Mysteriöse Orte - Tobias Habenicht - E-Book

Mysteriöse Orte E-Book

Tobias Habenicht

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Beschreibung

Seit Jahren sind sie verlassen. Kaum jemand will sie mehr betreten. Rätselhaftes geht dort vor sich. Es gibt sie überall, verlassene Orte, um die sich mysteriöse Geschichten ranken. Viele dieser alten Gebäude, Dörfer, Ruinen, Freizeitparks oder Bohrinseln sind verfallen, verwittert, verrostet oder fast vergessen. Warum kümmert sich aber niemand mehr darum? Warum werden manche dieser Orte sogar gemieden? Was ist dort geschehen? Neugierig geworden? Dann folgt uns einfach zu diesen mysteriösen Orten und lasst euch überraschen, welche düstere Geheimnisse sich dort verbergen.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mysteriöse

Orte

Anthologie

Alle Rechte vorbehalten.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter

Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung des Verlags möglich.

Die Namen und Handlungen sind frei erfunden. Evtl. Namensgleichheiten oder Handlungsähnlichkeiten sind zufällig.

www.verlag-der-schatten.de

Zweite Auflage 2025

© Coverbilder: MS Ode, depositphotos VJTAR

Covergestaltung: Verlag der Schatten

© Bilder: Fotolia: Thomas Otto (alte Villa), Tomasz Zajda (Nach uns das Nichts), Thomas Oser (Kalte Vergangenheit), crimson (Die Meerjungfrau),

Bastos (Der verlorene Traum), George Dolgikh (Heim der Katzen), emjottberlin (Beelitz),

Zack Frank (Die Mutprobe), f9photos (Ipuana), VRD (Hoogs und das Auge), JaWa (Tee mit Kluntjes), PL.TH (Der unheimliche Zug)

MS Ode (Anhäuser Mauer), Fr. Huster (Das Dachzimmer im Kopf),

J. A. Jorges (Grand Hotel)

depositphotos Tapo4ka (altes Gebäude mit Türmchen),

ramonespelt1 (Geräusche aus dem Nirgendwo)

Wikipedia Comhar (Moore Hall)

Lektorat: Verlag der Schatten

©Shadodex – Verlag der Schatten, Bettina Ickelsheimer-Förster,

Ruhefeld 16/1, 74594 Kreßberg-Mariäkappel

[email protected]

ISBN: 978-3-98528-051-3

Seit Jahren sind sie verlassen.

Kaum jemand will sie mehr betreten.

Rätselhaftes geht dort vor sich.

Es gibt sie überall, verlassene Orte, um die sich mysteriöse

Geschichten ranken. Viele dieser alten Gebäude, Dörfer, Ruinen,

Freizeitparks oder Bohrinseln sind verfallen, verwittert, verrostet oder fast vergessen.

Warum kümmert sich aber niemand mehr darum?

Warum werden manche dieser Orte sogar gemieden?

Was ist dort geschehen?

Neugierig geworden? Dann folgt uns einfach zu diesen mysteriösen Orten und lasst euch überraschen, welche düsteren Geheimnisse sich dort verbergen.

Inhalt

Tobias Habenicht: Nach uns das Nichts

Daniel Huster: Das Dachzimmer im Kopf

Julia A. Jorges: Grand Hotel

Oliver Borchers: Kalte Vergangenheit

Ruben Brüstle: Die Meerjungfrau

Monika Grasl: Der verlorene Traum

Bettina Ickelsheimer-Förster: Geräusche aus dem Nirgendwo

Johannes Harstick: Heim der Katzen

Oliver Henzler: Beelitz – Rückkehr des Todes

Monique Kelbing: Die Mutprobe

P. C. Thomas: Ipuana

Detlef Schirrow: Hoogs und das Auge

Barbara Kloska: Tee mit Kluntjes

Inga Kess: Moore Hall

Ilona Grüning: Der unheimliche Zug(Gedicht)

Tobias Habenicht: Nach uns das Nichts

Ich sehe mir das Video immer wieder an – das aus Mexiko. Ab der fünften Minute gibt es nicht mehr viel her, alles wackelt, die Kamera schwenkt hektisch herum. Pjotr war zu der Zeit vermutlich schon halb wahnsinnig. Bei 7:30 beginnt das Gewehrfeuer. Aber da ist sowieso schon alles verloren. Zwei Expeditionsteilnehmer sind jetzt tot, vielleicht auch drei, und die anderen sind nicht mehr das, was sie waren, als diese Geschichte ihren Anfang nahm.

Ich muss an den Tag denken, an dem wir uns trafen, um den Faden in die Hand zu nehmen, dem wir Stück für Stück folgen würden. Bis in den Abgrund. Bis ins Nichts.

Ich lernte Pjotr auf einem winzigen Rollfeld kennen – zweihundert Kilometer nördlich von Brisbane, Australien. Hinter mir lagen zwei anstrengende Flüge, wenig Schlaf und sieben Stunden Zeitverschiebung. Der Job war gut bezahlt, aber Businessclass war nicht drin gewesen. Ein kleiner, drahtiger Kerl mittleren Alters wartete dort mit einem Blatt Papier in der Hand, auf dem mein Name stand. Er sah aus wie eine Mischung aus Survival-Tourist und Live-Reporter in Outdoor-Kleidung mit einer Unzahl von Taschen an allen passenden und unpassenden Stellen, dazu eine professionelle Kamera, die er lässig in der Armbeuge hielt. Zu dem Zeitpunkt fand ich das seltsam, aber mit der Zeit wurde mir klar, dass die Kamera ebenso Teil seines Körpers war wie seine Hände, seine Füße oder die Nase im Gesicht.

»Pjotr Samjatin«, stellte er sich vor und grinste mich an. »Willkommen in unserem merkwürdigen Team auf seltsamer Mission.«

»Marco«, gab ich zurück. Ich muss gleich dazusagen: So heiße ich nicht wirklich, und das habe ich auch nicht gesagt. In dieser Geschichte tut mein wahrer Name aber nichts zur Sache. Die der anderen sind echt. Es gibt keinen Grund mehr, sie zu geheim zu halten.

Pjotr klopfte mir auf die Schulter, nahm mir eine meiner Taschen ab und führte mich vom Rollfeld weg auf die andere Seite des winzigen Flughafens. Zwischen den Gebäuden sah ich das Wasser des Pazifiks funkeln und entdeckte schnell das Wasserflugzeug, mit dem es weitergehen würde.

»Sie sind Russe?«, fragte ich.

Es klang wohl skeptisch, denn Pjotr grinste und sagte mit übertrieben schwerem Akzent: »Da! Meinen Wodka habe ich leider schon ausgetrunken, aber vielleicht könnte ich ein paar antiamerikanische Parolen zum Besten geben?«

Ein Russe mit Neigung zur Selbstironie, das war etwas Neues für mich. Ich mochte ihn auf Anhieb. Wenn es einen im Team gab, zu dem sich in der kurzen Zeit, in der wir zusammen waren, so etwas wie Freundschaft entwickelte, dann war es Pjotr, unser Kameramann.

Der Rest wartete bereits im Flugzeug. Ich war der Letzte, der noch fehlte. Vorn saßen zwei Männer. Einer drehte sich um und sah mich missbilligend an. Sein Gesicht wirkte streng und ausgezehrt, als habe er sein Leben lang weder gelacht noch sich irgendeinem Genuss hingegeben. Seltsam erschien mir, dass er bei der Hitze einen Anzug und Handschuhe trug. Neben ihm checkte der Pilot, ein hagerer Kerl um die fünfzig, dessen Haut wie gegerbtes Leder aussah, die Maschine durch. Hinten nahm Pjotr neben einer Frau mit Brille und angegrautem Zopf Platz, die zur Seite gesunken war und schlief. Offenbar hatte die Gruppe schon länger auf mich gewartet.

Heute kommt es mir vor, als wäre es nur ein Wimpernschlag gewesen, der die Szene auf dem Rollfeld von der mitten im Ozean trennte, auf dem wir meilenweit von jedem Land entfernt wasserten.

Kurze Zeit später saß der Typ im Anzug in einem Schlauchboot, das etwa hundert Meter von uns weg auf den Wellen schaukelte. Er war mit einem Metallkoffer in der Hand hineingestiegen, hatte ihn geöffnet, als er ein Stück gefahren war, und schien nun irgendwelche Instrumente zu bedienen. Hin und wieder las er einen Wert ab und notierte ihn.

Während des Fluges hatte er kein Wort gesagt – auch danach nicht –, aber ich wusste von Pjotr, dass er Kremer hieß, Deutscher war und Wissenschaftler. Ich weiß noch, wie befremdlich ich das fand. Er sah mir überhaupt nicht danach aus. Totengräber wäre passender gewesen oder Auftragskiller.

»Bin ich der Einzige, der es ein bisschen absurd findet, was wir hier machen?«, fragte ich. »Was genau untersucht Doktor Kremer da eigentlich?«

Pjotr lachte nur, während der Pilot meine Frage wie auch alles andere seit der Landung verschlief.

»Matthias weiß genau, was er tut«, würgte die Frau mit dem Zopf mühsam hervor. Ihr deutscher Akzent war ebenso unverkennbar wie die Tatsache, dass die leichte Dünung genügte, um sie furchtbar seekrank werden zu lassen.

Doktor Anne Huygens war die zweite Wissenschaftlerin im Team, eine Biologin von vielleicht vierzig Jahren. Ihre Laune war im Moment besonders schlecht, aber auch sonst meist nur wenig besser.

»Das klänge überzeugender, wenn er nicht in einem Schlauchboot auf dem offenen Meer treiben würde, um eine Insel zu vermessen, die es nie gegeben hat«, gab ich zurück.

»Sandy Island«, flüsterte Pjotr mit verschwörerischer Miene. »Die hartnäckigste Phantominsel der letzten paar Hundert Jahre.«

»Das ist es eben«, dozierte Doktor Huygens und schenkte ihm einen missbilligenden Blick. »Erst seit die Gegend 2012 exakt kartografiert wurde, hat es Sandy Island nie gegeben. Davor konnte man sie auf jeder Karte der Gegend finden, selbst bei Google.«

»Wo sie bloß ein schwarzer Fleck war.«

»Auch ein schwarzer Fleck ist was anderes als nur Wasser.«

»Aber genau das untersuchen wir hier: Wasser. Und wenn ich wir sage, dann meine ich Kremer. Wozu die mich brauchen, verstehe ich ja. Ich bin als Techniker angeheuert worden. Ich soll alles reparieren, was unterwegs den Geist aufgibt. Und Pjotr, na, der filmt alles, wenn es mal was zu filmen gibt. Den Piloten brauchen wir auch. Aber wofür werden Sie bezahlt? Fürs Fischezählen?«

»Ich bin Evolutionsbiologin, keine Zoologin«, giftete sie in meine Richtung. »Und Sie können sich hier überhaupt erst dann so wichtig nehmen, wenn wirklich mal etwas kaputtgeht. Vorausgesetzt, Sie können es dann auch reparieren.«

»Regt euch ab!«, versuchte Pjotr zu schlichten. »Kremer kommt zurück, es geht weiter. Noch ein paar solcher Stopps, dann treffen wir das zweite Team und unsere Auftraggeberin. Wenn ihr euch nicht einigen könnt, wer von euch wichtiger ist, könnt ihr ja sie fragen.«

Wenig später stieg Kremer wortlos ins Flugzeug und überließ es dem Piloten, die Luft aus dem Boot zu lassen und es zu verstauen.

»Na, fündig geworden?«, versuchte ich ein Gespräch anzufangen.

Kremer schüttelte nur den Kopf.

Wir klapperten noch weitere Phantominseln auf allen Weltmeeren ab, was fast zwei Wochen in Anspruch nahm. Die Aurora-Inseln waren darunter, die über hundert Jahre lang aufallen Seekarten eingezeichnet waren, dann jedoch nie wieder gesehen wurden. Die Insel Kantia, die ein Leipziger Kaufmann entdeckt haben wollte, aber während vier Expeditionen, die ihn ruinierten, nicht wiederfand, war dabei. Und schließlichBrasil, die sagenumwobene Insel westlich von Irland, die angeblich nur an einem Tag alle sieben Jahre aus dem Nebel auftaucht, wobei unter dem Nebel wohl eher der Geisteszustand der weinseligen Keltenmönche zu verstehen war, die die Insel im sechsten Jahrhundert aus der Taufe gehoben hatten. Allen gemeinsam war ihre derzeitige Erscheinung: nass, blau und zu hundert Prozent aus Meerwasser bestehend.

Jedes Mal, wenn wir die entsprechenden Koordinaten erreichten, fuhr Kremer in seinem Schlauchboot los, tat obskure Dinge und weigerte sich danach beharrlich, darüber zu sprechen.

»Sind nur Vergleichswerte«, sagte er einmal knapp. »Interessant wird’s erst später.«

Ich hatte mich damit abgefunden, einen Job zu machen, dessen Sinn ich nicht verstand. Wir suchten Orte auf, die es nicht oder nicht mehr gab, und unterstützten einen offensichtlich verrückten Wissenschaftler dabei, etwas zu vermessen, was nicht da war. Warum auch nicht? Die Bezahlung war schließlich gut. Man sollte nur seinen Job machen, keine Fragen stellen und sich über nichts wundern. Das passte.

Fragen konnte ich mir überhaupt nicht leisten, und das Wundern hatte ich mir schon lange abgewöhnt.

Irgendwann ließen wir das Meer hinter uns sowie den Piloten, der nie sprach und immer schlief, wenn er nicht gerade flog. Kremer telefonierte hin und wieder mit unserer Auftraggeberin, die ich noch gar nicht kennengelernt hatte. Sie schickte uns jetzt quer durch Europa – von einem seltsamen Ort zum nächsten. Dabei waren: eine nicht existente Burg in Ungarn, ein verschwundenes Fischerdorf in Kroatien, das vor über hundert Jahren aufgegeben worden war, und eine Kirchenruine in der Nähe des Skiortes Schladming in Österreich, die zwar noch auf Wegweisern und in Wanderprospekten auftauchte, aber seit mindestens zehn Jahren kein Mensch mehr gefunden hatte.

Auch wir fanden diese Kirche nicht – nicht einmal einen Pfad, der an den Ort führte, wo sie nach allen Informationen hätte sein müssen.

Als wir uns durch den Wald geschlagen und, dem GPS zufolge, die richtige Stelle gefunden hatten, öffnete Kremer seinen Koffer. Diesmal war nicht genug Platz, seine Arbeit im Verborgenen zu machen. Ein paar der Dinge, die er zum Vorschein brachte, erkannte ich, bei ein paar anderen konnte ich zumindest ahnen, wofür sie gut sein mochten. Mit etlichen weiteren Messgeräten für weiß der Himmel was, konnte ich gar nichts anfangen.

Wir sahen alle zu, wie Kremer das Spektrum des Sonnenlichts aufnahm, direkt und in Reflexion auf verschiedenen Bäumen, Gräsern und am Boden, wie er mit einem Refraktometer die optische Dichte der Luft bestimmte, mit einem Laser einige Distanzen vermaß und schließlich Temperatur, Luftdruck, Feuchtigkeit und per Geigerzähler die örtliche Hintergrundstrahlung aufnahm. Während er das tat, hoben und senkten sich seine Augenbrauen ein paarmal.

Während Pjotr und ich ihm zusahen wie Kinder einem Kasperl, der sich nicht ans Programm hielt, weil der Marionettenspieler völlig bekifft war, stapfte Doktor Huygens im Wald umher, nahm ein paar Proben, betrachtete die Wuchsform der Pflanzen und interessierte sich brennend für ein kleines, totes Pelztier, das sie gefunden hatte.

Am Ende besprachen sie sich halblaut auf Deutsch – nicht wissend, dass ich die Sprache leidlich verstand, auch wenn ich kaum einen zusammenhängenden Satz hätte sprechen können.

Kremer raunte etwas von abweichenden Messdaten, verminderter Reflexion und verzerrten Spektren. Die Strahlung, so viel verstand ich auch, war ungewöhnlich hoch, und es schien elektrische und magnetische Felder an diesem Ort zu geben, für die er keine Erklärung fand. Doktor Huygens war viel schwerer zu verstehen. Sie sprach irgendeinen Dialekt. Ich konnte mir nur auf eine Sache einen Reim machen, weil sie das Wort wiederholte. »Mutiert«, sagte sie, »definitiv mutiert. Ganz und gar außergewöhnlich.«

Während die Wissenschaftler ihre Sachen zusammenpackten, erzählte ich Pjotr, der gerade aus dem Wald kam, was ich gehört hatte.

»Es war eine Maus«, sagte er. »Ich habe sie gesehen. Sie war schon ziemlich verwest, aber eine Sache kam sogar mir seltsam vor. Ich bin vielleicht kein Biologe, aber wie eine Maus auszusehen hat, weiß ich.«

»Und was hatte die, was normale Mäuse nicht haben?«

Pjotr schulterte seinen Rucksack. Jegliche Heiterkeit war von ihm abgefallen. »Reißzähne«, sagte er dann. »Das verdammte Vieh hatte Reißzähne.«

Wieder im Wasserflugzeug mit unserem Piloten, dessen Namen ich nicht kannte, ging es in die Nordsee.

»Roughs Tower vor der englischen Küste«, rief mir Pjotr ins Ohr, um den Motorenlärm zu übertönen. »Ein Royal Navy Sea Fort aus dem Zweiten Weltkrieg.«

»Und was ist damit? Weshalb fliegen wir hin?«

»Es scheint verschwunden zu sein. Jedenfalls zerreißen sich ein paar Blogger online den Mund darüber. Heute früh kam ein Anruf von oben. Wir sollen uns das ansehen und dann vor Ort auf das zweite Team warten.«

Ich starrte aus dem Fenster, sah aber nichts als Nebel, der alles unter seinem weißen Schleier verbarg. Ich kannte die Geschichte von Roughs Tower, einer Plattform auf zwei mächtigen Säulen, die auf einem mit Wasser gefluteten Ponton ruhten. Ursprünglich wurde sie zur Luftabwehr vor die Themsemündung gesetzt. Sie war nur eine von mehreren, aber die einzige, die außerhalb der Dreimeilenzone Englands lag. In den Sechzigerjahren hatte sich jemand dort eingenistet, um einen Piratensender zu betreiben. Am Ende rief er einen eigenen Staat aus, das Fürstentum Sealand, und erklärte sich zu dessen uneingeschränktem Herrscher. Inzwischen war angeblich bloß noch ein Wachmann vor Ort, wenn das überhaupt stimmte.

Wir wasserten blind. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich nur auf Koordinaten zu verlassen, denn die Sicht lag bei kaum zwanzig Metern. Jeden Moment konnte der Kasten vor uns auftauchen und uns in eine große Zahl explosionsartig auseinanderstrebender Trümmer und Fleischfetzen verwandeln.

Als wir unten waren, stand nicht nur mir der Schweiß auf der Stirn. Und wie um uns noch einen zusätzlichen Schock zu bescheren, kam Wind auf und trieb den Nebel in Schwaden davon. Direkt vor uns, als harter Schatten im Gegenlicht des durch den Nebel brechenden Sonnenscheins, ragten die tonnenartigen Pfeiler des Forts auf. Die Plattform war zehn Meter über der Wasseroberfläche. Von ihrer Unterseite tropfte beständig Kondenswasser herab. Hin und wieder fiel auch etwas Rost oder ein Stück abgeblätterte Farbe ins Meer.

Wir vertäuten das Flugzeug, schossen einen Haken über die Brüstung, zogen eine Strickleiter nach und machten uns auf den Weg nach oben.

»Verschwunden ist jedenfalls was anderes«, murmelte Doktor Huygens, die erkennbar froh war, wieder halbwegs festen Boden unter die Füße zu bekommen.

»Sollten wir uns nicht zu erkennen geben?«, fragte ich. »Die Bewohner von Sealand waren noch nie für ihre Gastfreundschaft bekannt.« Ich erinnerte mich an die Geschichten, die ich von Überfällen und Putschversuchen auf dem selbst ernannten Fürstentum gelesen hatte, von Schusswaffen und Benzinbomben …

Doktor Kremer, der als Erster ging, hielt kurz an und sah zu mir herunter. Die Art, wie er das tat, war ausgesprochen unangenehm. So musste sich eine Ameise fühlen, die von weit oben mit einer Mischung aus Abscheu und Gleichgültigkeit betrachtet wird, kurz bevor sich der Stiefelabsatz auf sie herniedersenkt.

»Das wird nicht nötig sein«, erklärte er nur, bevor er weiter nach oben stieg. Woher er seine Gewissheit bezog, sagte er uns nicht.

Auf der Plattform pfiff uns der Wind um die Ohren, und das war mir definitiv lieber als Kugeln oder Molotowcocktails. Niemand hieß uns willkommen. Niemand schoss auf uns.

Roughs Tower war offenbar verlassen.

Die Innenräume waren dunkel, feucht und kalt. Das Licht ließ sich nicht anschalten.

»Ihr erster echter Job, Marco«, sagte Doktor Huygens bissig. »Auf, auf!«

Ich ignorierte sie. Es war jetzt kurz nach zwei Uhr. Wenn es mir bis drei gelang, den Generator in Gang zu bringen, würden wir noch genug Zeit haben, die Station bei Tag zu untersuchen. Der Gedanke, noch bei Einbruch der Nacht hier zu sein, behagte mir gar nicht. Die Station war mir unheimlich. Sie war erkennbar alt, der Zahn der Zeit hatte nie aufgehört, an ihr zu nagen. Aber sie war mehrmals wieder instand gesetzt worden und lange Zeit bewohnt gewesen. Das sah man. Es wirkte, als könne sich dieser Ort nicht entscheiden, was er war: eine moderne, bewohnte Plattform im Meer, wie es inzwischen jede Menge gab, oder ein düsteres, mahnendes Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg und damit potenziell voller Geister der Vergangenheit. Mit beidem hätte ich mich anfreunden können. Roughs Tower war jedoch ein Hybrid. Und das war mir unheimlich.

Ich folgte der Verkabelung, die sich im Schein meiner Taschenlampe tief in das Fort zog. Einige Räume wirkten wohnlich, ganz als habe jemand noch gestern auf diesem Bett gesessen oder jenes Radio bedient. Wenn die Station tatsächlich verlassen wurde, dann in Eile oder in der Absicht, bald zurückzukehren. Es schien nichts entfernt worden zu sein.

Der Lichtkegel der Taschenlampe erfasste die Dinge als Fragmente, riss sie aus dem Zusammenhang heraus und betonte ihre Eigenarten. In der Küche brach sich das Licht in einer gläsernen Kaffeekanne, die noch halb gefüllt war. In der Kaffeemaschine steckten Filter und Satz. Eine volle Tasse stand daneben. Ich griff danach, fühlte die Temperatur und schalt mich dann einen Idioten. Hatte ich wirklich erwartet, sie wäre noch warm? Trotzdem, länger als ein paar Tage konnte sie hier noch nicht stehen.

Ich ging weiter. Alles wirkte neu, es gab kaum Überbleibsel aus Kriegszeiten. Ich hatte wenigstens Wandmarkierungen erwartet, wie man sie in alten Bunkern oft findet. Aber die Wände waren gestrichen worden. Man fühlte sich wie auf einem ankernden Schiff.

Den Generator fand ich in einem an die Deckaufbauten angelehnten Holzschuppen. Ich brachte ihn aber nicht zum Laufen. Dafür gab es keinen logischen Grund, denn alle Teile bewegten sich, er war gut geschmiert und Sprit hatte er auch. Nach einer Weile erkannte ich, dass es eine zweite Stromquelle geben musste. Die Kabel führten in die Tiefe, in eine der begehbaren Säulen, wo früher die bedauernswerten Soldaten hatten schlafen müssen. Dort fand ich einen museumsreifen Generator. Ein paar Schaltungen und ein bisschen gutes Zureden genügten aber, um ihn zum Laufen zu bringen. Bald hämmerte er seinen Takt mit der Präzision eines Metronoms in die Dunkelheit, nur sehr viel schneller. Das Licht flackerte auf, und es wurde hell.

Auf dem Weg nach oben schien mir, als mischten sich noch andere Geräusche unter das Hämmern der Maschine. Es klang nach gedämpfter Unterhaltung, manchmal auch nach Schritten auf den metallenen Böden und Treppen.

Da ich zwei Jahre als Schiffsmechaniker gearbeitet hatte, wusste ich, wie rasch man in so einer Konservendose verrückt werden konnte. Das Murmeln kam vom Wasser, das die hohlen Pfeiler umspülte, die Schritte waren meine eigenen. Das war alles.

Oben angekommen, sah ich, wie Doktor Kremer seine Instrumente zusammenpackte. Er schwieg, aber das Gesicht, das er machte, gefiel mir nicht.

Doktor Huygens kam nicht auf meine Instandsetzung des Stromaggregats zu sprechen, was mich etwas enttäuschte, sondern starrte unverwandt in den Himmel.

»Geht es nur mir so oder ist die Sonne irgendwie schwächer, als sie es sein müsste?«, fragte sie in die Runde.

Es fiel mir erst auf, als sie es erwähnte, aber in der Tat, wenn man in die Sonne schaute, wirkte es, als trüge man eine schwache Sonnenbrille.

»Vielleicht Hochnebel?«, mutmaßte ich. »Oder Staub weit oben?«

»Ich sehe keinen Nebel. Und bei Streuung durch Staub müsste das Licht rötlich aussehen. Das tut es nicht. Wenn überhaupt, erscheint es mir eher ins Blaue verschoben.«

»Das ist korrekt«, warf Doktor Kremer ein. »Der UV-Anteil ist auch erhöht.«

»Und was bedeutet das jetzt?«, fragte Pjotr, aber das Ignorieren von Laien gehörte wohl zu den Dingen, die einen guten Wissenschaftler ausmachten.

Hinter uns kam mit herzhaften Flüchen der Pilot die Strickleiter herauf, was uns davon abhielt, weiter nachzubohren.

»Ich bekomme hier einfach keinen richtigen Empfang«, beschwerte er sich. »Ich habe eine unvollständige Nachricht erhalten. Doktor Taggard und die anderen verspäten sich wohl etwas, aber ich weiß nicht, um wie viel.«

Pjotr und ich sahen uns an. Keiner wollte länger als unbedingt nötig hierbleiben.

»Wann wollten sie denn ursprünglich da sein?«, fragte ich.

»In einer Stunde. Um sieben Uhr.«

Wir sahen ihn verwundert an. Seit wir Roughs Tower betreten hatten, waren vielleicht zwei Stunden vergangen, keine vier.

Doktor Huygens sprach aus, was alle dachten. »Guter Mann, es ist gerade mal vier Uhr. Hier, sehen Sie.« Sie hielt ihm ihre Armbanduhr entgegen. Der Pilot holte sein Handy hervor und hielt es daneben. Die Zeitanzeigen unterschieden sich um beinahe zwei Stunden.

Mit drei raschen Schritten kam Doktor Kremer heran und packte den Arm des Mannes. Die Behändigkeit hätte man dem ausgezehrt wirkenden Wissenschaftler gar nicht zugetraut. Er nahm dem Piloten nicht etwa das Handy ab, sondern ergriff sein Handgelenk und verdrehte es, sodass der Mann mit einem überraschten Aufschrei in die Knie ging, während Kremer nur Augen für das Display hatte.

»Eine Zeitverzerrung?«, murmelte er. »Schnell, was zeigen die anderen Uhren an?«

Er sagte »schnell« tatsächlich auf Deutsch. Trotzdem, oder gerade deswegen, kamen wir dem Befehl nach. Den Uhren und Handys der anderen zufolge war es vier Uhr. Meine Armbanduhr dagegen, die per Funksteuerung lief, zeigte an, dass es sechs Uhr war.

»Natürlich«, erregte sich Kremer. »Ein externes Signal durchbricht die Verzerrung. Höchst bemerkenswert.«

Er ließ uns stehen, widmete sich wieder seinen Instrumenten und murmelte unentwegt unverständliche Satzfetzen auf Deutsch vor sich hin. Doktor Huygens trat zu ihm und hörte zu.

»Arschloch«, murmelte der Pilot. »Na schön, während Doktor Strangelove hier mit seinen Spielzeugen beschäftigtist, suche ich mir einen Punkt mit gutem Empfang. Ich versuche es mal oben auf dem Heli-Landeplatz.«

Pjotr suchte rasch ein Seil, machte eine Schlaufe an jedem Ende und warf es dem Piloten zu. »Seilen Sie sich an, wenn Sie da oben sind. Der Wind frischt auf.«

In der Tat, von der Seeseite her näherten sich dunkle Wolken, und hin und wieder peitschte unvermittelt eine Bö über das Deck. Unten tanzte unser Flugzeug wie ein Korken auf den Wellen.

»Wir sollten uns noch einmal um den Generator kümmern«, rief ich Pjotr zu. »Mir ist wohler, wenn wir das modernere Gerät zum Laufen bringen.«

Er kam mit, und gemeinsam mühten wir uns knapp eine Stunde ab, bis das Gerät beim zehnten Versuch plötzlich ansprang.

Als wir den Schuppen wieder verließen, zerrte der Wind bereits stärker an unserer Kleidung.

Zurück am anderen Ende des Decks fanden wir die beiden Wissenschaftler mit gepackten Koffern vor. Ungehalten sahen sie uns an.

»Wo bleiben Sie denn? Und wo haben Sie den Piloten gelassen?«

»Wir waren gerade mal eine Stunde weg. Und der Pilot wollte hoch auf die Helikopterplattform, um zu telefonieren.«

»So lange?«, fragte Doktor Huygens skeptisch.

Plötzlich beschlich mich ein äußerst unangenehmes Gefühl. »Pjotr, komm mit!«

Wir erklommen die oberste Plattform, die so weit ausgebaut worden war, dass Helikopter auf ihr landen konnten. Sie war leer. An einem Geländer war jedoch ein Seil festgemacht, dessen Ende frei im Wind hin und her schlug. Ich packte es und erkannte, dass sich an seinem Ende eine Schlaufe befand. Sie war gerade so geweitet, dass sie um den Bauch des Piloten gepasst hätte. Die Schlaufe war völlig unversehrt und mit einem Knoten gegen weiteres Verrutschen gesichert worden. Aber sie war leer, einfach so.

Wir beugten uns suchend immer wieder über die Reling, doch wir sahen nur das Hauptdeck unter uns und noch viel tiefer nichts als aufgepeitschte See. Falls er gefallen war, war er längst verloren; versunken, an den Pfeilern zerschmettert oder hinausgetrieben in die raue Nordsee.

Wir gingen zurück zu den anderen und erstatteten Bericht. Doktor Huygens war entsetzt, während Doktor Kremer sich sofort in Richtung der Räumlichkeiten des Fürstentums Sealand aufmachte.

»Wir werden die Nacht hier verbringen müssen«, gab er uns über die Schulter hinweg zu verstehen. »Oder zumindest so lange warten, bis Doktor Taggard uns hier abholt.«

Natürlich hatte er recht, aber seine Kaltblütigkeit ließ mich schaudern. Was trieb einen solchen Menschen nur an? Was war es, was so wichtig war, so faszinierend an diesen Orten, die wir der Reihe nach aufsuchten, dass ihn keine der Absonderlichkeiten, denen wir unterlagen – oder zum Opfer fielen –, erschreckten?

Ich blickte noch einmal über die Reling, um nach unserem Flugzeug zu sehen. Es war bereits beschädigt. Würde es die Nacht überstehen?

Mit einem mulmigen Gefühl folgte ich den anderen und floh so vor dem sich immer rascher verdunkelnden Himmel, um mir ein Quartier für die Nacht zu suchen.

Kremer schloss sich in einer Art Lounge ein, wo es ein Sofa gab, auf dem man schlafen konnte. Wir anderen blieben im angrenzenden Raum und versuchten es uns so bequem wie möglich zu machen.

Die Nacht war unbeschreiblich. Die See warf Brecher gegen die Betonfundamente, der Wind heulte und brauste gegen die metallenen Aufbauten an, in denen wir saßen und hofften, dass nicht ausgerechnet heute die Nacht war, in der das Relikt aus dem Krieg im Meer versank, wie es eine seiner Geschwisterstationen vor ein paar Jahren getan hatte.

Blitz und Donner kamen immer näher, bis die Gewitterwolken direkt über uns zu stehen schienen. Der Klang veränderte sich allmählich, wurde eindringlicher, hallte wummernd nach und ließ mit jedem Mal die ganze Station erzittern.

»Was für ein Donner ist das eigentlich?«, fragte Doktor Huygens zwischen zwei Schlägen. Ihre Stimme klang belegt.

Inzwischen wechselten sich immer zwei Donnerschläge ab, die aus unterschiedlichen Richtungen zu kommen schienen – jeweils von einem anderen Ende der Station. Wenn man genau hinhörte, konnte man dazwischen ein helleres Krachen in rascherer Folge vernehmen. Auch das Aufleuchten vor den Fenstern hatte sich verändert. Es fehlte dem Schein das Grelle, das für Blitze typisch ist, und auch das nachträgliche Aufflackern.

»Klingt wie Artillerie«, flüsterte Pjotr.

Unwillkürlich sah ich auf die Datumsanzeige meiner Uhr. Ich musste an Kremer und die Zeitverzerrung denken sowie an die Stimmen und Schritte, die ich zu hören geglaubt hatte.

Das war natürlich albern. Die Anzeige hatte sich nicht verändert. Aber war da nicht noch ein tiefes, dröhnendes Brummen weit über uns?

Durch die Fenster war nicht mehr länger nur der Wechsel von Helligkeit und Schwärze zu sehen. Ein bläuliches Flimmern – Elmsfeuer vielleicht – legte sich über das Stück des aufgewühlten Himmels, das wir durch die Bullaugen erkennen konnten. Es ließ mir die Haare zu Berge stehen, so unnatürlich sah es aus.

Dann kugelten wir uns ein, drückten uns eng aneinander und zogen uns Decken über die Köpfe wie Kinder, die so alles auszusperren versuchen, was die Dunkelheit Bedrohliches mit sich bringt.

Irgendwann ließen die Geräusche nach. Der Sturm flaute ab.

Es wurde Tag.

Kremer war schon auf den Beinen und kletterte zur obersten Plattform hinauf, als wir nach draußen traten. Ein entferntes Knattern verriet die baldige Ankunft eines Hubschraubers. Nie zuvor und nie seitdem hat sich dieses Geräusch so befreiend für mich angehört wie an diesem Tag. Während die anderen Doktor Kremer folgten, warf ich noch einen Blick hinunter auf die nun wieder trügerisch ruhige See.

Das Flugzeug war nicht mehr da, nur einer der Schwimmer schaukelte auf den Wellen – noch immer an den Betonpfeiler gebunden. Wäre der Hubschrauber nicht gekommen, hätte ich mich ohne zu zögern ins Wasser gestürzt, um zum Festland zurückzuschwimmen. Alles hätte ich getan, um nur nicht noch eine Nacht an diesem Ort verbringen zu müssen. Ich begann zu verstehen, was aus dem Wächter geworden sein mochte, sofern er nicht einfach gegangen war, als er noch konnte.

Der Helikopter landete und spie Gestalten aus. Es war eine große Transportmaschine, wie ich erleichtert erkannte. Sie würde Platz für uns alle bieten.

Eine gut angezogene Frau um die dreißig, hochgewachsen und drahtig, sprang heraus und ging sofort auf Kremer zu. Sie trug einen leichten Umhang, der im Abwind der Rotoren flatterte, sowie lange, schwarze Handschuhe, die ihre Unterarme bis zu den Ellbogen bedeckten. Ihr Gesicht war schmal, die Züge kantig, der Ausdruck befehlsgewohnt. Das Haar trug sie kurz, aber nicht unmodisch.

Ihr folgten zwei Typen, denen ich sofort ansah, dass es sich um Ex-Militärs handelte. Einer war das, was herauskommen mochte, wenn Menschen und Grizzlys sich paaren könnten: Ein Riese von geschätzt dreißig Jahren mit einem buschigen Backenbart, wie Mormonen ihn oft trugen, und mit Oberarmen, für die es keine geeignete Konfektionsgröße mehr gab. Der andere war älter, vielleicht Mitte vierzig, hatte grau meliertes, kurz geschorenes Haar, war eins achtzig groß und durchtrainiert. Er hatte ein Gesicht, wie man es auf einem Werbeplakat der Armee zu sehen bekam. Ich war mir sicher, da einen ehemaligen Special Forces Soldaten oder etwas Ähnliches vor mir zu haben. Wozu wir Leute wie diese beiden brauchten, im Angesicht von Zeitverzerrungen und verschwindenden Teammitgliedern, war mir nicht klar.

»Meine Herren, Doktor Huygens«, sprach uns die Frau mit fester, klarer Stimme an, die keinen Zweifel daran aufkommen ließ, wer hier das Sagen hatte. »Mein Name ist Dianne Taggard, und ich leite diese Operation. Wir schließen nun Phase eins ab und wenden uns den eigentlichen Zielen der Expedition zu.«

Ich glaubte, nicht recht zu hören. Bevor ich es tun konnte, sprach Pjotr aus, was ich dachte.

»Ich glaube, ich höre nicht richtig. Das hier, das war nur … was? Eine Aufwärmübung? Hat Science Officer Ash hier …« Er deutete auf Kremer. »… schon erzählt, dass unser Pilot sich in Luft aufgelöst hat?«

Ob Doktor Taggard die Anspielung auf den Androiden im Film Alien verstanden hatte, ließ sie sich nicht anmerken.

»Mir sind alle notwendigen Fakten bekannt, Herr Samjatin. So bedauerlich dieser frühe Verlust eines Teammitgliedes auch ist, es herrschte starker Wind und der Mann war allein oben auf der Plattform. Er wird gestürzt und ertrunken sein. Wir werden alle notwendigen Schritte unternehmen, die Behörden informieren … und so weiter. Wenn Sie jetzt bitte einsteigen würden? Wir können alle offenen Fragen auf dem Flug klären.«

Kremer und Huygens leisteten der Aufforderung unmittelbar Folge, und auch ich konnte mich dem Befehlston nicht widersetzen. Wohl war mir nicht. Vor allem, weil mir noch in den Ohren klang, wie sie den Tod des Piloten, dessen Namen ich immer noch nicht wusste, abgetan hatte. Bedauerlich fand sie diesen frühen Verlust. Was sollte das denn heißen?

Dass wir keine Wahl hatten, sah schließlich auch Pjotr ein, der die ganze Szene mit seiner Kamera eingefangen hatte. Er ließ sie während des gesamten Flugs laufen.

Ich habe gehört, dass sich Menschen in Stresssituationen gewissermaßen hinter der Linse ihrer Kamera verstecken und die schlimmsten, erschreckendsten Dinge dokumentieren können, als seien sie gar nicht selbst vor Ort. Pjotr schien genau das vorzuhaben – vermutlich in der Erwartung, dass es von hier ab nicht besser werden würde, sondern schlimmer.

Der Flug ging nach England, wo wir in eine Chartermaschine umstiegen, die uns nach langem Flug irgendwo in der Ukraine absetzte. Auf dem Weg dorthin hatte ich versucht, die Mitglieder des zweiten Teams kennenzulernen, womit ich nur mäßig Erfolg hatte. Am gesprächigsten war eine kleine, drahtige Ukrainerin namens Marja Papushkeva, die sich als Vermessungstechnikerin hatte anheuern lassen. Sie sollte Doktor Kremer unterstützen. Ich überlegte, ob ich ihr klarmachen sollte, worauf sie sich hier eingelassen hatte, unterließ es aber. Wenn ich über das, was wir auf der Station erlebt hatten, nachdachte, kam es mir einfach zu absurd vor. Marja war zweiunddreißig Jahre alt, wollte Abenteuer erleben und die Welt sehen, bevor sie sich zur Ruhe setzen und eine Familie gründen würde. Sie lachte nur, als ich mit verkniffener Miene meinte, da habe sie sich die richtige Unternehmung ausgesucht.

Doktor Taggard hatte sie Kremer an Bord des Fliegers vorgestellt und so den Wissenschaftler in der Lektüre irgendeines Fachartikels gestört. Marja hatte ihn gleich angestrahlt und gesagt, dass sie sich auf die Zusammenarbeit freue. Kremer hatte nur eine Augenbraue gehoben und abwesend »Sicher, sicher« gesagt, bevor er sich wieder in seinen Artikel vergraben und ihre ausgestreckte Hand ignoriert hatte. So war er, unser brillanter Wissenschaftler.

Doktor Huygens war sehr still geworden und schielte immer wieder zu Kremer hinüber. Irgendetwas ging in ihr vor, aber ich traute mich nicht, sie zu fragen.

Die beiden Ex-Militärs lernte ich kennen als John Keppler und David Boyd. Der hünenhafte Keppler sprach kein Wort. Seinen Namen hatte ich von Boyd erfahren. Da ich selbst lange beim Militär gewesen war, identifizierte ich Keppler als Waffenspezialist. Ich hätte deshalb zu gern gewusst, was in den beiden Metallkisten steckte, die er vor dem Abflug an Bord des Flugzeugs gehievt hatte.

Boyd war ein überraschend redseliger, geselliger Mann, der uns mit einer Militärgeschichte nach der anderen unterhielt, bis Pjotr sich auf einen anderen Platz setzte.

»Pussy!« Boyd lachte und erklärte mir, wie er es im Irak geschafft hatte, drei hostile combatants in nur fünf Minuten und aus über dreihundert Meter Entfernung zu erledigen. Er schaute noch mal zu Pjotr hinüber und sagte dann: »Ich behalte ja schon alle Geschichten für mich, in denen Russen vorkommen.«

Wenn er nicht vom Töten sprach, war Boyd ein umgänglicher, kumpelhafter Typ, der gern herumblödelte und Witze machte. Ich blieb trotzdem auf Distanz. Für meinen Geschmack mochte der Mann seinen Beruf etwas zu sehr.

Diesmal fragte ich gleich nach dem Namen des Piloten, der sowohl den Hubschrauber als auch das Flugzeug flog. Er hieß Ian Woodrow, war ein Spross irischer Einwanderer in Amerika in der zweiten Generation und sprach häufig mit einem arg künstlichen, gälischen Akzent. Ich erfuhr, dass er nicht nur unser Pilot war, sondern in erster Linie als Survival-Spezialist und Jäger mit dabei war. Ich merkte mir diese Details gewissenhaft, denn irgendwie konnte ich das seltsame Gefühl nicht loswerden, dass unser letzter Pilot verschwand, weil niemand auch nur das Geringste über ihn gewusst hatte – wie bei einer Nebenfigur in einer Fernsehserie, deren Abwesenheit der Zuschauer schon in der nächsten Episode nicht mehr bemerkt.

Auf dem kleinen Flughafen irgendwo mitten im Nichts stand ein Helikopter für uns bereit. Es war ein russisches Modell – stabil, leistungsstark, gemacht für den Einsatz fern jeder Versorgung. Ich kannte den Typ, er ließ sich leicht warten, und im Fall einer Panne gab es ein paar Tricks, wie man ihn mit improvisierten Mitteln praktisch immer wieder flottkriegen konnte. So merkwürdig die Unternehmung war, der ich mich da verschrieben hatte, gut organisiert war sie.

Woodrow warf die Maschine an und flog uns noch weiter weg von dem, was ich mal als den Rest von Zivilisation bezeichnen möchte. Wir überflogen vor allem Wald, nur hier und da mal ein paar Gebäude, die eher Ruinen glichen. Die Gegend war völlig menschenleer.

Ein Verdacht stieg in mir auf, der Gewissheit wurde, als Kremer einen Geigerzähler hervorzog, ihn ablas und das Resultat notierte.

»Ist das ein Scherz?«, fragte ich Doktor Taggard. »Chernobyl?«

»Nur die Ruhe, Marco«, kam es völlig unbewegt zurück. »Wir gehen rein, wir gehen raus. Die Strahlung hält sich in Grenzen. Die Region ist längst für den Tourismus geöffnet und zieht jede Menge Besucher an.«

»Ja, aber die kommen freiwillig her«, knurrte Pjotr. Sein Humor hatte in den letzten Tagen deutlich gelitten. »Was wollen wir hier überhaupt?«

Taggard reichte zwei Luftaufnahmen herum. Sie waren aus großer Höhe gemacht worden. Man musste sich erst den Maßstab ansehen, um sich zurechtzufinden.

Offensichtlich zeigte eine davon eine kleine Stadt – oder was davon übrig war –, die andere dagegen eine leere, braune Fläche.

»Ja, und?«

»Das ist Redkovka, fünfunddreißig Kilometer von Chernobyl entfernt. Der Ort wurde evakuiert – von ein paar Hartnäckigen einmal abgesehen. Vor zwei Wochen ist er verschwunden, was ohne diese Hartnäckigen vermutlich niemand bemerkt hätte, die dabei gleich mit verschwunden sind.«

»Ist das überhaupt die gleiche Stelle?«, fragte Pjotr skeptisch und drehte die Aufnahme der leeren Fläche hin und her.

»Ist sie. Wir haben einige der Landmarken von Spezialisten untersuchen lassen. Das Bild zeigt exakt den gleichen Ort, nur Redkovka ist nicht mehr da. Aber das eigentlich Interessantedaran ist, dass die Aufnahme der Stadt nicht die ältere der beiden ist, sondern die jüngere. Vor zwei Tagen ist Redkovka wiederaufgetaucht.«

»Mit oder ohne seine hartnäckigen Bewohner?«, fragte Doktor Huygens leise, doch Doktor Taggard überhörte oder ignorierte die Frage.

»Wir müssen diese Kleinstadt untersuchen, bevor sie wieder verschwindet.«

»Und selbst verschwunden sein, bevor das passiert«, ergänzte Doktor Kremer von zwei Reihen hinter uns.

Als ich mich zu ihm umdrehte, hatte er ein seltsames, schmallippiges Lächeln im Gesicht und war schon wieder irgendwo anders, nur nicht bei uns.

»Und Sie erwarten immer noch, dass wir keine Fragen stellen?«, erkundigte sich Pjotr. Seine Stimme klang gereizt.

»So steht es im Vertrag. Das Geld nehmen Sie schließlich auch.«

»Das steht mir auch zu, aber im Vertrag stand nichts von Radioaktivität oder von verschwindenden und wiederauftauchenden Städten. Weshalb sollte sich irgendwer so einer Gefahr aussetzen?«

Doktor Huygens, Marja Papushkeva, Pjotr und ich sahen Doktor Taggard erwartungsvoll an. Nur Keppler und Boyd fassten eher uns ins Auge – abschätzend, fast ein bisschen lauernd, wie ich fand.

Doktor Taggard schien mit sich zu ringen, bevor sie sich entschied, lieber auf die Fragen der Leute einzugehen, die sie ja noch brauchte. »Weil das nicht nur mit Redkovka geschieht, sondern überall auf der Welt. Wir haben fünfzig bestätigte Fälle verschwundener Orte. Fünfzig! Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Was glauben Sie, wie oft das in der Vergangenheit schon passiert ist?«

Das mussten wir nun erst einmal verdauen.

»Waren wir deshalb auf Sandy Island?«, fragte Pjotr schließlich. »Oder da, wo die Insel mal war?«

»Genau. Vielleicht gab es sie wirklich nie. Aber warum war sie über Jahrhunderte in den Seekarten zu finden? Und wenn Sandy Island bloß ein Phantom war, gilt das dann auch für Antilla, Baltia, Crespo, Dougherty Island, Byres, Morell undwie sie alle heißen? Viele davon wurden nicht nur entdeckt und ab da in alle Karten übertragen, sondern wurden von etlichen Schiffen angelaufen – bis man sie irgendwann nicht mehr fand.«

»Aber das sind doch bloß eine Handvoll Beispiele«, wandte ich ein.

»Weil wir nicht mehr kennen. Im zwölften Jahrhundert hat sich ein arabischer Gelehrter eingehend mit dem Thema befasst, Karten studiert, Seeleute befragt. Er fand siebenundzwanzigtausend Phantominseln. Und das war vor den großen Entdeckungsreisen. Wenn nur ein Zehntel davon Anomalien entwickelt hat, wie Sie es auf Roughs Tower erlebt haben, oder von jetzt auf eben verschwunden ist wie Redkovka, kann man nicht mehr von einer Handvoll Beispielen reden. Dann müssten wir erkennen, dass die Realität an sich Löcher hat, in denen Inseln, die Menschen gesehen und betreten haben, von heute auf morgen verschwinden können. Und auf Land ist es nicht viel anders.«

»Beispiele?«

»Eldorado, Shangri-La, um nur mal zwei der bekannteren Orte zu nennen.«

»Warum nicht gleich Atlantis?«, spottete Pjotr.

»Ja, weshalb nicht? Platon hat Atlantis im Detail beschrieben, nicht nur erwähnt. Und er war nicht allein. Krantor, Poseidonis, Strabon … Viele Gelehrte haben sich damit befasst. Schlussendlich ist Atlantis aber untergegangen. Nicht im Meer, denn es gibt dort keine Überreste zu finden, sondern im Nebel der Mythologie, im Fantastischen, dem Märchenhaften. Atlantis ist eine Legende und damit so weit weg von allem, was real ist, dass man nicht mal ernsthaft davon reden kann, ohne sich lächerlich zu machen.«

»Das können Sie laut sagen.«

»Wirklich?« Doktor Taggard lächelte ihrem Gegenüber ironisch in die Kamera. »Nach Roughs Tower sprechen Sie immer noch mit dieser bornierten Selbstgefälligkeit? Gut, soll mir recht sein. Sie haben nach Erklärungen verlangt. Wir werden sehen, wie Sie nach Redkovka darüber denken.«

»Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn verlassene Orte verschwinden?«, ließ sich Doktor Huygens vernehmen. »Nicht, dass es mich nicht interessieren würde, aber wenn man Sie so reden hört, könnte man meinen, wir hätten es mit einer Bedrohung zu tun.«

»Wer sagt, dass es nicht so ist?« In einer unbewussten Geste rieb sich Doktor Taggard über ihre behandschuhten Unterarme, als wäre ihr kalt. »Was, wenn sich das auf dicht bewohnte Gebiete ausdehnt? Es hat schließlich schon Menschen verschluckt.«

»Und manchmal wieder ausgespuckt«, setzte Boyd hinzu. Ihm stand ein breites Grinsen im Gesicht, als genieße er es in vollen Zügen, ein Geheimnis zu kennen, in das die anderen erst noch eingeweiht werden mussten. »Dann sind sie aber nicht mehr ganz dieselben.«

»Wie die Maus, die wir gefunden haben?« Doktor Huygens starrte ihn mit geweiteten Augen an. »Wollen Sie etwa sagen, dass so etwas auch mit Menschen passiert ist?«

»Um das zu untersuchen, sind wir hier«, beantwortete Doktor Taggard die Frage und warf Boyd einen strengen Blick zu. »Dafür haben wir Sie angeheuert. Und jetzt werden wir alle tun, wofür wir bezahlt werden – gewissenhaft, effizient und professionell. Mehr erwarte ich nicht von Ihnen. Aber auch nicht weniger.«

Damit schwieg sie und starrte unverwandt auf den Wald, der unter uns vorbeizog.

Eine Frage wagte ich trotzdem noch. »Weshalb sind wir nicht gleich auf Roughs Tower geblieben?«

Überraschend beantwortete Doktor Kremer meine Frage, ohne von seinen Unterlagen aufzusehen. »Bringt nichts. Roughs Tower ist in Sichtweite der englischen Küste. DiePlattform wird vielleicht vom Nebel verschluckt, aber sie wird nie völlig verschwinden. Phase eins, mehr nicht. Was danach kommt, geht nur ohne Zeugen.«

Ich war zwar nicht sicher, ob er mit mir geredet oder nur laut gedacht hatte, doch Kremer war mir unheimlicher als das, was ich auf der Plattform in der Nordsee erlebt hatte. Vielleicht war es die Art und Weise, wie er mit dem Unfassbaren umging. Ich fürchtete mich vor dem, was noch aus dem Mund dieses Mannes kommen würde, wenn man ihm weitere Fragen stellte.

Wir landeten in Sichtweite einer halb verfallenen Siedlung, die entlang einer Durchgangsstraße errichtet worden war. Woodrow setzte den Helikopter hinter einer Anhöhe ab. Keppler und Boyd sprangen hinaus und machten sich an der Ladung zu schaffen. Als ich die Maschine verließ, hatte Keppler bereits ein schweres Sturmgewehr in der Hand, während Boyd ein Gewehr mit Zielfernrohr aus einer Kiste holte. Danach griff er nach einem stabilen Koffer, winkte mich zu sich und hielt ihn mir entgegen.

»Gehen Sie mir mal zur Hand, Marco«, verlangte er – immer noch dieses vergnügte Grinsen im Gesicht. Irgendwie schien hier keiner so richtig normal zu sein.

Ich nahm den Koffer und folgte dem Rest des Trupps.

Woodrow murmelte immer wieder, dass er es bescheuert fände, sich von allen Orten der Welt ausgerechnet Chernobyl auszusuchen. »Warum nicht gleich Fukushima?«, fragte er irgendwann.

Weil das nicht verschwunden sei, gab Doktor Taggard zurück.

Das hielt den Piloten und Jäger aber nicht davon ab, weiter vor sich hin zu schimpfen. Woodrow schien große Angst vor der radioaktiven Strahlung zu haben.

Plötzlich bedeutete uns Boyd, anzuhalten. Er betrachtete die Kleinstadt zehn Minuten lang durchs Fernglas, dann gab er den Weg wieder frei. »Keine Bewegungen auszumachen«, erklärte er knapp.

Von den ehemaligen Soldaten flankiert, gingen wir auf das zu, was von Redkovka übrig geblieben war.

Die Siedlung war teilweise völlig verfallen, aber einige Häuser waren von den hartnäckigen Bewohnern wohl instand gehalten worden. Ich erkannte geplünderte Läden, eine halb eingestürzte Fabrik am Ortsrand und mehrere desolate Wohnhäuser im Plattenbaustil. Es gab unzählige aufgegebene Orte auf der Welt, die nicht viel anders aussahen. Aber irgendetwas an Redkovka nahm das Auge gefangen, als gäbe es etwas, das sich dem Blick zunächst entzog – wie bei einem Doppelbild, das bei genügend Abstand plötzlich umklappt und ein weiteres Motiv offenbart, das man nicht mehr loswird, wenn man es erst einmal gefunden hat.

Da war eine Art Schimmer. Draußen war er kaum zu erkennen, aber wenn man in die toten Fensteröffnungen starrte, wo es am dunkelsten war, dann sah man dort ein blasses, bläuliches Flirren, wie das, was ich auf Roughs Tower für Elmsfeuer gehalten hatte. Ein Blick zu Pjotr, der die Kamera wie einen Schutzschild vor sich hielt, zeigte mir, dass nicht nur ich es gesehen hatte.

Einem Wink Kepplers folgend, gingen wir in Deckung. Wegen einer Gefahr? Aus Vorsicht? Ich wusste es nicht, fühlte mich jedoch hier deplatziert wie ein Fisch auf dem Trockenen, und das Herz schlug mir bis zum Hals.

Boyd schlich sich an ein am Rand des Ortes stehendes Haus heran. Er blickte zu uns zurück. Sein ewiges Grinsen, mit dem er vermutlich jeden Abend einschlief, war verschwunden. Er sah uns verwirrt an, hielt sich den Bauch, bedeutete uns dann aber, ihm zu folgen.

Als ich es tat, verstand ich. Das Flimmern wurde mit jedem Schritt stärker, bis es auf – wenn nicht sogar hinter – meinen Augen zu tanzen schien. Mir wurde übel, während sich die Welt blau zu färben schien. Ein lauter werdendes Surren in meinen Ohren begann das Rauschen meines eigenen Blutes zu übertönen. Ich musste mich zwingen, einen weiteren Schritt zu tun. Als ich zu Boyd aufschloss, war mit einem Mal alles vorbei. Das Flirren lag nun hinter mir, und ich erkannte, dass es Redkovka wie eine Blase umgab.

Wir schlugen eine Art Lager auf dem Dorfplatz auf, unmittelbar vor einer verfallenen Schule. Ein Blick hinein machte mich unsäglich traurig. Die Tafel des Klassenraumes war noch beschrieben.

»Geschichte«, sagte Marja leise, die zu mir getreten war. »Es geht um Vertreibung und Völkerwanderung. Irgendwie bezeichnend.«

Doktor Kremer begann seine Apparate aufzubauen, während Doktor Huygens, begleitet und gesichert von Woodrow, der ein Jagdgewehr trug, den Dorfrand absuchte – vermutlich nach interessant deformiertem Getier. Keppler und Boyd nahmen sich die instand gehaltenen Häuser vor und drangen in sie ein, als vermuteten sie dort eine Kommandozentrale schwer bewaffneter Extremisten.

Marja und ich gingen zu Doktor Taggard, die an einem Laptop arbeitete. Sie klappte ihn zu, als wir uns näherten.

»Wie lange bleiben wir?«, fragte ich knapp.

»Das entscheidet Doktor Kremer.«

Der hatte das offenbar gehört und antwortete: »Ich brauche ein paar Stunden. Redkovka ist weiter, als ich dachte. Phase zwei, kurz vor dem Übergang zu Phase drei.«

»Anders ausgedrückt: Instabil?«, mutmaßte ich.

»Hochgradig.« Er kicherte.

Bei meiner Ehre: Er kicherte.

Der Mann konnte nicht alle Tassen im Schrank haben. Und der trug hier die Verantwortung?

»Ich verstehe das immer noch nicht«, sagte Marja. »Verschwindende Orte, das kann ich ja noch schlucken. Aber wiederkehrende Orte? Was soll das sein? Können die sich nicht entscheiden? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«

»Hm, die Naivität der Jugend«, ätzte Doktor Kremer. »Haben Sie mal von Schrödingers Katze gehört, mein Kind?«

»Das ist nur ein Gedankenexperiment, alter Mann«, gab Marja missvergnügt zurück. »Das kennt doch jeder.«

»Dann erleuchten Sie uns doch mal.« Kremer schien bei der Unterhaltung auf Autopilot zu schalten, während er seine Instrumente bediente.

Marja seufzte. »Meinetwegen. Wenn Sie mir danach erklären, was das hiermit zu tun hat. In dem Experiment steckt eine Katze in einer Schachtel zusammen mit einer Flasche Gift. Die Flasche öffnet sich, falls ein radioaktives Isotop in der Schachtel einen Zerfall durchläuft. Und das ist totaler Zufall. Die Frage ist, ob die Katze zu einem bestimmten Zeitpunkt tot ist oder noch lebt.«

»Haargenau. Und ersparen Sie mir bitte die üblichen Sprüche, dass das Tierquälerei sei. Es ist ein Gedankenexperiment und es besagt, dass ein System, das zwei Zustände annehmen kann, sich nicht von selbst auf einen davon festlegt. Das geschieht erst, wenn es beobachtet wird. Bei diesem Gedankenexperiment geht es nicht bloß darum, dass man bis zum Öffnen der Schachtel nicht weiß, ob die Katze noch lebt oder nicht. Es geht darum, dass bis dahin keine der beiden Realitäten existiert. Solange man nicht nachschaut, ist die Katze nicht tot. Sie ist aber auch nicht lebendig, sondern beides zugleich oder irgendwas dazwischen. Mit Redkovka verhält es sich ähnlich. Es gibt keine absolute Realität. Sie entsteht erst, wenn wir die Schachtel öffnen und nachsehen.«

»Soll das heißen, Redkovka steckt in Schrödingers Schachtel? Und wir sind hier, um nachzusehen?«

»Vielleicht.« Ganz leise hörte ich ihn schon wieder vor sich hin kichern. »Oder wir sind die Katze. Das wird sich noch zeigen.«

»Die Katze? Was soll das schon wieder heißen?«

»Junge Dame, ich habe zu tun, wie Sie vielleicht sehen. Und Sie eigentlich auch. Je länger wir brauchen, desto länger stecken wir in der Schachtel.«

Marja gab einen Fluch von sich, öffnete wütend eine der Kisten, die auf dem Marktplatz gestapelt waren, und machte sich an ihre Arbeit, die darin bestand, Häuser, Straßen und verschiedene andere Punkte zu vermessen. Pjotr folgte ihr eine Weile mit der Kamera, dann ging er mit Keppler und Boyd in eines der Häuser.

Hastig kam er kurze Zeit später wieder heraus, beugte sich über das erste Fleckchen Gras und übergab sich.

»Wo ist Doktor Huygens?«, rief Boyd. »Hier gibt es etwas, das sie sich mal ansehen sollte.«

Schon nach ein paar Schritten auf die beiden zu bemerkte ich den Verwesungsgeruch, der aus der geöffneten Tür strömte. »Die hartnäckigen Bewohner?«, fragte ich Boyd.

»Schätze ich mal. Aber schauen Sie es sich selbst an.«

Entgegen dem, was mir mein Bauch und mein Verstand unisono empfahlen, trat ich durch die Tür.

Das Taschentuch vor meiner Nase half nicht viel. In der Küche, zwei Türen weiter, lag etwas auf dem Boden. Es war übersät mit merkwürdig riesenhaften, grünlichen Maden, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Es war nicht mehr viel zu erkennen, aber es wirkte wie ein recht großes Tier, das unter Krämpfen gestorben war, so sehr waren seine Gliedmaßen verdreht. Was nicht dazu passte, was mich aufschreien und nach draußen eilen ließ, wo ich Pjotr beim Kotzen Gesellschaft leistete, war die entfernt menschenähnliche Hand, die eine Pistole hielt und sie immer noch auf die fleischige Masse gerichtet hatte, die einmal der Kopf gewesen sein mochte. Ich musste raus aus der Wolke des Gestankes, etwas trinken, noch einmal kotzen, mein Gesicht waschen und dann vielleicht ein bisschen wahnsinnig werden.

Pjotr kam mit mir, keuchte und schaltete mit zitternden Fingern die Kamera ab.

»Marco, wir müssen hier weg. Die spinnen alle. Und so wie das da will ich nicht enden«, sagte er, während Doktor Huygens und Woodrow zum Fundort der Leiche eilten.

Da die anderen ebenfalls beschäftigt waren, konnten wir uns davonstehlen. Ein Uhrenvergleich zeigte uns, dass wir auch hier Zeit verloren. Der Abend kam früher als erwartet. Ferner kam mir das Licht der Sonne erneut dunkler vor – und ins Blaue verschoben. So war es auf Roughs Tower gewesen, vor dem, was ich für die schlimmste Nacht meines Lebens gehalten hatte. Aber hier war es stärker.

In meinen Ohren begann es wieder zu surren. Mein Magen knotete sich zusammen. Wir hatten den Ortsrand erreicht und mit ihm das blaue Flimmern. Wenn mich nicht alles täuschte, war es dichter, deutlicher und stärker geworden. Alles in mir schrie: Zurück, hier geht’s nicht weiter.

»Da!«, rief Pjotr plötzlich. »Siehst du das? Kein Flimmern.«

Am Ende der Hauptstraße schien die Luft tatsächlich klarer, heller, und sie flimmerte nicht. Es war nur diese eine Stelle – wie ein Durchgang, der das Innere der blauen Blase mit der Außenwelt verband.

Wir liefen los. Es schien, als brauchte es zehn Schritte, um einen voranzukommen. Meine Beine wurden schwer. Die Lungen brannten. Was mich antrieb, war der Wunsch, Redkovka und alles, was es enthielt, weit hinter mir zu lassen.

Irgendwann hielten wir an. Keuchend schauten wir zurück.

Der Anblick ließ mich taumeln.

Die Welt schien sich dort zusammenzuziehen, wie durch eine stark verzerrende und verkleinernde Linse betrachtet.

Wir wankten zurück, drehten uns um und wollten weiterlaufen. Aber auch da geschah etwas. Die Straße schien sich in die Länge zu ziehen und gleichzeitig seitlich zusammengedrückt zu werden wie bei einem überdehnten Gummiband. Links und rechts flimmerte die Luft.

»Vor oder zurück?«, keuchte Pjotr.

Ich überlegte. Ich wollte nichts lieber, als von hier zu verschwinden. Aber der Weg in die Freiheit schien immer länger zu werden, und wer konnte schon sagen, ob er Bestand haben würde?

Wir kehrten also um, und Redkovka nahm uns wieder auf.

Die Nacht stand unmittelbar bevor. Die meisten der anderen hatten sich auf dem Marktplatz versammelt und aßen zu Abend. Pjotr und ich gesellten uns dazu, erzählten etwas von einem Rundgang, ließen den Durchgang aber ebenso unerwähnt wie den Umstand, dass wir alles und alle hier zurückgelassen hätten, hätte uns nicht der Mut verlassen.

Ein gutes Stück abseits hatte Doktor Huygens Planen ausgebreitet und arbeitete an den Überresten des Dings, das zweifelsohne einmal ein Mensch gewesen war. Die Arbeit schien sie mehr zu faszinieren, denn zu erschrecken.

Als ich zu ihr ging und sie fragte, ob sie nicht etwas essen wolle, beachtete sie mich gar nicht, sondern murmelte: »Es hätte leben können. Alles verdreht, verformt … aber funktionsfähig.«

Ich ließ sie in Ruhe.