahr älter als ich und hatte bestimmt schon viele Mädchen geküsst. Der Gedanke ärgerte mich wie verrückt. Ich wollte, dass er der erste Junge war, der mich küsste, aber die Vorstellung, dadurch unsere Freundschaft aufs Spiel zu setzen, machte mir Angst.
»Tanzen?« Ich schnaubte und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. »Es gibt nichts, das du mehr hasst, Ollie.«
»Leider kann ich mir diese Gelegenheit, dich zu blamieren, nicht entgehen lassen.«
»Der Einzige, der sich blamieren wird, bist du selbst.«
Das war totaler Stuss. Würde Oliver es drauf anlegen, könnte er an einem internationalen Profiturnier teilnehmen. Seine deutsche Großmutter, eine sechsmalige Gewinnerin des Blackpool Dance Festival, hatte ihm die Grundschritte des Walzers beigebracht, sobald er laufen konnte, ohne hinzufallen.
»Ich bin heißer, als erlaubt sein sollte.« Er führte mich in die Mitte der Tanzfläche. »Irgendein Defizit muss ich ja haben.«
Mit einem verschmitzten Funkeln in seinen Augen grinste er mich an. Ein riesiger Schwarm Schmetterlinge stieg in meinem Bauch auf. Würde dies wegen der Pläne meiner Eltern unser letzter gemeinsamer Sommer sein? Mir kam die Galle hoch bei dem Gedanken, aber ich schluckte sie runter. Ollie reichte mir seine Hand, und ich ergriff sie, als im selben Moment die Musik verklang.
Ich riss mich von ihm los und konnte nur hoffen, dass meine glühenden Wangen meine Nervosität nicht verrieten. »Noch mal Glück gehabt.«
Als wäre das völlig selbstverständlich, fasste er erneut meine Hand. »Warte einfach.«
Wie aufs Stichwort fing das Orchester an, Tschaikowskis Walzer aus Dornröschen zu spielen. Ollies helles Lachen klang wie Glockengeläut in meinen Ohren. Ich beging den Fehler, im selben Moment zu ihm hochzusehen. Wie hübsch er war, war wirklich unfair. Ich wünschte, er wäre potthässlich, denn dann hätte ich ihn ganz für mich und würde ihn trotzdem kein bisschen weniger lieben. Olivers bestgehütetes Geheimnis war, dass sein blendendes Aussehen nicht annähernd mit seiner inneren Schönheit mithalten konnte.
Er legte den Arm um meine Taille und zog mich näher zu sich heran. »Was für ein Zufall. Sie spielen dein Stück.«
»Mein Stück?« Blinzelnd versuchte ich verzweifelt, meine Gedanken im Hier und Jetzt zu verankern. Und zu vergessen, welche Bombe meine Eltern vor Ollies Ankunft hatten platzen lassen.
»Na klar. Weil du Dornröschen bist, Dummerchen.«
»Außer dass ich hellwach bin. Wobei … ein kleines Nickerchen wäre gar nicht so schlecht«, witzelte ich trotz des Unbehagens, das mir die aufmerksamen Blicke der älteren Paare einflößten, die zur Seite wichen, um uns Platz zu machen.
Nach außen musste es so wirken, als hätten Ollie und ich jahrelang geübt. Unsere Körper eng aneinander, glitten wir mit fließenden, synchronen Bewegungen über die Tanzfläche. Für einen süßen, flüchtigen Moment gaukelte ich mir vor, er gehörte mir und ich ihm. Dass meine Eltern mich nicht im Stich lassen würden und ich ein liebevolles Zuhause hatte, das nicht nur aus einer x-beliebigen Adresse bestand.
»Du heißt Briar Rose. Genau wie die Prinzessin.« Ollie beugte mich über seinen Arm nach hinten. »Und du siehst aus wie sie.«
»Sie ist eine Märchenfigur.«
Die umstehenden Gäste spendeten uns Beifall. Bis zu Olivers Eintreffen hatte niemand Notiz von mir genommen, selbst dann nicht, als ich nur einen Windstoß davon entfernt gewesen war, in den Tod zu stürzen.
»Na und? Du bist der aus dem Disneyfilm wie aus dem Gesicht geschnitten.« Aufmerksam musterte er mich. »Lange goldblonde Haare, geschwungene Brauen und rosa Lippen.« Er verstummte kurz, bevor er stirnrunzelnd hinzufügte: »Und keine Fingernägel.«
Dieses Mal konnte ich mir ein Kichern nicht verkneifen. Ich gab ihm einen Klaps auf die Brust. Typisch Ollie, dass ihm das Unmögliche gelungen war, indem er mich trotz der Hiobsbotschaft, die ich gerade erfahren hatte, zum Lachen brachte.
»Ich habe sehr wohl Fingernägel.« Um es ihm zu beweisen, wedelte ich mit einer Hand vor seinem Gesicht.
»Aber sie sind kaum noch erkennbar. Du knabberst daran, als wären es Taco-Chips.«
»Ich habe ein stressiges Leben.«
»Das verstehe ich. Es ist strapaziös, attraktiv und klug zu sein, während alle anderen nur Durchschnitt sind. Ich habe dasselbe Problem. Wir sollten einen Club gründen.«
Wieder sprudelte ein Lachen aus mir heraus. »Hör auf damit! Du benimmst dich albern.«
»Aber ich habe dich aufgeheitert.« Seine Augen blitzten belustigt. »Ich wusste, dass ich das schaffen würde. Weil mein Charme einfach unwiderstehlich ist.«
Du hast ja keine Ahnung.
Ich legte meine Hand wieder in seine und setzte eine ernste Miene auf. »Wie war dein Jahr?«
»Hmm, lass mich nachdenken.«
Meine Brüste hoben sich seinem Gesicht entgegen, als er mich abermals nach hinten lehnte. Zugegeben, Brüste war vielleicht etwas zu viel gesagt.
»Schule war okay. Meinen Vater habe ich nicht oft gesehen, weil er gerade drei weitere Hotels in Japan baut.«
»Hat er dir gefehlt?«
»Nicht die Bohne.«
Ich wusste, dass er nur rumflachste. Oliver liebte seine Familie über alles. In unseren Kreisen war es normal, seine Angehörigen als Spielkarten zu betrachten, die man je nach Bedarf einsetzte. Aber die von Bismarcks mochten einander wirklich.
Ich schürzte die Lippen und rieb mit dem Daumen über sein Handgelenk. »Es tut mir leid, dass du so wenig von deinem Dad hattest.«
Er zuckte auf seine typische sorglose Art mit den Schultern. »Das Geschäft geht vor. Außerdem hat er mir ein ziemlich geiles Geschenk gemacht, quasi als Entschuldigung dafür, dass er mich in meinen prägenden Jahren sträflich vernachlässigt.«
»Lass mich raten: ein verzauberter Kleiderschrank?«
»Der stand schon vor Jahren auf meiner Weihnachtswunschliste. Immerhin ist Der König von Narnia ein Klassiker.« Er wirbelte mich so schnell herum, dass meine Finger sich in seine Schulter krallten. »Er hat mir ein Haus gekauft. In der Dark Prince Road.«
Oliver beschwerte sich seit Jahren darüber, dass seine beiden besten Freunde in dieser Straße wohnten, während er selbst auf einem herrschaftlichen Anwesen am anderen Ende von Potomac residierte. Gott bewahre, dass die beiden irgendwelchen Unfug stiften könnten, ohne dass Ollie daran beteiligt wäre. Wobei erwähnt werden sollte, dass Zachary Sun total verklemmt war und Romeo Costa selbst mit einem Wörterbuch nicht wüsste, wie man Spaß buchstabiert. (Ollies Worte, nicht meine. Ich war den beiden nie begegnet, und offen gestanden wurde mir allein bei dem Gedanken, dass sich das ändern könnte, flau im Magen. Zumal Ollie mir einmal ernsthaft erzählt hatte, Romeos Familie habe so viele Leichen im Keller, dass man damit einen ganzen Friedhof füllen könnte.)
»Ein Haus?«, echote ich. Bei der Vorstellung, in direkter Nachbarschaft von Menschen zu leben, die mich gernhatten, regte sich ein Neid in mir, der mir die Tränen in die Augen trieb.
»Es ist das größte in der ganzen Straße. Mom sagt, dass ich direkt an meinem achtzehnten Geburtstag dort einziehen darf. Unter der Voraussetzung, dass ich sie jeden Dienstag besuche und Seb manchmal bei mir übernachten lasse.«
Ollies dreizehnjähriger Bruder interessierte sich nur für seine Familie und seinen Rudersport. Sebastian und ich kamen gut miteinander aus, allerdings fand ich ihn ein bisschen zu unterkühlt und flegelhaft, um ihn auf Dauer zu ertragen.
»Deine Nachbarn werden den Tag verfluchen, an dem sie sich in der Dark Prince Road niedergelassen haben.«
»Mrs Costa hat bereits mit meiner Mutter telefoniert und sie angefleht, ihr das nicht anzutun. Aber es ist sowieso zu spät. Ich habe schon einen Stall bauen lassen.«
»Wofür?«
Bei Oliver war alles denkbar. Die Möglichkeiten reichten von einem Stinkbombenlabor bis hin zu einer Mikrobrauerei. Er neigte dazu, jeder seiner Launen nachzugeben und zu machen, was er wollte, einfach, weil er es konnte. Wenn man ihn auf ein Internat schickte, würde er vermutlich jemanden dafür bezahlen, seinen Platz dort einzunehmen, oder seine Mitschüler zur Meuterei aufhetzen.
Ollie winkelte seinen Arm und korrigierte diskret meine Körperhaltung. »Meine Eltern haben mir ein neues Pferd geschenkt. Übrigens liegt das Grundstück direkt am Fluss. Seb kann es gar nicht erwarten, dort zu trainieren.«
»Ist er immer noch so ein verteufelt guter Ruderer?«
»Ich denke, er wird sich über kurz oder lang für die Olympischen Spiele qualifizieren.«
»Wie läuft’s beim Polo?«
»Hervorragend. Wir haben die nationalen Meisterschaften gewonnen.« Oliver tat seine Leistung mit einem lässigen Schulterzucken ab. »Jetzt erzähl mir von dir, Knuddelmaus.« Er zwinkerte mir zu. »Hast du letztes Schuljahr irgendwelche Herzen gebrochen?«
Ich konnte nicht sagen, ob er das ernst meinte oder mich neckte. Sicherlich wusste er, dass ich keinen nennenswerten Freundeskreis hatte, von Verehrern ganz zu schweigen.
»Ich habe angefangen, Latein und Mandarin zu lernen. Meine Eltern meinen, dass sich das gut in meinen College-Bewerbungen machen wird.« Ich durchstöberte mein Gehirn nach irgendetwas, womit ich ihn beeindrucken konnte, ohne dass es mich wie eine langweilige Streberin erscheinen ließ. »Ach, und ich habe dieses Kleid eigenhändig genäht. Auf der Rückseite sind nicht alle Stiche perfekt geraten, aber insgesamt ist es ganz hübsch geworden, findest du nicht?«
»Es ist wunderschön.«
»Danke.«
Er wirbelte uns ein weiteres Mal im Kreis. »Genau wie du.«
Lachend warf ich den Kopf zurück. »Das sagst du jetzt nur so.«
»Ich sage nie etwas einfach nur so.« Alle Heiterkeit schwand aus seinen Zügen, sein Mund wurde zu einem schmalen Strich. »Es ist mein voller Ernst, Knuddelmaus.«
Wir verlangsamten unsere Schritte, als im selben Moment die letzten Takte des Walzers erklangen. Begeisterter Applaus brandete auf mich ein. Benommen schaute ich mich um und stellte fest, dass sich ein Kreis aus Menschen um uns gebildet hatte, als wollten sie eine private Tanzfläche für uns schaffen. Mein Blick suchte die lächelnden Gesichter nach denen meiner Eltern ab, fand sie jedoch nicht. Dafür entdeckte ich Felix und Agnes von Bismarck, die ihren Sohn mit liebevollen Blicken bedachten. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Wo waren meine Eltern? Warum konnten sie nicht ein einziges Mal stolz auf mich sein?
»Los, komm.« Ollie zog mich mit sich. »Ich möchte dir was zeigen.«
Wir schlüpften an dem Gedränge vorbei und durch eine als privat gekennzeichnete Tür, hinter der sich eine schmale steinerne Treppe befand. Wie in den meisten mittelalterlichen Gemäuern konnten auch in diesem die warmen Außentemperaturen die feuchte Kälte nicht vertreiben.
»Nicht so schnell.« Um auf den Stufen nicht zu stolpern, raffte ich meine Röcke. »Ich habe Absatzschuhe an.« Sie waren zwar nicht hoch, trotzdem konnte ich nicht mit Olivers Tempo mithalten, während er mich in Richtung unseres unbekannten Ziels hinter sich herzog.
»Mann, du bist langsamer als ein totes Faultier.« Er drehte sich zu mir um und hob mich nach Bräutigam-Manier auf seine Arme. Als wäre ich leicht wie eine Feder, eilte er die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
»Das ist ein sehr unhöflicher Vergleich«, bemerkte ich, während ich mich an seinem Hals festklammerte.
Seine Brust bebte vor Lachen, aber er gab keine Antwort.
Ich senkte meine Stimme zu einem Flüstern. »Wo bringst du mich hin?«
»Seb hat die Spirituosenvorräte geplündert, und es sind ein paar echt edle Tropfen dabei.« Er eilte den nächsten Treppenabschnitt hinunter.
Es war nicht das erste Mal, dass wir uns auf einer Sommerparty am Alkohol vergriffen. Begonnen hatte das Ganze an meinem elften Geburtstag, als wir anstelle von Apfelsaft versehentlich den Wein meiner Mutter erwischt hatten. Wir betranken uns nie wirklich, aber es schmeckte nun mal nichts so gut wie verbotene Früchte.
Sechs Treppenabsätze später stürmte Ollie mit mir durch eine Tür ins Freie. Er ließ mich herunter und nahm mich bei der Hand, dann rannten wir kichernd, japsend und über unsere eigenen Füße stolpernd auf einen Weingarten zu. Gelbliches Fackellicht wies uns den Weg durch die Dunkelheit. Der Boden unter uns vibrierte von den wuchtigen Klängen des Orchesters, der Saum meines Kleids, an dem ich wochenlang gearbeitet hatte, schleifte über die Erde, und irgendwo verlor Ollie seinen Schlips.
»Du wirst staunen.« Der Wind trug seine Worte zu mir, während die Musik und die Lichter immer schwächer wurden, je weiter wir liefen, unsere Hände noch immer fest miteinander verschränkt. »Seb hat außerdem eine Kiste voll alter Bücher mitgehen lassen.«
»Er hat Bücher geklaut?«
»Jep.«
»Seit wann liest dein Bruder?«
»Wir hoffen auf ein paar schweinische Passagen.«
Einige Minuten später erreichten wir die verwaisten Stallungen am anderen Ende des Grundstücks. Wir waren weit genug von der Party und meinen Eltern entfernt, dass ich freier atmen konnte – sobald ich wieder Luft bekam.
Ollie wirkte überhaupt nicht aus der Puste, als er sein Handy herausholte und uns mit der Taschenlampe den Weg leuchtete. »Mist, verdammter. Warte kurz.« Er klemmte sich das Smartphone zwischen die Zähne und fischte eine zerdrückte, korallenfarbige, von Dornen befreite Rose aus der Innentasche seines Sakkos. Grinsend steckte er sie mir ins Haar und ließ das Telefon in seine Hand fallen. »Eine Rose für Briar Rose.« Er zwinkerte mir zu. »Du dachtest doch nicht etwa, dass ich das vergessen hätte, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Das würde Ollie niemals vergessen. Jedes Jahr zu Beginn unserer Sommerferien schenkte er mir eine Rose, um mich daran zu erinnern, wer ich war. Es war eine Art Pakt, den wir geschlossen hatten, nachdem ich mit sieben von zu Hause weggelaufen war, um meine Großeltern kennenzulernen. Mom und Dad hatten das nie zugelassen. Sie nannten die beiden »Goldgräber« und »weißes Gesindel« und behaupteten, dass sie einen schlechten Einfluss auf mich ausüben würden.
Oliver schob die Stalltür mit seiner Schulter auf. Dahinter kamen ein staubiger Zementboden und eine Reihe offener Boxen zum Vorschein. Der Geruch nach altem Holz und getrocknetem Urin drang mir in die Nase, als wir eintraten.
»Seb?« Ollies Stimme hallte durch den Raum.
»Hier hinten«, ertönte es fröhlich aus der letzten Box.
Seb lehnte an einer Holzwand und nuckelte an einer Weinflasche. Sein teures Jackett hatte er achtlos auf einen verschimmelten Heuballen geworfen, sein Hemd war bis zum Bauchnabel aufgeknöpft und gab den Blick auf seine gebräunte, durchtrainierte Brust frei. Während Oliver an einen griechischen Gott erinnerte, schien Sebastian einem Renaissance-Gemälde entsprungen zu sein.
Agnes von Bismarck hatte mir einmal erzählt, dass er durch einen Wink des Schicksals zu seinem Namen gekommen war. Während der Schwangerschaft hatten sie und ihr Mann eine Reise in die Toskana unternommen, doch das Flugzeug musste in England notlanden. Also hatten sie spontan entschlossen, einen Zwischenstopp in London einzulegen. Bei einem Besuch der National Gallery war sie vor dem berühmten Gemälde Das Martyrium des heiligen Sebastian stehen geblieben und hatte dem standhaften, Folterqualen leidenden Schutzpatron lange in die Augen gesehen. Und daraufhin entschieden, ihren Sohn nach ihm zu benennen.
Ohne seine beachtliche Größe und die durch sein exzessives Rudertraining erworbenen Muskeln wäre er beinahe mädchenhaft hübsch gewesen. Aber seine langen Wimpern, die weichen platinblonden Locken und seine hübschen Augen in der Farbe eines klaren blauen Sommerhimmels schienen für ihn lediglich lästige Accessoires zu sein. Irgendwie haftete ihm, genau wie dem Heiligen, etwas Tragisches an. Eine arrogante Starrsinnigkeit, die mir Sorgen bereitete.
»Hi, BR.« Seb richtete den Strahl einer Taschenlampe auf mein Gesicht. »Wie ich sehe, bist du deine hässliche Zahnspange endlich los.«
Die plötzliche Helligkeit ließ mich zusammenschrecken, dann bemerkte ich die Kiste voller Bücher neben ihm.
»Wenn du deine eigenen hübschen Beißerchen behalten willst, dann pass auf, wie du mit ihr redest.«
Seb ging nicht auf Ollies Warnung ein. »Los, kommt rein.« Er klopfte mit seinen Berluti Oxfords auf den schmutzigen Boden. »Darf ich euch auf einen«, er drehte das Etikett der Flasche zu sich herum, »Domaine Leflaive Montrachet Grand Cru einladen?« Er hickste. »Besser gesagt, auf das, was noch davon übrig ist.«
Ich entzog Oliver meine Hand. »Äh … sicher.«
»Du hast ohne uns getrunken?« Er stürmte in die Box, riss Sebastian die Taschenlampe aus den Fingern und leuchtete ihm ins Gesicht. »Was hast du für ein Problem?«
Seb blinzelte. »Man könnte sagen, eine gesunde Mischung aus lähmender Angst, Selbstzweifeln und Größenwahn.« Gähnend nippte er an der Weinflasche. »Und selbst?« Irgendwie klang er immer wie ein geschiedener Dreißigjähriger, der eine verfrühte Midlife-Crisis durchmachte.
Oliver schüttelte den Kopf. »Jesses, du bist total voll.«
Sebastian zuckte mit den Schultern und genehmigte sich noch einen Schluck. Dann ließ er sich lachend auf einen Teppich aus welkem Laub plumpsen. »Ich bevorzuge den Ausdruck behaglich betäubt.«
»Mal abwarten, wie behaglich du dich noch fühlst, wenn du die Nacht mit dem Kopf in der Kloschüssel verbringst, während du aus Mund und Nase gleichzeitig kotzt.« Oliver brachte seinen Bruder in eine aufrechte Sitzposition. »Du stinkst nach Rotwein. Mom und Dad werden sich vor Angst in die Hose machen, wenn sie dich so sehen.«
Seine Worte trafen mich wie ein mit giftigem Neid getränkter Pfeil in die Brust. Erstens, weil Ollie und Seb Eltern hatten, denen ihre Kinder zu wichtig waren, als dass sie beim Thema Alkoholkonsum Minderjähriger ein Auge zudrücken würden. Es würde Strafen geben, Gespräche, Konsequenzen. Vielleicht sogar Tränen. Zweitens, weil Ollie niemals zulassen würde, dass seine Eltern hiervon erfuhren. Er würde Seb verstecken und sich um ihn kümmern, bis er wieder auf dem Damm wäre. Und gegebenenfalls die Schuld auf sich nehmen. Die Brüder verband eine bedingungslose Loyalität.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Ollie tippte ihn mit der Schuhspitze an.
Seb ließ ein lautes Schnarchen vernehmen, das bestätigte, dass er eingeschlafen war.
Schnaubend löste Ollie die Weinflasche aus Sebs Fingern. Er drehte sich zu mir um und zwinkerte mir zu. »Sollen wir?«
Oliver
Nachdem ich ein behelfsmäßiges Schlaflager für meinen bescheuerten Bruder gebaut und ihn dorthin verfrachtet hatte, gesellte ich mich wenige Minuten später zu Briar Rose, die sich in die benachbarte Box verzogen hatte. Sie saß gegen die Holzwand gelehnt am Boden, eine Hand auf der Bücherkiste, die Seb aus einer Laune heraus hatte mitgehen lassen. Irgendetwas an ihr schien einem Märchen entsprungen – den frühen Kapiteln, in denen die Welt der Prinzessin aus den Angeln gehoben wird und sie allmählich erkennt, welches Teufelsweib in ihr steckt.
Briar Rose war in den letzten Jahren verdammt hübsch geworden. Es war unmöglich, sie nicht anzustarren, obwohl ich nicht genau sagen konnte, was sie so besonders machte. Sicher, sie hatte diese süße Stupsnase, elegant geschwungene Brauen, einen herzförmigen Mund und Wimpern, die länger waren als ein Dostojewski-Roman. Aber ich kannte viele schöne Mädchen, und keins von ihnen ließ mir die Knie weich werden oder Hitze meinen Hals hinaufkriechen.
Doch genau das passierte jetzt gerade.
Ich öffnete die obersten Knöpfe meines Hemds und tat, als würde ich ihr aufmerksam lauschen, während sie aus einem von Sebastians geraubten Büchern vorlas. In Wahrheit konnte ich mich auf nichts als auf ihre Lippen konzentrieren. Vor allem auf ihre untere, die voller war als die obere und förmlich darum bettelte, dass ich daran saugte.
Briar Rose schlug die Beine übereinander und ließ einen Fuß in der Luft baumeln. »Erde an Ollie. Hörst du mir überhaupt zu?« Staubflocken stoben hoch, als sie mit den Knöcheln auf die vergilbten Seiten des Hardcovers klopfte. »Du verpasst die ganzen krassen Stellen.«
»Scheiße. Anscheinend war ich kurz weggetreten.« Ich blinzelte. Räusperte mich. »Wie war gleich noch mal der Titel?«
»Dornröschen und ihre Kinder.« Sie tippte mit dem Finger auf den Einband, bevor sie die halb leere Weinflasche aus der Kiste fischte und daran nippte. »Es ist wohl eine abgewandelte Version des Originals. Aber ich mag sie nicht.«
»Wieso nicht?« Ich rieb mit der Hand über meinen verschwitzten Nacken. »Mir gefällt sie.« Zumindest nahm ich das an. Viel davon mitbekommen hatte ich nämlich nicht, weil ich darauf fokussiert gewesen war, Briar Rose anzuschmachten.
Sie kniff ihre blauvioletten Augen zusammen. »Sie gefällt dir?«
»Klar.« Ich zuckte mit den Schultern. »Was sollte mir daran nicht gefallen?«
»Vielleicht, dass der Prinz die schlafende Prinzessin vergewaltigt und schwängert?«
»Oh.«
»Und seine Mutter nach der Geburt der Zwillinge versucht, sie zu töten und ihrem Sohn zum Abendessen vorzusetzen?«
Igitt.
Ich riss ihr die Flasche aus der Hand und hob sie an meine Lippen. »Scheint, als hätte ich eine Schwäche für Geschichten über dysfunktionale Familien.«
»Dornröschen bringt die Kinder zur Welt, während sie immer noch im Koma liegt.« Angewidert verzog Briar Rose das Gesicht. »Das ist kein Märchen, sondern ein satanisches Machwerk.«
Ich trank einen Schluck, dann stellte ich die Flasche wieder zwischen die Bücher in die Kiste. »Offenbar bin ich bei diesem Teil eingedöst.«
»Es ist echt heftig, was die Menschen dieser Epoche unter guter Unterhaltung verstanden …« Sie schüttelte den Kopf.
»Vergiss nicht, dass es damals noch kein Netflix und auch kein Pickleball gab.«
Briar Rose klappte das Buch zu, bevor sie es zurück zu den anderen legte und trotz ihres Abscheus vor dem Inhalt noch einmal versonnen über den Buchrücken strich. Von all ihren Marotten fand ich diese am niedlichsten.
Seit ich angefangen hatte, ihr Rosen zu schenken, verschlang sie jedes Märchen, das sie in die Finger bekam. Oft merkte ich, dass sie mir regelrecht an den Lippen hing oder mich genau beobachtete, wenn ich irgendetwas tat, so als wäre ich ein Mysterium, das es zu ergründen galt.
Früher hatte mir ihre Aufmerksamkeit das Gefühl gegeben, ein Gigant zu sein. Heute weckte sie eine andere, verwirrende, fast berauschende Empfindung in mir.
»Hast du mein Päckchen letzten Monat bekommen? Ich habe mich für dieses Exemplar von Fantastische Geschichten gewaltig ins Zeug gelegt und mir jedes Mal, wenn der Auktionator das Gebot erhöhte, vorgestellt, wie mein Dad mir mit seiner Brieftasche eins über den Schädel zieht.«
Wann immer ich auf Reisen war, besorgte ich für Briar Rose ein Souvenir, das ich in das Land schickte, in das ihr Vater sie gerade verpflanzt hatte. Neuerdings handelte es sich meistens um regionale Varianten von Dornröschen. Die Prinzessin und Briar Rose trugen nicht nur denselben Namen, sie waren auch beide sanftmütige Wesen. Briar Roses verträumte Augen und ihre weiche Stimme weckten in mir das Bedürfnis, mich an sie anzuschmiegen.
»Ja, und ich liebe das Buch.« Sie klappte die Kiste zu und biss sich auf die Unterlippe. »Du hast es ersteigert, als du mit Zach in Xi’an warst, stimmt’s?«
Ich nickte. »Um ihn aus dem Haus zu bekommen, würde seine Mutter momentan alles tun … sogar, ihn zusammen mit meiner Wenigkeit rund um den Erdball schicken.«
Stille trat ein, während wir unseren jeweils eigenen Gedanken nachhingen. Es kam selten vor, dass wir beide schwiegen. Ich wusste selbst nicht, was sich seit letztem Sommer verändert hatte, aber von dem Moment an, als ich Briar Rose in ihrem wallenden rosa Kleid auf der Terrassenbrüstung hatte sitzen sehen, war es für mich ein Ding der Unmöglichkeit, irgendetwas zu sagen, das nicht dämlich klang.
Schließlich wandte sie mir ihren Blick zu und musterte mich mit besorgt gerunzelter Stirn von oben bis unten. »Ist bei dir alles okay?« Sie legte eine Hand auf mein Knie und drückte es sacht. »Irgendetwas beschäftigt dich. Sag mir, was es ist.«
Ihr Spitzname Knuddelmaus war vor zehn Jahren entstanden, als sie plötzlich angefangen hatte, mich alle paar Minuten zu umarmen, egal, ob wir gerade herumtobten, im Matsch spielten oder was auch immer. Obwohl ich das als Fünfjähriger nervig fand, hatte ich ihre Umarmungen erwidert. Ich war nie ein gemeines Kind gewesen. Warum Briar Rose mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit an sich drückte, hatte ich allerdings erst in den Sommerferien verstanden, bevor ich an die Middle School wechselte: weil sie zu Hause niemand je umarmte und ich der Mensch war, dem sie sich am meisten verbunden fühlte. Es hatte mich schon damals fix und fertig gemacht, dass sie so beschissene Eltern hatte.
Und jetzt saß sie hier vor mir, ihre Hand auf meinem Knie, und brachte mich in größte Versuchung, ihr die Wahrheit zu gestehen.
Mich beschäftigt, dass ich dich küssen möchte und nicht aufhören kann, daran zu denken, wollte ich ihr sagen. Mich beschäftigt, dass du viel zu weit von mir entfernt wohnst und ob es nicht vielleicht möglich wäre, dass du zu mir und meiner Familie ziehst. Jason und Philomena würden es vermutlich eh nicht merken.
Ich konnte noch immer nicht begreifen, wie es möglich war, dass ihre Eltern sie nicht liebten. Aber sie taten es nicht, so viel stand fest. Dabei war sie das Beste, was dieser Planet zu bieten hatte – Nussnougathörnchen eingeschlossen. Sie waren das Problem, nicht ihre Tochter.
Meine Knuddelmaus beugte sich vor, schlang die Arme um mein Bein und stützte das Kinn auf mein Knie. »Also?« Sie sah mir tief in die Augen.
In mir kämpften so viele Gefühle um die Vorherrschaft, dass mir fast übel wurde. Freude, Panik, Verlangen und … fuck, Empfindungen, die ich nicht mal beschreiben konnte. Ich öffnete den Mund, ohne zu wissen, was ich sagen würde, als das unverwechselbare Geräusch von Schritten auf trockenen Blättern aus Richtung Eingang zu uns herandrang und wir beide erschraken.
Gott sei Dank schützten uns die Wände der Box vor Blicken.
Schwer zu sagen, welches Elternpaar uns umbringen und welches anschließend unsere Leichen entsorgen würde, falls die Auers und die von Bismarcks uns hier mit Alkohol erwischten. Ich wusste nur, dass es eine Teamarbeit sein und Jason am Ende versuchen würde, meinem Dad persönlich eine seiner Visitenkarten zu geben, anstatt so wie sonst jeden Sommer ein Exemplar in unseren Briefkasten zu stecken. (Den Auers war es scheißegal, ob ihre minderjährige Tochter trank oder nicht, sie fürchteten lediglich das Gerede, das das nach sich ziehen würde. Meine Eltern hingegen …)
Sebastian ließ in der Box neben uns ein ulkig lautes Schnarchen hören. Der einzige Daseinszweck dieses Blödmanns war, mir auf die Nüsse zu gehen.
Zwei Paar Füße bewegten sich über den rauen Zementboden, gleichzeitig waren die gedämpften Stimmen eines Mannes und einer Frau zu hören. Briar Rose klammerte sich mit einer Hand an meiner Wade fest.
Scheiße. Ich hatte die Stalltür offen gelassen, da ich nicht mit irgendwelchen ungebetenen Gästen gerechnet hatte.
Sekunden später tanzten zwei Schemen an der gegenüberliegenden Wand entlang, bevor sich die größere Gestalt dagegen lehnte, eine Zigarette anzündete und den Rauch in Kringeln ausstieß.
»Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn du rauchst.« Die Frau stampfte mit dem Fuß auf. »Du riechst wie ein Aschenbecher.«
Briar Rose und ich wurden vollkommen regungslos und starrten uns entsetzt an. Es war die Stimme ihrer Mutter. Aber bei dem Mann konnte es sich nicht um ihren Vater handeln. Jason Auer quarzte ausschließlich Zigarren, alles andere betrachtete er als proletenhaft.
Der Kerl zog wieder an seinem Glimmstängel und blies den Rauch dieses Mal direkt in Philomenas Gesicht. »Lieber rieche ich wie ein Aschenbecher, als ein verkommener Betrüger zu sein.« Sein schwerer Akzent verwies auf Texas und nicht auf New York, der Stadt, aus der Jason stammte.
Briar Rose, die noch immer halb über meinem Knie hing, schaute mich mit großen Augen hilflos an. Ich legte einen Finger auf meine Lippen, um ihr zu signalisieren, still zu sein.
Philomena wedelte den Rauch mit der Hand weg. »Jason ist kein Betrüger.«
»Er ist ein Ganove und ein Schwindler, und er bringt die ganze Familie in Gefahr.«
In Gefahr? Was meinte er damit? Wenn nötig, wäre ich bereit, Jason persönlich die Haut abzuziehen und daraus eine Decke für Briar Rose anzufertigen. Ich hatte diesen Kerl nie leiden können.
»Jason weiß, was er tut. Abgesehen davon … was erwartest du von mir? Er ist mein Mann.«
»Er ist ein Saftsack.«
»Ein reicher Saftsack. Hast du vergessen, dass ich einen Ehevertrag unterschrieben habe? Du hast mir nichts zu bieten, Cooper, außer einem leicht überdurchschnittlich großen Schwanz.« Sie gab ein abfälliges Grunzen von sich, das Briar Roses sonst stets betont vornehm auftretender Mutter so gar nicht ähnlichsah. »Du bist ein armer Schlucker.«
Briar Rose zuckte immer wieder zusammen, als prasselten die Worte wie Ohrfeigen auf sie ein. Kein Wunder. Ihre Mutter hatte sich soeben zu einer Affäre bekannt.
»Ob du’s glaubst oder nicht, Phil, aber im Leben dreht sich nicht alles immer nur um Geld.«
»Maß dir ja kein Urteil über mich an, Cooper. Ich handle nur im besten Interesse meiner Tochter.«
»Leider tust du das nicht, und das macht mich wütend, weil sie immerhin auch meine Tochter ist.«
Briar Rose entschlüpfte ein Wimmern.
Fuck.
Hastig legte ich ihr eine Hand vor den Mund, weil ich wusste, dass sie sonst zu schreien anfangen würde. Dieser Typ hatte das völlig beiläufig gesagt, ohne zu ahnen, dass er damit die Welt meiner besten Freundin komplett auf den Kopf stellte.
Und Briar Rose …
Sie hatte die Zähne so fest in meinem Handballen vergraben, dass ein Rinnsal von Blut über meinen Unterarm lief. Dabei blickte sie mir unverwandt in die Augen, ohne mich wirklich wahrzunehmen. Ich sah, wie das Begreifen ganz langsam in ihr Bewusstsein sickerte und sich schmerzhaft in ihrem Herzen einnistete.
Eine Träne tropfte von ihrer Wange auf meinen Knöchel.
Jason Auer war nicht ihr Vater.
Es war dieser Fremde.
Oliver
Auf einmal machte alles Sinn. Mit ihren buschigen dunklen Haaren, den spitzen Nasen, den Glupschaugen und dem untersetzten Körperbau ähnelten Jason und Philomena Auer einem Lemuren-Paar. Es hatte mich immer verblüfft, wie zwei Menschen, die aussahen wie durch Inzucht gezeugte Gestaltwandlerzwillinge, eine so bildschöne, hochgewachsene erdbeerblonde Tochter mit blauvioletten Augen hervorgebracht haben konnten.
Darüber hinaus hatte Briar Rose nicht ein einziges Persönlichkeitsmerkmal mit den beiden gemein. Sie liebte alte Bücher und gemütliche Abende. Jason und Philomena liebten neues Geld und ihren sicheren Platz in der Hölle. Briar Rose brachte Licht in jeden Raum, den sie betrat. Jason und Philomena brachten Licht in jeden Raum, den sie verließen. Sie war gut. Die beiden waren es nicht.
Ich streichelte mit meiner freien Hand über ihren Kopf und wünschte, Philomena und Cooper – wer auch immer der Kerl war – würden endlich verschwinden, damit ich ihre Tochter in meine Arme schließen konnte. Hastig blinzelte sie und öffnete zitternd den Mund zu einem Schrei, während sie gleichzeitig vergeblich versuchte, meine Hand von ihm wegzuschieben. Ich schüttelte den Kopf und flehte sie mit meinem Blick an, still zu sein. Philomena Auer war absolut zuzutrauen, dass sie der bösen Großmutter aus dem Märchen nacheifern würde, das Briar Rose vorhin vorgelesen hatte. Sie würde ihre Tochter ohne jeden Zweifel bestrafen, falls sie sie hier entdeckte. Das konnte ich nicht riskieren.
»Schsch.« Philomena klatschte ihre Handtasche gegen Coopers Brust. »Bist du vollkommen irre? Jemand könnte uns hören.«
»Schön wär’s.« Er sprach absichtlich laut, bevor er kurz verstummte und an seiner Zigarette zog. »Briar Rose ist meine Tochter. Ich will sie kennenlernen. Ich verdiene es, eine Bindung zu ihr aufzubauen und an ihrem Leben teilzuhaben.«
»Sie wurde in Sünde gezeugt.«
»Nicht sie hat gesündigt, sondern wir. Warum sollte sie die Konsequenzen tragen?«
»Sie ist ein Bastard.«
»Genau wie dein Ehemann.« Er warf die Kippe auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus. »Ich sehe doch, wie schlecht er zu ihr ist. Und du lässt es zu. Du solltest dich schämen. Jason ist ein Kindesmisshandler.«
Jason. Wusste er, dass er nicht ihr biologischer Vater war? Anscheinend schon, denn sonst wäre er nicht so gemein zu ihr.
Briar Rose zitterte wie Espenlaub und hatte die Zähne wieder in meinem Handballen versenkt. Mein Blut rann ihr übers Kinn und tropfte auf ihr Kleid. Ich schloss die Augen und atmete langsam und gleichmäßig gegen den Schmerz und den Zorn an. Müsste ich keine juristischen Folgen fürchten, würde ich jetzt aus der Box stürmen und diesem Miststück Philomena eine Ansage machen, die sich gewaschen hätte. Noch nie zuvor hatte es mich so viel Selbstbeherrschung gekostet, Ruhe zu bewahren. Aber Briar Rose konnte jetzt keinen Hitzkopf gebrauchen.
Ich hob ihr Kinn an und zwang sie, sich auf mich zu fokussieren. Bitte, formte ich lautlos mit den Lippen. Sei still.
Coopers Silhouette kam Philomenas ganz nah. »Ich will eine Rolle im Leben meiner Tochter spielen.«
»Zu spät.« Philomena schubste ihn weg, dann wanderte sie auf und ab, die Hände auf ihre Schläfen gepresst. »Jason und ich gehen nach Argentinien. Sie wird in der Schweiz bleiben. So ist es das Beste.«
»Das Beste für wen? Sie wird das Leben einer Waise führen, nur weil du zu stolz bist, die Verantwortung für sie an mich abzugeben.«
»Du wirst mir das nicht kaputt machen, nachdem Jason mir meinen kleinen Ausrutscher endlich verziehen hat.«
Er trat so kräftig gegen die Wand, dass das Echo durch die Stallung hallte. Seb stieß einen Schnarcher aus, der zum Glück von Philomenas Aufschrei übertönt wurde. »Dein kleiner Ausrutscher ist ein Kind mit Träumen und Bedürfnissen.«
»Ein uneheliches Kind«, betonte sie. »Und ein undankbares noch dazu.«
»Du wirst sie nicht allein in der Schweiz ihrem Schicksal überlassen. Ich nehme sie zu mir.«
»Den Teufel wirst du tun. Das würde einen Riesenskandal geben.«
Nicht zu fassen, dass dies das Einzige war, was sie interessierte. Briar Rose musste ihren Verstand von ihrem Vater geerbt haben, weil ihre Mutter keinen besaß.
Sie drückte ihr Gesicht in meine blutige Hand und fing an zu weinen. Die beiden würden sie hören, wenn ich nicht irgendetwas unternahm. Ich zermarterte mir das Gehirn, wie ich den Ansturm ihrer Tränen stoppen könnte.
»Sei einfach ehrlich und gib es zu.« Cooper senkte die Stimme. »Du willst sie loswerden, weil du neidisch auf sie bist. Weil sie dich in jeder Hinsicht überstrahlt. Sie ist gut und rein, und du bist weder das eine noch das andere.«
Philomena stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Ich bin nicht neidisch auf meine eigene Tochter, du Dummkopf.«
»Doch, das bist du. Du kannst ihre Schönheit und Anmut nicht ertragen. Darum verbannst du sie aus deiner Nähe. Um dich selbst besser zu fühlen. Das ist wirklich erbärmlich.« Kurze Pause. »Du bist wie die Märchenfigur Malefiz. Bösartig. Rachsüchtig. Über deine besten Jahre hinaus.«
»Ich –« Philomena stockte. »Was war das?«
Briar Rose. Sie weinte immer noch und war kurz davor, in Schluchzen auszubrechen. Verfickte Scheiße.
Philomena schnappte nach Luft. »Hast du das nicht gehört?«
»Was gehört?«
Fuck. Ich musste irgendwas tun. Mir blieb keine Wahl.
Ehe ich es mir anders überlegen konnte, nahm ich meine Hand weg, beugte mich vor und presste meinen Mund auf Briar Roses. Es war kein heißer, leidenschaftlicher oder geschickter Kuss. Er war weder sexuellem Verlangen geschuldet noch meinen von Jahr zu Jahr immer stärker werdenden Gefühlen für sie. Nein, er war eine Mischung aus Wut und Verzweiflung, Angst und Sorge. Den Schmerz dieses Mädchens, das mir der allerliebste Mensch auf der Welt war, wollte ich in mich aufsaugen.
Ich schmeckte mein Blut auf ihren Lippen. Sie gab ein ersticktes Geräusch von sich, unterbrach den Kontakt jedoch nicht. Stattdessen zog sie mich an meinen Schultern näher zu sich und klammerte sich an mir fest wie an einem Felsen, der sie vor dem Sturz in den Abgrund bewahrte.
»Da war nichts«, blaffte Cooper. »Es ist einfach nur armselig, dass du jedes Mal, wenn ich dich abpasse, alles daransetzt, um dich dem Gespräch zu entziehen.«
»Gut, dass du das Thema ansprichst. Falls du mir noch mal irgendwo auflauerst, werde ich eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirken. Du hast weder die Eier noch die finanziellen Mittel, um dich mit mir anzulegen. Darum provozier mich nicht. Das würde nicht gut für dich ausgehen.«
»Und du denkst, dass diese Scharade für dich ein gutes Ende nehmen wird?« Cooper gestikulierte so wild, dass die Schatten die ganze Wand ausfüllten, während ich Briar Roses Körper so verlagerte, dass sie keinen Blick mehr darauf hatte. »Ich kenne deine Achillesferse, Phil. Deine und die deines kriminellen Ehemanns.«
»O mein Gott. Du bildest dir ernsthaft ein, dass sie sich für dich entscheiden würde?«, spottete sie, und ich hoffte inständig, dass Briar Rose zu sehr von unserem Kuss abgelenkt wurde, um ihr länger zuzuhören. »Sie ist ein Duckmäuser, zu feige, um für sich selbst einzutreten. Gestern habe ich mein verbranntes Steak gegen ihr perfektes getauscht, und sie hat es kommentarlos hingenommen.«
»Du bist ein verdammtes Monster«, sprach Cooper laut aus, was ich dachte.
Ich drückte Briar Rose noch enger an mich und presste meine Lippen so fest auf ihre, dass sie den Kontakt nicht hätte unterbrechen können, selbst wenn sie es wollte.
»Und du hast keinerlei Ansprüche auf sie. Halt dich von ihr fern.« Philomenas Absätze klackerten über den Zementboden. »Denn wenn du das nicht tust, wird sie alles verlieren. Das Geld. Ihre offizielle Abstammung. Ihren Ruf. Du hast ihr nichts zu bieten. Du bist ein Dienstbote hier.«
»Es macht mir nichts, niedere Arbeiten zu verrichten, wenn ich dadurch die Gelegenheit habe, meine Tochter zu sehen.«
»Tja, nur leider ist sie an einen gewissen Lebensstil gewöhnt. Mach ihr nicht alles kaputt. Sie wäre nicht glücklich darüber, wenn sie sich in Zukunft mit Ramen-Suppe, Leitungswasser und einem schäbigen Apartment begnügen müsste, das ihr abgehalfterter Vater sich nur mit Müh und Not leisten kann.« Damit stolzierte sie davon.
Fluchend zeigte Cooper ihrer entschwindenden Gestalt beide Mittelfinger und trat mit der Fußspitze gegen den Dreck auf dem Boden, bevor auch er davonging.
Sobald er außer Hörweite war, löste ich meine Lippen von Briar Roses.
Anstatt dieses verträumten, benommenen Ausdrucks, der sich normalerweise im Gesicht eines Mädchens zeigte, nachdem ich es geküsst hatte, waren ihre Augen weit geöffnet, ihr Blick scharf. Sie krallte die Finger in den Stoff ihres Kleids und sah sich panisch um, als fürchtete sie, die Schatten könnten zurückkehren und sie verschlingen. Als Sebastian plötzlich einen markerschütternd lauten Schnarcher hören ließ, wäre sie vor Schreck fast umgekippt. »O Gott.« Sie schlug die Hand vor den Mund, und wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen. Anscheinend hatte sie den Kuss gar nicht registriert. »Was soll ich bloß tun, Ollie? Ich habe das Gefühl, als würde der Himmel über mir einstürzen.«
»Bevor das passiert, werde ich ihn stützen.« Zwar wusste ich nicht, wie ich das anstellen sollte, aber für sie würde ich einen Weg finden.
»Ich bin nicht Dad… Jasons Tochter.«
»Du bist immer noch Briar Rose Auer. Lustig, süß und absolut perfekt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Darum hasst er mich«, flüsterte sie. »Das ist der Grund, warum sie mich verstoßen.«
»Er hasst dich nicht«, widersprach ich, obwohl es die Wahrheit war und ich den Mann dafür verabscheute.
»O doch, das tut er.« Sie lachte bitter auf. »Mom hat wirklich unsere Steaks getauscht, als sie feststellte, dass ihres angebrannt war. Aber willst du wissen, was Dad gemacht hat?«
Nein. Weil ich mit Sicherheit Mordgelüste spüren würde, wenn sie es mir erzählte. Trotzdem nickte ich, damit sie fortfuhr.
»Er meinte, dass ich für ein Mädchen zu viel esse, dann hat er die gute Hälfte von meinem Fleisch abgeschnitten und auf seinen eigenen Teller gelegt.«
Dieser Wichser. »Jason ist ein Mistkerl. Du brauchst ihn nicht.«
Tatsächlich wäre sie ohne ihn besser dran. Obwohl es meinem Vater zuwider war, dass solche »Blutegel« wie die Auers in unserer Nähe wohnten, kehrten wir trotzdem jeden Sommer zur selben Zeit wie sie an den Genfer See zurück, weil ich meine Dosis Briar Rose benötigte und meine Eltern so lange bearbeitete, bis sie nachgaben.
»Er ist mein Vater, Oliver.«
»Was ist mit Cooper? Es ist gut, dass du zumindest einen Elternteil hast, dem du am Herzen liegst. Anscheinend arbeitet er nur auf diesem Anwesen, um dich sehen zu können. Das ist echt krass.«
Sie schniefte und schaute auf ihr Kleid hinunter. Sogar in der Dunkelheit waren die Blutstropfen auf dem rosa Satin zu erkennen. »Oje.« Sie nahm meine zur Faust geballte Hand und bog behutsam meine Finger auseinander. »Das tut mir so leid.«
»Das muss es nicht.« Sie hatte längst aufgehört zu bluten, und sowieso spielte es keine Rolle. Weil ich überhaupt keinen Schmerz spürte. Und da begriff ich, dass ich komplett am Arsch war.
In Briar Rose verliebt zu sein, hatte ich bisher einerseits als unbequem, lästig und nervenaufreibend empfunden, hauptsächlich aber war es aufregend und vergnüglich. Doch heute hatte ich die dunkle Seite meiner Gefühle kennengelernt. Weil jeder Schmerz und Kummer, der ihr zugefügt wurde, auf meiner eigenen Haut brannte wie ein Peitschenhieb und ich im gleichen Maße litt wie sie selbst.
»Was soll ich bloß tun?«, wiederholte sie und zupfte an meinem Hemdkragen.
»Lauf mit mir weg.« Keine Ahnung, wo dieser völlig beknackte Gedanke à la Romeo Montague plötzlich herkam, aber noch während ich das sagte, wusste ich, dass es mein voller Ernst war. »Wir könnten ans Ende der Welt flüchten.«
Es existierte tatsächlich und wurde vom Cabo de São Vicente in Portugal markiert. Ursprünglich war Sebs Plan gewesen, das Kap irgendwann einmal zu umsegeln … bevor er einen neuen Weltrekord im Rudern aufgestellt und erkannt hatte, dass dieser Planet ihm nicht genügend Herausforderungen bot und er sich deshalb darauf konzentrieren sollte, das Universum zu erobern.
Briar Rose zog die Augenbrauen hoch und bedachte mich mit einem Blick, der ausdrückte: Echt jetzt? Unterdessen schnarchte Seb in der Nachbarbox weiter munter vor sich hin, er hatte das ganze Drama verpennt. Dass Philomena und Cooper ihn nicht gehört hatten, konnte nach diesem brutalen Abend als letzter Beweis dafür angesehen werden, dass es einen Gott gab.
»Na klar. Lass uns einfach weglaufen. Mehr als lustige Streiche und Küsse aus heiterem Himmel brauchen wir ja nicht zum Leben.« Sie versuchte zu lachen und die Coole zu mimen, so als hätten ihre Zähne keine Krater in meiner Handfläche hinterlassen. »Meine Eltern haben vor, mich auf ein Schweizer Mädcheninternat zu schicken und nach Argentinien zu ziehen. Bisher haben sie mich die Hälfte der Zeit ignoriert und die andere Hälfte mies behandelt. Aber dass sie mich einfach abschieben, ist noch nie vorgekommen. Ich will nicht allein sein«, presste sie mit erstickter Stimme hervor. »Ich habe schreckliche Angst.«
Ich fasste ihre Arme. »Du wirst auf dieser Schule aufblühen, Briar Rose.« Keine Ahnung, was mich dazu bemüßigte, solchen Unsinn zu faseln. Ich würde niemals auch nur einen einzigen Tag auf einem Internat verbringen. »Wir werden jeden Tag telefonieren und uns weiterhin regelmäßig schreiben. Ich werde immer für dich da sein. Der nächste Sommer wird im Handumdrehen vor der Tür stehen. Und an deinem achtzehnten Geburtstag bist du diese Arschlöcher los und ein freier Mensch. Okay?«
Briar Rose schluckte schwer, dann nickte sie.
Das genügte mir nicht. Ich musste hören, wie sie es sagte. »Okay?«, wiederholte ich.
»Okay.« Sie schien sich zu Tode zu fürchten. Kein Wunder, ich hatte selbst höllische Angst. Vor der Möglichkeit, dass ich sie nicht würde beschützen können und wir beide mich dafür hassen würden. Aber ich wollte verdammt sein, wenn ich nicht wenigstens versuchen würde, ihr zu helfen.