My new life in Magic Spring - Lindsey Moon - E-Book

My new life in Magic Spring E-Book

Lindsey Moon

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Beschreibung

"Sie alle suchten nach einer Familie, doch sie sahen nie, was sie schon hatten." Ich dachte, ich sei ein ganz normaler Teenager. Doch jedem Menschen wird irgendwann klar, dass seine Vorstellungen nicht immer mit der Realität übereinstimmen. Als ich nach Magic Spring zog, wusste ich noch nicht, dass mein Wissen über unsere Welt unvollständig war. Doch um den Sinn verstehen zu können, muss man die ganze Wahrheit kennen. Ich persönlich wäre lieber unwissend geblieben. Mein Name ist Marianne Ohara und ich möchte euch etwas verraten: Sie leben mitten unter uns. Nach einer Wattpad-Story von MusicToTheMoon

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My new life in Magic Spring

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3 – IsabelKapitel 4 – MaryKapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9 – LucianKapitel 10 - MaryKapitel 11 - LucianKapitel 12 – MaryKapitel 13Kapitel 14 - LucianKapitel 15 - JosiasKapitel 16 - MaryKapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51EpilogDanksagungImpressum

Prolog

Ich saß mit meinen Eltern im Auto. Wir waren auf dem Weg zurück nach London und wir kamen direkt von der Küste, wo wir unseren Urlaub verbracht hatten. Ich war glücklich, das waren wir alle. Mom schwärmte noch immer von den wunderbaren Stränden, während Dad ihr mit einem Lächeln im Gesicht zuhörte. Es war einfach alles perfekt. Im Radio lief mein damaliges Lieblingslied und ich wollte meine Eltern gerade überreden, es lauter zu stellen, damit man mich nicht mehr hören konnte, wenn ich mitsang.

„Bitte, Dad, nur ein bisschen lauter, ich liebe dieses Lied!“

Es dauerte nicht lange und er gab nach. Er konnte mir noch nie einen Wunsch abschlagen. Als er jedoch nach dem Lautstärkeregler griff, sah er einen Moment nicht auf die Straße. Nur einen einzigen, winzigen Moment, der normalerweise nichts angerichtet hätte. Normalerweise.

Aber es sollte nicht so kommen. Durch die Ablenkung sah er den LKW zu spät, der einige Meter von uns entfernt aus der Spur geriet und frontal in unser Auto krachte. Ich hatte kaum Zeit, zu realisieren, was hier gerade geschah. Ich schrie. So laut ich konnte.

Kapitel 1

Erst das Klingeln meines Handyweckers riss mich aus dem Schlaf. Ich hatte nur geträumt, obwohl dieser Traum leider auch die Realität war. Der LKW-Fahrer war betrunken gewesen, so hatte es zumindest in der Zeitung gestanden. Es war wie ein Wunder, dass ich überlebt hatte, aber meine Eltern hatten nicht so ein Glück gehabt, da sie vorne gesessen und den Aufprall voll abbekommen hatten.

Seit diesem Tag hatte ich schreckliche Schuldgefühle, auch wenn meine Therapeutin mir sagte, ich könnte nichts dafür. Aber ich glaubte ihr nicht.

Sie hatte außerdem gesagt, ich sollte mir eine Beschäftigung suchen, um mich abzulenken. Das hatte ich daraufhin auch gemacht. Denn seit zwei Monaten versuchte ich, den Wohnort meiner leiblichen Eltern herauszufinden, da ich adoptiert wurde, wie ich bereits vor sieben Jahren herausgefunden hatte.

Meine Mutter, Terese Smith, war vor einigen Jahren in New Orleans gestorben, das hatte ich schon dank des Internets erfahren. Und mein Vater Jeffrey Dean lebte in einem kleinen Ort mit einem merkwürdigen Namen: Magic Spring. Und genau dahin würde ich jetzt gehen.

Einige Stunden später kam ich endlich in der kleinen Stadt an. Ein altes, verrostetes Straßenschild mit den Worten „Herzlich Willkommen in Magic Spring“ begrüßte mich. Es war alles sehr ruhig, abgelegen und idyllisch. Schade nur, dass ich eigentlich eher der Stadtmensch war, deshalb sprachen mich weder die schöne Umgebung noch die Stille überall an. Aber ich sollte wohl nicht so wählerisch sein, solange ich hier auch wirklich meinen Vater finden würde.

Als Erstes machte ich mich auf die Suche nach meiner Wohnung, die ich bereits einige Tage zuvor von meinem Erbe gekauft hatte. Nach einigem Hin und Her fand ich sie endlich und schloss die Tür mit dem Schlüssel auf, der wie abgemacht unter der Fußmatte lag. Als ich die Schwelle übertrat, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Ich war noch nie umgezogen, deshalb fiel es mir schwer, diesen neuen und unbekannten Ort Zuhause zu nennen. Aber das war es: mein neues Zuhause, mitten im Nirgendwo.

Zuerst packte ich die wenigen Sachen aus, die ich aus London mitgebracht hatte. Eigentlich waren es nur ein paar Klamotten und Bilder. Das Bild meiner Adoptiveltern stellte ich behutsam auf den Nachttisch. Sobald ich mich in meinem Zimmer wohl fühlte, machte sich mein Magen bemerkbar und ich beschloss, mich auf die Suche nach einer Gaststätte oder einem Restaurant zu machen, auch wenn ich aufgrund der minimalen Größe des Ortes keine großen Hoffnungen hatte.

Einige Zeit fuhr ich ziellos durch die Gegend, bis ich an einen Ort kam, an dem mehr als drei Autos beieinander standen. Es war ein altes Haus mit der Schrift „Magic Restaurant“. Zuerst war ich ein wenig skeptisch und fragte mich, wieso denn alles in dieser Stadt so „magisch“ sein sollte, beschloss dann aber, dass mir das auch egal sein konnte. Wenn sie wirklich dachten, dass dieses Motto Touristen anlocken könnte, konnten sie es ja gerne weiter versuchen, auch wenn ich persönlich diese Idee ein wenig albern fand. Ich betrat das Gebäude und sah Sitzgelegenheiten, einen Billardtisch und eine Bar. Insgesamt sah es hier endlich wieder so aus wie in der Zivilisation und ich vermutete, dass dieser Ort nicht nur Restaurant, sondern gleichzeitig auch Jugendtreff und Kneipe war. Also genau das, was ich gesucht hatte.

Gerade als ich mich an einen Tisch setzen wollte, bemerkte ich, dass mein Hunger verflogen war und so schlenderte ich stattdessen zur Bar, an der nur ein anderer Mann mit schwarzen Haaren saß. Ich bestellte gerade eine Cola, als er mich plötzlich grundlos ansprach.

„Guter Geschmack, Kleines.“

Überrascht drehte ich mich zu ihm um. Er hatte tiefblaue Augen und war insgesamt ziemlich heiß. Aber er hatte mich Kleines genannt und das konnte ich ihm nicht einfach so durchgehen lassen.

„Danke, vermute ich mal. Aber ich bin niemandes Kleine.“

„Ach, echt? Und wer bist du dann?“

„Wüsste nicht, was dich das angeht, aber ich will ja mal nicht so sein. Mein Name ist Mary Ohara.“ Neue Kontakte waren in einer fremden Stadt schließlich immer gut.

„Du bist neu hier, Mary, oder?“

„Ja. Und du bist…?“

„Oh, ich vergesse ja meine Manieren. Ich bin Lucian. Lucian Oscure, um genau zu sein.“

„Freut mich, dich kennenzulernen, Lucian.“

Wir redeten noch ein bisschen über dies und das, bis ich irgendwann sagte: „Ich muss jetzt los. Vielleicht sehen wir uns ja noch einmal.“

„Nein, geh noch nicht!“

Er beugte sich zu mir rüber und sah mir in die Augen. Dabei flüsterte er: „Du möchtest mich zu dir nach Hause einladen und eine tolle Nacht mit mir verbringen.“

Dabei weiteten sich seine Pupillen auf eine merkwürdige Art, aber das war mir auch ziemlich egal. Wahrscheinlich war er einfach nur high.

„Sag mal, spinnst du?! Ich kenne dich seit gerade mal zwei Stunden und du scheinst ja auch ganz nett zu sein, aber so billig bin ich echt nicht. Du hast sie ja nicht mehr alle. Auf Wiedersehen.“

Und mit diesen Worten verschwand ich und fuhr schnell zurück zu meiner Wohnung. Was für ein Psychopath! Dennoch war mein letzter Gedanke am Abend, was passiert wäre, wenn ich nicht so verklemmt gewesen wäre und ihn einfach mit nach Hause genommen hätte.

In dieser Nacht hatte ich von Lucian Obscure geträumt. Ich war mir unsicher, was genau passiert war. Das Einzige, an das ich mich erinnern konnte, war, dass ich alleine in einem Wald war und davongerannt bin, als Lucian kam und mich nach Hause brachte. In Sicherheit. Dann hatte er angefangen, mich zu küssen, aber kurz darauf bin ich aufgewacht. Zum Glück. Das Merkwürdigste war nur, dass es mir gefallen hatte. Verrückt, gerade nachdem er so komisch zu mir gewesen war gestern Abend. Egal, ich stand am besten erst mal auf. Heute wollte ich mich auf die Suche nach meinem Vater machen. Hoffentlich war er noch in der Stadt, das letzte Lebenszeichen von ihm, das ich im Internet gefunden hatte, war schließlich drei Jahre her. Dennoch war ich zuversichtlich, ihn zu finden. Irgendetwas musste ja auch mal so funktionieren, wie ich es mir wünschte.

Ich zog mir meine Lieblings-Hotpants und ein dunkelblaues Top an. Dazu noch eine schicke Halskette und mein Outfit war fast perfekt. Schnell band ich mir noch meine blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und schminkte mich ein wenig, wobei ich besonders meine stahlblauen Augen betonte. Danach ging ich in die Küche, um zu frühstücken. Allerdings bemerkte ich schnell, dass ich gestern vergessen hatte, etwas einzukaufen, sodass mein Kühlschrank gähnend leer war.

Also machte ich mich ohne weiter zu zögern auf den Weg in die Stadt. Nach einem Brötchen, das ich hastig im Auto aß, machte ich mich auf die Suche nach dem Rathaus. Bereits nach wenigen Minuten fand ich es, es war ganz in der Nähe vom Restaurant, in dem ich gestern gewesen war. Leider öffnete das Rathaus erst in einer halben Stunde, also entschloss ich mich, wieder zu dem Ort zu gehen, an dem sich scheinbar das ganze soziale Leben in Magic Spring abspielte. Ich war fast alleine dort, nur drei andere waren da. Ein rothaariges Mädchen, das mit einem braunhaarigen Jungen Billard spielte und… Lucian.

Das war ja klar, dass ich ihn hier treffen musste. Gerade als ich mich umdrehen wollte, um im Auto zu warten, bis er weg war, rief er zu mir herüber: „Hey, Mary. Du wirst doch wohl nicht wegen mir gehen. Ich muss mit dir reden.“

Seufzend drehte ich mich um und ging auf ihn zu. Wortlos setzte ich mich neben ihn und sah ihn stumm an, bis ich schließlich sagte: „Dann rede.“

„Okay… Hör zu, das mit gestern tut mir leid, wir haben wohl beide zu viel getrunken…“

Als ich ihn skeptisch ansah, grinste er mich schief an und verbesserte sich: „Na gut, nur ich habe zu viel getrunken. Was ich da gesagt habe, tut mir leid, normalerweise bin ich charmanter.“

„Schön, sonst noch was?“

„Nein, aber…“

„Dann kann ich ja jetzt gehen.“

„Nein, warte…“

Als er mich wie gestern Abend am Arm packte, drehte ich mich wütend zu ihm um und fauchte: „Lass mich sofort los!“

„Hey, gibt’s hier ein Problem?“

Das war der braunhaarige Junge vom Billardtisch. 

„Nein, gibt es nicht.“ war prompt Lucians Antwort. Der Junge sah mich aber fragend an, und so sagte ich zu ihm: „Nein, wirklich nicht, Lucian wollte gerade gehen.“

Seufzend gab Lucian auf und ließ mich los. Er verließ das Gebäude mit den drohenden Worten „Wir sehen uns noch, Kleine.“

Ich ignorierte ihn und wandte mich lächelnd an meinen Retter aus dieser unangenehmen Situation: „Danke. Ich kenne ihn zwar erst seit gestern, aber er geht mir jetzt schon auf die Nerven.“

„Ja, Lucian ist nicht gerade der… umgängliche Typ. Ich bin übrigens Andrew, Andrew Dean.“

Mir fiel beinahe mein Glas aus der Hand, als ich seinen Namen hörte und starrte ihn fassungslos an. „Dean?“

„Ja, wieso?“, fragte er mich misstrauisch.

„Kennst du zufällig einen Jeffrey Dean?“

„Vielleicht. Kommt darauf an, was du von ihm willst.“

„Oh, tut mir leid, mein Name ist Mary Ohara. Und ich bin nur hier, um jemanden zu finden, der sehr wichtig für mich ist und den ich unbedingt kennenlernen muss. Er heißt Jeffrey Dean und das Einzige, was ich von ihm weiß, ist, dass er zumindest vor drei Jahren hier in Magic Spring gewohnt hat. Also, kennst du ihn jetzt oder nicht?“

„Und was willst du von ihm?“

„Das ist privat. Hilfst du mir jetzt, ihn zu finden? Bitte, Andrew!“

„Na ja, du findest ihn ja sowieso irgendwann. Jeffrey wohnt bei mir. Ich kann dich zu ihm bringen, wenn du willst.“

„Ja, das wäre sehr nett. Danke.“

Andrew ging und beredete kurz etwas mit seiner Freundin. Sie sah ab und zu misstrauisch zu mir rüber und sah nicht gerade glücklich darüber aus, dass ich ihr ihren Freund wegnahm. Währenddessen versuchte ich, so unschuldig wie möglich auszusehen. Einige Zeit später kam Andrew auf mich zu.

„Wir können los.“

Den ganzen Weg zum Haus der Deans redeten wir nicht ein Wort miteinander. Angekommen blieben wir auf der hübschen Veranda stehen. Andrew schloss die Tür auf und ging ins Haus. Unsicher blieb ich vor der Schwelle stehen, bis er mit einem Kopfnicken sagte, dass die Küche dort drüben sei, und Jeffrey auch da sei.

Also zögerte ich nicht lange und folgte ihm in die Küche. Andrew atmete kaum hörbar aus, als ich die Türschwelle übertrat, aber das vergaß ich sofort wieder, als ich einen Mann in der Küche sah.

„Jeffrey?“

Kapitel 2

Der Mann vor mir drehte sich um und als ich ihm in die Augen sah, stockte mir mein Atem. Es gab keinen Zweifel, denn der Mann vor mir hatte exakt die gleichen Augen wie ich. In ebendiese Augen stiegen mir die Tränen, die ich aber erfolgreich unterdrückte.

„Kennen wir uns?“, fragte er mich.

Ich zuckte kaum merklich zusammen. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, aber jedenfalls etwas Freundlicheres, was nicht so kühl, distanziert und misstrauisch klang. Apropos, wieso waren eigentlich alle Menschen hier, die ich bereits kennengelernt hatte, so unfassbar misstrauisch?

„Das kann man nicht so sagen, nein. Können wir reden? Unter vier Augen? Bitte.“

Schon wieder misstrauisch – langsam ging mir dieses Misstrauen schon auf die Nerven – kniff er die Augen zusammen, bis er mich schlussendlich doch ins Wohnzimmer führte, wo er mir bedeutete, mich zu setzen.

„Also, wer bist du und was willst du von uns?“

„Mein Name ist Mary Ohara.“, fing ich mit leiser Stimme an. „Meine Adoptiveltern sind vor einigen Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen und seitdem bin ich auf der Suche nach meinen leiblichen Eltern. Und ich will nichts von euch, ich will etwas von dir.“

„Das ist ja wirklich eine sehr rührselige Geschichte, aber mir ist immer noch nicht klar, was das mit mir zu tun haben soll.“

Autsch, das tat weh. Anscheinend hatte er komplett vergessen, dass er eine Tochter in meinem Alter hatte. Dennoch erzählte ich so ruhig wie möglich weiter. „Meine leiblichen Eltern haben sich vor etwa 17 Jahren in New York kennengelernt. Sie waren nur kurz zusammen, aber in dieser Zeit bekam meine Mutter mich. Ihren Namen gab es so häufig, dass ich nicht mehr über sie herausfinden konnte, aber über meinen Vater gab es mehr Infos. Der Name meiner Mutter war Smith. Terese Smith. Und du, Jeffrey Dean, bist mein Vater.“

Einen Moment herrschte Stille zwischen uns. Ich sah, wie mein Vater die verschiedensten Emotionen durchlebte: Verwirrung, Fassungslosigkeit, Wut, Traurigkeit, vermutlich durch Erinnerungen, und als letztes Verständnis. So schnell hatte er mich anscheinend als seine Tochter akzeptiert. Na ja, als ich auf die Uhr sah, merkte ich, dass wir bereits seit einer halben Stunde hier saßen und uns anschwiegen, also vielleicht freute ich mich auch zu früh. Endlich unterbrach er die Stille, was mir sofort ein Lächeln ins Gesicht zauberte. „Erzähl mir mehr über dich! Was hast du bisher gemacht?“

Erleichtert atmete ich auf. Ich hatte also tatsächlich recht gehabt. Ich hatte meinen Vater gefunden und er konnte sich an mich erinnern. Ein wenig zumindest. Und so begann ich, ihm von mir zu erzählen: Wie ich bei meinen Adoptiveltern groß geworden war, wie ich vor sieben Jahren von meiner Adoption erfahren hatte und daraufhin zwei Wochen nicht mit meinen Adoptiveltern geredet hatte. Wie ich mich das erste Mal verliebt hatte. Ich erzählte ihm einfach alles, von meinem ersten Liebeskummer über meine treulosen Freunde, die sich nie bei mir gemeldet hatten, bis hin zum Tag des Unfalls. Danach wollte ich mehr über ihn wissen. Und er gab mir dieses Wissen, ohne weiter zu zögern.

Er erzählte mir, wie er meine Mutter kennengelernt hatte, dass ich genauso aussah wie sie, bis auf die Augen natürlich, und wie sie ihn schließlich verlassen hatte, bevor er erfahren konnte, dass sie schwanger war. Das erklärte zumindest, warum er nicht wusste, dass er eine Tochter in meinem Alter hatte. Dann redete er über sein späteres Leben, wie er sich neu verliebt hatte und wie seine spätere Frau eine Tochter mit ihm bekam. An dieser Stelle unterbrach ich ihn.

„Ich habe eine Schwester?“

„Ja, eine Halbschwester genau genommen. Ihr Name ist Isabel. Sie wohnt auch hier, zusammen mit mir und Andy.“

„Und Andy ist dann…?“, fragte ich nach, um herauszufinden, in welchem Verhältnis ich zu ihm stand.

„Auch mein Sohn. Er ist drei Jahre nach Isabel geboren worden, nur kurz vor dem Unfall. Der war vor etwa 14 Jahren. Sie waren unterwegs, wollten einen Freizeitpark besuchen. Und dann wurde ihr Auto von der Straße gedrängt, auf der Magic Bridge. Meine Frau ist dabei gestorben. Und ich war zu dem Zeitpunkt auf Geschäftsreise. Ich hätte dieses Auto fahren sollen…“

„Oh, das tut mir leid.“, flüsterte ich und ignorierte es, dass sogar die Brücke magisch sein sollte. „Aber du solltest dir keine Vorwürfe machen. Isabel und Andrew haben ja überlebt, was hätten sie denn ganz ohne Eltern tun sollen?“

„Ich weiß es nicht. Vermutlich hast du recht.“

„Natürlich habe ich recht, ich bin deine Tochter.“, grinste ich leicht, um ihn von diesem traurigen Thema abzulenken.

Wir redeten noch eine Weile weiter, bis ein Mädchen hereinkam. Sie war sehr hübsch und hatte schulterlange, schwarze Haare.

„Mary, das ist Isabel.“, klärte mich Dad auf. Ich versuchte jetzt, ihn so oft wie möglich Dad zu nennen, damit ich mich vielleicht irgendwann daran gewöhnen konnte.

Mit großen Augen sah ich die junge Frau vor mir an. Sie war sogar etwa in meinem Alter. Dad hatte nicht übertrieben, als er sagte, er hätte sich direkt nach meiner Mutter in seine Frau verliebt. „Hi, mein Name ist Mary.“

Jeffrey mischte sich wieder ein: „Isabel, das ist MaryOhara. Meine Tochter.“

Isabel lächelte mich freundlich an und auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, merkte man, wie verwirrt sie war. Sie konnte diese Aussage anscheinend nicht wirklich realisieren. Das konnte ich nachvollziehen, es musste überraschend für sie sein. Das war es für mich ja auch. „Schön, dich kennenzulernen. Glaube ich. Du bist Jeffreys Tochter? Wie kann das sein?“

„Ja, das bin ich. Er wusste nichts von mir, meine Mutter hatte mich gleich nach meiner Geburt zur Adoption freigegeben.“

„Oh. Es freut mich, dich kennenzulernen. Ich wollte schon immer eine Schwester haben.“, grinste sie mich freundlich an und ich musste daraufhin sofort auch lächeln. Sie war wirklich eine unglaublich offene Person. Bewundernswert.

„Ich freue mich auch darüber.“

„Und wo wohnst du jetzt gerade? Bleibst du länger hier?“

„Ich habe mir eine Wohnung gekauft, nicht weit von hier. Also ja.“, lächelte ich sanft.

„Na dann, das ist ja gut. Aber wenn du dich je einsam fühlen solltest, kannst du immer herkommen. Wir haben immer ein Zimmer für dich frei, nicht wahr, Dad? Ich lass euch jetzt mal wieder alleine, du musst das vermutlich genauso verarbeiten wie ich auch.“

Dankbar lächelte ich ihr zu. Der erste normale Mensch, der mir hier begegnete, der mich weder blöd anmachte noch misstrauisch mir gegenüber war. Ja, ich mochte meine neue Schwester definitiv. Und ich fand es einfach unglaublich, wie schnell sie mich in ihrer Familie akzeptiert hatte. Ich konnte diese Neuigkeit ja selbst kaum glauben. Das kam alles so plötzlich. Dad und ich redeten noch eine Weile, aber irgendwann wurde ich müde und beschloss, nach Hause zu gehen. Jeffrey bestand darauf, mich zum Restaurant zu fahren, weil es bereits dunkel wurde und mein Auto noch dort stand.

Nach einer holprigen Umarmung zum Abschied ging ich zu meinem Auto und fuhr zurück zu meiner Wohnung. Ich zog mich um und legte mich ins Bett, wo ich auch sofort mit dem Gedanken einschlief, dass ich endlich wieder eine Familie hatte, meine echte Familie. Einen Vater und sogar eine Schwester und einen Bruder. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Am nächsten Morgen wachte ich schon früh auf. Ich wusste, dass ich jetzt nicht wieder einschlafen könnte, also stand ich auf und zog mich an. Weil ich gestern so müde gewesen war, hatte ich es nicht mehr geschafft, mich abzuschminken, also frischte ich mein Make-Up nur noch ein wenig auf. Ich lockte meine Haare etwas, sodass sie sanft bis auf meine Schultern fielen und ging dann in die Küche. Wie ich feststellen musste, hatte ich immer noch kein Essen, also würde ich wohl wieder irgendwo ein Brötchen kaufen müssen. 

Ich überlegte, was ich heute machen würde, bis mein Entschluss feststand: Ich würde mich hier an der Highschool einschreiben. Meine Papiere hatte ich alle dabei. Sobald ich mich entschieden hatte, stand ich allerdings wieder vor dem nächsten Problem: Meine Klamotten, die ich gerade trug, konnte ich auf keinen Fall anlassen. Also ging ich zurück in mein Zimmer und durchwühlte meinen Kleiderschrank. Wie ich traurig feststellte, hatte ich kaum passable Kleidung. Ich würde wohl mal wieder shoppen gehen müssen, auch wenn es mir nicht gefiel, das alleine zu tun. Aber vielleicht würde meine neue Halbschwester mich begleiten, sie schien ja ganz sympathisch zu sein.

Nach einigem Überlegen entschied ich mich für ein schlichtes kurzes Kleid, das oben dunkelblau war und nach unten hin immer heller wurde. Es reichte mir bis zu den Knien. Dazu noch eine schlichte, lange Goldkette und mein Outfit für den ersten Schultag war fertig. Es war zwar nichts Besonderes, sah aber trotzdem gut aus.

Ich verließ die Wohnung, und fuhr bei der Bäckerei vorbei, um mir einen Kaffee und ein belegtes Brötchen zu kaufen. Mal wieder nahm ich mein Frühstück im Auto zu mir. Wenn das so weiterging, konnte ich noch meine Küche untervermieten, ich brauchte dringend Essen zu Hause. 

Mittlerweile war es bereits so spät, dass ich mich auf den Weg zur Magic Spring Highschool machte. Nach einigem Suchen fand ich das Sekretariat, wo ich mich anmeldete. Alles ging erstaunlich schnell und schon nach wenigen Minuten hielt ich die Kombination für ein Schließfach und meinen neuen Stundenplan in der Hand. Mit dem Unterricht konnte ich sogar jetzt schon beginnen. Heute hatte ich Englisch, Mathe, Biologie und Geschichte, jeweils Doppelstunden. Die ersten Stunden brachte ich einigermaßen unversehrt über mich. Am Anfang war es mir unangenehm, dass mich alle anstarrten, später einfach nur noch nervig. Dieses Klischee der Neuen gefiel mir nicht. Ich war schließlich kein eingesperrtes Tier, das man wie im Zoo anstarren konnte. 

Der Unterricht war wie in London auch. Uninteressant. In der Mittagspause winkte mich Andrew zu sich. Ich setzte mich zu seiner Gruppe. Die Leute dort stellten sich der Reihe nach vor: Meine neuen Geschwister kannte ich schon, und auch Alexa hatte ich bereits im Restaurant gesehen. Sie war das rothaarige Mädchen am Billardtisch gestern gewesen. Ihre Freundin hieß Samantha, ein hübsches, blondes Mädchen, das ich sofort wegen ihrer liebenswürdigen, schüchternen Art ins Herz schloss. Der letzte Junge stellte sich als Christian Oscure vor. Er war Lucians Zwillingsbruder, aber glücklicherweise nicht nur vom Aussehen, sondern auch vom Charakter her das krasse Gegenteil von ihm: Christian war höflich, freundlich und ehrlich gesagt wäre er auch ziemlich durchschnittlich und langweilig gewesen, wenn er nicht so eine geheimnisvolle Ausstrahlung hätte. Es war wie bei Lucian, man spürte förmlich, dass sie ein Geheimnis hatten. Aber vielleicht bildete ich mir das auch einfach ein, weil ich Lucian so unsympathisch fand. Na ja, Christian war jedenfalls mit Isabel zusammen und die beiden waren wirklich süß, wie sie nicht die Augen voneinander lassen konnten. 

Alle waren insgesamt sehr nett zu mir und ich unterhielt mich lange mit Isabel. Wir verabredeten uns für den Nachmittag, damit wir uns besser kennenlernen konnten. Ich schlug vor, shoppen zu gehen, ich hatte schließlich nicht vergessen, wie leer mein Kleiderschrank war, und sie war sofort einverstanden.

Auf den Geschichtsunterricht am Nachmittag hatte ich keine Lust mehr, aber da alle so von unserem Lehrer geschwärmt hatten, und behauptet hatten, dass der Unterricht bei ihm nie langweilig war, hatte ich nicht allzu schlechte Laune. Tatsächlich war er einer der besten Lehrer, die ich kannte. Außerdem bekam er bei mir jede Menge Sympathiepunkte, weil er weder wie unser Mathelehrer darauf bestanden hatte, dass ich mich vor der ganzen Klasse vorstellte, noch mich ignorierte wie unser Biolehrer. Er meinte einfach nur: „Das ist Mary Ohara, sie ist neu hier und ich möchte, dass ihr alle nett zu ihr seid. Damit könnt ihr jetzt schon mal anfangen, indem ihr sie nicht anstarrt wie eine unbekannte Zeitreisende aus dem 18. Jahrhundert. Apropos, wer kann mir erzählen, was am Anfang des 18. Jahrhunderts in Magic Spring passiert ist?“

So starrte mich niemand an und ich konnte mich das erste Mal heute unbeobachtet an meinen Platz setzen. Auch sonst war der Unterricht sehr interessant, da wir hauptsächlich über die Geschichte von Magic Spring redeten. Am Ende der Doppelstunde packten alle ihre Sachen zusammen und ich atmete erleichtert aus: Ich hatte meinen ersten Schultag ohne größere oder kleinere peinliche Missgeschicke überstanden.

Um drei traf ich mich wie verabredet mit Isabel vor ihrem Haus. Wir fuhren in einen kleinen Laden am Stadtrand. Es war ein echter Geheimtipp. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, so weit von der Hauptstraße entfernt nach einer Boutique zu suchen. Zuerst fragte ich mich, wie dieser Laden so weit vom Zentrum entlegen existieren konnte, aber sobald wir ihn betraten, begann ich, zu verstehen.

Alles war sehr gemütlich und geschmackvoll eingerichtet. Sie verkauften hauptsächlich T-Shirts, Tops und Hosen, aber in einer Ecke gab es auch einige wunderschöne Kleider und Röcke. Ich wurde nahezu magisch von ihnen angezogen. Schließlich mochte ich schon immer Kleider, egal ob lang oder kurz. 

Insgesamt hatten wir einen wunderschönen Nachmittag. Wir fanden beide viele, wunderbare Sachen und ich fühlte mich seit Langem wieder beinahe glücklich. Weder Isabel noch ich hatten es eilig, über ernste Themen zu reden, also machten wir nur Späße oder erzählten uns peinliche Geschichten aus unserer Kindheit. Isabel lud mich ein, am Abend mit ihr zur Villa der Oscures zu fahren, sie würde sich dort nachher mit ihren Freunden treffen. Ich musste zugeben, mich erschreckte die Vorstellung ein wenig, an den Ort zu gehen, an dem Lucian lebte, aber ich wollte unter keinen Umständen, dass er der Grund war, warum ich keine neuen Freunde fand.

Außerdem kannte ich ihn ja gar nicht richtig. Im Restaurant wollte er sich entschuldigen und kam ganz nett rüber, bevor er wieder so komisch wurde. Vielleicht hatte ich ihn ja nur in einem schlechten Moment erwischt.

Wie dem auch sei, sagte ich zu, und obwohl Isabel mir auch nicht erzählen wollte, was genau sie vorhatten, begann ich, mich auf den Abend zu freuen.

Einige Stunden später war ich wieder alleine in meiner Wohnung und suchte mir etwas von meinen neuen Klamotten für den Abend raus. Dann ging ich noch ein paar Lebensmittel einkaufen. Das war längst überfällig, schließlich konnte ich mich ja nicht für den Rest meines Lebens von Brötchen und Kaffee ernähren.

Irgendwann war es dann endlich soweit und ich machte mich fertig. Da ich nicht wusste, wo die Oscure-Villa war, oder wieso sie überhaupt den prächtigen Namen Villa trug, wollte mich Isabel um halb acht abholen. Als sie ankam, war ich bereits fertig und wir fuhren sofort los. Zugegeben, ich war ein wenig nervös, wie ihre Freunde reagieren würden. Vielleicht wollten sie mich gar nicht dabei haben. Aber merkwürdigerweise fühlte ich mich in der Nähe von Isabel sicher. Ich vertraute ihr, obwohl ich sie gerade erst kannte und das war ein ganz neues Gefühl für mich. 

Als wir nach einigen Minuten ankamen, wusste ich genau, warum das Zuhause der Oscures als Villa bezeichnet wurde. Es war wirklich verdammt groß, und Isabel erzählte mir, dass es früher eine Jugendherberge gewesen war, als sie meine großen Augen bemerkte. Na toll. Durch die Größe der Villa, auch wenn sie schon ein wenig älter war, war ich nur noch eingeschüchterter. Trotzdem atmete ich tief durch und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

Wir betraten das Haus und gingen ins Wohnzimmer, wo bereits Christian, Samantha, Alexa, Andrew und Lucian warteten. Kurz gesagt: Isabels Freunde aus der Mittagspause und Lucian. Gehörte der etwa auch zu der Clique? Sie alle begrüßten mich freundlich, bis auf Lucian, der mich nur kühl und abschätzend musterte. Auch wenn mir das einen Stich gab und ich am liebsten sofort umgedreht wäre, ignorierte ich ihn einfach, während ich mich gleichzeitig fragte, wieso mir das überhaupt etwas bedeutete. Ich fing doch wohl nicht an, ihn zu mögen, oder? Das wäre absurd.

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte ich neugierig in die Runde.

„Wir reden.“, meinte Lucian. Isabel sah ihn genervt an, aber er ignorierte sie. Okay, das war jetzt komisch, aber wenn sie gerne reden wollten, dann redeten wir eben. Auch wenn ich nicht wusste, warum man sich abends zum Reden treffen sollte. Aber vielleicht war das auf dem Land auch einfach anders als in London. Ich setzte mich aufs Sofa und schon ging es los.

„Seit wann bist du in der Stadt?“, fragte Samantha mich neugierig.

„Seit vorgestern, wieso?“, antwortete ich lächelnd, doch meine Gegenfrage wurde von allen nur ignoriert. Stattdessen stellte Alexa die nächste Frage:

„Wieso bist du ausgerechnet hierher nach Magic Spring gekommen?“

„Ich wollte meinen Vater finden, und hier war meine einzige Spur. Aber das wisst ihr doch schon.“

„Jeffrey Dean ist also dein Vater?“, fragte Christian nach.

„Ja, immer noch. Wieso denn?“ Isabel hatte es ihnen schon erzählt und auch ich hatte mit ihnen in der Mittagspause geredet. Genau deshalb wunderte ich mich, warum sie mich dann alles noch einmal fragten. Verstanden sie das etwa unter „Wir reden“?

„Und deine Mutter?“ Das kam von Lucian und am liebsten wollte ich gar nicht darauf antworten.

„Keine Ahnung, ich kenne sie nicht. Sie ist kurz nach meiner Geburt in New Orleans gestorben.“

„Wie hieß sie denn? Und bei wem bist du dann groß geworden?“

„Was ist das hier? Ein Verhör?“ Langsam reichte es mir. Das hier war keine normale Neugier mehr. Ich hatte doch nichts verbrochen, wieso fragten sie mich also so aus? Sie mussten doch wissen, dass es mir nicht gerade leicht fiel, mit Fremden über meine toten Eltern zu reden.

Keiner sagte etwas und als ich zu Isabel sah und sie ihren Blick abwandte, reichte es mir. Langsam wurde mir bewusst, dass ich mit meiner Vermutung recht gehabt hatte. Sie hatten mich tatsächlich nicht eingeladen, weil sie mich kennenlernen, sondern weil sie mich verhören wollten. Auch wenn mir dafür kein logischer Grund einfiel.

„Ihr seid doch krank.“, flüsterte ich und lief mit Tränen in den Augen aus dem Haus. Wieso taten sie so etwas nur? Klar, ich war fremd in der Stadt. Es war normal, dass man da ein wenig misstrauisch war. Aber gleich ein Treffen arrangieren, damit sie meine Geheimnisse erfahren? Das war doch verrückt. Okay, von Lucian hätte ich nichts viel anderes erwartet, er schien mir nicht gerade der feinfühlige Typ zu sein. Außerdem war er vermutlich psychisch gestört. Aber Isabel? Wieso misstrauten sie mir denn alle? Ich hatte doch gar nichts getan! Als ich draußen stand, merkte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich war. Ich hatte mich vollkommen auf Isabel verlassen, aber sie hatte mich nur benutzt, damit sie mich ihrem kranken Verhör unterziehen konnten. Vielleicht war das jetzt gerade übertrieben, aber andererseits könnte es doch ein Fehler gewesen sein, hierher zu ziehen. In London hatte ich zwar auch keine wirklichen Freunde gehabt, aber immerhin wurde mir dort nicht grundlos misstraut.

Langsam wurde ich immer wütender und ich ging schnell den Weg zur Ausfahrt hinunter. Hier war nur eine Straße, eine Richtung, also würde ich schon irgendwie nach Hause finden. Jedenfalls würde ich nicht wieder reingehen und Isabel bitten, mich zu fahren. Diese Blöße würde ich mir nicht geben. Ganz in meine Gedanken vertieft bemerkte ich nicht, wo ich hinging, bis ich gegen etwas, oder besser gesagt gegen jemanden, stieß. Ich sah nach oben und direkt in die blauen Augen von Lucian. Na toll, genau die Person, die ich jetzt sehen wollte. Wie war er überhaupt so schnell hierhergekommen?

„Ganz schlechter Zeitpunkt, Lucian.“

„Hör zu, wir wollen dich doch nur kennenlernen. Wir wissen gar nichts über dich.“

„Ach ja, und statt einfach höflich zu fragen und mich kennenzulernen, habt ihr keine andere Lösung gefunden als mich diesem kranken Verhör zu unterziehen?“

„Das war nicht so geplant…“

„Tja, tut mir leid, dass ich eure Pläne durchkreuze, aber ich werde mich mit Sicherheit nicht so ausfragen lassen.“

Ich ging weiter und Lucian fasste mich am Arm, um mich aufzuhalten. Das war jetzt das dritte Mal und es reichte mir. Wütend drehte ich mich zu ihm um.

„Lass mich sofort los. Verschwinde, geh zurück und erzähl deinen Freunden, dass ich im Moment zu sauer bin, um mit irgendjemandem zu reden, verstanden?“, schrie ich ihn an. Erstaunlicherweise ließ er mich tatsächlich los und drehte sich um, um zurück zur Villa zu gehen. Erstaunt sah ich ihm hinterher. Das war leichter gewesen als erwartet. Mit einem Seufzen ging ich weiter nach Hause und drehte mich nicht mehr ein einziges Mal um.

Kapitel 3 – Isabel

Nachdem Mary aus dem Zimmer gestürmt war, hatte ich schreckliche Schuldgefühle. Wir hätten sie nicht so verhören sollen. Sie hatte mir vertraut, das hatte ich gespürt. Und als sie gemerkt hatte, dass ich wusste, dass wir sie nur verhören wollten, war sie bitter enttäuscht von mir. Ich hatte meine eigene Schwester enttäuscht, der einzige Teil meiner leiblichen Familie, der noch nicht verkorkst war. Als Lucian ihr jedoch hinterherlief, wusste ich, dass er nicht eher aufgeben würde, bis sie wieder mit zurückkommt, damit wir die Situation erklären konnten. Er würde sie zurückbringen, er gab nicht so schnell auf.

„Wir hätten das nicht machen dürfen.“, meinte ich leise.

„Ja, aber wir müssen herausfinden, ob sie über uns Bescheid weiß. Lucian konnte sie nicht beeinflussen, sie trägt vermutlich Salbeiblätter bei sich, um sich davor zu schützen. Aber wir wissen nicht, ob sie von uns weiß. Sie ist eine potentielle Bedrohung, wir können nicht einfach nichts tun…“, versuchte Christian, mich zu beruhigen. Aber das machte alles nur noch schlimmer.

„Sie ist aber nicht nur irgendeine Fremde und eine Bedrohung, sondern auch meine Schwester!“

Bevor wir richtig anfangen konnten, zu streiten, kam Lucian ins Zimmer und sagte monoton: „Sie ist zu sauer, um im Moment mit einem von uns zu reden.“

Er schüttelte kurz den Kopf und holte sich dann etwas zu trinken.

„Lucian, was ist da draußen passiert?“, fragte ich vorwurfsvoll. Ich konnte es nicht fassen, dass er sie einfach so gehen lassen hat.

„Ich weiß es nicht. Ich war fest entschlossen, sie wieder zurückzubringen. Ich habe sie an ihrem Arm festgehalten und da ist sie völlig ausgeflippt. Sie hat mich angeschrien, ich solle sie loslassen, verschwinden und euch sagen, dass sie zu sauer ist, um im Moment mit einem von uns zu reden. Und dann… habe ich es getan. Ich weiß nicht, wieso, aber es schien mir das Richtige zu sein.“

„Du wurdest beeinflusst.“, meinte Christian trocken.

„Unmöglich! Ich kann nicht beeinflusst werden, jedenfalls nicht von einem Menschen. Das können nur Vampire und das weißt du.“

„Wir wissen nicht, ob sie ein Mensch ist. Aber wir wissen, dass es Wesen wie die Ersten gibt, die auch Vampire beeinflussen können. Dann können das vielleicht auch noch andere.“

Jetzt mischte sich auch Andrew ein: „Sie ist kein Vampir. Sie wurde nie in unser Haus gebeten und konnte trotzdem ohne Probleme reinkommen. Wenn sie einer wäre, wäre sie dann doch auf der Stelle verbrannt.“

„Außerdem kann ich ihr Herz schlagen hören.“, meinte Samantha und fuhr sich durch ihre blonden Haare.

„Na super, dann ist meine Schwester wohl ein ganz normaler Mensch, wenn man mal davon absieht, dass sie Salbeiblätter bei sich trägt und Vampire beeinflussen kann, also vermutlich auch von Lucian, Christian und dir Bescheid weiß. Kann es sein, dass sie eine Hexe ist, Alexa?“, fragte ich meine beste Freundin, die praktischerweise selbst über Zauberkräfte verfügte.

„Keine Ahnung. Ich habe noch nie von so etwas gehört, aber ich werde mal nachsehen.“

„Genau, Alexa, frag deine kleinen Hexenfreundinnen, warum ich gerade von einem Menschen beeinflusst worden bin. Ich bin derweil bei Mary.“, verkündete Lucian.

„Lucian! Nein!“, rief ich sofort entsetzt. Es bedeutete nie etwas Gutes, wenn er sich gekränkt fühlte und denjenigen dann „besuchte“.

„Keine Sorge, guckt nicht so. Ich werde ihr schon nicht ihren kleinen, süßen Kopf abreißen. Oder sie fressen. Ich passe nur auf, dass sie nicht einfach so verschwindet oder irgendwelche Vernichtungspläne gegen uns schmiedet. Ich werde ganz brav sein, versprochen.“

Mit diesen Worten verschwand er aus dem Zimmer. Ich hoffte von ganzem Herzen, dass er die Wahrheit sagte und das nicht nur eines seiner kleinen Spielchen war, denn wenn er meiner Schwester etwas antun würde, würde ich ihm eigenhändig einen Pfahl in die Brust rammen.

Kapitel 4 – Mary

Nach diesem Abend, der einfach nur beschissen gelaufen war, war ich froh, als ich endlich in mein Bett fallen konnte. Aber Ausruhen war mir anscheinend nicht vergönnt, denn bevor ich einschlafen konnte, wurde ich von einem lauten Klopfen an der Tür aufgeweckt. Ich hatte vor, es zu ignorieren, aber es hörte einfach nicht auf, und nach zehn Minuten stand ich seufzend auf und tapste im Halbschlaf zur Tür.

„Wer ist da?“, rief ich.

„Ich bin’s, Lucian. Mach endlich diese verdammte Tür auf, oder ich trete sie ein.“

Na toll. Besuch von meinem Lieblingspsychopathen. Genervt öffnete ich die Tür eine Spalt weit und sah in seine eisblauen Augen. „Was willst du?“

„Oh, da ist aber jemand schlecht gelaunt. Wo ist denn deine Höflichkeit geblieben?“

„Die ist da, wo eure auch ist. War’s das oder muss ich mir noch mehr unwitzige, sarkastische Kommentare anhören?“

„Das war’s noch lange nicht. Wir müssen ganz dringend reden.“

„Worüber?“

„Darf ich nicht wenigstens erst mal reinkommen?“ Er schenkte mir ein schiefes Lächeln, das ich aber nur mit einem eisigen Blick erwiderte.

„Nein. Entweder du sagst jetzt, was du zu sagen hast oder du verschwindest dahin, wo du hergekommen bist.“

„Hast du eigentlich eine Ahnung, mit wem du redest?“

Bei diesem Satz fällte ich eine Entscheidung: Ich wollte mich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen, auch wenn ich dann vielleicht die ganze Nacht nicht schlafen könnte, weil er vor meiner Tür schreien würde. „Ja, mit einem durchgeknallten Psychopathen, der niemals das Innere meiner Wohnung sehen wird, weil er jetzt von hier verschwindet und nie wiederkommt.“

Und mit diesen Worten knallte ich ihm die Tür vor der Nase zu und ging wieder ins Bett. Glücklicherweise sagte er nichts mehr und ich schlief fast sofort ein, aber in dieser Nacht träumte ich wieder von ihm. Und von meiner Mutter.

Ich war alleine in einem Wald. Es war stockdunkel und ich konnte nicht erkennen, wohin ich ging. Also stolperte ich blind durch das Gestrüpp, bis ich eine kleine, alte Siedlung erreichte. Und wenn ich alt sagte, meinte ich richtig alt. Uralt. Etwa aus der Zeit von vor 1000 Jahren. Das Seltsame war, dass alle Strohhütten noch komplett erhalten waren, aber außer mir niemand in der Siedlung war. Dachte ich jedenfalls.

Sobald ich mich umdrehen und zurück in den Wald gehen wollte, öffnete sich nämlich eine Tür und eine Frau ging nach draußen. Sie sah mich an und ging auf mich zu. Ich hatte unglaubliche Angst, bis ich ihr Gesicht sah. Ab diesem Augenblick war ich nur noch verwirrt. Sie hatte exakt meine Gesichtszüge. Nur ihre Augen hatten eine andere Farbe.

„Hallo, Marianne.“ Marianne war der Name, der auf meiner Geburtsurkunde stand, aber meine Adoptiveltern hatten ihn, ebenso wie ich, für zu altmodisch befunden und mich kurzerhand einfach Mary genannt. Niemand außer ihnen und mir kannte diesen Namen, wobei ich ihn schon fast vergessen hatte und sie tot waren. Niemand wusste, wie ich wirklich hieß, außer…

„Hallo, Terese.“

„Ah, du hast mich erkannt, Liebes. Ich bin so froh, dass ich dich endlich treffe. Du bist groß geworden.“

„Du hast mich bei meiner Geburt weggegeben. Das war vor 17 Jahren, natürlich bin ich größer geworden.“, antwortete ich schnippisch und mir wurde bewusst, dass das hier nur ein Traum war. Dennoch wachte ich nicht auf.

„Das wollte ich nie. Dich weggeben, meine ich… Ich wollte dich nie verletzen, aber du warst nicht sicher bei mir. Damals konntest du das noch nicht verstehen.“

„Aber jetzt?“, fragte ich spöttisch nach.

„Ja. Ich werde dir jetzt Dinge erzählen, die du mir vielleicht nicht glauben wirst, die aber alle der Wahrheit entsprechen. Kannst du mir erst zuhören, bis ich zu Ende erzählt habe, ohne mich zu unterbrechen?“

„Ja.“ Schließlich war es eh nur ein Traum.

„Gut. Es begann vor 1000 Jahren. Mein Mann John und ich waren glücklich verheiratet und gründeten eine Familie.“

„Einen Moment… Du willst mir erzählen, dass du 1000 Jahre alt bist?!“ Mein Unterbewusstsein war ganz schön kreativ.

„Etwas mehr noch, aber ja. Und ich heiße auch nicht Smith, sondern Johnson, und ja, ich bin dennoch deine Mutter, obwohl ich vor 1000 Jahren gestorben bin. Das erste Mal. Aber ich dachte, du wolltest mir erst zuhören?“

„Ja, klar. Rede weiter.“

„In unserem Dorf gab es eine Seuche. Unsere Familie blieb zwar verschont, aber wir entschlossen uns, in ein neues, sichereres Land zu ziehen. Es war Amerika. Wir hatten von einer Siedlung gehört, in der die Menschen schneller und stärker waren als üblich. Diese Menschen verwandelten sich jeden Vollmond in Wölfe, heute würdet ihr sie wohl Werwölfe nennen. Doch uns war das egal, weil wir uns seit Langem wieder sicher fühlten und so wurden wir Nachbarn. Sie beschützten uns vor Feinden und einmal im Monat versteckten wir uns nachts in Höhlen unter der Erde. Unsere Kinder wurden größer und für uns wurde es immer gefährlicher. Die Höhlen schützten uns irgendwann nicht mehr, die Wölfe fanden uns in den Nächten und wir haben nur mit Mühe überlebt. Wir mussten uns irgendwie anders verteidigen. Nun musst du wissen, dass es schon immer magische Kräfte in meiner Familie gab, also beschlossen John und ich, unseren Kindern dieselben Fähigkeiten wie die Werwölfe zu geben und noch viel mehr: Stärke, Schnelligkeit, ein unsterbliches Leben. Also sprach ich einen Zauber aus. Es muss verrückt für dich klingen, aber es ist wahr. Sie mussten menschliches Blut trinken und dann sterben, während ich einen Zauber sprach. Nachdem John sie alle umgebracht hatte, wachten sie einer nach dem anderen wieder auf: meine Tochter Ariana und meine Söhne Mikaël und Josias. Ja, du warst zu dem Zeitpunkt noch nicht geboren, du kamst viel später. Aber dennoch hat diese Geschichte einen großen Einfluss auf dich, also höre einfach weiter zu. Nach dem Fluch waren sie schneller und stärker als alle anderen in unserem Dorf.

Doch diese Stärken hatte ihren Preis: Im Sonnenlicht verbrannten sie zu Asche. Sie wurden zu Geschöpfen der Nacht. Ich fand einen weiteren Zauber, der sie davor schützen konnte, aber dabei hörte es noch nicht auf. Salbeiblätter, eines unserer wichtigsten Heilmittel, konnten sie nicht mehr berühren, ohne unerträgliche Qualen zu erleiden. Diese Pflanze schützt auch vor ihren Beeinflussungen, die andere dazu zwingt, das zu tun, was sie wollen. Aber der schlimmste Nachteil war wohl, dass sie sich von menschlichem Blut ernähren mussten und anfingen, unsere Nachbarn zu töten. Als mein jüngster Sohn Mikaël das erste Mal einen Menschen tötete, verwandelte er sich kurz darauf in einen Wolf. Er stammte aus einer Affäre, die ich meinem Mann verschwiegen hatte. Seitdem herrscht zwischen John und ihm ein tiefer Hass, der ebenso stark ausgeprägt ist wie der Hass zwischen den Vampiren und den Werwölfen. Die letzte Waffe, die einen von ihnen töten konnte, vernichteten wir jedoch. Seitdem sind Ariana, Josias und besonders Mikaël, oder Kaël, wie er sich jetzt nennt, unverwundbar. Wie dem auch sei, Mikaël hat mich in einem seiner Wutanfälle umgebracht und vor 17 Jahren bin ich durch einen Zauber wiederauferstanden. Schließlich bin ich eine der mächtigsten Hexen der Welt… und du, Mary, stammst von meinem Blut ab. Das Blut der Ersten fließt in deinen Adern. Unter normalen Umständen wärst auch du eine Hexe geworden, aber da ich tot war, gab es einige… Änderungen. Eine deiner Fähigkeiten ist, dass du von Natur aus den Beeinflussungen von Vampiren widerstehen kannst und Salbei nicht benötigst. Ja, du kannst sie sogar selbst beeinflussen. Du hast auch noch andere Fähigkeiten, aber selbst ich kann dir nicht sagen, welche. Die einzige Gefahr für dich sind die Ersten, deine Geschwister. Halte dich von ihnen fern, insbesondere vor Kaël. Er würde dich ohne zu zögern umbringen.“

„Obwohl ich seine Schwester bin?“ Das alles klang so unfassbar verrückt und ich fragte mich, ob ich langsam wahnsinnig wurde. Aber obwohl ich wusste, dass das, was meine tote Mutter mir in einem Traum mitteilte, in der realen Welt unmöglich war, interessierte es mich, was sie sagte. Das alles klang wie ein spannender Film.

„Ja. Ich muss wieder gehen, es tut mir leid. Aber pass bitte auf dich auf, Liebes. Wenn Lucian oder Christian Oscure, die Vampire von Magic Spring, herausfinden, dass du eine Johnson bist, würden sie versuchen, dich zu töten. Und sie hätten dabei Hilfe: Ethan Montgomery, der Werwolf und Alexa Wood, eine befreundete Hexe. Vielleicht hast du sie ja schon kennengelernt, auch wenn ich hoffe, dass es nicht so ist. Pass also gut auf dich auf und bitte niemanden in deine Wohnung. Vampire verbrennen, wenn sie uneingeladen eine Wohnung betreten. Ich liebe dich, mein Schatz…“

Ihre Stimme war immer leiser geworden, bis sie ganz verschwand.

„Mom? Mom!“, schrie ich, doch meine Schreie waren vergebens, denn die Siedlung um mich herum verblasste und nahm andere Formen an, bis ich wieder in meinem Bett lag.

Kapitel 5

Ich erkannte meine Decke. Ein Glück, ich war in meiner Wohnung. In meinem Zuhause. Aber jetzt zu etwas viel Wichtigerem: Was für ein verrückter Traum war denn das gerade? Ich bezweifelte, dass ich auch in der Realität so reagiert hätte, wenn meine leibliche Mutter, die schon vor Jahren gestorben war, plötzlich vor mir stünde. Trotzdem hatte der Traum etwas erschreckend Reales. Und irgendwie… na ja, ich wusste nicht, wieso, aber ich glaubte ihr. Ja, ich glaubte von heute auf morgen, dass Vampire, Hexen und Werwölfe existierten. Mehr noch, ich glaubte sogar, dass die Oscure-Brüder Vampire waren, und dass die beste Freundin meiner Halbschwester, Alexa Wood, eine Hexe war. Und das alles nur, weil ich einen verrückten Traum von meiner toten Mutter hatte, die ich nie kennengelernt hatte. Es war verrückt von mir, das zu glauben. Sie hatte mir so viele Informationen gegeben, dass ich die Hälfte bereits wieder vergessen hatte. Das Wichtigste war jedoch in meinem Gedächtnis geblieben und ich hatte, je mehr ich darüber nachdachte, das Gefühl, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Ich spürte es einfach.

Aber es war nicht nur die Tatsache, dass der Traum so real schien. Es war, weil alles, was Terese gesagt hatte, Sinn ergab. Na ja, soweit Vampire, Hexen und Werwölfe Sinn ergeben konnten. Aber es erklärte so vieles, was mir bereits nach drei Tagen in Magic Spring als merkwürdig vorgekommen war. Alle Fragen, die offen waren, könnte ich mit dieser Theorie beantworten:

Warum war Andrew so erleichtert gewesen, als ich sein Haus betreten hatte, obwohl ich nicht hereingebeten wurde? – Er hatte gedacht, ich sei ein Vampir, doch ich hatte ihm bewiesen, dass ich es nicht bin.

Warum war Lucian davon ausgegangen, dass ich an meinem ersten Abend mit ihm gehen würde? – Er hatte gedacht, er könnte mich beeinflussen, nein, er hatte mich sogar beeinflusst. Aber es hatte nicht funktioniert, weil ich eine halbe Hexe war.

Wieso war er so wütend geworden, als ich bei seiner Entschuldigung abweisend war? – Er war genervt, dass er keine Kontrolle über mich hatte.

Warum waren alle so misstrauisch mir gegenüber? – Ich war neu in der Stadt, und sie wussten nicht, ob ich ihr Geheimnis kannte, sie verraten würde und was ich überhaupt war.

Warum hatte Lucian gestern Abend das gemacht, was ich gesagt hatte? Wieso war er einfach zurückgegangen? – Ich hatte ihn beeinflusst.

Weshalb wollte er gestern Abend unbedingt hereingebeten werden? - Er konnte nicht reinkommen, wenn er nicht verbrennen wollte, wollte aber mit mir… Was machen? Wollte er mich umbringen? Nein, das glaubte ich nicht. Ich hatte in seinen Augen gesehen, dass er Isabel liebte. Er würde nie ihre Schwester umbringen. Oder?

Mein ganzes Leben war in einer Nacht auf den Kopf gestellt worden. An wen sollte ich mich wenden? Wer würde mir so etwas überhaupt glauben? Zumindest die letzte Frage ließ sich einfach beantworten: Isabel. Andrew. Dad vermutlich auch, so misstrauisch wie er zuerst war. Sie alle wussten bestimmt Bescheid, genauso wie all ihre Freunde. Aber ich wollte mit keinem von ihnen reden. Mit Isabel und Andrew nicht, weil sie mich gestern Abend so verhört hatten. Ich konnte sie zwar jetzt besser verstehen, schließlich hatten sie ein riesiges Geheimnis zu verbergen, das für sie alle sehr gefährlich sein konnte, aber trotzdem fand ich ihre Methoden nicht in Ordnung. Und mit Dad nicht, weil ich mir nicht sicher war, ob er es wusste. Und mit Sicherheit würde ich nicht mit einem potentiellen Vampir, Wolf oder einer Hexe reden. Mal ganz davon abgesehen, dass ich den Wolf nicht kannte. Wie hieß er noch gleich? Ethan Monty? 

Da wurde es mir klar: Das war die Möglichkeit, um herauszufinden, wie wahr mein Traum wirklich war. Ich würde herausfinden, ob es in Magic Spring einen Ethan Monty, Montgomery, wie auch immer, gab, denn ich war mir sicher, dass ich seinen Namen noch nie vor dem Traum gehört hatte. Wenn ich nichts finden würde, wäre das der Beweis, dass es wirklich nur ein Traum war, dass ich keine Angst vor übernatürlichen Monstern haben musste und dass ich vermutlich ein gestörtes Unterbewusstsein hatte. Und wenn ich ihn doch finden würde… na ja, das würde ich dann sehen.

Ich stand auf und machte mich fertig. Dann ging ich auf Ethan-Suche. Ich fuhr zum Rathaus, vielleicht konnte man mir ja da etwas über einen Ethan erzählen. Allerdings sah ich auf dem Weg dahin ein Schild, das mich sofort in eine andere Richtung lenkte: Stadtbibliothek. Mit Internetzugang. Genau das, was ich jetzt brauchte. Also ging ich in die Stadtbibliothek, wo ich mich sofort an den erstbesten Computer setzte. Ich gab Magic Spring Ethan in die Suchmaschine ein und fand sofort, wonach ich suchte: Ein Familienstammbau von einer der Gründerfamilien von Magic Spring. Und ganz unten stand er: Ethan Montgomery. Er war etwa in meinem Alter und auf dem Bild seiner Familie konnte man ihn sofort erkennen, da er das einzige Kind seiner Eltern war. Er hatte schwarze Haare und eine braun gebrannte Haut. 

Ich versuchte, mir darüber klar zu werden, was das bedeutete. Ich ging im Geiste noch einmal alles durch, was meine Mutter mir über die Vergangenheit der Vampire erzählt hatte.

Sie brauchten Blut. Ich recherchierte noch ein wenig weiter im Internet über die Vergangenheit und Gegenwart von Magic Spring und las einige Artikel über Tierangriffe und verschwundene Blutbeutel aus Krankenhäusern. Na toll, das hätten wir dann ja geklärt.

Salbeiblätter bereiteten ihnen unvorstellbare Schmerzen und verhinderten Beeinflussungen. Das konnte ich nicht testen, ich hatte schließlich keine dabei und dass herkömmlicher Salbeitee das Gleiche auslöste, bezweifelte ich irgendwie. Aber ich war mir sicher, wenn ich die Blätter bei den Oscures in den Alkohol mischen würde, wären sie alles andere als glücklich darüber.

Die Sonne verbrannte sie. Das traf definitiv nicht auf Lucian und Christian zu. Andererseits hatte Terese auch etwas über einen Schutzzauber gesagt, und die Oscures waren mit einer Hexe befreundet. Das würde erklären, warum sie auch in die Sonne gehen konnten.

Okay, ich wusste jetzt, dass es Vampire, Hexen und Werwölfe hier in Magic Spring gab und dass meine Halbschwester mit einem Vampir zusammen war. Auch wenn ein Teil von mir das Ganze immer noch für einen schlechten Scherz hielt. Aber ich vertraute Isabel trotz des gestrigen Verhörs. Sie würde mich warnen, wenn ich in Gefahr wäre. Sie würde nicht zulassen, dass mir jemand etwas antun könnte. Wenn ich ihr jetzt jedoch sagen würde, dass ich über alles Bescheid wusste, könnte ich ihr nicht erklären, woher. Sie würde nur versuchen wollen, mein Geheimnis herauszufinden. Und wenn sie wüsste, dass ich eine Johnson bin, würde es nicht lange dauern, bis auch Lucian und Christian das wüssten. Zumindest Lucian würde mich dann wohl mit Sicherheit umbringen wollen, wenn ich meiner Mutter glaubte. Es gab also nur eine Möglichkeit: Ich würde so tun müssen, als ob ich keine Ahnung hätte und so tun, als ob sie mich beeinflussen könnten. 

Aber sobald sie mir ihr Geheimnis anvertrauten, würde ich ihnen auch meines verraten, das beschloss ich jedenfalls. Da jetzt alle meine kleinen und größeren Lebenskrisen überwunden waren, ohne dass ich schreiend und panisch durch die Gegend rannte, lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und versuchte, zu entspannen. Daraus wurde aber nichts, denn mich schreckte eine tiefe Stimme auf.

„Hallo, Mary.“

Schnell schloss ich alle Fenster am Computer und hoffte, dass man die Seite mit den Tierangriffen nicht mehr gesehen hatte. Dann drehte ich mich um und sah in die eisblauen Augen, die mich ab heute vermutlich in meinen Träumen verfolgen würden und flüsterte: „Hallo, Lucian.“

 „Was machst du denn da?“

„Wüsste nicht, was dich das angeht.“ Der skeptische Blick aus seinen wunderschönen Augen – hatte ich das gerade wirklich gedacht?! – brachte mich dazu, hinzuzufügen: „Recherche. Für ein Referat in Geschichte.“

Verdammt, wieso hatte ich Geschichte gesagt? Was war, wenn er jetzt Isabel fragte, ob ich wirklich ein Referat in Geschichte halte? So schnell wie möglich versuchte ich, die Situation zu retten.

„Ich hatte solche Themen in London nie, also sollte ich dafür sorgen, dass ich nicht durchfalle. Hast du etwas dagegen?“

„Nein. Ich kenne mich in der Geschichte ganz gut aus, vielleicht kann ich dir ja sogar helfen.“

Oh ja, das glaubte ich ihm aufs Wort. Vermutlich war er bei den meisten Ereignissen selbst dabei gewesen. Ohne zu fragen, setzte er sich auf den Stuhl neben mich und fragte: „Was ist denn das Thema?“

„Stadtgeschichte in Magic Spring.“

„Das kann so gut wie alles bedeuten. Welches Thema denn genau?“

Ich entschloss mich, die Wahrheit zu sagen. Oder das, was ihr am nächsten kam: „Mythologie. Alte Legenden, Werwölfe, Hexenverbrennungen, Vampire und so was…“

Misstrauisch kniff Lucian seine Augen zusammen. Auf seiner Stirn bildeten sich Sorgenfalten. „Sorry, da kenne ich mich nicht so aus. Aber ich kann Isabel fragen, ob sie dir helfen kann.“

„Lieb gemeint, Lucian, aber ich denke, ich schaffe es schon alleine, meine Schwester um Hilfe zu bitten. Schönen Tag noch.“

Gerade als ich gehen wollte, fasste mich Lucian am Arm. Schon wieder. Wütend fuhr ich herum, aber da kam mir plötzlich eine Idee. Ich würde ihn dazu bringen, mich zu beeinflussen. „Was soll das? Lass mich los!“

„Bitte setze dich wieder.“

„Nein, ich will nicht!“ Ich versuchte, mich loszureißen, und da wurde es ihm zu viel. Er riss mich herum, sah mir in die Augen und zischte durch seine zusammengebissenen Zähne: „Setz dich hin!“ Dabei weiteten sich seine Pupillen, wie an meinem ersten Abend in Magic Spring. Nur mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal wusste, dass das nicht daran lag, dass er high war. Er hatte versucht, mich zu beeinflussen und jetzt würde ich ihm glaubhaft vorspielen, dass er es geschafft hatte.

Langsam setzte ich mich wieder hin. Lucian sah mich erstaunt an: „Wieso hast du auf mich gehört?“

„Du hast mir gesagt, ich soll mich hinsetzen und da dachte ich… soll ich wieder aufstehen?“

„Nein.“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er beugte sich zu mir und beeinflusste mich wieder: „Wir werden uns jetzt unterhalten und du wirst mir ehrlich antworten und sobald ich wieder weg bin, wirst du dieses Gespräch vergessen.“

„Okay.“

„Also, fangen wir an: Wieso bist du in Magic Spring?“

„Um meinen Vater zu finden.“

„Warum?“

„Ich wollte ihn kennenlernen.“

„Ist das alles?“

„Nein.“

„Was wolltest du noch?“

„Ich wollte herausfinden, ob ich noch mehr Familie habe. Und ich wollte ein neues Leben anfangen, weit weg von London, wo mich alles an meine Adoptiveltern erinnerte.“

„Was weißt du über Vampire?“

„Vampire sind Wesen, die Blut trinken aber nicht zwingend Menschen töten und im Sonnenlicht funkeln. So stelle ich sie mir jedenfalls vor. Ich mag Vampirfilme.“

„Ph… im Sonnenschein funkeln, schön wär’s. Glaubst du daran, dass sie existieren?“

„Na ja, ich denke nicht. Klar wär’s möglich, aber das ist zu unwahrscheinlich. Ich würde es erst glauben, wenn mir einer begegnet, der mir beweisen kann, dass er einer ist.“

„Was weißt du über Salbei?“

„Ähm… Es ist gut gegen Halsschmerzen.“

Bei dieser Antwort verdrehte er nur die Augen und ich musste mich dazu zwingen, mein Lächeln zu verkneifen. „Wieso konnte ich dich nicht beeinflussen?“

„Beeinflussen?“, wiederholte ich fragend. Langsam machte es Spaß, die Ahnungslose zu spielen.

„Was ist heute anders an dir im Gegensatz zum letzten Mal, als wir uns getroffen haben?“

„Gestern hatte ich andere Kleidung an. Eine andere Frisur. Und ich hatte eine silberne Kette um, eine Art Amulett…“

„Das Amulett.“, unterbrach er mich. „Wo hast du das hergehabt?“

„Mein Exfreund hat es mir geschenkt. Wir haben gestern Schluss gemacht.“

„Du wirst dich heute Nachmittag mit Isabel für dein Referat treffen und sie ihr dann geben.“

„Ok.“

„Hast du noch was anderes von deinem Exfreund?“

„Nein. Er ist ein Idiot, ich werde nichts von ihm behalten.“

„Gut. Auf Wiedersehen, Mary.“

Mit diesen Worten verschwand er und ich atmete tief durch. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich hatte Lucian Oscure ausgetrickst.

Jetzt musste ich nur noch irgendwie dafür sorgen, dass die Oscures in meiner Kette auch Salbeiblätter fanden. Ich wusste noch nicht, wie ich das schaffen sollte, aber mir würde schon was einfallen.

Im Laufe des Tages war mir irgendwann eine Lösung für mein kleines Salbeiproblem eingefallen. Ich wusste, dass Christian unsterblich in Isabel verliebt war und dass weder er noch Lucian zulassen würden, dass ihr etwas passierte. Das bedeutete, dass Christian Isabel irgendetwas geschenkt haben musste, das Salbei enthielt, sodass kein Vampir sie beeinflussen konnte. Während unserem letzten Shoppingnachmittag hatte Isabel mir erzählt, dass ihre Kette ihr erstes Geschenk von Christian war und sie sie seitdem nie wieder abgenommen hatte. Klar, dass in dem hübschen Amulett Salbei sein musste. Ich musste also nur irgendwie an Isabels Kette kommen.

In der Theorie klang dieser Plan nahezu perfekt. In der Praxis war es jedoch schwerer als erwartet, Isabel von ihrer Kette zu trennen. Wir hatten noch nicht viel für mein Referat gemacht, das ich mir selbst aufgehalst hatte, aber dennoch hatte sie mehrmals betont, dass das alles nur Legenden waren und dass man bescheuert sein müsste, so was zu glauben. Ehrlich, wenn ich nicht bereits von ihrem Geheimnis wüsste, wäre ich spätestens jetzt stutzig geworden. Gut lügen konnte meine Halbschwester offenbar nicht. Irgendwann wurde es mir zu viel und ich meinte: „Isabel, kannst du mal bitte kurz leise sein, ich muss über etwas nachdenken.“

Erstaunlicherweise tat sie, was ich sagte. Mir kam ein Gedanke. Könnte das tatsächlich möglich sein? Ich fühlte mich mies, das an ihr zu testen, aber ich musste es wissen.

„Isabel, kannst du bitte kurz aufstehen und mir die Post bringen?“

Die Isabel, die ich kannte, hätte das nie gemacht ohne Fragen zu stellen, aber sie tat es trotzdem. Tatsächlich, ich konnte sie beeinflussen, obwohl sie Salbei trug. Salbei hielt also wohl nur Vampire auf und keine… Was auch immer ich war. Es sei denn, sie spielte mir nur etwas vor. Aber dann würde sie eines niemals tun.

„Isabel, kannst du mir für heute Nachmittag deine Halskette leihen? Ich finde sie so schön und würde sie gerne mal anprobieren. Aber das bleibt unter uns, ja?“

„Natürlich. Was ist schon dabei?“

Sie gab mir ihre Kette und ich verließ zehn Minuten später das Zimmer, unter dem Vorwand, ich müsste kurz auf die Toilette.

Selbst wenn sie mir die ganze Zeit nur etwas vorgespielt hätte, hätte sie meinen Fragen und Aufforderungen nach keinen Grund zu der Annahme, ich hätte versucht, sie zu beeinflussen. Während ich mich gedanklich lobte, öffnete ich im Badezimmer vorsichtig das Amulett und lächelte erleichtert, als ich tatsächlich Salbei darin fand. Ich nahm einige der kleinen Blätter hinaus und füllte sie in meine eigene Kette, bevor ich beide Amulette wieder schloss. Jetzt war in beiden Ketten genug Salbei, um die jeweilige Person zu schützen, die sie trug. Die Oscure-Brüder hatten keinen Grund mehr, mir zu misstrauen, für jede meiner Handlungen gab es jetzt eine Erklärung, die nicht voraussetzte, dass ich über Vampire Bescheid wusste. Zufrieden ging ich wieder zurück zu meiner Schwester. Vielleicht konnte ich hier in Magic Spring ein friedliches Leben führen, weit weg von allem Übernatürlichen. Wie sehr ich mich irren sollte, würde ich allerdings erst sehr viel später erfahren.

Kapitel 6

Mittlerweile waren zwei Tage vergangen und mein kleines, freiwilliges Referat über das Thema Vampire war ebenso erfolgreich gewesen wie mein Plan zur Geheimhaltung meiner Familiengeschichte. Dank meines umfangreichen Engagements hatte ich nicht nur eine sichere Eins in Geschichte, sondern gleich noch eine Bestätigung meiner Vermutungen, wer in die Vampirgeschichte eingeweiht war. Als ich meinem Geschichtslehrer in der Klasse von dem Thema meines Referates erzählt hatte, haben Isabel und ihre Freunde nur bedeutungsvolle Blicke getauscht, als ob bei ihnen jeden Tag jemand ein Referat über Vampire halten wollte. Mal ehrlich, wenn man so ein gefährliches Geheimnis hatte wie diese übernatürliche Clique, sollte man vielleicht nicht den ganzen Tag über bedeutungsvolle Blicke wechseln, sobald das Wort Vampir fiel. Ich konnte mein Geheimnis besser wahren. Niemand meiner neuen „Freunde“ hatte eine Ahnung, was ich alles wusste. Ja, ich gehörte mittlerweile auch zur übernatürlichen Gang und hatte mich insbesondere mit der schüchternen Samantha angefreundet. Ich war quasi das unwissende, arme Menschenmädchen, das vor den Gefahren der magischen Welt geschützt werden sollte. Manchmal tat es echt weh, zu bemerken, dass mir niemand genug vertraute, um mir die Wahrheit zu sagen. Was dachten die sich überhaupt? Sie konnten ihre Identität doch nicht ein Leben lang vor mir verbergen. Das Einzige, was mich davon abhielt, sie anzubrüllen, war, dass ich ja eigentlich genau das Gleiche tat. Ich vertraute ihnen nicht genug, um ihnen zu sagen, wer ich war, besser gesagt, wer meine Mutter war. Also lebte ich mein Leben weiter wie bisher. Ich ging zur Schule, machte Hausaufgaben, ging einkaufen, und versuchte, zu verdrängen. Verdrängen, dass meine Freunde nicht nur Menschen, sondern auch Vampire und Hexen waren. Verdrängen, dass ich niemanden hatte, dem ich mich anvertrauen durfte. Verdrängen, dass ich mittendrin war und nicht mehr rauskommen konnte, weil ich selbst Teil der übernatürlichen Welt war. Verdrängen, dass dort draußen seit 1000 Jahren meine Geschwister lebten, die mich umbringen würden, sollten sie je von meiner Existenz erfahren.

Ich wollte mit alldem nichts zu tun haben. Also versuchte ich, zu vergessen und mein normales Leben weiterzuführen.

Leider blieb es nur bei dem Versuch, denn schon am nächsten Tag wurde ich nur noch tiefer in die Magie von Magic Spring gerissen.

Ich wachte mit dem Gedanken auf, dass ich am Nachmittag noch einmal zur Oscure-Villa gehen würde. Isabel hatte mich gestern Abend angerufen und mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, mich mit ihnen zu treffen. Da das letzte Treffen dort nicht gerade umwerfend war, wollte ich zuerst absagen, aber dann fiel mir ein, dass es möglich sein könnte, dass meine Freunde mir dieses Mal ihr Geheimnis anvertrauen wollten. Also sagte ich zu, obwohl ich das eigentlich bezweifelte. Jetzt ging ich aber erst einmal zur Schule. Auf dem Weg dorthin hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden, aber sobald ich ankam und ich stürmisch von Isabel umarmt wurde, vergaß ich es sofort wieder. Es hatte sicher nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich wurde ich einfach nur paranoid.

Sie gab mir ein kleines Kästchen mit den Worten: „Hier, ich habe diese Kette gesehen und musste sofort an dich denken. Bitte trag sie immer, sie soll dich daran erinnern, dass du eine Schwester hast, die dich liebt.“

Vorsichtig nahm ich die Kette aus der Schachtel. Sie war wunderschön, ein kleines silbernes Amulett in Form eines Herzens. Vermutlich mit Salbei, um mich zu schützen. Ja, ich glaubte, ich bedeutete Isabel wirklich viel, genauso wie sie mir.

„Danke. Ich werde sie niemals abnehmen.“, versprach ich ihr lächelnd. Vielleicht könnte es heute Nachmittag doch noch ganz schön werden.

Ich wusste nicht, wie sehr ich mich da getäuscht hatte. Nur wenige Stunden später fuhr ich zur Oscure-Villa. Ich hatte mir vorher eine Wegbeschreibung von Isabel geben lassen, um mich nicht zu verfahren. Ich war ja erst einmal da gewesen und hatte nicht auf den Weg geachtet. Sie hatte auch angeboten, mich wieder mitzunehmen, aber ich hatte abgelehnt. Wenn ich wieder fluchtartig das Haus verlassen wollte, wollte ich wenigstens mein Auto dabei haben. Einige Minuten später stand ich vor der Haustür, ein wenig eingeschüchtert. Bevor ich klopfen konnte, machte jemand die Tür auf und ich sah in ein Paar wunderschöne, eisblaue Augen. Ich könnte in diesen Augen versinken, sie nur stundenlang ansehen. Wenn mir nicht eingefallen wäre, zu wem diese Augen gehörten. „Hallo Mary, wir hatten schon Angst, du würdest nicht kommen.“, meinte Lucian.

„Wieso? Weil das letzte Mal, als ich hier war, nur unschöne Erinnerungen geschaffen wurden?“, fragte ich schnippisch und zwängte mich an ihm vorbei. Ich ging direkt ins Wohnzimmer, wo, wie zu erwarten, alle Beteiligten auf mich warteten. Es war genauso wie beim letzten Mal, nur Andrew war anscheinend nicht da. Ich wurde von allen freundlich begrüßt, bis auf Lucian natürlich, der sich nur ein weiteres Glas Alkohol einschenkte. Aber das war mir egal. Sagte ich mir jedenfalls. „Und jetzt?“, fragte ich. „Reden wir wieder?“

„Ja, Mary, wir reden. Diesmal aber wirklich, versprochen.“ Das war Isabel. „Ich fände es sehr nett, wenn du dir erst alles anhörst, bevor du ausflippst.“