Nach der Flucht - Mark Terkessidis - E-Book

Nach der Flucht E-Book

Mark Terkessidis

0,0
5,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Vielheit und Transnationalität unserer Bevölkerung sind Tatsachen. Um die damit verbundenen Probleme zu lösen, müssen wir, das ist das grundlegend Neue in Mark Terkessidis' Betrachtung, die Perspektive wechseln: weg von der Fixierung auf die "Integration" der "Problemkinder" hin zur Frage, ob unsere Institutionen eigentlich "fit" sind für die postmigrantische Gesellschaft von heute. Wie sie das werden können, dafür unterbreitet er Vorschläge: von der Zusammensetzung des Personals betroffener Einrichtungen über die Organisationsentwicklung bis hin zu einer neuen Lernkultur.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 76

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mark Terkessidis

Nach der Flucht

Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft

Reclam

2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961267-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019449-2

www.reclam.de

Inhalt

Schlechte LauneI. Postmigrantische BedingungenAusnahmezustand?Das jugendliche EinwanderungslandUrbane KomplexitätWas heißt »postmigrantisch«?Die Parapolis und der kosmopolitane BaldachinII. Nach der IntegrationHeterogenität gleich Niedergang?Der normative Kern der IntegrationKompensieren und KorrigierenDie Perspektive wechselnIII. Der VielheitsplanDer Begriff »Interkultur«Von Interkultur zum VielheitsplanMigrationshintergrund und ProblemdefinitionDie Zusammensetzung des PersonalsOrganisationsentwicklungDiskriminierendes WissenVer-Lernen und Kennen-LernenSchulung versus Training-on-the-JobArbeitsabläufe überdenkenBestandsaufnahmenKollaborationFührung, Ressourcen, ProzessIV. OptimismusZum AutorWerke in Auswahl

Schlechte Laune

Es herrschte nahezu Weltuntergangsstimmung, als neulich im Wartezimmer meiner Ärztin drei etwas betagtere Frauen sich über die Veränderungen auf der Straße unterhielten: Da »draußen« im Straßenverkehr, da gehe es ja so aggressiv zu, man könne ja kaum noch auf die Straße gehen, früher habe es das alles nicht gegeben. Nun liegt die Praxis in einem Viertel, das gemeinhin als bürgerlich bezeichnet wird – von einem Sicherheitsproblem kann keine Rede sein. Woher also kommt der Eindruck der Gefahr? Es kann kein Zweifel bestehen, dass sich auch die bürgerlichen Viertel in den letzten Jahren verändert haben. Junge Familien sind zugezogen, Familien mit Migrationshintergrund, auch viele »Expatriates«. Diese Personen leben oft weniger in geographischen Nachbarschaften als vielmehr in Netzwerken: Sie kennen oft die Leute nicht, die unmittelbar unter ihnen wohnen, haben aber Bekannte überall in Deutschland und manchmal auch rund um den Globus. Haben sie Migrationshintergrund, besitzen sie häufiger Wohneigentum im Herkunftsland oder pflegen zumindest andauernde transnationale Familienbindungen.

Diese Welt der Netzwerke bildet sich in den Vierteln oft nicht mehr physisch ab. Die traditionelle Bewohnerschaft trifft in den Bäckereien keine Bekannten zum Plausch mehr, der Einzelhandel ist in Händen von Geschäftsleuten türkischer oder afghanischer Herkunft, und in den Kneipen, in denen früher Mundart gesprochen wurde, hört man heute oft Englisch. Gefährlicher ist es durch diese Veränderungen keineswegs geworden, aber die Welt erscheint den angestammten Bewohnern nicht mehr vertraut. Selbst wenn sich gar nichts verändert hat, kursieren in den Medien all die Geschichten über das, was in Paris passiert ist oder in Köln oder in all den anderen Großstädten im »Multikultiwahn«. Das möchte man »bei sich« nicht haben – oft genug sind die Vorbehalte gegen die Einwanderungsgesellschaft dort am größten, wo kaum oder keine Personen Migrationshintergrund leben.

Seit der Flucht von etwa 900 000 Menschen nach Deutschland im Jahr 2015 sind die Auseinandersetzungen um das Thema »Migration« heftiger geworden. Tatsächlich hat dieses Ereignis auch den Letzten klargemacht, dass Einwanderung kein Randthema mehr ist, sondern zentrale Bedeutung auch und vor allem für unsere Zukunft hat. Doch mit der Normalität von Migration tut sich die Republik weiter schwer: Die oft blauäugig begeisterte »Willkommenskultur« schlug schnell um in einen ebenso unangemessenen Pessimismus. Die wohlwollenden Befürworter der Einwanderungsgesellschaft betonen oft, die Vielfalt an sich sei eine großartige Sache – »Vielfalt, das Beste gegen Einfalt«, hieß etwa zwei Jahre hintereinander das Motto der »interkulturellen Wochen«.

Doch ist Vielfalt tatsächlich immer gut? Kann Vielfalt nicht auch Vertrauen zerstören, allen Beteiligten auf die Nerven gehen, Ärger machen? Diversität hat immer dann positive Effekte, wenn sie auch bewusst gestaltet wird. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die üblichen Sondermaßnahmen und Reparaturarbeiten nicht ausreichen, sondern die Institutionen, Organisationen und Einrichtungen der Gesellschaft sich auf eine neue Weise an der unhintergehbaren Vielheit der Bevölkerung ausrichten müssen.

Diese Vielheit – (der stärkere Begriff ist hier bewusst gewählt) – hat keineswegs nur mit Migration zu tun. Es geht eben nicht um Sonderleistungen für die »Hinzugekommenen«. Die Gesellschaft benötigt »Vielheitspläne«, die sich an den unterschiedlichen Voraussetzungen, Hintergründen und Referenzrahmen aller Individuen orientieren. Reformen sind notwendig – und Einwanderung dient beständig als eine Art Passepartout, um viele grundsätzliche Probleme des Wandels zu erörtern. Damit wäre Migration aber auch ein Anlass, um zu lernen. Das wiederum wäre mit dem Eingeständnis verbunden, nicht immer alles zu wissen, sondern sich in einem Prozess der Veränderung zu befinden. Dieser Prozess mag Experimente erfordern, holperig sein und er mag auch mehr als ein paar Jahre dauern. Vielleicht erfolgt aber im Moment ein neues »Kennen-Lernen« der eigenen Gesellschaft, in dem das Vertrauen sich neu bildet.

I. Postmigrantische Bedingungen

Ausnahmezustand?

Wenn über die hohen Einwanderungszahlen des Jahres 2015 gesprochen wird, über die »Million«, die Deutschland aufgenommen hat, tauchte im Hintergrund sofort die Vorstellung eines Ausnahmezustandes auf. Eine so hohe Zahl von Einwanderern konnte ja nicht »normal« sein, wobei Normalität in der Bundesrepublik ganz selbstverständlich mit Sesshaftigkeit in Verbindung gebracht wird. Doch schaut man sich die Zahlen in puncto Einwanderung noch einmal genau an, die das statistische Bundesamt peinlich genau zusammenstellt, dann wirkt diese Zahl gar nicht so imposant. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland das europäische Land mit den größten Bevölkerungsverschiebungen. 1944 hielten sich acht Millionen »Ausländer« im Reich auf, Zwangsarbeiter die meisten, die dann als »Displaced Persons« in ihre Heimatländer zurückkehrten. Zwölf Millionen Ostflüchtlinge kamen ins Land, bis der Zuzug nach dem Bau der Berliner Mauer versiegte. Gleich danach begann die Masseneinwanderung aus jenen Staaten, mit denen die Bundesrepublik ab 1955 sogenannte Anwerbeabkommen geschlossen hatte. Schaut man sich die Statistik nach 1965 für die alte Bundesrepublik an, gab es bis 1990 etwa 18 Millionen Zuzüge und 13 Millionen Fortzüge über die Landesgrenze hinaus. Für das vereinigte Deutschland von 1990 bis 2014 sehen die Zahlen so aus: 23 Millionen kamen und 17 Millionen gingen. Daraus ergibt sich eine Gesamtzahl von 71 Millionen Menschen, die zwischen 1965 und 2014 ihren Wohnsitz wahlweise nach Deutschland oder ins Ausland verlegten, das sind ungefähr eineinhalb Millionen pro Jahr.1

Angesichts dieser Zahlen wirkt die große »Welle« des Jahres 2015 deutlich weniger imposant als angenommen. Geht man zudem davon aus, dass das Land Einwanderung braucht und auch will, so könnte der »Saldo« der letzten zwei Jahre vielleicht erstmals ordentlich ausfallen. In den letzten 15 Jahren zuvor jedenfalls hat die Bevölkerung durch Migration gerade mal um sechs Millionen Menschen zugenommen, also 250 000 im Jahr, was wiederum einem bescheidenen jährlichen Wachstum von 0,3 Prozent entspricht.

Mit Blick auf diese Statistik wäre es angebracht, die Perspektive auf Migration generell zu ändern. In Deutschland wird jede neue »Welle« der Einwanderung im Grunde als eine Art Epiphanie betrachtet: Immer müssen neue Personen »aufgenommen« werden, immer hat man Angst, immer muss man sich an das »Fremde« gewöhnen. Gleichzeitig scheint das einheimische »Wir« trotz etwa der Mobilität immer gleichzubleiben. Die Positionierung des Wanderungsgeschehens außerhalb der Normalität provoziert anscheinend auch die immergleichen Reaktionen und Diskussionen. Die einen bestehen auf der »Gastfreundschaft« oder organisieren »Willkommenskultur«. Das »Helfen« geht dabei oft mit ziemlich vagen Vorstellungen vom Gegenstand der Hilfe einher: Wer Geflüchteten unter die Arme greift, findet es bald frustrierend, wenn diese Geflüchteten keine moralisch unambivalenten Opfer sind, sondern menschlich allzu menschliche Wesen, eben manchmal auch Leute, die falsche Geschichten erzählen, sich undankbar zeigen, unverschämte Ansprüche stellen oder gewalttätig oder kriminell werden. Die anderen wiederum sehen die Einwanderer stets als Bedrohung: Sie sehen kaum einmal Individuen, sie argumentieren mit hohen Zahlen und noch höheren Dunkelziffern und sprechen von den Grenzen der Belastung und der »Integrationsfähigkeit« der einheimischen Bevölkerung. An der Tatsache, dass Migration seit Jahrzehnten massenhaft geschieht und schlicht eine Realität darstellt, hat die Bundesrepublik offenbar weiter schwer zu schlucken.

Das jugendliche Einwanderungsland

Nun ist Deutschland rechtlich gesehen ja noch ein sehr junges Einwanderungsland. Erst vor knapp 20 Jahren, nämlich 1998, wurden die Weichen in Richtung Realität gestellt. Die rotgrüne Regierung verkündete, es habe einen unumkehrbaren Prozess der Zuwanderung gegeben. Für Leute, die sich als Aktivisten oder als Wissenschaftler schon länger mit dem Thema befasst hatten, klang diese Feststellung nahezu lachhaft – das alles war doch seit zwei Jahrzehnten offensichtlich.

Doch zuvor hatte es eine aktive Weigerung gegeben, die Bundesrepublik als Einwanderungsland zu bezeichnen. So existierte die Vorstellung, die »Ausländer« würden irgendwann in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Die Regierung hatte sich bequem im Provisorium eingerichtet, kein einziges Problem musste wirklich gelöst werden. Integrationspolitik bedeutete, im Namen des »sozialen Friedens« zu viel Marginalisierung zu verhindern. Die Wende von 1998 dagegen ließ eine neue Bevölkerung entstehen: Zuvor gab es ethnisch Deutsche und »Ausländer«, nun gab es eine inhomogene, vielheitliche Gesamtbevölkerung. Ergänzt wurde diese Neuausrichtung durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts – weg vom »ius sanguinis« (»Recht des Blutes«), welches die Mitgliedschaft in der Republik an eine deutsche Abstammung koppelte. Durch das neue Gesetz wurde die Staatsangehörigkeit bei Geburt zugeschrieben und damit stärker auf den Wohnort bezogen. Die Neufassung wies einige Schwächen auf, etwa die sogenannte Optionsregel, die in Deutschland geborene ausländische Staatsangehörige zwang, sich spätestens mit 23