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Dieser Band vereint einige Kurzgeschichten aus der privaten wie auch wirtschaftlich schwierigen Epoche seiner letzten Lebensjahre. Ab 1933 war F. Scott Fitzgeralds literarische Karriere stark von seinem Alkoholismus, den psychischen Problemen seiner Frau Zelda und dem sich ändernden literarischen Geschmack geprägt, was zu einem Verlust seiner Popularität und schließlich auch finanziellen Stabilität führte.Trotz dieser Herausforderungen arbeitete er an seinem Roman „Tender is the Night“ (erschienen 1934) und war bis zu seinem Tod weiterhin literarisch tätig, wenn auch mit abnehmendem Erfolg. F. Scott Fitzgerald starb im Dezember 1940 in Los Angeles an einem Herzinfarkt, noch davon überzeugt, sein Lebensziel als bedeutender Autor nicht erreicht zu haben. Erst in den 1940er Jahren wurde sein Werk wiederentdeckt und heute zählt er zu den wichtigsten amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Fähigkeit, komplexe menschliche Beziehungen und gesellschaftliche Dynamiken mit einer einzigartigen sprachlichen Brillanz darzustellen, machte ihn auch zu einem Meister der Kurzform. Alle Kurzgeschichten wurden aus dem Amerikanischen von Peter Eckhart Reichel neu übersetzt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
F. Scott Fitzgerald: Nachmittag eines Autors, 11 Erzählungen (1933-1947)
ISBN: 9783819448157
Neu übersetzt aus dem Amerikanischen von Peter Eckhart Reichel nach den Veröffentlichungen der rechtefreien Originaltexte des Project Gutenberg of Australia.
Titelgestaltung: ebuchedition words&music unter Verwendung einer Titelblattgrafik eines Vanity Fair-Covers. August 1930: Featuring A Woman's Face Split von Miguel Covarrubias. Coverschrift gesetzt aus der Dusty Rose NF
© 2025 hoerbuchedition words & music
Alle Rechte vorbehalten.
www.words-and-music.de
ebuchedition words & music
Inhaber: Peter Eckhart Reichel
Hohenzollernstrasse 31
D-14163 Berlin
Germany
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Kennwort: F. Scott Fitzgerald: Nachmittag eines Autors
Dieser Band vereint einige Kurzgeschichten aus der privaten wie auch wirtschaftlich schwierigen Epoche seiner letzten Lebensjahre. Ab 1933 war F. Scott Fitzgeralds literarische Karriere stark von seinem Alkoholismus, den psychischen Problemen seiner Frau Zelda und dem sich ändernden literarischen Geschmack geprägt, was zu einem Verlust seiner Popularität und schließlich auch finanziellen Stabilität führte.Trotz dieser Herausforderungen arbeitete er an seinem Roman „Tender is the Night“ (erschienen 1934) und war bis zu seinem Tod weiterhin literarisch tätig, wenn auch mit abnehmendem Erfolg.
F. Scott Fitzgerald starb im Dezember 1940 in Los Angeles an einem Herzinfarkt, noch davon überzeugt, sein Lebensziel als bedeutender Autor nicht erreicht zu haben. Erst in den 1940er Jahren wurde sein Werk wiederentdeckt und heute zählt er zu den wichtigsten amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Fähigkeit, komplexe menschliche Beziehungen und gesellschaftliche Dynamiken mit einer einzigartigen sprachlichen Brillanz darzustellen, machte ihn auch zu einem Meister der Kurzform.
So etwas war Lew gewohnt – und er war schon viel herumgekommen. Man betrat eine Eingangshalle, mal eng im neuenglischen Kolonialstil eingerichtet, mal zurückhaltend geräumig. Im Flur angekommen, sagte der Gastgeber: „Clare“ – oder Virginia oder Darling – „das ist Mr. Lowrie.“ Die Frau sagt: „Guten Tag, Mr. Lowrie“, und Lew antwortet: „Guten Tag, Mrs. Woman.“ Dann schlägt der Mann vor: „Wie wär’s mit einem kleinen Cocktail?“ Und Lew hebt die Augenbrauen und sagt: „Gut“, in einem Ton, der suggeriert: „Was für eine Gastfreundschaft – Rücksichtnahme – Aufmerksamkeit!“ Diese köstlichen Canapés. „Mmmm! Madame, was ist das – gebratene Federn? Genug, um einen stärkeren Appetit als den meinen zu verderben.“
Aber Lew war auf dem Weg nach oben, mit sechs neuen Anzügen, und er kam langsam in Schwung. Sein Name stand für einen Club in der Innenstadt zur Wahl und er hatte ein Auge auf eine hochmoderne Junggesellenwohnung voller schmiedeeiserner Schwingtore geworfen – als wäre er ein Baby, das dazu neigt, die Treppe hinunterzufallen –, als er das Leben des Gunther-Mädchens rettete und sein Geschmack sich änderte.
Das war 1925, vor dem Spanisch-Amerikanischen Krieg - nein, vor allem, was seitdem vorgefallen war. Die Gunther-Mädchen waren auf der falschen Seite des Zuges ausgestiegen und gingen Arm in Arm weiter, wobei Amanda einer herannahenden Lokomotive im Wege stand. Amanda war ziemlich groß, goldblond und stolz, und die Lok war sehr gedrungen, dunkel und wild entschlossen. Lew hatte keine Zeit, über ihre jeweiligen Chancen bei einer bevorstehenden Kollision nachzudenken; er stürzte sich auf Jean, die ihm am nächsten stand, und während sich die beiden Schwestern erschrocken aneinander klammerten, zog er Amanda um Haaresbreite aus dem Gleisbereich, so dass nur ein Kolbenzylinder ihren Mantel streifte.
Und so änderte sich Lews Geschmack in Bezug auf Architektur und Innendekoration. Im Hause Gunther gab es um halb fünf Uhr Tee, heiß oder eisgekühlt, Zuckerbrote, Lebkuchen und warme Brötchen. Als er das erste Mal dort war, war ihm sein Heldenstatus peinlich - etwa fünf Minuten lang. Dann erfuhr er, dass die Großmutter während des Bürgerkriegs von ihrer eigenen Großmutter aus einem brennenden Haus in Montgomery County gerettet worden war, dass der Vater einmal zehn Männer auf See gerettet hatte und deshalb für die Carnegie-Medaille vorgeschlagen worden war, dass, als Jean noch klein war, ein Mann sie vor der Brandung in Cape May gerettet hatte - dass in der Tat alle Gunthers in den letzten fünfzig Jahren immer wieder gerettet hatten oder gerettet worden waren, und dass sie Lew gegenüber in Wirklichkeit dafür dankbar waren, dass er diese Tradition weiter fortsetzte.
Dies geschah auf der sehr breiten, mit Weinreben bedeckten Veranda [„Das erste, was ich tun würde, wäre, diese Monstrosität abzureißen“, sagte ein Architekt, der einmal zu Besuch kam], die den großen quadratischen Kasten des Hauses um 1880 fast vollständig umrankte. Die drei Schwestern erschienen ab und zu, während Lew Tee trank und sich mit den älteren Leuten unterhielt. Er war selbst erst sechsundzwanzig und wünschte, Amanda würde lange genug unabgeschirmt in seiner Nähe bleiben, damit er sie ansehen könnte, aber nur Bess, die sechzehnjährige Schwester, war wirklich zu sehen; vor den beiden anderen prangte ein weißflanellartiger Schirm bestehend aus jungen Männern.
„Es war die Schnelligkeit“, sagte Mr. Gunther und ging auf dem langen Strohteppich auf und ab, „diese Sekunde der Koordination. Angenommen, du hättest versucht, sie zu warnen – das hätte niemals funktioniert. Dein Unterbewusstsein sah, dass sie miteinander verbunden waren – sah, dass, wenn du an einer zogst, du beide gezogen hättest. Eine Sekunde, ein Gedanke, eine Bewegung. Ich erinnere mich an das Jahr 1904 …“
„Möchte Mr. Lowrie nicht noch ein Stück Lebkuchen?“, fragte die Großmutter.
„Vater, warum zeigst du Mr. Lowrie nicht die Löffel der Apostel?“ schlug Bess vor.
„Was?“ Ihr Vater hörte auf, auf und ab zu gehen. „Ist Mr. Lowrie an alten Löffeln interessiert?“
Lew dachte in diesem Moment an Amanda, die sich irgendwo zwischen dem grellen Licht der Tennisplätze und dem Schatten der Veranda hin und her schlängelte, durch all die Wärme und Anmut des Nachmittags.
„Löffel? Oh, ich habe einen Löffel, danke.“
„Löffel der Apostel“, erklärte Bess. „Vater hat eine der besten Sammlungen in Amerika. Wenn er jemanden gern hat, zeigt er ihm die Löffel. Ich dachte, da du Amandas Leben gerettet hast ...“
Er sah Amanda an diesem Nachmittag nur selten - er unterhielt sich kurz mit ihr auf der Treppe, während ein junger Mann, der in der Nähe stand, einen Tennisschläger hochwarf und ihn jedes Mal ungeduldig am Griff auffing, wobei er eine Kniebeuge machte. Die Sonne spiegelte sich in den blonden Strähnen ihres Haares, umspielte die rosige Bräune ihrer Wangen und strich über ihre Arme, die sie geistesabwesend betrachtete, während sie mit ihm sprach.
„Es ist schwer, einem Menschen zu danken, der einem das Leben gerettet hat, Mr. Lowrie“, sagte sie. „Vielleicht hätten Sie es nicht tun sollen. Vielleicht war es die Rettung nicht wert.“
„Oh doch, das war es“, sagte Lew verlegen.
„Nun, das würde ich gerne glauben.“ Sie wandte sich dem jungen Mann zu. „War es das, Allen?“
„Das Leben ist ganz gut“, gab Allen zu, „wenn man auf wollige Blondinen steht.“
Sie richtete ihr schmales Lächeln einen Moment lang direkt auf Lew und blickte dann ein wenig zur Seite, wie eine Taschenlampe, die ihn blenden könnte. „Ich werde immer das Gefühl haben, dass ich Ihnen gehöre, Mr. Lowrie; mein Leben ist Ihnen ausgeliefert. Sie haben immer das Recht, mich zurückzuholen und mich wieder vor diese Lokomotive zu stellen.“
Ihr stolzer Mund strahlte etwas zu viel Überheblichkeit über ihre Rettung aus, auch wenn Lew das nicht bemerkte; Amanda hatte den Eindruck, dass es zumindest jemand aus ihren eigenen Kreisen hätte sein können. Die Gunthers waren eine hochmütige Familie – hochmütig jenseits aller Logik, denn Mr. Gunther war einst am Hof von St. James vorgestellt worden und befand sich seitdem in leicht rekonvaleszentem Zustand. Sogar Bess war hochmütig, und schließlich war es Bess, die Lew zu seinem Wagen führte.
„Es ist ein schönes Haus“, stimmte sie zu. „Wir wollten es modernisieren, aber wir haben abgestimmt und stattdessen beschlossen, den Swimmingpool reparieren zu lassen.“
Lew ließ seinen Blick über sie schweifen - sie war wie Amanda, abgesehen von ihrer Zartheit und der kindlichen Entstellung durch einen kleinen Draht, der ihre Zahnspange zusammenhielt. Er blickte hinauf zu dem Haus mit seinen dekorativen Balkonen vor den Fenstern, seinen wackeligen Giebeln, seinen mit goldenen Lettern versehenen Schweizer Chalet-Mottos, den wulstigen Vorsprüngen seiner vielen Erker. Er betrachtete es unkritisch; es schien ihm eines der schönsten Häuser zu sein, die er je gesehen hatte.
„Natürlich sind wir meilenweit von der Stadt entfernt, aber es sind immer viele Leute da. Vater und Mutter fahren nach den Weihnachtsferien in den Süden, wenn wir wieder zur Schule gehen.“
Es war mehr als nur ein Haus, dachte Lew, als er wegfuhr. Es war ein Ort, an dem viele verschiedene Dinge gleichzeitig stattfinden konnten – ein Privatleben für die Älteren, eine private Romanze für jedes Mädchen. Er suchte sich seine eigene Ecke aus - einen Schaukelsitz hinter einer der Weinreben, die die Veranda in Viertel unterteilten. Aber das war im Jahr 1925, als die zehntausend Dollar im Jahr, die Lew inzwischen verdiente, kein willkürliches Überschreiten sozialer Grenzen erlaubten. Er wurde zwar von den Gunthers empfangen aber auf Abstand gehalten, und dann allmählich für die Qualitäten gemocht, die sich durch seine Unbeholfenheit aufzeigten. Ein gut aussehender Mann auf dem Weg nach oben kann das, was er lernt, direkt in die Tat umsetzen; Lew war nie wieder so beeindruckt von den Vorstadthäusern, deren Kinder auf rollenden Plattformen auf der Straße lebten.
Es wurde September, bevor er in intimem Rahmen zu den Gunthers eingeladen wurde – und das hauptsächlich, weil Amandas Mutter darauf bestand.
„Er hat dir das Leben gerettet. Ich möchte, dass er zu dieser kleinen Party eingeladen wird.“
Aber Amanda hatte ihm nicht verziehen, dass er ihr das Leben gerettet hatte.
„Es ist nur ein Tanz für Freunde“, beschwerte sie sich. „Lass ihn doch zu Jeans Debüt im Oktober kommen – alle werden ihn für einen Geschäftsfreund von Vater halten. Schließlich kann man nett zu jemandem sein, ohne ihm in die Arme zu fallen.“
Mrs. Gunther übersetzte dies korrekt als: „Man kann zu jemandem schrecklich sein, ohne dass er es merkt“ – und überging sie brüsk: „Man kann keine Vorteile haben ohne Verantwortung zu tragen“, sagte sie knapp.
Das Leben hatte sich für Lew so schnell geöffnet, dass er einen schwarzen statt eines violetten Smokings trug. Er erschien früher, als er zum Abendessen eingeladen war; und in der Absicht, ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken, wenn es am bequemsten war, ging Amanda mit ihm in den verwilderten, außer Kontrolle geratenen Garten. Sie wollte sich langweilen, aber seine sanfte Lebendigkeit entwaffnete sie und brachte sie dazu, ihn fast zum ersten Mal genau anzuschauen.
„Ich höre überall, dass Sie ein junger Mann mit Zukunft sind“, sagte sie.
Lew gab es zu. Er prahlte ein wenig; er erzählte ihr nicht, dass er den Zauber analysiert hatte, den das Haus Gunther auf ihn ausübte – sein Vater war Gärtner auf einem ähnlichen Anwesen in Maryland gewesen, als er fünf Jahre alt war. Seine Mutter hatte ihm geholfen, sich daran zu erinnern, als er ihr von den Gunthers erzählte. Und nun erstrahlte der Garten im Licht der untergehenden Sonne, und Amanda, eine seiner magischen Anziehungspunkte in ihrem geblümten Kleid, war eine seiner Blumen. Er sagte ihr voller Emotionen, wie schön sie sei, und Amanda, aufgeregt von der Aussicht auf bevorstehende Stunden mit einem anderen Mann, ließ sich von ihm ermutigen. Lew war noch nie so glücklich gewesen wie in dem Moment, bevor sie von ihrem Platz aufstand und ihm leicht die Hand auf den Arm legte. „Sie gefallen mir“, sagte sie. „Sie sind sehr hübsch. Wissen Sie das?“
Die Tanzveranstaltung anlässlich des Erntedankes fand in einem L-förmigen Saal statt, der durch die Räumung von drei Zimmern gebildet wurde. Dreißig junge Leute waren da und ein Dutzend der Älteren, aber es gab kein Gedränge, denn die großen Fenster waren zur Veranda hin geöffnet und die Gäste tanzten gegen die weite, unendliche Nacht an. Ein Country-Orchester wechselte sich mit dem Phonographen ab, es gab mild dosierten Apfelweinpunsch und neben den offenen Bücherregalen der Bibliothek und den Ölgemälden an den Wänden im Wohnzimmer herrschte eine Atmosphäre der Geborgenheit, als wäre dies einer von einer endlosen Reihe von Tänzen, die hier in der Vergangenheit stattgefunden hatten und wieder stattfinden würden.
„Ich dachte schon, du würdest hierbei nie dazwischenfunken“, sagte Bess zu Lew. „Das wäre auch dumm von dir, es nicht zu tun. Ich bin die beste Tänzerin von uns dreien und mit Abstand die Klügste. Jean ist die Jazzigste, die Schickste, aber ich denke, es ist passé, jazzig zu sein und jeden zweiten Jungen zu vögeln. Amanda ist natürlich die Schönste. Aber ich werde das Aschenputtel sein, Mr. Lowrie. Sie werden die beiden bösen Schwestern sein, und nach und nach werden Sie feststellen, dass ich die Attraktivste bin, und Sie werden ganz heiß auf mich abfahren.“
Es dauerte eine Weile, bis Lew Amanda in den von ihm gewählten Teil der Veranda manövrieren konnte. Sie war ganz strahlend und schimmernd. Mehr als zufrieden, bei ihm zu sein, versuchte sie, sich beim Knarren des Sofas zu entspannen. Dann sagte ihr der eigene Instinkt, dass gleich etwas passieren würde.
Lew erinnerte sich an eine Bemerkung von Jean – „Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will, und er hat mich noch nicht einmal geküsst“ – und ihm fiel noch keine elegante Art ein, Amanda zu berühren. Trotzdem war er entschlossen, ihr heute Abend zu gestehen, dass er in sie verliebt wäre.
„Es wird Ihnen als zu plötzlich vorkommen“, wagte er zu sagen, „aber Sie sollten es wissen. Bitte setzen Sie mich auf die Liste derer, die eine Chance bekommen möchten.“
Sie war nicht überrascht, aber da sie im Moment tief in sich gekehrt war, erschrak sie doch sehr. Sie gab den Gedanken auf, sich zu entspannen, und setzte sich aufrecht hin.
„Mr. Lowrie – darf ich Sie beim Vornamen nennen? – darf ich Ihnen etwas sagen? Nein, werde ich nicht – doch, werde ich, weil ich Sie jetzt mag. Anfangs mochte ich Sie nicht. Was ist das für eine Offenheit?“
„Ist es das, was Sie mir sagen wollten?“
„Nein. Hören Sie zu. Sie haben Mr. Horton kennengelernt – den Mann aus New York – den großen Mann mit dem ziemlich grauen Haaransatz?“
„Ja.“ Lew verspürte ein Gefühl der Vorahnung in seinem Magen.
„Ich bin mit ihm verlobt. Sie sind der Erste, der es weiß – außer Mutter, die es bereits geahnt hat. Puh! Ich habe es Ihnen erzählt, weil Sie mir das Leben gerettet haben, also gehöre ich Ihnen irgendwie – ohne Sie wäre ich nicht hier, um mich zu verloben.“ Dann war sie ehrlich überrascht über seinen Gesichtsausdruck. „Um Himmels willen, schauen Sie nicht so!“ Sie sah ihn gequält an. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie all die Monate heimlich in mich verliebt waren. Warum wusste ich es nicht? Und jetzt ist es zu spät.“
Lew versuchte ein Lächeln.
„Ich kenne Sie kaum“, gestand er. „Ich hatte noch keine Zeit, mich in Sie zu verlieben.“
„Vielleicht arbeite ich zu schnell. Wenn Sie sich in mich verliebt haben, müssen Sie es vergessen und stattdessen mein Freund sein.“ Sie ergriff seine Hand und drückte sie. „Ein großer Abend für dieses kleine Mädchen, Mr. Lew; die Chance ihres Lebens. Seit zwei Tagen habe ich Angst, dass seine Kommodenschublade klemmt oder das heiße Wasser ausläuft und er in die Zivilisation entflieht.“
Sie schwiegen einen Moment lang, dann fragte er:
„Sind Sie sehr verliebt in ihn?“
„Natürlich bin ich das. Ich meine, ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir. Ich war schon in so viele Menschen verliebt, wie soll ich das beantworten? Wie auch immer, ich werde aus diesem alten Kasten verschwinden.“
„Dieses Haus? Sie wollen weg von hier? Das ist doch ein schönes altes Gebäude.“
Sie war erstaunt, dann plötzlich explodierte sie:
„Dieses alte Grab! Das ist der Hauptgrund, warum ich George Horton heiraten werde. Habe ich es nicht zwanzig Jahre lang ausgehalten? Habe ich Mutter und Vater nicht auf Knien angefleht, in die Stadt zu ziehen? Diese Hütte, in der jeder hören kann, was der andere drei Zimmer weiter sagt, und Vater erlaubt kein Radio, und bis letzten Sommer nicht einmal ein Telefon. Ich habe sogar Angst, ein Mädchen aus meiner Schulklasse einzuladen - wahrscheinlich würde sie verrückt werden, wenn sie in einer stürmischen Nacht die Fensterläden aneinanderschlagen hörte.“
„Es ist ein verdammt schönes altes Haus“, sagte er automatisch.
„Schön und malerisch“, stimmte sie zu. „Schön, dass es dir gefällt. Leute, die nicht hier wohnen müssen, tun es normalerweise, aber du solltest uns mal allein hier sehen – wenn es einen Familienstreit gibt, solltest du uns mal erleben. Es läuft alles darauf hinaus, dass Vater fünfzig Meilen von allem entfernt wohnen will, also sind wir hier zum Verrotten verdammt. Ich würde lieber in einer Dreizimmerwohnung in der Stadt wohnen!“ Schockiert von ihrer eigenen Heftigkeit brach sie ab. „Wie auch immer“, beharrte sie, „mag es für dich schön sein, aber für uns ist es vielmehr ein Ärgernis.“
Ein Mann drückte die Ranken auseinander und schaute sie an, ergriff sie und zog sie auf die Beine; als sie weg war, stieg Lew mit einem Schwung über das Geländer und ging in den Garten hinaus; er ging weit genug weg, so dass die Lichter und die Musik aus dem Haus zu einer Einheit verschmolzen, wie ein Bühneneffekt, wie ein herannahender Hafen, den man nachts von einem Deck aus sieht.
„Ich habe sie nur viermal gesehen“, sagte er zu sich selbst. „Viermal ist nicht viel. Eeney-meeney-miney-moe - was sollte ich da schon erwarten? Ich sollte überhaupt nichts fühlen.“ Doch Angst packte ihn. Was hatte er gerade erst erfahren, was er jetzt vielleicht nie erfahren würde? Was war in diesen Momenten im Garten heute Nachmittag geschehen, was sollte die Aufregung, die sich im Augenblick ihrer Geburt verdichtet hatte? Das kaum aufgetauchte junge Bild von Amanda – er wollte es nicht für immer mit sich herumtragen. Allmählich erkannte er die Wahrheit hinter seinem Kummer: Er war für sie zu spät gekommen; ohne dass er es gemerkt hatte, war sie ihm im Laufe der Jahre entglitten. Trotz aller Widrigkeiten hatte er es geschafft, auf festem Boden zu stehen, und dann, als er sich nach dem Mädchen umsah, stellte er fest, dass sie einfach weg war. „Tut mir leid, sie ist gerade ausgegangen; einfach weg; einfach weg.“ In jeder Hinsicht zu spät - sogar für das Haus.
Als Lew über ihre Tirade nachdachte, wurde ihm bewusst, dass er für das Haus zu spät gekommen war. Es war das Haus ihrer Kindheit, aus dem die drei Mädchen sich gerade lösten, das Haus einer älteren Generation, das ihnen genügte. Für eine jüngere Generation war es von einer Aura der Vollendung und Erfüllung durchdrungen, der sie selbst nichts hinzufügen konnten. Es war einfach alt.