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In ihrem wegweisenden Werk "Mystik" untersucht Evelyn Underhill die tiefen spirituellen Erfahrungen und die vielfältigen Dimensionen der Mystik. Unter Verwendung eines klaren, ergreifenden Schreibstils verbindet sie philosophische Überlegungen mit theologischen Einsichten und fächert die verschiedenen mystischen Traditionen auf. Ihre Analyse erstreckt sich von den antiken mystischen Texten bis hin zu modernen Interpretationen und beleuchtet die wesentlichen Elemente der mystischen Erfahrung, wie Einheit und Transzendenz. Underhill situierte das Buch in einem Kontext, in dem die Suche nach Spiritualität in einer zunehmend säkularisierten Welt an Bedeutung gewinnt, und sie spricht eine breite Leserschaft an, die an der Suche nach dem Göttlichen interessiert ist. Evelyn Underhill (1875-1941) war eine Pionierin der Mystik und zählt zu den bedeutendsten spirituellen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre tief verwurzelte Bildung und ihr Interesse an religiösen Fragen prägten ihr Leben und Werk. Durch ihre Auseinandersetzung mit der englischen Spiritualität und der Mystik führten Underhill zahlreiche Vorträge und Publikationen durch, die das westliche Verständnis von Mystik nachhaltig beeinflussten. Ihr persönliches Streben nach einer erfahrbaren Beziehung zum Göttlichen spiegelt sich in den grundlegenden Themen ihres Schreibens wider. "Mystik" ist eine essentielle Lektüre für alle, die sich mit Fragen des Glaubens, der Spiritualität und der menschlichen Erfahrung auseinandersetzen möchten. Underhills anschauliche Erklärungen und ihr tiefes Verständnis der mystischen Traditionen machen das Buch sowohl für Studienzwecke als auch für persönliches Wachstum wertvoll. Es lädt ein zu einer Expedition in die Tiefen des spirituellen Bewusstseins und bietet klärende Einsichten, die sowohl modern als auch zeitlos sind. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Im Spannungsfeld zwischen unaussprechlicher Erfahrung und begrifflicher Klärung erkundet dieses Werk, wie Menschen das Göttliche nicht bloß denken, sondern erleben, wie solche Grenzmomente Sprache sprengen und doch nach Form verlangen, wie individuelles Ringen in eine Tradition einwächst und diese zugleich erneuert, und wie aus innerer Verwandlung konkrete Haltungen reifen, deren Sinn sich zwischen Wissen und Nichtwissen, Ekstase und Alltag, Einsamkeit und Gemeinschaft, Schweigen und Deutung entfaltet, quer durch Epochen und Kulturen, mit einer Aufmerksamkeit für die Spannungen zwischen Vernunft und Einbildungskraft, Gefühl und Erkenntnis, Ich und Du, die das mystische Leben als Weg der Liebe und der Übung ausweisen.
Ausgangspunkt dieser Einleitung ist Evelyn Underhills Mystik, im englischen Original 1911 als groß angelegte Studie über Wesen und Entwicklung mystischen Bewusstseins veröffentlicht. Das Buch gehört zur Religionsphilosophie und Spiritualitätsforschung und bewegt sich nicht in einer fiktiven Handlung, sondern in einem intellektuellen Schauraum, der vor allem die abendländische, insbesondere christliche Überlieferung in den Blick nimmt und sie dialogisch mit anderen Traditionen verschränkt. Underhill, eine britische Autorin mit geisteswissenschaftlichem Profil, schreibt im Kontext eines frühen 20. Jahrhunderts, das Psychologie, Literaturwissenschaft und Theologie neu verband und die Erfahrungsdimension des Religiösen mit ungewohnter methodischer Breite zu erfassen suchte.
Das Leseerlebnis ist von einer Stimme geprägt, die zugleich gelehrt und zugewandt klingt: Underhill ordnet, vergleicht, definiert, ohne die Wärme des Themas zu kühlen. Ihr Stil verbindet analytische Disziplin mit bildreicher Anschaulichkeit; Fallbeispiele, historische Vignetten und behutsame Begriffsklärungen tragen die Argumentation. Statt hermetischer Fachsprache wählt sie eine zugängliche Prosa, die Laien abholt und Fachkundige respektiert. Der Ton bleibt respektvoll gegenüber religiösen Zeugnissen und nüchtern gegenüber Übertreibungen, wodurch eine Atmosphäre entsteht, die zum prüfenden Mitdenken einlädt. Wer das Buch aufschlägt, begegnet keinem Dogma, sondern einer geduldigen Kartierung innerer Erfahrungen, deren Vielfalt nicht nivelliert, sondern strukturiert wird.
Zentral ist die Frage nach der Natur mystischen Bewusstseins: nicht als exotische Ausnahme, sondern als ernst zu nehmende Form menschlicher Erkenntnis und Hingabe. Underhill zeichnet den mystischen Weg als Prozess, in dem Wahrnehmung, Wille, Gefühl und Vernunft umgeordnet werden, bis eine neue Orientierung entsteht. Erkenntnis erscheint hier als liebende Schau, die Denken nicht ersetzt, sondern durchdringt. Zugleich betont das Buch die Forderung nach Übung: Konzentration, Ethos, Ausdauer, Selbstvergessenheit. Immer wieder wird das Spannungsverhältnis von Transzendenz und Immanenz sichtbar, das die Erfahrungsberichte strukturieren: das Göttliche als ganz anders, doch in der Welt wirksam und in der Person formend.
Die Studie arbeitet vergleichend und interdisziplinär: Sie versammelt Stimmen aus christlicher Mystik, ergänzt durch Beispiele aus anderen religiösen Kontexten, und befragt sie mit Werkzeugen der Geschichtsschreibung, Literaturanalyse und Psychologie. Ein wiederkehrender Akzent liegt auf der Sprache mystischer Erfahrung: auf Bildern, Symbolen, Paradoxien, die das Unsagbare berührbar machen, ohne es zu vereinnahmen. Underhill zeigt, wie Metaphern Wegweiser sind, keine Landkarte, und wie Praktiken, Gemeinschaft und ethische Bewährung die Wahrheit solcher Erfahrungen beglaubigen. Nicht die Seltsamkeit fasziniert sie, sondern die Reifung der Person: eine Integration, die Denken, Gefühl, Handeln und Verantwortung in ein stimmiges Ganzes führt.
Für heutige Leserinnen und Leser bleibt das Buch relevant, weil es Spiritualität nicht als bloße Stimmung behandelt, sondern als ernsthafte Praxis der Aufmerksamkeit und der Veränderung. In pluralen Gesellschaften eröffnet es einen nüchternen, zugleich respektvollen Blick auf religiöse Tieferfahrungen, der weder Romantisierung noch Pathologisierung verfällt. Wer nach Orientierung in Fragen von Sinn, Achtsamkeit und ethischer Verantwortung sucht, findet hier begriffliche Werkzeuge, um Erfahrungen zu prüfen, ohne sie zu verflachen. Zugleich zeigt die Studie, wie Gemeinschaft, Tradition und persönliche Reifung zusammengehören, und wie innere Sammlung sich in tätige Mitmenschlichkeit übersetzt – eine Einsicht, die über Konfessionsgrenzen hinaus trägt.
Diese Einleitung lädt dazu ein, Mystik als sorgfältig komponierte Einladung zum Denken und Erproben zu lesen. Erwartet werden sollte keine schnelle Anleitung, sondern eine dichte, quellengesättigte Darstellung, die Geduld belohnt und Horizonte weitet. Underhill gibt Orientierung, ohne zu verengen; sie zeichnet Linien, an denen sich eigene Fragen entzünden können. Wer sich auf die langsame Bewegung ihrer Argumente einlässt, wird ein Buch finden, das Unterschiede achtet und dennoch Zusammenhänge sichtbar macht. So wird die Lektüre zu einem stillen Gespräch mit Zeuginnen und Zeugen verschiedener Zeiten – und zu einem Anstoß, das eigene Verständnis von Erfahrung, Wahrheit und Verantwortung zu vertiefen.
Evelyn Underhills Mystik (Originaltitel: Mysticism, 1911) ist eine umfangreiche Untersuchung der Natur und Entwicklung des mystischen Bewusstseins. Die Autorin sammelt und ordnet Berichte aus verschiedenen Epochen und Traditionen, vor allem christliche Quellen, und zieht aus ihnen ein allgemeines Muster. Das Buch gliedert sich grob in zwei Teile: Zunächst werden Begriffe, Abgrenzungen und Merkmale des Phänomens bestimmt; anschließend beschreibt Underhill den Weg, den Mystikerinnen und Mystiker nach ihren Zeugnissen gehen. Ihr Vorgehen ist vergleichend, historisch informiert und auf Erfahrungsberichte gestützt, mit dem Ziel, Mystik als eine eigenständige, praktische Disziplin zu zeigen, die über bloße Theorie oder Gefühl hinausreicht.
Im einleitenden Teil klärt Underhill, was Mystik ihrer Auffassung nach nicht ist: weder reine Metaphysik noch Magie oder bloße Sentimentalität. Sie versteht darunter die unmittelbare, erfahrungsbezogene Berührung mit der letztgültigen Wirklichkeit, die viele Traditionen Gott oder das Absolute nennen. Entscheidend ist die Praktikabilität dieses Wissens: Es zeigt sich in einer veränderten Lebensführung und beständigen Ausrichtung des Willens. Um Missverständnisse zu vermeiden, unterscheidet sie Visionen oder außergewöhnliche Phänomene von der eigentlichen Sache, die tiefer und umfassender ist. Als methodischen Leitfaden wählt sie ein induktives, aus vielen Einzelfällen abstrahiertes Vorgehen. Sie stützt sich auf Heilige, Denker und Dichter verschiedener Zeiten.
Ein zentraler Abschnitt beschreibt die Merkmale mystischer Erfahrung. Wiederkehrend sind das Gefühl der Einheit und Gegenwart, eine Verschiebung von Raum- und Zeitwahrnehmung sowie eine dynamische Wechselwirkung von Aktivität und Hingabe. Vernunft bleibt bedeutsam, reicht aber allein nicht aus; Liebe und Wille spielen eine integrative Rolle. Weil die Erfahrung sprachlich schwer fassbar ist, untersucht Underhill die bevorzugten Ausdrucksweisen: Paradox, Bildrede, Musik, liturgisches Symbol. Solche Formen dienen nicht der Vernebelung, sondern der Vermittlung eines Sachverhalts, der nur indirekt sagbar ist. So entsteht ein Katalog von Kennzeichen, der Vielfalt zulässt und doch ein Profil erkennbar macht.
Daraufhin beleuchtet sie die Beziehungen der Mystik zu Nachbargebieten. Philosophische Systeme liefern Begriffe und Klärungen, bleiben jedoch Hilfsmittel, die die Erfahrungsdimension nicht ersetzen. Theologisch verortet sie Mystik im Rahmen von Lehre und Kult, betont aber, dass autoritäre Formeln ohne inneres Leben leer bleiben. Psychologisch nimmt sie aktuelle Forschung auf, um Funktionen von Aufmerksamkeit, Emotion und Willenslenkung zu erklären, warnt jedoch vor einer Reduktion auf Krankheit oder Suggestion. In diesem Abgleich zeigt sich ein Spannungsfeld: Mystik nutzt die Sprachen der Vernunft, bleibt ihnen aber in Ursprung, Ziel und Methode nicht völlig unterworfen.
Ein weiterer Schwerpunkt gilt Symbolik, Ritual und Kunst sowie der Abgrenzung gegenüber Okkultismus und Magie. Underhill zeigt, wie mythische Bilder, Sakramente und poetische Formen als Träger einer Erfahrung fungieren, die immer größer bleibt als ihre Zeichen. Dem stellt sie Praktiken gegenüber, die auf Machterwerb, Manipulation oder bloßen Effekt zielen, und markiert so eine Grenze: Authentische Mystik ist von Umkehr, Demut und ethischer Ausrichtung geprägt. Sie unterscheidet zudem verschiedene Typen, etwa naturbezogene oder theistisch geprägte Strömungen, und macht deutlich, dass die Vielfalt legitime Wege innerhalb eines gemeinsamen Grundmotivs eröffnet. Historische Beispiele dienen dabei als Illustrationen, nicht als starre Norm.
Im zweiten Hauptteil entfaltet Underhill den sogenannten mystischen Weg als geordnete Abfolge. Er beginnt mit einem Erwachen für die Gegenwart des Göttlichen, gefolgt von Läuterung, in der Gewohnheiten und Bindungen geordnet werden. Eine Phase der Erleuchtung bringt gesteigerte Klarheit und Sinnfülle; begleitende Phänomene wie Stimmen oder Visionen werden als nebensächlich behandelt. Darauf folgen vertiefte Kontemplation und Hingabe, die in eine Krise führen können, oft als dunkle Nacht beschrieben. Ziel ist die Vereinigung, verstanden als dauerhafte Festigung der Ausrichtung und Liebesgemeinschaft, die das Handeln prägt, ohne die natürliche Persönlichkeit zu zerstören oder den Alltag zu entwerten.
Das Werk endet nicht mit Spektakel, sondern mit der nüchternen Prüfung der Früchte. Als Kriterium dienen Beständigkeit, Demut, Dienstbereitschaft und die Integration der Erfahrung in ein verantwortliches Leben. Mystik erscheint so als eine disziplinierte Kunst der Aufmerksamkeit, die Intellekt, Gefühl und Willen ordnet. Underhill hält daran fest, dass echte Gotteserfahrung mit erhöhtem Wirklichkeitssinn einhergeht und rationale Kritik nicht scheut. In dieser Perspektive liegt die übergeordnete Aussage: Mystik ist weder Flucht noch Selbstzweck, sondern eine langfristige Schulung zur Liebe, die das Selbst wandelt und Weltbezug vertieft, ohne sich an besondere Erlebnisse zu binden.
Als Evelyn Underhill 1911 in London Mysticism veröffentlichte, stand Großbritannien am Übergang von der edwardianischen Ära zur Regentschaft Georgs V. Das intellektuelle und religiöse Leben war stark von Institutionen wie der Church of England, den Universitäten Londons, Oxfords und Cambridges sowie von traditionsreichen Verlagen geprägt. Underhill, in London geboren (1875) und am King’s College for Women der University of London ausgebildet, schrieb als anglikanische Laiin für ein breites Publikum. Ihr Werk entstand in einem Milieu, das vom Erbe der Oxford Movement im Anglicanismus, von lebhaften Debatten über Religion und von dichter literarischer Produktion geprägt war.
Der unmittelbare wissenschaftliche Kontext umfasste die vergleichende Religionswissenschaft und die Psychologie der Religion. Max Müllers mehrbändige Sacred Books of the East (1879–1910) hatte zentrale Quellen aus Asien in englischer Übersetzung zugänglich gemacht. William James’ The Varieties of Religious Experience (1902) prägte die Diskussion über religiöse Erfahrung. Zugleich setzte sich im englischsprachigen Raum die historische-kritische Erforschung der christlichen Tradition durch. Underhills Buch knüpfte daran an, indem es eine breite, systematische Darstellung mystischer Erfahrung bot und Quellen aus verschiedenen Epochen und Kulturen zusammenlas. Es wurde früh zu einem einflussreichen englischsprachigen Überblickswerk des 20. Jahrhunderts.
Im katholischen Raum eskalierte 1907 mit der Enzyklika Pascendi Dominici Gregis die Modernismuskrise; Debatten über Autorität, Geschichte und Erfahrung prägten auch den anglikanischen Diskurs. Eine unmittelbar relevante Bezugsperson war Baron Friedrich von Hügel, dessen The Mystical Element of Religion (1908) Mystik historisch, kirchlich und ethisch verankerte. Underhill korrespondierte mit von Hügel und nahm seine Betonung von Gemeinschaft, Prüfung und praktischer Liebe ernst, blieb aber anglikanisch. Ihr Werk erschien somit an einer Schnittstelle: Es würdigte persönliche Erfahrung, setzte sie jedoch in kritischen Dialog mit kirchlicher Tradition und historischer Forschung, wie es die moderne theologische Landschaft verlangte.
Zeitgleich erlebte Großbritannien eine esoterische und okkulte Konjunktur: Die Theosophical Society wirkte stark in London, und magische Orden wie der Hermetic Order of the Golden Dawn hatten kulturelle Resonanz. Populärer Spiritualismus und Séancen fanden Aufmerksamkeit in der Presse. Mysticism positioniert sich bewusst dagegen, indem es Mystik von Magie, Okkultismus und rein psychischen Phänomenen abgrenzt. Underhill unterscheidet zwischen veränderter Bewusstseinslage als Selbstzweck und einer auf Gott ausgerichteten, ethisch geformten Umwandlung. Diese Differenzierung reagierte auf zeitgenössische Strömungen und zielte darauf, dem Begriff „Mystik“ wissenschaftliche Präzision und spirituelle Seriosität gegenüber modischen Esoteriken zurückzugeben.
Das Buch spiegelt auch das weitgespannte Quellenangebot eines global vernetzten Imperiums. Unter den herangezogenen Traditionen finden sich spätantike platonische Autoren wie Plotin, mittelalterliche christliche Stimmen wie Pseudo-Dionysius, Meister Eckhart, Johannes Tauler und Jan van Ruusbroec sowie frühneuzeitliche Mystikerinnen und Mystiker wie Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz. Zugleich nutzt Underhill englisch verfügbare Übersetzungen aus nichtchristlichen Kontexten, darunter Texte aus dem Sufismus und der indischen Philosophie. Diese breit angelegte Lektüre stützt ihre vergleichende Darstellung und zeigt, wie stark Übersetzungsprojekte und Editionsreihen der Jahrhundertwende das Feld der Religionsforschung und der populären Religionsbildung veränderten.
Obwohl Mysticism vor dem Ersten Weltkrieg erschien, prägten Kriegserfahrungen und die Zwischenkriegszeit seine Rezeption. Underhill veröffentlichte bald Folgetexte wie Practical Mysticism (1914) und trug in den 1920er Jahren mit geistlichen Exerzitien und Vorträgen zur Erneuerung anglikanischer Frömmigkeit bei. Das Buch wurde mehrfach aufgelegt und überarbeitet; bis 1930 lag es in zahlreichen Editionen vor und blieb im Druck. Die anhaltende Nachfrage spiegelt ein breites Bedürfnis, religiöse Erfahrung sowohl psychologisch verständlich als auch theologisch verantwortet zu deuten, ohne sie in bloße Innerlichkeit oder in rein intellektuelle Religionsgeschichte aufzulösen. Rezensenten würdigten zudem die sorgfältige Quellendokumentation.
Die Rezeption verlief transatlantisch. Frühe amerikanische Drucke machten das Werk in den Vereinigten Staaten verfügbar, wo Theologie, Philosophie und aufstrebende Religionswissenschaft sich ebenfalls mit „Erfahrung“ als Kategorie befassten. Rezensionen in kirchlichen und literarischen Periodika hoben die umfassende Quellenkenntnis und die klare Systematik hervor. In England wurde Underhill in den folgenden Jahrzehnten zu einer bekannten spirituellen Autorin und Ratgeberin von Klerus und Laien. Mysticism etablierte sich damit als Referenztext in einem Feld, das von Gelehrten, Geistlichen und gebildeten Leserinnen und Lesern zugleich befragt wurde. Universitäre Seminare und kirchliche Lesezirkel griffen das Buch auf.
Als Kommentar zu seiner Epoche artikuliert Underhills Buch eine charakteristische Synthese des frühen 20. Jahrhunderts: Es nimmt Impulse der vergleichenden Religionswissenschaft und Psychologie auf, bezieht kirchliche Traditionen kritisch ein und markiert eine klare Grenze zu okkulten Moden. Zugleich präsentiert es Mystik als disziplinierte, ethisch wirksame und geschichtlich eingebettete Praxis. Damit verleiht es einem weit verstreuten Diskurs Ordnung und Vokabular und zeigt, wie moderne Intellektualität und gelebte Frömmigkeit sich nicht ausschließen müssen. In diesem Sinn spiegelt Mysticism die Spannungen und Möglichkeiten einer Zeit, die religiöse Erfahrung neu beschreiben und verantworten wollte.
In Honorem Omnium Animarum Mysticarum
Dies Buch zerfällt naturgemäß in zwei Teile, von denen jeder ein in sich abgeschlossenes Ganzes bildet, obgleich sie sich in gewisser Weise ergänzen. Während der zweite und längste Teil eine ziemlich eingehende Untersuchung der Natur und Entwicklung des religiösen oder mystischen Bewußtseins des Menschen enthält, soll der erste vielmehr eine allgemeine Einführung in die Mystik geben. Indem er sie nacheinander vom Standpunkt der Metaphysik, Psychologie und Symbolik darstellt, macht er einen Versuch, das, was gegenwärtig in vielen wissenschaftlichen Abhandlungen und Lehrbüchern, in verschiedenen Sprachen, verstreut ist, in einem Bande zusammenzufassen und dem Studierenden wenigstens die elementaren Tatsachen in bezug auf die Gegenstände, die am engsten mit dem Studium der Mystiker zusammenhängen, in knapper Zusammenfassung darzubieten.
Man kann jene Mystiker eigentlich nur in ihren Werken studieren, Werken, die von denen, die heutzutage viel über Mystik reden, meistenteils ungelesen bleiben. Allerdings hat der gewöhnliche Leser die Entschuldigung, daß die Meisterwerke der mystischen Literatur bei all ihren wunderbaren Schönheiten doch denen, die unvorbereitet an sie herangehen, beträchtliche Schwierigkeiten bieten. In den ersten sieben Kapiteln dieses Buches habe ich versucht, einige von diesen Schwierigkeiten beiseite zu räumen, die notwendige Vorbereitung zu geben und die Beziehung nachzuweisen, in der die Mystik zu andern Lebensformen steht. Wenn daher die Leser durch diesen ersten Teil in den Stand gesetzt werden, der mystischen Literatur mit einer größeren Fähigkeit nachfühlenden Verstehens entgegenzutreten, so hat er den Zweck, für den er geschrieben ist, erfüllt.
Wahrscheinlich wird fast jeder Leser, je nach der Seite, von der er an den Gegenstand herantritt, hier manches finden, was ihm überflüssig erscheint. Doch verschiedene Geistestypen werden dieses Überflüssige an verschiedenen Orten finden. Der Psychologe, der vom Standpunkt seiner Wissenschaft aus nach pathologischen Erscheinungen sucht, wird für Erörterungen über Symbolik irgendwelcher Art wenig Interesse haben. Der Symboliker, der vom künstlerischen Standpunkte aus dem Gegenstand naht, hat selten Sinn für psychologische Untersuchungen. Ich glaube jedoch, daß niemand, der eine Vorstellung von der Mystik in ihrer Gesamtheit als Lebensform zu erhalten wünscht, irgendeinen Gesichtspunkt, unter dem dies Buch sie betrachtet, aus den Augen lassen darf. Der Philosoph und der Psychologe handeln töricht, wenn sie aus Vorurteil gegen die orthodoxe Theologie das Licht nicht sehen wollen, das von hier aus auf die Ideen der Mystik fällt. Der Theologe handelt noch törichter, wenn er sich weigert, die Feststellungen der Psychologie zu hören. Für die, deren Interesse an der Mystik hauptsächlich literarischer Art ist und die vielleicht gern einen Schlüssel zu dem symbolischen und allegorischen Element in den Schriften der Kontemplativen hätten, ist ein kurzer Abschnitt über die Symbole hinzugefügt, deren sie sich am häufigsten bedienen. Endlich hat die Hartnäckigkeit, mit der man immer noch Mystik mit Okkultismus und psychischen Phänomenen verwechselt, es nötig gemacht, den wesentlichen Unterschied darzulegen, der zwischen ihr und jeder Form der Magie besteht.
Spezialisten auf irgendeinem dieser großen Gebiete der Wissenschaft werden wahrscheinlich Anstoß nehmen an der elementaren und oberflächlichen Art, mit der ihre Spezialwissenschaften hier behandelt sind. Aber dies Buch ist nicht für Spezialisten geschrieben. Von denen, die mit den behandelten Gegenständen schon vollkommen vertraut sind, erbittet es die Nachsicht, die wahrhaft gütige Erwachsene immer den Bestrebungen der Jugend entgegenzubringen bereit sind. Die Philosophen seien ernstlich gebeten, die ersten beiden Kapitel zu überschlagen, und die Theologen, dieselbe Nachsicht walten zu lassen bei dem Abschnitt, der von ihrer Wissenschaft handelt.
Es liegt nicht im Plan dieses Buches, Kenntnisse rein historischer Art mitzuteilen, außer soweit die Chronologie für die fesselndste Geschichte, die es gibt: die Geschichte des menschlichen Geistes, von Belang ist. Viele Bücher über Mystik gründen sich auf die historische Methode, unter andern zwei so sehr verschiedene Werke wie das oberflächliche und belanglose Buch von Vaughan »Stunden mit den Mystikern« und Dr. Inges gehaltvolle Bamptoner Vorträge[1]. Gegen diese Methode ließe sich der Einwand erheben, daß die Mystik es eingestandenermaßen nicht mit der Beziehung des einzelnen zur Kultur seiner Zeit zu tun hat, sondern mit seiner Beziehung zu zeitlosen Wahrheiten. Alle Mystiker, sagt Saint-Martin, sprechen dieselbe Sprache und stammen aus demselben Lande. Im Vergleich zu dieser Tatsache bedeutet es wenig, welchen Platz sie zufällig im Reiche dieser Welt einnehmen. Nichtsdestoweniger wird es vielleicht denen, die mit der eigentlichen Geschichte der Mystik nicht vertraut sind und denen die Namen der großen Kontemplativen noch keine genaue Vorstellung von ihrer Zeit und Nationalität geben, willkommen sein, eine kurze Übersicht ihrer zeitlichen Folge und räumlichen Verteilung zu erhalten. Auch ist eine gewisse Kenntnis der geschichtlichen Entwicklung der Mystik wünschenswert, um den schöpferischen Beitrag des einzelnen von der Masse der Gedanken und Feststellungen zu unterscheiden, die er von der Vergangenheit ererbt hat. Denen, die mit diesen Gegenständen gänzlich unbekannt sind, wird es vielleicht von Nutzen sein, erst einen Blick in den Anhang zu werfen, bevor sie mit dem Werke selbst beginnen, da nichts unangenehmer ist, als fortwährend auf Personen zu stoßen, die einem nicht vorgestellt sind.
Der zweite Teil des Buches, dem die ersten sieben Kapitel als Vorbereitung dienen sollen, ist ausgesprochen psychologisch. Er ist ein Versuch, eine Theorie von der Natur des mystischen Bewußtseins des Menschen aufzustellen und zu begründen, von den notwendigen Stadien organischen Wachstums, durch welche der typische Mystiker hindurchgeht, dem Zustande innern Gleichgewichts, dem er zustrebt. Jedes dieser Stadien – auch die eigentümlich mystischen und immer noch höchst mysteriösen Erfahrungen von Visionen und Stimmen, Kontemplation und Ekstase – wird, obgleich vom Standpunkte der Psychologie aus betrachtet, aus dem Leben der Mystiker illustriert, womöglich mit ihren eigenen Worten. Bei der Vorarbeit für diese Kapitel sind mir die ausgezeichneten »Etudes sur le Mysticisme« von M. Delacroix eine wertvolle Hilfe gewesen, wenn ich auch seine Schlüsse nicht annehmen konnte, und ich spreche ihm bei dieser Gelegenheit gern meinen Dank aus, ebenso wie dem Baron von Hügel für sein klassisches Buch »The Mystical Element of Religion«. Letzteres, das mir erst in die Hände kam, als mein eigenes bereits entworfen und zum Teil geschrieben war, ist mir seitdem eine beständige Quelle der Anregung und Förderung gewesen.
Zum Schluß ist es vielleicht gut, etwas über den genauen Sinn zu sagen, in dem der Ausdruck »Mystik« hier gebraucht wird. Es ist mit diesem Worte viel Mißbrauch getrieben, und man hat es in verschiedenen und oft sich gegenseitig ausschließenden Bedeutungen in bezug auf Religion, Dichtung und Philosophie angewendet; man hat es als Deckmantel benutzt für jede Art von Okkultismus, verwässertem Transzendentalismus, schalem Symbolismus, religiöser oder ästhetischer Gefühlsschwärmerei und schlechter Metaphysik. Andrerseits wurde von ihm ausgiebiger Gebrauch gemacht als Ausdruck der Verachtung von denen, die an diesen Dingen Kritik übten. Es ist sehr zu hoffen, daß es früher oder später seine alte Bedeutung als die Wissenschaft oder Kunst des geistlichen Lebens zurückerhält.
Inzwischen müssen die, die den Ausdruck Mystik gebrauchen, sich vor Mißverständnis schützen, indem sie erklären, was sie darunter verstehen. Ganz allgemein gesagt, verstehe ich darunter die Äußerung des eingeborenen Strebens des menschlichen Geistes nach vollkommener Harmonie mit der übersinnlichen Ordnung der Dinge, wie auch die theologische Formel für diese Ordnung lauten mag. Dies Streben erobert bei den großen Mystikern allmählich das ganze Feld ihres Bewußtseins, es beherrscht ihr Leben und erreicht sein Ziel in dem Zustande, den man als »mystische Vereinigung« bezeichnet. Ob nun das Ziel der Gott des Christentums heißt oder die Weltseele des Pantheismus oder das Absolute der Philosophie, immer ist der Wunsch, es zu erreichen, und das Streben danach – solange dies ein echter Lebensprozeß und nicht intellektuelle Spekulation ist – der eigentliche Gegenstand der Mystik. Ich glaube, daß dies Streben die wahre Entwicklungslinie der höchsten Form des menschlichen Bewußtseins darstellt.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, den vielen gütigen Freunden und Studiengenossen der verschiedensten Richtungen und Auffassungen, die mir Hilfe und Förderung zuteil werden ließen, bei dieser Gelegenheit meinen herzlichsten Dank auszusprechen. Vor allem bin ich Mr. W. Scott Palmer aufs tiefste verpflichtet für seinen höchst wertvollen, großmütigen und aufopfernden Beistand, besonders bei dem Kapitel über den Vitalismus, und Miß Margaret Robinson, die außer vielen andern freundlichen Diensten, die sie mir bei meiner Arbeit erwies, alle Übersetzungen aus Meister Eckehart und Mechthild von Magdeburg besorgte.
Einzelne Abschnitte des Manuskripts wurden von Rev. Dr. Inge, von Miß May Sinclair und von Miß Eleanor Gregory durchgesehen, und ihnen allen verdanke ich manche fördernden, sachverständigen Ratschläge. Besondern Dank schulde ich Herrn Arthur Symons für die großmütige Erlaubnis, von seiner schönen Übersetzung der Gedichte des hl. Johannes vom Kreuz unbeschränkten Gebrauch machen zu dürfen. Andere, die mir in verschiedener Beziehung wertvolle Hilfe geleistet haben und denen ich an dieser Stelle meinen Dank abstatten möchte, sind: Miß Constance Jones, Miß Ethel Barker, Mr. J. A. Herbert vom Britischen Museum, der mich zuerst auf den neu entdeckten »Mirror of Simple Souls« aufmerksam machte, Rev. Dr. Arbuthnot Nairn, Mr. A. E. Waite und Mr. H. Stuart Moore, F. S. A. Die Abschnitte über »Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der Mystik« und »Mystik und Magie« sind bereits im »Quest« und in der »Fortnightly Review« veröffentlicht und sind hier mit gütiger Erlaubnis der betreffenden Verleger wieder abgedruckt.
Bei der Revision dieser Auflage habe ich mir die Anregungen mehrerer freundlicher Kritiker, besonders des Barons von Hügel, zunutze gemacht und spreche ihnen hiermit meinen verbindlichsten Dank aus.
Einführung in die Mystik
Die am höchsten entwickelten Zweige der Menschheitsfamilie haben eine besondere Eigentümlichkeit gemeinsam. Sie sind bestrebt – zwar sporadisch und widrigen äußern Umständen zum Trotz –, einen merkwürdigen und scharf ausgeprägten Persönlichkeitstypus hervorzubringen, einen Typus, der sich nicht mit dem begnügt, was andere Menschen Erfahrung nennen, und der, um mit den Worten seiner Feinde zu reden, geneigt ist, »die Welt zu verleugnen, um die Wirklichkeit zu finden«. Wir begegnen diesen Menschen im Osten und im Westen, in der Welt der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit. Ihre einzige Leidenschaft scheint die Verfolgung eines bestimmten geistlichen und ungreifbaren Zieles zu sein, das Suchen nach einem Ausweg oder Rückweg zu irgendeinem wünschenswerten Zustande, in dem allein ihre Sehnsucht nach absoluter Wahrheit befriedigt werden kann. Dies Streben macht für sie den ganzen Sinn des Lebens aus; ohne Kampf haben sie ihm Opfer gebracht, die andern Menschen ungeheuer erschienen, und es ist ein indirektes Zeugnis für seine objektive Wirklichkeit, daß ihre Ziele, Lehren und Methoden in allen Ländern und Zeiten, wo immer sie aufgetreten sind, dem Wesen nach dieselben waren. Ihre Erfahrungen bilden daher ein merkwürdig übereinstimmendes und sich oft gegenseitig erläuterndes Beweismaterial, das wir in Rechnung stellen müssen, bevor wir die Kräfte und Möglichkeiten des menschlichen Geistes summieren oder über seine Beziehungen zu der unbekannten Welt jenseits der Grenzen unserer sinnlichen Wahrnehmung vernünftig philosophieren können.
Alle Menschen verlieben sich zu irgendeiner Zeit ihres Lebens in die verschleierte Gottheit, die sie »Wahrheit« nennen. Bei den meisten ist dies nur eine vorübergehende Leidenschaft, sie sehen früh deren Hoffnungslosigkeit ein und wenden sich praktischeren Dingen zu. Aber es gibt andere, die ihr ganzes Leben lang hingebungsvolle Liebhaber der Wahrheit bleiben, wenn auch die Art ihrer Liebe, das Bild, das sie sich von dem geliebten Gegenstande machen, ungeheuer verschieden ist. Einige sehen die Wahrheit, wie Dante Beatrice sah: als eine anbetungswürdige, doch unberührbare Gestalt, die uns zwar in dieser Welt begegnet, doch nur, um uns die jenseitige zu offenbaren. Andern erscheint sie vielmehr als eine böse, doch unwiderstehliche Zauberin, die ihren Liebhaber verlockt, Opfer auf Opfer von ihm fordert und ihn schließlich verrät. Einige erblicken sie in einem Probierglase und andere in einem Dichtertraum; einige vor dem Altar und andere im Schlamm. Die extremen Pragmatisten suchen sie sogar in der Küche, indem sie behaupten, daß man sie am besten an ihrem Nutzen erkennt. Der Skeptiker endlich tröstet sich für sein erfolgloses Streben, indem er sagt, daß seine Herrin in Wirklichkeit gar nicht existiert.
Unter welchen Symbolen diese Sucher auch ihr Ideal dargestellt haben, keiner von ihnen hat je der Welt versichern können, er habe die Wirklichkeit hinter dem Schleier gefunden, habe sie von Angesicht zu Angesicht geschaut. Doch wenn wir den Berichten der Mystiker glauben können – und diese Berichte haben einen eigenen Ton innerer Gewißheit –, so ist ihnen gelungen, was all jenen andern mißlang: eine unmittelbare Verbindung herzustellen zwischen dem in materiellen Dingen verstrickten Geist des Menschen und jener »einzigen Wirklichkeit«, jenem immateriellen und letzten Sein, das die Philosophen das Absolute und die meisten Theologen Gott nennen. Dies, sagen sie – und hierin stimmen viele, die nicht Mystiker sind, mit ihnen überein –, ist die verborgene Wahrheit, die der Gegenstand der menschlichen Sehnsucht ist, das einzig befriedigende Ziel seines Strebens. Daher sollten wir ihnen dieselbe Aufmerksamkeit schenken wie andern Erforschern von Ländern, in die wir uns nicht selbst wagen können; denn die Mystiker sind die Pioniere der Geisteswelt, und wir haben kein Recht, ihren Entdeckungen die Gültigkeit abzusprechen, nur weil es uns an Gelegenheit oder an dem nötigen Mut fehlt, selbst solche Forschungen anzustellen.
Es ist der Zweck dieses Buches, eine Beschreibung und auch – obgleich dies für solche, die diese Beschreibung in gutem Glauben lesen, überflüssig ist – eine Rechtfertigung jener Erfahrungen und der Schlüsse, die man daraus gezogen hat, zu versuchen. So fern liegen jedoch alle diese Dinge unserm gewohnten Denken, daß es zu ihrer Erforschung einer gewissen Vorbereitung, einer Läuterung des Intellekts bedarf. Wie bei jenen, die in früheren Zeiten zu den Mysterien zugelassen wurden, ist Läuterung hier das Tor der Erkenntnis. Wir müssen uns mit einem von Vorurteilen und Konventionen gereinigten Geiste zu dieser Begegnung einstellen; wir müssen mit der eingewurzelten Denkgewohnheit, die sichtbare Welt als gegeben zu nehmen, mit der trägen Voraussetzung, daß die Naturwissenschaft »wirklich« ist und die Metaphysik nicht, entschlossen brechen. Wir müssen unsere selbstgebauten Kartenhäuser einreißen – müssen, wie die Mystiker sagen, in unser Nichts hinabsteigen – und für uns selbst die Grundlagen aller möglichen menschlichen Erfahrung prüfen, bevor wir in der Lage sind, die Gebäude der Visionäre, der Dichter und der Heiligen zu kritisieren. Wir dürfen nicht von vornherein von der unwirklichen Welt dieser Träumer reden, bevor wir – wenn wir dies können – eine wirkliche Welt entdeckt haben, mit der wir jene vergleichen.
Eine solche Kritik der Wirklichkeit ist natürlich die Aufgabe der Philosophie. Ich brauche kaum zu sagen, daß dies Buch nicht von einem Philosophen geschrieben ist; auch will es sich nicht an die Jünger dieser königlichen Wissenschaft wenden. Trotzdem können wir auch als bloße Dilettanten nicht zu unserm richtigen Ausgangspunkt gelangen, ohne irgendwie philosophisches Gebiet zu betreten. Denn dies Gebiet schließt den ganzen Bezirk der Grundprinzipien ein, und auf diese Grundprinzipien müssen wir zurückgehen, wenn wir die wahre Bedeutung des mystischen Typus verstehen wollen.
Beginnen wir also mit dem Anfang und erinnern wir uns an einige geläufige elementare Tatsachen, um die sich alle praktischen Leute nicht bekümmern. Dieser Anfang für das menschliche Denken ist natürlich das Ich, das Ego, das sich seiner selbst bewußte Subjekt, das dies Buch schreibt, oder das andere mit Selbstbewußtsein ausgestattete Subjekt, das es liest; dies Ich, das allen Gegenargumenten zum Trotz erklärt: Ich bin 1. Hier ist ein Punkt, in dem wir uns alle ganz sicher fühlen. Noch kein Philosoph hat den Glauben des gewöhnlichen Individuums an seine eigene Existenz erschüttern können. Die Ungewißheit beginnt für die meisten von uns erst, wenn wir fragen, was außer uns ist.
Diesem Ich, diesem bewußten Subjekt, das in seinem Leibe eingekerkert ist wie die Auster in ihrer Schale 2, fließt, wie wir wissen, ein unaufhörlicher Strom von Botschaften und Erfahrungen zu. Die hauptsächlichsten unter diesen sind Reizungen der Gefühlsnerven, deren Resultat wir Gefühl nennen, die Schwingungen, die der Sehnerv aufnimmt, die wir Licht nennen, und die, die das Ohr aufnimmt und die wir als Schall wahrnehmen.
Was bedeuten diese Erfahrungen? Die erste Antwort des unverbildeten Menschen ist natürlich, daß sie die Natur der Außenwelt anzeigen; das Zeugnis seiner Sinne befragt er, wenn er sagen soll, wie diese Welt beschaffen ist. Aus den Botschaften, die er durch seine Sinne empfängt, die sich ihm aufdrängen, ob er will oder nicht, und die in jedem Augenblick und von jeder Seite an seine Tore klopfen, baut er sich jene »Sinnenwelt« auf, die »die wirkliche und solide Welt« des Normalmenschen ist. So wie die Eindrücke kommen – oder vielmehr die Deutungen der ursprünglichen Eindrücke, die sein Nervensystem ihm vermittelt –, greift er nach ihnen, wie Spieler beim Buchstabenspiel nach den einzelnen Buchstaben greifen, die ihnen zugeteilt werden. Er sortiert, nimmt auf, wirft beiseite, fügt zusammen und bringt dann triumphierend aus ihnen eine Konzeption zustande, die nach seiner Behauptung die Außenwelt ist. Mit einer beneidenswerten und erstaunlichen Naivität legt er seine eigenen Empfindungen dem unbekannten Universum bei. Die Sterne, sagt er, sind glänzend; das Gras ist grün. Für ihn, wie für den Philosophen Hume, besteht die Wirklichkeit »aus Eindrücken und Vorstellungen«.
Es ist jedoch unmittelbar einleuchtend, daß diese Sinnenwelt, diese scheinbar wirkliche Außenwelt – so nützlich und gültig sie auch in anderer Beziehung sein mag – nicht die Außenwelt sein kann, sondern nur ihr auf das Selbst projiziertes Bild 3. Es ist ein Kunstwerk, keine wissenschaftliche Tatsache; und wenngleich es wohl die tiefe Bedeutung besitzen mag, die großen Kunstwerken eigen ist, so ist es doch gefährlich, es zum Gegenstand der Analyse zu machen. Eine flüchtige Prüfung genügt, um uns zu sagen, daß es ein Bild ist, dessen Beziehung zur Wirklichkeit im besten Falle symbolisch und approximativ ist und das keine Bedeutung haben würde für Wesen, deren Sinne oder Aufnahmeorgane nach anderm Plane eingerichtet wären. Das Zeugnis der Sinne kann also nicht mit Sicherheit als Zeugnis von dem Wesen der endgültigen Wirklichkeit akzeptiert werden; sie sind nützliche Diener, aber gefährliche Führer. Auch kann ihr Zeugnis jene Sucher nicht verwirren, deren Berichten sie zu widersprechen scheinen.
Das bewußte Selbst sitzt sozusagen an der Empfangsstation eines Telegraphen. Nach jeder andern Theorie als der der Mystik ist dieser Telegraph die einzige Verbindung mit der hypothetischen »Außenwelt«. Der Aufnahmeapparat verzeichnet gewisse Nachrichten. Das Selbst kennt den Gegenstand, die Wirklichkeit am andern Ende des Drahtes, von der jene Nachrichten ausgehen, nicht und kann ihn nicht kennen, solange es von diesem Apparat abhängig ist; ebensowenig können die Nachrichten das Wesen des Gegenstandes wirklich offenbaren. Doch ist es im ganzen gerechtfertigt, wenn es sie als Beweise hinnimmt, daß außer ihm und seinem Aufnahmeapparat noch etwas existiert. Es ist augenscheinlich, daß die besondere Bauart des telegraphischen Apparats einen modifizierenden Einfluß auf die Nachricht haben muß. Was als Strich und Punkt, als Farbe und Form aufgenommen wird, wurde vielleicht in ganz verschiedener Gestalt aufgegeben. Daher kann eine solche Nachricht, wenn sie auch in gewissem Sinne der mutmaßlichen Wirklichkeit am andern Ende entsprechen mag, ihr niemals vollständig adäquat sein. Es wird feine Schwingungen geben, die der Apparat nicht aufnimmt, und andere, die er verwischt. Daher geht immer ein Teil der Nachricht verloren, oder, mit andern Worten, es gibt Seiten der Welt, von denen wir nie etwas wissen können.
So wird die Sphäre unserer verstandesmäßigen Erkenntnismöglichkeiten genau bestimmt durch die Grenzen unserer eigenen Persönlichkeit. Auf dieser Grundlage sind nicht die Enden der Erde, sondern die äußeren Enden unserer Gefühlsnerven die Grenzen unserer Forschungen, und »sich selbst kennen« heißt in Wirklichkeit sein eigenes Universum kennen. Wir sind mit unsern Aufnahmeapparaten eingeschlossen, wir können nicht aufstehen und fortgehen, um zu sehen, wohin jene Drähte führen. Eckehart[4]s Ausspruch: »Nie nähert sich die Seele einer Kreatur, wenn sie nicht zuvor ein Bild davon willig in sich aufgenommen hat 4«, ist immer noch das letzte Wort für uns. Sollte irgendein mutwilliger Demiurg sich einfallen lassen, den Apparat unserer Sinne auf eine neue Art zu reizen, so würden wir dadurch ein neues Universum empfangen.
Der verstorbene Professor James[5] meinte einmal, es würde eine sehr nützliche Übung für junge Idealisten sein, wenn sie sich klarmachten, welche Veränderungen in unserer Welt vor sich gehen würden, wenn die verschiedenen Abteilungen unseres Aufnahmeapparates zufällig ihre Aufgaben vertauschten, wenn wir z. B. alle Farben hörten und alle Töne sähen. Eine solche Bemerkung wirft ein plötzliches Licht auf die seltsame und scheinbar verrückte Behauptung des Visionärs Saint-Martin[6]: »Ich hörte Blumen, die klangen, und sah Töne, die leuchteten«, und auf die Berichte gewisser anderer Mystiker über einen ganz eigenen Bewußtseinszustand, wo alle Sinne in einer einzigen unaussprechlichen Wahrnehmung verschmelzen und Klang und Farbe als eins empfunden werden 5.
Alles dies ist weniger absurd, als es klingt, wenn man bedenkt, daß die Musik nur die Interpretation gewisser Schwingungen durch das Ohr, die Farbe eine Interpretation anderer Schwingungen durch das Auge ist. Sollte solch eine Veränderung unserer Sinne stattfinden, so würde die Welt uns dieselben Botschaften senden – diese fremde, unbekannte Welt, von der wir nach solcher Voraussetzung hermetisch abgeschlossen sind –, aber sie würden uns auf andere Weise gedeutet werden. Die Schönheit würde auch dann zu uns kommen, wenn sie auch eine andere Sprache spräche. Der Gesang des Vogels würde als Farbenschauspiel auf unsere Netzhaut fallen, wir würden all die Zaubertöne des Windes sehen, würden das in mannigfachen Abschattungen wiederkehrende Grün des Waldes, die Farbenfolgen des Gewitterhimmels als eine große Fuge hören. Wenn wir uns einmal klarmachten, einer wie geringen Umstellung unserer Organe es nur bedarf, um uns in eine ganz andere Welt zu versetzen, so würden wir nicht so geringschätzig über jene Mystiker lächeln, die uns sagen, daß sie das Absolute als »himmlische Musik« oder »unerschaffenes Licht« wahrnehmen; wir würden weniger fanatisch sein in unserm Entschluß, die »wirkliche und solide Welt des gesunden Menschenverstandes« zum einzigen Maßstab der Wirklichkeit zu machen. Diese Welt des gesunden Menschenverstandes ist eine Begriffswelt. Kann sein, daß sie ein Universum außer uns darstellt; sicher stellt sie die Tätigkeit des menschlichen Geistes dar. Innerhalb dieses Geistes ist sie aufgebaut, und die meisten von uns sind zufrieden, wenn sie »für immer dort in Ruhe wohnen können«, wie die Seele im »Palast der Kunst«.
So erscheint also für ein normales, nicht mystisches Bewußtsein eine unmittelbare Berührung mit der absoluten Wahrheit unmöglich. Wir können nicht das wirkliche Wesen des einfachsten Gegenstandes erkennen, ja, nicht einmal seine Existenz beweisen, obgleich sehr wenig Menschen sich dieser Begrenzung wirklich bewußt sind und die meisten sie energisch leugnen würden. Doch es gibt im Menschengeschlecht einen Persönlichkeitstypus, der diese Begrenzung wirklich erkennt und der in den Scheinwirklichkeiten, die die Welt der Normalmenschen ausmachen, kein Genüge finden kann. Diese Menschen haben offenbar das Bedürfnis, sich zu ihrem Trost irgendein Bild von dem Etwas oder Nichts zu machen, das am andern Ende ihrer Telegraphendrähte sitzt, irgendeine »Vorstellung vom Sein«, irgendeine »Erkenntnistheorie«. Ihnen ist das Unerkennbare eine Qual, sie lechzen nach Grundprinzipien, suchen irgendeinen Hintergrund für das Schattenspiel der Dinge. Menschen, die mit dieser Anlage behaftet sind, hungern nach Wirklichkeit, und sie müssen diesen Hunger stillen, so gut sie können, sich gegen den Hungertod wehren, wenn sie auch vielleicht niemals gesättigt werden.
Nun ist es zweifelhaft, ob jemals zwei Menschen sich genau dasselbe Bild von der Wahrheit außerhalb ihrer Tore gemacht haben; denn eine lebendige Metaphysik ist wie eine lebendige Religion im Grunde eine streng persönliche Angelegenheit, ist, wie Professor James uns zu bedenken gibt, mehr eine Sache der Intuition als des Beweises 6. Dennoch kann eine solche lebendige Metaphysik dem Vorwurf des Subjektivismus entgehen – und wenn sie gesund ist, so tut sie es auch im allgemeinen –, wenn sie sich äußerlich einer bestehenden Schule anschließt, wie jede persönliche Religion sich äußerlich einer bestehenden Kirche anschließen kann und anschließen sollte. Werfen wir also einen kurzen Blick auf die Resultate, die diese bestehenden Schulen gezeitigt haben: die großen klassischen Theorien über das Wesen der Wirklichkeit. In ihnen sehen wir gleichsam das Beste kristallisiert, das der menschliche Verstand aus sich heraus zu vollbringen imstande war.
1. Die nächstliegende und am allgemeinsten angenommene Erklärung der Welt ist natürlich der Naturalismus oder Realismus, der sowohl den Standpunkt des einfachen Durchschnittsmenschen wie den der Naturwissenschaft ausmacht. Der Naturalismus stellt einfach fest, daß das, was wir sehen, die wirkliche Welt ist, wenn wir sie auch nur unvollkommen sehen. Was für den normalen, gesunden Menschen da zu sein scheint, ist so ungefähr auch da. Der Naturalismus rühmt sich, sich an das Konkrete zu halten, für ihn sind die materiellen Dinge Wirklichkeit. Mit andern Worten: unsere berichtigten und zueinander in Beziehung gesetzten Sinneswahrnehmungen, zu ihrer höchsten Leistung gesteigert, bilden für ihn das einzig gültige Erkenntnismaterial, indem die Erkenntnisse selbst die klassifizierten Resultate exakter Beobachtung sind.
Nun mag wohl eine solche Haltung ein Rat der Klugheit sein in Anbetracht unserer Unwissenheit gegenüber all den Dingen, die außerhalb unseres Erfahrungsgebietes liegen, aber sie kann unsern Hunger nach Wirklichkeit nicht befriedigen. Der eigentliche Sinn ihrer Lehre ist: »Das Zimmer, in dem wir uns befinden, ist ganz behaglich. Zieht die Vorhänge zu, denn die Nacht ist dunkel, und laßt uns unsere Aufmerksamkeit der Einrichtung zuwenden.« Leider paßt sich nun aber nicht einmal die Einrichtung dem naturalistischen Standpunkt an. Beginnen wir einmal, sie aufmerksam zu prüfen, so finden wir, daß sie voll Wunder und Geheimnis ist; sie verkündet laut, daß selbst Stühle und Tische nicht das sind, was sie scheinen.
Wir haben gesehen, daß schon die elementarste Kritik, die man auf irgendeinen gewöhnlichen Wahrnehmungsgegenstand anwendet, den einfachen und bequemen Glauben an den gesunden Menschenverstand entkräftet; daß nicht nur Glaube, sondern grobe Leichtgläubigkeit dazu gehört, um das Augenscheinliche für das Wirkliche zu nehmen. Ich sage z. B., daß ich ein Haus »sehe«. Ich kann damit nur meinen, daß der Teil meines Aufnahmeapparates, der die Aufgabe des Sehens übernommen hat, in einer bestimmten Weise affiziert wird und in meinem Geiste die Vorstellung »Haus« weckt. Diese Vorstellung »Haus« nehme ich nun als wirkliches Haus, und meine weiteren Beobachtungen entfalten, bereichern und bestimmen dies Bild immer weiter. Aber was die äußere Wirklichkeit ist, die das Bild, das ich Haus nenne, hervorrief, das weiß ich nicht und kann ich nie wissen. Sie ist ebenso geheimnisvoll, ebenso weit jenseits meines Fassungsvermögens wie die Beschaffenheit der Engelschöre. Das Bewußtsein fährt bei der Berührung mit dem mächtigen Verb »sein« erschrocken zurück. Ich kann natürlich für den einen Sinn das Zeugnis eines andern zur »Bestätigung«, wie wir es vertrauensvoll nennen, aufrufen; ich kann mich dem Hause nähern und es berühren. Dann werden die Nerven meiner Hand einen Gefühlseindruck erhalten, den ich als Härte oder Festigkeit bezeichne, das Auge wird eine eigenartige und ganz unbegreifliche Empfindung haben, die man Röte nennt, und aus diesen rein persönlichen Eindrücken konstruiert und objektiviert mein Geist eine Vorstellung, die er rote Ziegel nennt. Die Naturwissenschaft selbst jedoch, wenn sie aufgerufen wird, die Wirklichkeit dieser Wahrnehmungen zu bestätigen, erklärt sogleich, daß zwar die materielle Welt wirklich, die Vorstellungen von Festigkeit und Farbe jedoch Halluzinationen seien. Sie gehören dem menschlichen Organismus an, nicht dem physikalischen Universum, der Akzidenz, nicht der Substanz, wie die scholastische Philosophie sagen würde.
»Der rote Ziegel«, sagt die Naturwissenschaft, »ist eine bloße Konvention. In Wirklichkeit besteht dies Stückchen Weltall, wie alle andern Stücke, soviel ich bis jetzt weiß, aus unzähligen Atomen, die umeinander wirbeln und tanzen. Es ist ebensowenig fest wie ein Schneesturm. Gäbe Alice im Wunderlande 7 uns von ihrem Pilz zu essen und schrumpften wir auf die Dimensionen der Tiefenwelt zusammen, so erschiene uns jedes Atom als ein Planet und der rote Ziegel selbst als ein Weltall. Und weiter, auch diese Atome selbst entgleiten mir, wenn ich sie zu fassen suche. Es sind nur Manifestationen von etwas anderm. Könnte ich der Materie auf den Grund gehen, so würde ich möglicherweise entdecken, daß sie keine Ausdehnung hat, und wider Willen ein Idealist werden. Und was die sogenannte rote Farbe anbetrifft, so ist dies eine Frage der Beziehung zwischen dem Sehnerv und den Lichtwellen, die er nicht aufzunehmen vermag. Wenn heute abend die Sonne untergeht, wird unser Ziegel wahrscheinlich purpurn erscheinen, eine kleine Abweichung vom normalen Sehen würde ihn grün machen. Sogar das Gefühl, daß der Gegenstand unserer Wahrnehmung ein äußerer ist, kann Täuschung sein, da wir diese Eigenschaft ebensowohl den Bildern zuschreiben, die wir im Traum oder in wachen Halluzinationen sehen, wie den Gegenständen, von denen wir törichterweise sagen, daß sie »wirklich da sind«.
Ferner gibt es keinen zuverlässigen Maßstab, nach dem wir unterscheiden können, was an den Erscheinungen wirklich und was unwirklich ist. Die Maßstäbe, die wir haben, sind rein konventionell und dienen der Bequemlichkeit, aber nicht der Wahrheit. Es ist kein Beweisgrund, wenn man sagt, daß die meisten Menschen die Welt in ungefähr der gleichen Weise sehen, und daß diese der wahre Maßstab der Wirklichkeit sei; wenn wir auch aus praktischen Gründen dahin übereingekommen sind, daß »einen gesunden Verstand haben« heißt »die Halluzinationen unserer Nachbarn teilen«. Wer ehrlich gegen sich selbst ist, weiß, daß dies »Teilen« im besten Falle recht unvollkommen ist. Indem wir freiwillig ein neues Weltbild annehmen, für das alte Morsesche Alphabet ein neues einsetzen – ein Verfahren, das wir als Erwerbung von Kenntnissen bezeichnen –, können wir unsere Art, die Dinge zu sehen, beträchtlich ändern, und wir tun es auch: wir bauen aus alten Sinneseindrücken neue Welten auf und verwandeln die Gegenstände leichter und gründlicher als irgendein Zauberer. »Augen und Ohren«, sagt Heraklit, »sind schlechte Zeugen den Menschen, die eine barbarische Seele haben 8«, und selbst die, deren Seele höher entwickelt ist, sind geneigt, alles durch ein Temperament zu sehen und zu hören. In ein und demselben Himmel entdeckt vielleicht der Dichter den Wohnsitz der Engel und der Seemann nur die Ankündigung stürmischen Wetters. So leben Künstler und Arzt, Christ und Rationalist, Pessimist und Optimist wirklich und tatsächlich in verschiedenen und sich einander ausschließenden Welten, nicht nur Gedankenwelten, sondern auch Wahrnehmungswelten. Jeder, um mit Professor James zu sprechen, halbiert das Weltall an einer andern Stelle. Nur der glückliche Umstand, daß unsere gewöhnliche Rede konventionell und nicht realistisch ist, erlaubt uns, die einzigartige und einsame Welt, in der jeder lebt, vor dem andern zu verbergen. Hin und wieder wird ein Künstler geboren, der sich nicht abhalten läßt, mit furchtbarer Deutlichkeit und törichter Wahrhaftigkeit »zu sagen, was er sieht«. Dann stimmen die andern Menschen, die warm eingehüllt in ihrem künstlichen Weltall sich wohl fühlen, darin überein, daß er verrückt ist, oder im besten Falle nennen sie ihn »einen außerordentlich phantasievollen Burschen«.
Nun ist aber auch diese einzigartige Welt des Individuums nicht dauernd. In dem Maße, wie wir wachsen und uns wandeln, arbeitet jeder von uns unablässig und unwillkürlich an der Erneuerung unserer Sinnenwelt. Wir sehen in jedem einzelnen Augenblick nicht »das, was ist«, sondern »das, was wir sind«, und unsere Persönlichkeit erfährt auf ihrem Wege von ihrer Geburt über die Reife zum Tode viele Zurechtrückungen. Der Geist, der nach Wahrheit sucht, ist also in dieser wandelbaren und subjektiven »natürlichen« Welt mit Notwendigkeit auf sich selbst angewiesen, auf Bilder und Begriffe, die mehr vom »Beschauer« als vom »Geschauten« haben. Doch die Wirklichkeit muß, wenn sie einmal entdeckt ist, für alle wirklich sein, muß an sich selbst existieren auf einer Ebene, wo sie nicht mehr durch den wahrnehmenden Geist bedingt wird. Nur so kann sie den wesentlichsten Trieb, die heiligste Leidenschaft des Geistes befriedigen: den Trieb zum Absoluten, seine Leidenschaft für die Wahrheit.
Ich will mit diesen althergebrachten und elementaren Sätzen nicht sagen, daß man nun die Tafel der normalen menschlichen Erfahrung ablöschen und zum intellektuellen Nihilismus übergehen solle. Man soll nur zugeben, daß es nur eine Schiefertafel ist, und daß die weißen Striche darauf, die der gewöhnliche Mensch Tatsachen und der wissenschaftliche Realist Erkenntnisse nennt, höchstens vereinbarte und relativ gültige Symbole für diejenigen Erscheinungen der unerkennbaren Wirklichkeit sind, die sie andeuten. Wenn dem so ist, können wir, da wir doch alle irgendein Bild auf unsere Tafel zeichnen und demgemäß handeln müssen, zwar vielleicht den Nutzen, aber nicht die Geltung der Bilder leugnen, die andere hervorbringen, wie abnorm und unmöglich sie uns auch vorkommen mögen, da diese andern ein Bild der Wirklichkeit zeichnen, das nicht in unser Wahrnehmungsfeld getreten ist und also keinen Teil unserer Welt bilden kann. Doch wie der Theologe behauptet, daß die Trinitätslehre nicht drei, sondern Einen verhüllt und offenbart, so deuten auch die verschiedenen Erscheinungen, unter denen sich das Weltall dem wahrnehmenden Bewußtsein zeigt, auf eine endgültige Wirklichkeit, oder, in Kantischer Sprache, auf ein transzendentales Objekt, das nicht einer von diesen Erscheinungen entspricht, sondern allen zusammen und das die unzähligen fragmentarischen Welten individueller Auffassung übersteigt, aber einschließt. Nun fragen wir uns, was das Wesen dieses Einen sein kann und woher dieser hartnäckige Trieb kommt, der, ohne irgendwelche Ermutigung durch seine Sinneserfahrung zu erhalten, an diese unbekannte Einheit, dies allumfassende Absolute glaubt und es erstrebt als die einzige Befriedigung seines Wahrheitsdurstes.
2. Die zweite große Auffassung vom Sein, der Idealismus, ist auf dem Wege der Elimination zu einer versuchsweisen Antwort auf diese Frage gelangt. Er hebt uns mit einem Satz weit fort aus dieser Welt der Materie mit all ihrem interessanten Aufbau von »Dingen«, ihrer Maschinerie, ihren Gesetzen, in die reine, wenn auch dünne Luft einer metaphysischen Welt. Während der Naturalist sich seine Welt konstruiert hat aus der Beobachtung der ihm durch seine Sinne vermittelten Daten, ist die Welt des Idealisten aus der Beobachtung der Denkvorgänge aufgebaut. Es gibt nur zwei Dinge, behauptet er, deren wir sicher sind: die Existenz eines denkenden Subjekts, eines bewußten Ichs, und eines Objekts, einer Vorstellung, mit der das Subjekt es zu tun hat. Das heißt also, wir wissen nur von Geist und Denken. Was wir das Weltall nennen, ist in Wahrheit eine Gesamtheit solcher Gedanken, und diese, darin sind wir uns einig, sind während des Aneignungsvorgangs mehr oder weniger entstellt durch das Subjekt, das denkende Individuum. Offenbar denken wir nicht alles, was sich denken läßt, erfassen nicht alles, was sich erfassen läßt, auch bringen wir die Ideen, die uns zugänglich sind, nicht immer in den richtigen Zusammenhang und in das richtige Verhältnis zueinander. »Die Wirklichkeit«, sagt der objektive Idealismus, »ist das vollständige, unentstellte Objekt, der große Gedanke, von dem wir nur fragmentarische Andeutungen erhalten; die Welt der Erscheinungen, die wir als wirklich behandeln, ist nur sein Schattenspiel oder seine Erscheinung in Zeit und Raum.«
Nach der Form des objektiven Idealismus, den ich hier aus andern, ebenso typischen Formen heraushebe – denn fast jeder Idealist hat sein eigenes System metaphysischen Heils 9 –, leben wir in einem Weltall, welches, volkstümlich gesprochen, die Idee oder der Traum seines Schöpfers ist. Wir sind, wie Dideldum es Alice in dem philosophischsten aller Märchen erklärt, »nur ein Teil des Traumes«. Alles Leben, alle Erscheinungen sind die endlosen Modifikationen und Ausdrucksformen des einen transzendenten Objekts, des mächtigen und dynamischen Gedankens eines absoluten Denkers, in den wir eingetaucht sind. Dies Objekt, oder bestimmte Seiten desselben – und der Platz jedes Einzelbewußtseins innerhalb dieses Weltgedankens oder, wie wir es nennen, unsere Lebenslage muß in weitem Maße bestimmen, welche Seiten dies sind – wird von den Sinnen gedeutet und vom Geiste aufgefaßt, unter Beschränkungen, die wir Materie, Raum und Zeit zu nennen pflegen. Allein wir haben keinen Grund anzunehmen, daß Materie, Raum und Zeit nun notwendige Teile der Wirklichkeit, der letzten Idee, sein müssen. Die Wahrscheinlichkeit spricht vielmehr dafür, daß sie Bleistift und Papier sind, womit wir jene zeichnen. In dem Maße, wie unsere Vision, unsere Vorstellung von den Dingen sich mehr und mehr der ewigen Idee nähert, kommen wir der Wirklichkeit näher und näher, denn die Wirklichkeit des Idealisten ist einfach die Idee oder der Gedanke Gottes. Dies, sagt er, ist die höchste Einheit, auf die alle die Trugbilder, aus denen die weit auseinandergehenden Welten des »gesunden Menschenverstandes«, der Naturwissenschaft, der Metaphysik und der Kunst gebildet sind, nur dunkel hindeuten. In diesem Sinne kann man mit Wahrheit sagen, daß nur das Übernatürliche Wirklichkeit besitzt, denn die Welt des Scheins, die wir die natürliche nennen, besteht zum großen Teil aus Vorurteil und Täuschung, aus den Winken, die die ewige und wirkliche Welt der Idee außerhalb unserer Tore uns gibt, und den wunderlichen Begriffen, die wir an unserm Aufnahmeapparat uns daraus machen.
Zugunsten des Idealismus läßt sich dies sagen, daß letzten Endes die Geschicke der Menschheit nicht von den konkreten »Tatsachen« der Sinnenwelt gelenkt werden, sondern allemal von Vorstellungen, die, wie jeder zugibt, nur auf der geistigen Ebene existieren. In den großen Augenblicken seines Daseins, wo der Mensch sich zur geistigen Freiheit erhebt, fühlt er, daß dies die Dinge sind, die Wirklichkeit haben. Durch sie und für sie ist er bereit zu leben, zu arbeiten, zu leiden und zu sterben. Liebe, Herrschaft, Religion, Altruismus, Ruhm, dies alles gehört der übersinnlichen Welt an. Daher hat alles dies mehr Wirklichkeit als irgendeine »Tatsache«, und der Mensch hat in dunkler Erkenntnis dessen sich stets vor ihnen geneigt als vor den unvergänglichen Zentren der Kraft. Die Religionen sind durchweg von Idealismus getränkt: das Christentum besonders ist ein Trompetenruf zu einer idealistischen Lebensauffassung, der Buddhismus kaum weniger. Wieder und wieder sagen uns ihre Schriften, daß nur die Materialisten verdammt werden.
Im Idealismus haben wir vielleicht die erhabenste Seinstheorie, die der menschliche Intellekt je geschaffen hat, eine so erhabene Theorie fürwahr, daß sie kaum durch die Tätigkeit der »reinen Vernunft« allein hervorgebracht sein kann, sondern als eine Manifestation jener eingeborenen Mystik, jenes Triebes zum Absoluten, der im Menschen latent ist, angesehen werden muß. Aber wenn wir den Idealisten fragen, wie wir mit der Wirklichkeit, von der er behauptet, daß sie »gewißlich da ist«, in Verbindung treten können, so bricht sein System plötzlich zusammen und erweist sich als ein Diagramm des Himmels, nicht eine Leiter zu den Sternen. Dies Versagen des Idealismus, wo es heißt, die Wirklichkeit, von der er soviel hält, nun tatsächlich zu finden, hat seine Ursache nach der Meinung der Mystiker in dem, was der heilige Hieronymus in epigrammatischer Kürze zum Ausdruck gebracht hat in dem berühmten Wort, womit er den Unterschied zwischen der Religion und der Philosophie bezeichnet: »Plato wies der Seele ihren Sitz im Kopf an, Christus im Herzen.« Das heißt, daß der Idealismus, obgleich in seinen Voraussetzungen richtig, und oft kühn und ehrlich in ihrer Anwendung, doch infolge des ausschließlichen Intellektualismus seiner Methode, seines verhängnisvollen Vertrauens auf die Eichhörnchen-Arbeit seines geschäftigen Gehirns statt auf das durchdringende Schauen des sehnsüchtigen Herzens unfruchtbar bleibt. Er weckt das Interesse des Menschen, doch er reißt ihn nicht mit fort, hebt ihn nicht hinauf zu dem neuen und wahreren Leben, das er schildert. Daher ist ihm das, worauf es ankommt, das Lebendige, irgendwie entgangen, und seine Beobachtungen verhalten sich zur Wirklichkeit so wie die Kunst des Anatomen zum Geheimnis der Geburt.
3. Doch es kommt noch eine andere Seinstheorie in Betracht, die man obenhin als philosophischen Skeptizismus bezeichnen kann. Dies ist die Haltung derer, die weder die realistische noch die idealistische Antwort auf die ewige Frage akzeptieren wollen und, wenn sie ihrerseits vor das Rätsel der Wirklichkeit gestellt werden, erwidern, es gäbe überhaupt gar kein Rätsel zu lösen. Für die Zwecke des gewöhnlichen Lebens nehmen wir als selbstverständlich an, daß für jede Folge a: b, die in unserm Bewußtsein gegenwärtig ist, ein geistiges oder materielles A: B in der Außenwelt existiert, und daß das erstere ein genau entsprechender, wenn auch wahrscheinlich ganz unzulänglicher Ausdruck des zweiten ist. Das Bündel von Gesichts- und Gehörsempfindungen, das ich in seiner Gesamtheit als Frau Schmidt zu bezeichnen gewohnt bin, entspricht einem Etwas, das in der tatsächlichen Welt so gut wie in der mir erscheinenden existiert. Hinter meiner Frau Schmidt, hinter der ganz andern Frau Schmidt, die die X-Strahlen zum Vorschein bringen würden, gibt es, so behauptet der objektive Idealist, eine transzendente oder, im platonischen Sinne des Wortes, ideale Frau Schmidt, deren Eigenschaften ich nicht einmal erraten kann, aber deren Existenz ganz unabhängig von meiner Wahrnehmung ist. Doch wenn wir auch auf Grund dieser Hypothese handeln und handeln müssen, es bleibt doch immer eine Hypothese, und eine, die der philosophische Skeptizismus nicht durchgehen läßt.
Die Außenwelt, sagt der Skeptiker, ist – soweit ich sie kenne – ein Begriff, der in meinem Geiste gegenwärtig ist. Wenn mein Geist aufhört zu existieren, so würde, soviel ich weiß, auch der Begriff aufhören zu existieren, den ich die Welt nenne. Das einzige, was für mich unzweifelhaft existiert, ist die Erfahrung des Ichs, sein ganzes Bewußtsein. Was außerhalb dieses Bewußtseinskreises sein oder nicht sein mag, darüber Vermutungen anzustellen, habe ich keine Befugnis. Daher ist für mich das Absolute eine bedeutungslose Konstruktion, eine überflüssige Komplikation des Denkens; denn der Geist, der von jeder Berührung mit der äußeren Wirklichkeit gänzlich abgeschnitten ist, hat keinen Grund zu vermuten, daß solch eine Wirklichkeit noch anderswo existiert als in seiner eigenen Vorstellung. Jeder Versuch, den die Philosophie macht, sie zu erforschen, ist nichts als metaphysische Eichkätzchensprünge innerhalb der Käfigwände der Begriffe. In der Vervollständigung und vollkommenen Entwicklung des Ideenvorrats, mit dem unser Bewußtsein ausgestattet ist, liegt die einzige Wirklichkeit, die wir je zu erkennen hoffen können. Es ist weit besser, in ihr zu bleiben und sich in ihr heimisch zu machen, denn nur sie existiert für uns in Wahrheit.
Diese rein subjektive Auffassung vom Sein hat in jeder philosophischen Schule Vertreter gefunden, paradoxerweise selbst in der ihres einzigen tatsächlichen Gegners, in der mystischen Philosophie. So schließt Delacroix seine erschöpfende und sogar von nachfühlendem Verständnis zeugende Darstellung des Weges der hl. Teresa zur Vereinigung mit dem Absoluten, indem er annimmt, daß der Gott, mit dem sie sich vereinigte, der Inhalt ihres eigenen Unterbewußtseins gewesen sei 10. Eine solche Mystik macht es wie das Kätzchen, das hinter seinem eigenen Schwanz herläuft; ihr Weg ist sehr verschieden von dem, den die großen Wahrheitssucher verfolgt haben. Ad absurdum geführt wird diese Lehre in der sogenannten »Philosophie« des New Thought[7], die ihre Schüler anweist, »sich in Ruhe klarzumachen, daß das Unendliche in Wahrheit du selbst bist 11«. Indem sie nicht nur ein erkennbares, sondern auch ein logisch denkbares Transzendentes radikal leugnet, führt sie uns schließlich zu demselben Schluß, zu dem der extreme Pragmatismus kommt: daß für uns die Wahrheit nicht eine unwandelbare Wirklichkeit ist, sondern nur die Vorstellung, die sich zufällig in irgendeiner gegebenen Erfahrung als wahr und nützlich auswirkt. Es gibt keine Wirklichkeit hinter der Erscheinung, keine Isis hinter dem Schleier; daher sind alle Glaubensformen, alle Erdichtungen, womit wir jenes Nichts bevölkern, gleich wahr, wenn sich nur gut und behaglich nach ihnen leben läßt.
Die logische Konsequenz dieser Seinstheorie würde sein, daß sie jedem Menschen erlaubte, die andern Menschen anzusehen als nicht existierend außer in seinem eigenen Bewußtsein, dem einzigen Ort, wo ein strenger Skeptizismus die Existenz von irgend etwas zugibt. Selbst der Geist, der sich das Bewußtsein vorstellt, existiert für uns nur in unserer eigenen Vorstellung von ihm; wir wissen ebensowenig, was wir sind, als wir wissen, was wir sein werden. Der Mensch ist ein bewußtes Etwas inmitten, soviel er weiß, eines Nichts und ohne andere Hilfsquellen als die Erforschung seines eigenen Bewußtseins.
Der philosophische Skeptizismus ist bei unserer gegenwärtigen Untersuchung besonders interessant für uns, weil er uns zeigt, wo die »reine Vernunft«, wenn sie sich selbst überlassen ist, enden muß. Er ist durchaus logisch, und wenn wir ihn auch als Widersinn empfinden, können wir ihn nie als solchen beweisen. Die Menschen, die durch ihr Temperament zur Leichtgläubigkeit neigen, mögen Naturalisten werden und sich einreden, daß sie an die Wirklichkeit der Sinnenwelt glauben. Die mit einem gewissen Instinkt für das Absolute Begabten nehmen vielleicht den vernunftgemäßeren Glauben des Idealismus an. Aber der wahre Intellektualist, der dem Instinkt oder dem Gefühl nichts konzediert, muß schließlich zu irgendeiner Form der skeptischen Philosophie kommen. Man kann tatsächlich dem Grauen des Nihilismus nur durch den Glauben entgehen, durch das Vertrauen auf den eingeborenen, aber gänzlich irrationalen Instinkt des Menschen für das Wirkliche, »was über alle Vernunft und jenseits alles Denkens ist« und nach dem in seinen besten Augenblicken sein Geist strebt. Wenn der Metaphysiker seinen eigenen Postulaten treu bleibt, muß er schließlich zugeben, daß wir, jeder einzelne von uns, gezwungen sind, in einer unbekannten und unerkennbaren Welt zu leben, zu denken und am Ende zu sterben; mit Willkür und Sorgfalt, doch ohne daß wir wissen, wie, von Vorstellungen und Eingebungen genährt, deren Wahrheit wir nicht prüfen, aber deren Zwang wir nicht widerstehen können. Nicht durch Sehen, sondern durch Glauben – Glauben an eine vorausgesetzte äußere Ordnung der Dinge, deren Existenz wir nie beweisen können, und an die ungefähre Zuverlässigkeit und Beständigkeit der vagen Botschaften, die wir von ihr empfangen – muß der gewöhnliche Mensch leben und weben. Wir müssen uns auf »Naturgesetze« verlassen, die der menschliche Geist ersonnen hat als eine bequeme Zusammenfassung seiner eigenen Betrachtungen der Erscheinungen, müssen für die Zwecke des täglichen Lebens diese Erscheinungen zu ihrem Nennwert akzeptieren: ein Glaubensakt, neben dem der gröbste Aberglaube des neapolitanischen Bauern kaum ins Gewicht fällt.
Das verstandesmäßige Suchen nach Wahrheit führt uns also in eine von drei Sackgassen: 1. zu der Annahme einer symbolischen Erscheinungswelt als der wirklichen Welt; 2. zu der Ausbildung einer gleichfalls notwendigerweise symbolischen Theorie, die, so schön sie an sich ist, uns doch nicht dazu helfen kann, das Absolute, das sie beschränkt, auch zu erreichen; 3. zu einem hoffnungslosen, aber streng logischen Skeptizismus.
Als Antwort auf das »Warum? Warum?« des verwirrten ewigen Kindes in uns muß die Philosophie, obgleich sie immer bereit ist, wo sie kann, das Unbekannte vorauszusetzen, nur erwidern: »Nescio! Nescio!« Trotz all ihres eifrigen Landkartenzeichnens kann sie das Ziel, auf das sie uns hinweist, nicht erreichen, kann die sonderbaren Bedingungen, unter denen wir zu erkennen glauben, nicht erklären, kann nicht einmal mit sicherer Hand das Subjekt und Objekt des Denkens sondern. Die Naturwissenschaft, die es mit den Erscheinungen und unserer Kenntnis derselben zu tun hat, hat sich, obgleich auch sie im Herzen Idealist ist, seit lange gewöhnt zu erklären, daß all unsere Ideen und Instinkte, die Bilderwelt, die wir so ernst nehmen, die seltsam begrenzte und illusorische Natur unserer Erfahrung, einem großen Zweck zu dienen scheinen: der Erhaltung des Lebens und der konsequenten Durchführung der im höchsten Grade mystischen Hypothese: der kosmischen Idee. Jede Wahrnehmung, versichert sie uns, dient einem nützlichen Zweck in diesem Entwicklungssystem, einem System, das übrigens von dem menschlichen Geiste, wir wissen nicht wozu, erfunden und einem geduldigen Weltall aufgezwungen ist.
