Nachrichten aus dem Nebel - Ben Marcus - E-Book

Nachrichten aus dem Nebel E-Book

Ben Marcus

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

 Auf unheimliche Weise vertraut und zugleich schockierend fremd: Ben Marcus' Storys fesseln mit klarer poetischer Prosa. Noch nie hat existenzielle Katastrophe so viel Spaß gemacht.     Ben Marcus entwirft in dieser Sammlung zeitgemäße Visionen der Entfremdung in einer modernen Welt: Hier findet eine unglückliche Angestellte die Liebe, nachdem sie sich durch den Test des neuesten Nahrungsergänzungsmittels ihrer Firma verändert. Ein Vater sieht sich von der plötzlichen Abweisung seines Sohnes erschüttert, und so schleicht sich das Unheimliche in das Kinderzimmer ein, während die Kommunikation in der Familie versagt. Und Roy und Helen entwerfen Moodboards für Denkmäler, die an die Opfer von Terroranschlägen erinnern, während ihre Ehe an der moralischen Fragwürdigkeit ihres Lebenswerks zerbricht.        "Erschütternd, von tiefschwarzem Humor – und voller Schönheit."   The Guardian   

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 438

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Ben Marcus

Nachrichten aus dem Nebel

Storys

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Jacobs und Jan Schönherr

Hoffmann und Campe

Für meine Familie:

Heidi, Delia und Solomon

1

Kalter kleiner Vogel

Es fing beim Zubettbringen an. So eine Distanziertheit. So etwas Kühles.

Martin und Rachel deckten den Jungen zu, wie jeden Abend, beugten sich zu ihm runter und gaben ihm einen Kuss.

»Bitte lasst das«, sagte er und drehte sich zur Wand.

Sie nahmen es als Neckerei, warfen sich auf sein Bett und kitzelten ihn.

Der Junge machte sich ganz steif und ließ es über sich ergehen, dann blaffte er: »Ich mag das wirklich nicht!«

»Jonah?«, fragte Martin und setzte sich auf.

»Ihr sollt mich nicht mehr ins Bett bringen. Ich bin kein Baby. Ihr habt doch Lester. Kuschelt mit dem.«

»Aber, Schätzchen«, erwiderte Rachel. »Wir sagen dir doch nur gute Nacht. Und du magst doch Küsschen, oder? Magst du nicht geküsst und gedrückt werden? Du Dummerchen.«

Jonah versteckte sich unter der Decke. Klassisches Schmollen. Nur dass es eigentlich nicht seine Art war, zu schmollen oder sich zu verstecken. Er war ein zurückhaltender Junge, der die Wutanfälle und die emotionalen Entgleisungen anderer Kinder normalerweise mit nüchternem Interesse beobachtete und wie eine seltsame Form von Straßentheater bestaunte.

Martin versuchte, diesen zugedeckten Klumpen Mensch, der sein Sohn war, zu kitzeln. Er wusste nicht, welchen Teil von Jonah er berührte. Er griff einfach mit einer steifen Hand nach ihm und hoffte, ihm ein Lachen zu entlocken, irgendein freudiges Geräusch. Früher hatte das gut funktioniert. Einmal mit dem Finger reingepiekt, schon hatte das Kind hemmungslos gekichert. Aber Jonah sagte nichts und bewegte sich nicht.

»Wir haben dich einfach so lieb. Weißt du?«, sagte Martin. »Deshalb wollen wir es dir gern zeigen. Das ist ein schönes Gefühl.«

»Für mich nicht. Ich habe dieses Gefühl nicht.«

»Welches? Was meinst du?«

Verwirrt setzten sie sich zu ihm und versuchten, ihm den Rücken zu reiben, aber er war ganz an den Rand des Bettes gerutscht und drückte sich fast gegen die Wand.

»Ich hab euch nicht lieb«, sagte Jonah.

»Ach komm«, sagte Martin. »Du bist bloß müde. Sag doch nicht so was. Ruh dich erst mal aus.«

»Ihr habt mir immer beigebracht, ich soll die Wahrheit sagen, und jetzt sage ich die Wahrheit. Ich. Habe. Euch. Nicht. Lieb.«

So etwas kam vor. Kinder testeten ihre Bindungen aus. Sie versuchten, einen wegzustoßen, nur um zu sehen, wie weit sie gehen konnten, bevor sie einen wirklich verloren. Als Elternteil steckte man den Hieb ein und schärfte das Messer sogar noch einmal, bevor man es den kleinen Satansbraten gab, die damit sofort auf einen losgingen. Hatte Martin zumindest gehört.

Sie blieben an Jonahs Bett, sagten ihm immer wieder, er hätte einen langen Tag gehabt – dabei war es ein stinknormaler Tag gewesen – und am nächsten Morgen würde es ihm besser gehen.

Martin kam sich vor wie ein Roboter, während er all das sagte. All das dachte. Sie konnten nichts weiter tun, als den Jungen einfach schlafen zu lassen, damit sich alles wieder einrenkte.

Unten räumten sie schweigend die Küche auf. Rachel war beunruhigt oder auch nicht, er wusste es nicht genau und fragte auch lieber nicht nach. In gewisser Weise fand Martin das Ganze faszinierend. Wenn er Jonah wäre, zehn Jahre alt, nicht auf den Kopf gefallen und gerade dabei, die Welt zu erschnuppern und seinen eigenen Standpunkt zu finden, wäre es vielleicht lohnenswert, diesen Bereich einmal auszutesten. Die weichen, warmen, dummen Versorger abschütteln, die einen unablässig mit Möglichkeiten umgarnten und einem jeden Wunsch von den Augen ablasen. Guter Schachzug, Jonah, aber fällt dir nach so einer starken Eröffnung auch noch mehr ein? Wie weiter?

 

Im Laufe der nächsten Wochen blieb Jonah bei seiner Erklärung und bewegte sich durch ihr Leben wie ein Kriegsgefangener, der die strikte Weisung hatte, nicht zu sprechen. Er duldete die Anwesenheit seiner Eltern und rang sich morgens, wenn er zur Schule ging, gerade mal ein Tschüss ab. Sobald er nach Hause kam, räumte er seine Jacke und seine Schuhe weg und erledigte unaufgefordert seine Hausaufgaben. Zwischendurch nahm er sich etwas zu essen. Er griff nach einem Glas und füllte es am Wasserhahn. Wenn er fertig gegessen hatte, stellte er sein Geschirr in die Spülmaschine. Martin, der nachmittags von zu Hause aus arbeitete, beobachtete all das beeindruckt, aber auch mit Sorge. Immer wieder bot er ihm Hilfe an, aber Jonah lehnte dankend ab, er komme allein zurecht. Zur Schlafenszeit wirbelten Martin und Rachel umso mehr um Lester herum, der sich mit seinen sechs Jahren wieder wie ein Baby benahm und die zusätzliche Aufmerksamkeit förmlich aufsog. Jonah bestand darauf, ohne Küsschen und ohne Umarmung gute Nacht zu sagen. Jeden Abend um acht Uhr machte er die Tür hinter sich zu und verschwand.

Wenn Martin oder Rachel seinen Blick erhaschten, lächelte er sie an. Aber es war ein künstliches Lächeln, so viel stand fest. War ein Junge in seinem Alter zu so etwas in der Lage?

»Aber klar«, sagte Rachel. »Meinst du, er weiß nicht, wie man etwas vorspielt?«

»Doch, natürlich weiß er das. Aber das hier ist schon was anderes, überleg doch mal. Dass er so tun muss, als würde er sich freuen, uns zu sehen. Also, erstens, was hat er überhaupt? Und zweitens, das wirkt einfach so … erwachsen. Auf die denkbar schlimmste Art. Ein falsches Lächeln. So was setzt man als Werkzeug gegenüber Fremden ein.«

»Ich weiß nicht. Er ist zehn. Er hat soziale Fähigkeiten. Er kann seine Gefühle verbergen. So ungewöhnlich ist das nun auch wieder nicht.«

Martin sah seine Frau an.

»Okay, du meinst also, es ist alles in Ordnung?«

»Ich meine, vielleicht entwickelt er sich einfach weiter, und das gefällt dir nicht.«

»Aber dir schon, oder was? Willst du das damit sagen? Dass dir das gefällt?«

Er war laut geworden. Er hatte sich nur ganz kurz nicht im Griff gehabt, und wie jedes verfickte Mal war das Gespräch damit sofort beendet. Rachel hob die Hand, und weg war sie. »Ich spreche nicht mit dir, wenn du so bist«, hörte er sie aus dem Nebenzimmer sagen.

Okay, dachte er. Dann halt nicht. Reden wir eben ein andermal, wenn ich nicht so bin, also nie.

 

Jonah, so stellte sich heraus, legte dieses Verhalten nur seinen Eltern gegenüber an den Tag. Eine vorsichtige Nachfrage bei seiner Lehrerin ergab nichts. In der Schule lief alles bestens; er wirkte nicht zurückgezogen, hatte erfolgreich ein Teamprojekt über die Antarktis geleitet, rannte in den Pausen herum und spielte. Rannte herum und spielte? Über was für ein Tier sprachen sie hier? Jonah sei allseits beliebt, lautete das Urteil, und dann kam noch irgendein Bullshit von wegen, wie fröhlich er wirkte. »Wirkte«, ja, genau. Wirkte! Wenn man ein Idiot war, der den Jungen nicht kannte, und keinen blassen Schimmer von menschlichem Verhalten hatte.

Zu Hause kümmerte sich Jonah geradezu rührend um seinen Bruder, las ihm vor, spielte mit ihm und ließ Lester sogar auf seinen Rücken klettern, um mit ihm durchs Haus zu reiten, was früher, als Jonah an Lester nur ein theoretisches Interesse gezeigt hatte, alles ziemlich verboten gewesen war. Lester war hin und weg. Er hatte plötzlich einen neuen Freund, den älteren Bruder, den er anbetete und der ihm früher kaum Beachtung geschenkt hatte. Das Leben war schön. Aber Martin kam es wie eine kalkulierte Zurschaustellung vor. Indem er sich seinem Bruder gegenüber so betont liebevoll verhielt, schien Jonah zu sagen, »Da, schaut her, was ihr nicht mehr bekommt. Seht ihr? Das kriegt ihr nicht mehr. Fickt euch.«

Martin nahm es zu persönlich, das wusste er. Vielleicht weil es was Persönliches war.

Als Jonah eines Abends sein Essen nicht anrührte, fragten sie ihn, ob er irgendetwas anderes wolle, und weil er nicht antwortete, eigentlich seit ein paar Wochen nicht, oder höchstens in Einwortsätzen, knapp und förmlich, warfen Martin und Rachel ihre Prinzipien über Bord, die goldenen Elternregeln, an die sie sich immer gehalten hatten, und versuchten es mit Bestechung. Sie lockten ihn mit Eiscreme und dann mit diesen Monstrositäten, die heutzutage als Lutscher durchgingen, Tierfiguren mit Gesichtern oder -hüten, die Jonah früher mehr oder weniger willenlos gemacht hatten. Als Jonah weiterhin schwieg und irgendwie blutleer wirkte, bot Martin seinem Sohn Marshmallows an. Jetzt sofort könne er welche haben. Wenn er nur verdammt noch mal den Mund aufmachte.

»Du bedrängst ihn aber auch immer so«, sagte Rachel später zu ihm. »Da bleibt ihm ja keine Luft zum Atmen.«

»Du meinst also, er ist so still, weil ich mir wünsche, dass er spricht?«

»Hilfreich ist es sicher nicht.«

»Während dein Ansatz ja wahnsinnig gut funktioniert.«

»Mein Ansatz? Du meinst, dass ich seine Mutter bin? Ihn so liebe, wie er ist? Aufpasse, dass ihm nichts passiert? Ja, wirklich wahnsinnig gut.«

Er drehte sich um und schloss die Augen, während Rachel das Leselicht an ihr Buch klippte.

Wie es aussah, würden sie diese Sache schweigend aushandeln.

Nun ja. Sie hatten ihr eigenes Eheversprechen niedergeschrieben und einander »größtmögliche Ehrlichkeit« geschworen. Wobei sie nicht konkret formuliert hatten, dass sie strengstmöglich die Fehltritte des jeweils anderen überwachen und wie Faktenchecker den kleinsten Fehler des anderen benennen würden, vielleicht in dem Glauben, dass ihre Ehe nur dann gedieh, wenn sie sämtliche persönlichen Verfehlungen und Missetaten an der Wurzel packten. Auf diese Mission hatten sie sich stillschweigend begeben.

 

Als Martin am Morgen aufstand, saß Jonah auf dem Sofa und las, während Lester auf dem Teppich mit seinen Soldaten spielte. Lester war fertig angezogen; sein Rucksack stand neben der Tür. Das konnte er unmöglich allein gemacht haben. Offensichtlich hatte Jonah seinen Bruder angezogen, den ganzen Bastelmüll entsorgt, den er gestern von seiner Heititei-Vorschulfarm mitgebracht hatte, und seinen Rucksack für den neuen Tag gepackt. Vor Monaten hatten sie Jonah gebeten, seinen Bruder morgens anzuziehen und zu versorgen, damit sie ausschlafen konnten, und Jonah hatte es auch ein paarmal getan, aber bloß halbherzig und immer so, dass Lester auf irgendeine Weise dafür büßen musste, denn sie fanden ihn danach oft tränenüberströmt und sprachlos vor. Jonah hatte die lästige Aufgabe schnell wieder schleifen lassen, und meistens hatte auf Martin beim Aufstehen ein hungriger, halb nackter Lester gewartet, der seine Hilfe brauchte.

Heute machte Lester einen fröhlichen Eindruck. Von Weinerlichkeit keine Spur.

»Guten Morgen, Daddy«, sagte er.

»Ja, hallo, Les, mein Freund. Gut geschlafen?«

»Jonah hat mir Frühstück gemacht. Saft und Cheerios. Ich hab mein Geschirr selbst abgeräumt.«

»Toll gemacht! Danke.«

Martin würde es locker nehmen, bloß nicht zu viel Aufhebens machen.

»Guten Morgen, Sportsfreund«, sagte er zu Jonah. »Was liest du da?«

Martin machte sich auf Stille gefasst, auf Schweigen, auf ein Kind, das ihn nicht gehört hatte oder nicht antworten wollte. Aber Jonah sah ihn an.

»Das ist ein Buch mit dem Titel Der Kurzschluss. Es ist ein Roman«, sagte er, dann las er weiter.

Ein dicker Blitz zog sich über das Cover. Ein Junge rannte darunter her. Der Titel war graphisch als langes Kabel dargestellt, und ein Stecker hing halb aus dem Bild heraus.

»Ach ja?«, sagte Martin. »Worum geht’s? Erzähl doch mal.«

Diesmal folgte eine lange Pause. Martin ging in die Küche und ließ schon mal den Kaffee durchlaufen. Dann ging er wieder ins Wohnzimmer und schnipste mit den Fingern.

»Hallo, Jonah. Dein Buch. Worum geht es?«

Jonah sprach leise. Er hatte sein Flanellhemd bis obenhin zugeknöpft, als wollte er gleich raus in einen Schneesturm. In seiner Stimme lag etwas beinahe Entschuldigendes. »Da ich in fünfzehn Minuten zur Schule losmuss und gehofft hatte, heute Morgen noch bis Seite hundert zu kommen, wäre es in Ordnung, wenn ich es dir nicht beschreibe? Du kannst ja bei Amazon nachschauen.«

 

Martin erzählte Rachel später am Vormittag von diesem Vorfall, von der verstörenden Ruhe des Jungen und seiner merkwürdigen Antwort.

»Tja, keine Ahnung«, sagte sie. »Ich meine, ist doch okay, oder? Er wollte lesen, und das hat er dir gesagt. Was willst du?«

»Hm«, sagte Martin.

Rachel war gerade mit Saubermachen beschäftigt. Sie hatte ihn noch keines Blickes gewürdigt. Ihr Streit von gestern Abend war entweder vergessen oder zum späteren Wiederaufgreifen verwahrt worden. Er würde es erfahren. Sie widmete sich ganz ihrer Arbeit, putzte geradezu panisch, so als stünden jeden Moment Gäste vor der Tür oder die verdammte UNO, um das Haus zu inspizieren. Martin lief ihr hinterher, während sie sich unterhielten, denn ansonsten wäre sie einfach weitergezogen, außer Hörweite, und das Gespräch wäre beendet gewesen.

»Er kommt mir einfach wie ein Fremder vor«, sagte Martin und versuchte, seiner Stimme eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen, damit es nicht vorwurfsvoll klang.

Rachel hörte auf zu putzen. »Ja.«

Für einen Moment sah es so aus, als würde sie ihm zustimmen und die Sache ähnlich sehen wie er.

»Aber er ist doch kein Fremder. Ich weiß nicht. Er wird eben älter. Und freu dich doch, dass er liest. Wenigstens wollte er nicht auf diesem dämlichen iPad daddeln, und anscheinend spricht er ja auch wieder. Er wollte lesen, und du flippst aus. Also wirklich.«

Tja. Man hatte diese Kreaturen im Haus. Man fütterte sie durch. Wischte ihnen den Hintern ab. Und hier war diejenige, mit der man sie gemacht hatte. Wahrscheinlich war sie hübsch. Klug. Das ließ sich jetzt kaum noch sagen. Sicher sah er sie durch einen schmutzigen Filter. Er konnte eine Stinkwut auf sie haben, die jedoch wie weggeblasen war, sobald sie seine Hand berührte. Was war hier los? Er hatte irgendwas gemacht oder irgendwas nicht gemacht. Jetzt komm halt drauf, verflucht noch mal, dachte Martin. Geh ihrem Groll auf den Grund. Entschuldige dich so sehr, dass es ihr aus den Ohren tropft. Und dann schlürf es auf. Oder koch eine Suppe daraus. Ganz egal.

 

Jonah kam und ging, ein komischer Kauz von einem Jungen, so ernst. Martin versuchte, sich als Leisetreter durchs Haus zu bewegen. Eigentlich versuchte er, den Boden gar nicht zu berühren. Am besten über allem schweben, seinen älteren Sohn das ganze Haus einfrieren lassen mit seiner kühlen Distanziertheit. Er beobachtete Rachels Vorsicht, den Raum, den sie ihm ließ, und die Zuversicht, die sie hatte und die ihm eindeutig fehlte, auch wenn er sah, wie sehr es sie mitnahm und was aus der Frau geworden war, die ihren Sohn berühren wollte und es einfach nicht durfte.

Doch eines Nachmittags vergaß er sich. Als er vom Einkaufen kam, lag Jonah neben Lester auf dem Teppich und stellte Lego-Figuren für ihn auf, ein so unglaublich kleiner Mensch, der sich selbst so ordentlich angezogen hatte, sein Sohn – das Konzept »Sohn« kam Martin immer noch lachhaft vor und wie ein Wunder: dass es da ein kleines Wesen auf dieser Welt gab, das er beschützen und dessen er sich annehmen musste. Ohne darüber nachzudenken, setzte er sich neben Jonah und nahm den ganzen Jungen in die Arme. Er wollte ihm keine Angst machen und ihm auch nicht wehtun, aber er sollte einmal spüren, wie es war, von den Armen eines Vaters gehalten zu werden, geradezu darin zu versinken. Vielleicht konnte er die ganze Reserviertheit aus ihm herauspressen, sie einfach erdrücken, bis sie nicht mehr da war.

Von Jonah kam nichts zurück. Er wurde ganz schlaff, und die Umarmung funktionierte nicht so, wie Martin es sich erhofft hatte. Man konnte das nicht allein machen. Der Umarmte musste irgendwas tun, irgendwas sein. Der Umarmte musste verdammt noch mal existieren. Aber wer auch immer das hier war, wen auch immer er da in den Armen hielt, er fühlte sich wie nichts an.

Als Martin ihn schließlich losließ, strich Jonah sich das Haar glatt. Er sah nicht glücklich aus.

»Ich weiß, dass Mom und du das Sagen habt und dass ihr hier die Regeln aufstellt«, sagte Jonah. »Aber habe ich denn kein Recht darauf, nicht angefasst werden zu wollen, auch wenn ich erst zehn bin?«

Der Junge klang so vernünftig.

»Natürlich«, sagte Martin. »Es tut mir leid.«

»Ich bitte andauernd darum, aber du hörst mir nicht zu.«

»Doch, ich hör dir zu.«

»Nein. Weil du nicht damit aufhörst. Und Mom auch. Ihr wollt mich behandeln wie ein Plüschtier, und das will ich nicht.«

»Aber das stimmt nicht, Kumpel.«

»Ich will nicht Kumpel genannt werden. Oder Großer. Oder Sportsfreund. Das mache ich doch bei dir auch nicht. Dir würde es sicher nicht gefallen, wenn ich mir immer irgendwelche albernen neuen Namen für dich ausdenken würde.«

»Okay.« Martin hob kapitulierend die Hände. »Keine Spitznamen mehr. Versprochen. Es ist einfach nur so, dass du mein Sohn bist, und ich mag es, dich zu umarmen. Wir umarmen dich beide gern.«

»Aber ich euch nicht mehr. Und das habe ich mehrfach gesagt.«

»Tja, zu dumm«, sagte Martin bemüht unbekümmert, dann schnappte er sich wie zum Beweis dessen, was er gesagt hatte, den kleinen Lester, der freudig quietschte und sich in den Armen seines Vaters wand.

Siehst du, wie das früher mal funktioniert hat?, wollte Martin zu Jonah sagen. Das warst mal du, das waren wir.

Jonah wirkte ernsthaft verblüfft. »Ist dir etwa egal, dass ich das nicht will?«

»Es ist mir nicht egal, aber du täuschst dich einfach. Du weißt schon, dass du dich täuschen kannst, oder? Ohne Zuwendung stirbst du. Das meine ich ernst. Du trocknest buchstäblich aus und stirbst.«

Und wieder musste er diesem Jungen Liebe erklären, ihm beschreiben, wie es sich anfühlte, eine so starke Bindung zu jemandem zu spüren, dass man denjenigen unbedingt in den Armen halten und so fest drücken wollte, dass ihm die Luft wegblieb. Doch während sich Martin durch diese schwierige und lächerliche Diskussion kämpfte, kam er sich vor, als redete er mit einem Rechtsanwalt. Einem Rechtsanwalt, einem blöden Wichser, einem miesen kleinen Sackgesicht. Das er von Sekunde zu Sekunde weniger umarmen wollte. Vielleicht war es leichter, Jonah einfach zu geben, was er wollte. Was er zu wollen glaubte.

Jonah wirkte nachdenklich, besorgt.

»Kannst du irgendwas davon nachvollziehen?«, fragte Martin.

»Ich möchte nur einfach nichts sagen, was jemanden kränken könnte«, antwortete Jonah.

»Tja … das ist gut. Darauf solltest du achten.«

»Mir wäre es lieber, wenn ich nichts über dich und Mom erzählen müsste. In der Schule. Bei Mr Fourenay.«

Mr Fourenay war ein sogenannter »Gefühlsdoktor«. Er wurde dafür bezahlt, wenn auch sicher nicht gut, die Kids und ihre Gefühle sehr, sehr ernst zu nehmen. Martin und Rachel fiel es schwer, ihn ernst zu nehmen. Er sah aus wie jemand, der schon seit langer Zeit eine strenge Diät hielt und sich ansonsten ausschließlich von Kindergefühlen ernährte. Ausgebrannt, erschöpft und mürbe.

»Jonah, wovon sprichst du?«

»Davon, dass ihr mich anfasst, obwohl ich es nicht will. Ich will das in der Schule niemandem melden müssen. Wirklich nicht.«

Martin stand auf. Es kam ihm vor, als wühlte eine Hand in seinen Eingeweiden herum.

Er starrte Jonah an, dessen ruhiger Blick weiter auf ihm ruhte, während er auf eine Antwort wartete.

»Okay, verstanden. Ich spreche mit Mom darüber.«

 

Ohne wirklich darüber nachzudenken, hatte sich Martin ein Erwachsenenleben aufgebaut, in dem Freunde im Grunde genommen nicht vorkamen. Es gab natürlich die gemeinsamen Freunde, die ihn nur als Teil eines Ehepaars kannten – den mürrischen, ungenießbaren Teil allerdings. Daher kamen sie für etwas so Persönliches wie ein Eingeständnis, was sich da gerade Verrücktes in seinen eigenen vier Wänden abspielte, nicht mal ansatzweise in Frage. Bevor die Kinder kamen, war es ihm gelungen, die eine oder andere absurde Telefonfreundschaft zu pflegen, wenn auch eher sporadisch. Tiefschürfende, suchende und stirnschweißfördernde Telefonate mit anderen diffus unglücklichen Männern, die sich mehr schlecht als recht ausdrücken konnten. In der Regel hatten sich diese Freundschaften immer dann intensiviert und ihren Daseinsgrund gefunden, wenn sich jemand verliebt oder getrennt hatte, wenn eine wehklagende oder sehnsüchtige Arie in der zweiten Stimme irgendeines armseligen Komplizen ihre harmonische Ergänzung fand. Aber nach der Geburt von Jonah und dann der von Lester war an Telefonate mit Freunden nicht mehr zu denken. Es gab einfach nie eine Zeit, in der Telefonieren okay oder auch nur reizvoll gewesen wäre. Zu Hause war er eigentlich immer im Haifischmodus, bewegte sich langsam und erbarmungslos durchs Haus, putzte, räumte, schrubbte Essen von Teppichen, faltete winzige Kleidungsstücke, sortierte sie in den Schrank ein und machte, wenn ihn niemand beobachtete, hin und wieder einen Zwischenstopp an seinem Laptop, um zu sehen, ob seine Aussichten vielleicht schlagartig rosiger geworden waren, etwa durch einen per E-Mail avisierten Batzen Geld. Wenn er endlich einmal zur Ruhe kam, auf einem Stuhl voller Kotzeflecken, war der Abend gelaufen. Er kippte sich ein paar Bier auf sein Lustzentrum, aber es blieb oft trocken und schrumpelig, egal, was er draufpladdern ließ.

In einem Erwachsenenleben ohne Freunde spekulierte man, ob bewusst oder unbewusst, ja darauf, dass der Partner in die Bresche sprang. Sie für dich, du für sie.

Doch im Fall von Jonahs Drohung – eigentlich war es ja ein Erpressungsversuch –, wusste Martin, dass er Rachel nicht davon erzählen konnte. In einem bestimmten Licht betrachtet, dem einzigen, das zählte, war er im Unrecht. Jonah hatte klar zu verstehen gegeben, dass er nicht mit Körperkontakt behelligt werden wollte, und dann hatte Martin es trotzdem getan. Rachel würde ihn einfach nur fragen, was er erwartet habe und warum er sich wundere, dass Jonah sich zur Wehr setzte, nachdem man seine Grenzen verletzt hatte.

Insofern, ja vielleicht, vielleicht war das alles richtig. Aber es gab auch noch die andere Seite. Die Drohung, die der Junge geäußert hatte. Die ruhige Kraft dahinter. Schon allein zu erwähnen, dass Jonah damit gedroht hatte, sie wegen unerwünschter Berührungen anzuzeigen, weckte in anderen ein nie mehr ganz auslöschbares Misstrauen. Darüber konnte man nicht reden. Das konnte man nicht ansprechen. Es schien ihm sogar besser, nicht einmal daran zu denken und sofort mit dem gründlichen Verdrängen dieses Vorfalls zu beginnen.

 

Ein paar Tage später saßen die Jungen auf dem Sofa und unterhielten sich leise. Aus dem Nebenzimmer hörte Martin die süßen Laute, die beiden Stimmen, die er so liebte, dass es kaum auszuhalten war. Für einen Augenblick vergaß er, was los war, und lauschte dem mit seiner Hilfe entstandenen Leben. Sie unterhielten sich wie kleine Menschen, nicht wie Kinder, Rede und Gegenrede, ein echtes Gespräch. Jonah erklärte Lester irgendetwas, und Lester stellte Fragen und hörte geduldig zu. Es war herzzerreißend.

Er schlich sich hinaus, um die Jungen auf dem Sofa zu sehen; Lester hatte sich an seinen großen Bruder gekuschelt, der ein dickes Buch in den Händen hielt. Ein Erwachsenenbuch. Auf dem Cover sah man statt eines Jungen, der vor einem Blitz wegrennt, die guten alten Twin Towers. Der Titel, Lügen, triefte vor Blut, und auch die Türme selbst waren davon besudelt.

Gottverdammt noch mal.

»Was ist das?«, fragte Martin. »Was liest du da?«

»Ein Buch über 9/11. Wer daran schuld ist.«

Martin nahm es ihm ab und blätterte es durch. »Wo hast du das her?«

»Bei Amazon bestellt. Von meinem Geburtstagsgutschein.«

»Hmm. Und, glaubst du, was da drinsteht?«

»Was denkst denn du? Es ist wahr.«

»Was ist wahr?«

»Dass die Juden für 9/11 verantwortlich sind und an dem Tag zu Hause geblieben sind, damit sie nicht sterben.«

Martin schickte Lester raus. »Ab mit dir«, sagte er, und, ja, er dürfe ruhig fernsehen, auch wenn noch keine Fernsehzeit war. Raus mit dir, raus.

»Jonah«, flüsterte er. »Jonah, stopp. Das geht nicht. Das geht gar nicht. Hör mir jetzt mal zu, Jonah. Das ist gestört. Das ist das Buch eines Geistesgestörten.«

»Du kennst ihn?«

»Nein. Aber das ist auch nicht nötig. Hör zu, du weißt, dass wir Juden sind, richtig? Du, ich, Mom und Lester. Wir sind Juden.«

»Aber keine richtigen.«

»Was soll das heißen, ›keine richtigen‹?«

»Du gehst nicht in die Synagoge. Du betest nicht, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Du sprichst nie darüber.«

»Das ist nicht das Einzige, worauf es ankommt.«

»Letzten Monat war Yom Kippur, und du hast nicht gefastet. Du bist nicht zu den Gottesdiensten gegangen. Und an Rosch Haschana sagst du nie frohes neues Jahr.«

»Das sind Rituale. Die muss man nicht unbedingt mitmachen, um Teil der Glaubensgemeinschaft zu sein.«

»Aber weißt du denn irgendwas darüber?«

»Über 9/11?«

»Nein, darüber, Jude zu sein. Weißt du, was es bedeutet, was du glauben und wie du dich verhalten sollst?«

»O ja. Ich habe durchaus eine Vorstellung davon.«

»Dann erzähl’s mir.«

»Jonah.«

»Was? Ich frage mich nur, wie du dich Jude nennen kannst.«

»Wie bitte? Sag mal, willst du mich verarschen?«

Er musste gehen, sonst vergaß er sich vielleicht noch.

»Pass auf, Jonah, im Grunde genommen ist das ziemlich simpel. Ich erzähl dir, wieso ich das kann. Weil mich jeder andere auf der Welt Jude nennen würde. Keine Widerrede. Ende, aus, Feierabend. Wegen meiner Eltern und ihrer Eltern und deren Eltern, inklusive aller, die während des Kriegs in Staub verwandelt wurden. Zayde Anshels ganze Familie. Du gehst jeden Tag im Flur an ihrem Foto vorbei. Glaubst du, mit denen bist du nicht verwandt? Und weil ich schon auf der Junior High School der Itzig war, und in der Highschool und auf dem College, und weil ich es wahrscheinlich immer noch bin, bis heute, verdammt noch mal. Und wenn sie wieder anfangen würden, Juden zusammenzupferchen, bräuchten sie nur unseren Namen zu sehen und wüssten Bescheid, deshalb. Und das betrifft auch dich, Herr von und zu. Sie würden uns holen und umbringen. Okay? Dich auch.«

Er drohte seinem Sohn mit der Faust. Schnauzte ihn an, ganz nach alter Schule. Am liebsten hätte er es nicht dabei belassen. Er wollte irgendwas zerreißen. Es gab im Moment kein ungefährliches Verhalten.

»Sie würden dich umbringen. Und dann wärst du tot. Du würdest sterben.«

»Martin?«, fragte Rachel. »Was ist hier los?«

War ja klar. Da stand sie. Lauschte. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schon da lauerte und was sie alles gehört hatte.

Martin war noch nicht fertig. Jonah sah mit großen Augen zu, wie sich sein Vater in Rage redete, und wirkte fasziniert.

»Selbst wenn du sagen würdest, dass auch du Juden hasst und dass Juden böse sind und an allem Leid der Welt Schuld haben, würden sie dich ansehen und sofort wissen, dass du Jude bist, eindeutig! Kumpel, Sportsfreund, Großer« – er spuckte seinem Sohn diese Namen regelrecht vor die Füße – »denn nur ein Jude, würden sie sagen, nur ein Jude würde sein eigenes Volk derart verraten.«

Jonah sah ihn an. »Ich verstehe«, sagte er. Er wirkte nicht beeindruckt. Er wirkte nicht verstört. Hatte er ihm zugehört? Wie konnte er das überhaupt verstehen?

Der Junge nahm das Buch und blätterte es durch.

»Das ist einfach ein anderer Blickwinkel. Du sagst doch immer, ich soll offen sein und selbst über Sachen nachdenken. Das sagst du mir ständig.«

»Ja, das stimmt. Da hast du recht.« Martin zitterte.

»Habe ich dann also deine Erlaubnis, es weiterzulesen?«

»Nein, auf keinen Fall. Diesmal nicht. Erlaubnis verweigert.«

Rachel schüttelte den Kopf.

»Siehst du, was er da liest? Siehst du das?«, brüllte er.

Er wedelte mit dem Buch vor ihrer Nase, und sie sah ihn mit vollkommen ausdruckslosem Gesicht an.

 

Nachdem die Kinder im Bett waren und das Haus leise wieder in Ordnung gebracht worden war, sagte Rachel, sie müssten reden.

O ja, dachte er, es wird höchste Zeit.

»Also ganz ehrlich«, sagte sie. »Es ist beunruhigend, dass er dieses Buch liest, aber dein Ton ihm gegenüber? Ich möchte, dass du dich in Zukunft von ihm fernhältst.«

»Na, das hast du mir ja wohl nicht vorzuschreiben. Du bist seine Mom, nicht meine. Willst du die Scheidung einreichen? Das Sorgerecht beantragen? Na dann, viel Glück, Mrs Eiskalt. Ich bin sein Vater. Und du hast es ja nicht gehört. Du hast nicht alles gehört. Du hast überhaupt keine Ahnung.«

»Ich habe es gehört, und ich habe dich gehört. Martin, du brauchst Hilfe. Du bist … keine Ahnung … depressiv. Badest in Selbstmitleid. Nimmst alles persönlich. Nur damit das klar ist, auch ich mache mir Sorgen um Jonah. Große Sorgen. Irgendetwas stimmt da nicht. Darüber brauchen wir gar nicht zu diskutieren. Aber du bist bei all den Sorgen der denkbar schlechteste Partner – der beschissenste, den man sich vorstellen kann –, weil du alles nur noch schlimmer machst, und darüber können wir nicht sprechen, ohne deinen Gefühlen auf den Grund zu gehen. Du tust so, als hätte man dich angegriffen und verletzt, und wir alle sollen dich bemitleiden. Dich! Aber es geht hier nicht um dich. Also spar dir dein Selbstmitleid.«

Wenn sie so anfing, das wusste Martin inzwischen, war es das Beste, einfach zuzuhören. Das war die Predigt, für die sie sich die ganze Zeit warmgelaufen hatte, und wenn er sie über sich ergehen ließ und seine Schuld anerkannte, gab es am anderen Ende vielleicht so etwas wie Erlösung und Klarheit. In gewisser Weise fand er diese Ausbrüche von Rachel auch reizvoll, und es war durchaus möglich, dass er sie auf die eine oder andere Art unbewusst herausforderte. Dass er die schwermütigen, narzisstischen Tanzschritte vollführte, die nach und nach unweigerlich zu einem solchen Ausbruch führten. Seine Frau war lebendig. Er war ihr nicht egal. Auch wenn es den Anschein hatte, als würde sie ihn geradezu hassen. Er tigerte eine Weile durchs Haus, beruhigte sich und ließ den Angriff – nein, nein, die Wahrheit – allmählich sacken. Jeder Versuch, mit Worten zurückzuschlagen oder auch nur zu argumentieren, wäre Wasser auf ihre Mühlen und würde wie das Gebell eines getroffenen Hundes klingen. Eigentlich jede Äußerung außer Eingestehen, Bereuen und Entschuldigen, den drei Reitern.

Von ihnen begleitet, ging er zu ihr zurück.

 

Rachel lag im Bett und las, den Blick starr auf ihr Buch gerichtet. Sie wirkte kein bisschen bereit, von ihrer Wut abzurücken.

»Hey, hör mal«, sagte Martin. »Ich weiß, du bist wütend, aber ich wollte nur sagen, dass du in allen Punkten recht hast. Ich habe Angst, und ich mache mir Sorgen, und es tut mir leid.«

Er ließ das erst mal so stehen. Es brauchte Raum, musste zu ihr durchdringen. Sie musste begreifen, dass er ihr zustimmte.

Es war schwer zu sagen, aber wie es aussah, verpuffte ein Teil ihrer Wut, jetzt, wo sie nicht mehr auf Widerstand traf.

»Und außerdem«, fuhr er fort. Er wartete, bis sie aufblickte, was sie nach einer Weile auch tat. »Du nimmst mir das jetzt bestimmt nicht ab, und ich weiß, dass du das im Moment auch nicht hören willst, aber es ist einfach so, und ich muss es sagen. Es hat mich ein kleines bisschen geil gemacht, all das zu hören.«

Sie schüttelte den Kopf über diesen schlechten Scherz, was immerhin bedeutete, dass er einen Fuß in der Tür hatte.

»Halt den Mund«, sagte sie.

Da, die Tür öffnete sich. Er ließ sich nicht bitten.

»Halt du den Mund.«

»Tut mir leid, dass ich dich angeschrien hab. Wirklich. Ich bin bloß – es ist einfach so schwierig.«

Wahrscheinlich tat es ihr nicht leid. Das war bloß das Drehbuch, um wieder zusammenzufinden, und sie beide wussten es. Eines Tages würde einer von ihnen beschließen, nicht mehr mitzuspielen. Es wäre so leicht, seinen Text nicht mehr zu sprechen.

»Nein, schon in Ordnung«, sagte er und legte sich zu ihr. »Ich verstehe das. Pass auf, wir bringen den jungen Mann zum Kundendienst. Lassen ihn mal gründlich durchchecken. Ich ruf gleich morgen früh ein paar Ärzte an.«

Sie umarmten sich. Eine richtige Umarmung zwischen zwei Menschen, die sich einig waren. Etwas ganz Neues in diesem Haus.

»Gut«, sagte sie. »Ich habe Angst. Ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Ich sehe ihn an und will ihn einfach nur in die Arme nehmen, aber er ist nicht mehr da. Was hat er sich angetan?«

»Vielleicht braucht er bloß irgendeine kleine OP. Hilft das auch bei 9/11-Truthers?«

»Oh, sieh mal an«, sagte sie sanft zu ihm. »Du bist wieder da. Der echte Martin. Wir haben dich schon vermisst.«

Sie redeten ein wenig und kuschelten sich enger aneinander. Für einen Augenblick überwog ihr gutes Gefühl – oder wenigstens eine Variante davon. Eine schwache, flüchtige, wie es schien, aber er würde es annehmen. Es war schön. Er lag mit seiner Frau im Bett, und sie würden das zusammen hinkriegen.

»Sag mal«, begann er. »Willst du dem Pony mal die Mähne raufen, jetzt gleich, damit wir wieder auf Kurs kommen?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich fühl mich eklig. Deprimiert.«

»Ich fühl mich auch eklig. Dann machen wir’s. Zwei eklige Leute lecken sich gegenseitig die Knospen.«

Sie ging ins Bad und holte das Döschen mit dem Mittel. Dann nahmen sie ihre Position auf dem Bett ein.

Hoffentlich konnte er. Hoffentlich. Hoffentlich.

Weil er unsicher war und fror, ließ er das Hemd an. Und die Socken auch.

Sie benutzten eine Creme. Sie benutzten ihre Hände. Sie setzten ein, zwei Gegenstände ein. Während der kurzen Anstrengung der eigentlichen Kopulation plauderten sie weiter darüber, was sie am nächsten Tag zu erledigen hätten. In ihrer Anfangszeit war ihnen das verrucht und sexy vorgekommen, wie etwas Ironisches, das sie der animalischen Begierde entgegensetzten. Jetzt funktionierte es einfach nur gut, und die animalische Begierde kam gar nicht mehr auf. Abgesehen von dem feuchten Klecks am Ende und dem schwachen inneren Glimmen, das man gelegentlich spürte, unterschied sich ihr Sex gar nicht so sehr vom U-Bahn-Fahren.

 

Wie sich zeigte, gab es ein breites Arsenal von professionellen Medizinern, die sich nur zu gern zurate ziehen ließen, wenn es um ein aus der Spur geratenes Kind ging. Ein wütendes, depressives, ängstliches, distanziertes und seltsames Kind. Ja, sogar ein judenhassendes Kind, das innerlich womöglich tot war. Allerdings nur, wenn seine Eltern es ansahen. Nur, wenn seine Eltern mit ihm sprachen. Wichtiger Parameter für die Differenzialdiagnose.

Beim Eingrenzen der Empfehlungen bauten sie auf die Hilfe einer Intensivteilnehmerin am Weltgeschehen, einer Freundin namens Maureen, deren drei höchst außergewöhnliche Kinder, schon seit sie laufen konnten, verschiedenste Arten von Psychotherapien konsumiert und wieder ausgespien hatten. Jeder ihrer Sprösslinge liebäugelte monatlich mit einer neuen Diagnose, sodass Maureen eine ziemlich gute Vorstellung davon hatte, wer was behandelte und für wie viel gottverdammten Kies.

Als sie ihr in groben Zügen Jonahs Verhalten schilderten, bekam diese Kennerin befremdlichen Jugendgebahrens leuchtende Augen.

»Das erinnert mich so an Das fünfte Kind«, sagte sie. »Habt ihr das gelesen? Ich meine, vielleicht lest ihr es jetzt besser nicht. Aber habt ihr? Es ist ein Roman, rein fiktiv. Ich glaub nicht, dass das wirklich passiert ist. Aber faszinierend ist es trotzdem.«

Rachel hatte ihn gelesen. Ein glückliches Paar mit vier Kindern und einem perfekten Leben bekommt ein fünftes Kind, und danach ist das Leben weniger perfekt. Viel, viel, viel, viel weniger perfekt. Leid, Leid, Leid, Leid, Kummer und wieder Leid. Eigentlich gar kein richtiges Leben mehr.

»Ja, schon, aber das Kind in dem Buch ist ein Monster«, sagte Rachel. »Vollkommen herzlos. Er ist nicht echt. Und der Junge will anderen bloß Schmerzen zufügen, weiter nichts. Jonah würde nie jemandem wehtun. Er will allein sein. Oder vielleicht nicht mal das, keine Ahnung. Ich weiß nicht, was Jonah will. Aber er ist nicht gewalttätig. Auch nicht verrückt. Das glaube ich nicht.«

»Na ja, aber euch tut er ja schon weh, oder?«, sagte Maureen. »Ihr beide macht mir schon den Eindruck, als ob ihr sehr unter der Situation leidet.«

»Ich habe das Buch nicht gelesen«, sagte Martin. »Aber hier geht es nicht um uns. Es geht um Jonah. Darum, wie er leidet. Wir wollen seinem Schmerz auf den Grund gehen. Ihm helfen. Ihn unterstützen.«

Rachels Schweigen sagte ihm, dass sie ihm zustimmte und vielleicht sogar staunte, dass er so dachte, ja überhaupt dazu in der Lage war. Jetzt wusste er, was er sagen musste. Er würde sich nicht noch einmal die Finger verbrennen. Aber glaubte er das? Stimmte es? Er wusste es wirklich nicht, und er war sich nicht einmal sicher, ob das überhaupt eine so große Rolle spielte.

 

Der Arzt wollte die beiden zuerst allein sprechen. Seine Aufgabe bestehe im Zuhören, sagte er. Also erzählten sie, spuckten das Ganze einfach aus. Hässlich war es, dachte Martin, aber es war ein grobes Bild dessen, was sich bei ihnen abspielte. Der Arzt schrieb und schrieb und hielt ab und zu inne, um sie anzuschauen, ihnen tief in die Augen zu sehen und zu nicken. Wann nur war das Zuhören zu einer so lächerlichen Farce geworden?

Dann setzte sich der Arzt mit Jonah zusammen, um sich selbst ein Bild zu machen, dem Schuldigen die Beweise direkt aus dem Mund zu ziehen. Martin und Rachel saßen im Wartezimmer und starrten auf die Tür. Was würde der Arzt zu sehen bekommen? Welcher Jonah saß gerade vor ihm? Waren sie womöglich verrückt und das Ganze nur irgendein vorpubertärer Trip?

Schließlich setzte sich die ganze Bande – Arzt, Eltern und Kind – zusammen und besprach den Plan, und Jonah saß höflich und aufmerksam dabei, während die Zukunft seines Gehirns diskutiert wurde. Der Vorschlag lautete: Antidepressiva, deren Dosis man ganz allmählich steigern würde, in Kombination mit wöchentlichen Therapiesitzungen und dann, je nachdem, ein paar Gruppensitzungen, falls Jonah sich damit anfreunden konnte.

Jonah antwortete nicht.

»Was meinst du?«, fragte der Arzt. »Damit es dir besser geht? Und alles wieder normal wird?«

»Mir geht es gut, das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Ja, prima! Aber wenn wir krank sind, denken wir manchmal, wir wären es nicht. Das kann ein Symptom der Krankheit sein – dass wir das Gefühl haben, es ginge uns gut.«

»Also machen sich alle Gesunden bloß was vor?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte der Arzt.

»Im Moment denke ich nicht daran, mir etwas anzutun, aber Sie wollen mir ein Medikament geben, das mich auf solche Gedanken bringen kann?«

Dem Arzt war diese Frage sichtlich unangenehm.

»Suizidale Gedanken heißt diese Nebenwirkung«, sagte Jonah.

»Und woher weißt du das?«, fragte der Arzt.

»Aus dem Internet.«

Die Erwachsenen sahen einander an.

»Warum sind alle immer so überrascht, wenn man über irgendwas Bescheid weiß?«, fragte Jonah. »Ihre Generation sollte sich langsam mal daran gewöhnen, dass auch Kinder ein Medikament im Internet suchen und sich über die Nebenwirkungen informieren können. Das ist überhaupt nichts Besonderes. Ich bin nicht frühreif, ich benutze bloß meinen blöden Computer.«

»In Ordnung, gut. Du hast schon recht damit, dich zu informieren, und ich gratuliere dir, dass du das ganz allein herausgefunden hast. Toll gemacht, Jonah.«

Martin ließ Jonah nicht aus den Augen. Er hoffte unwillkürlich, der echte Jonah würde noch deutlicher zum Vorschein kommen, der vernichtende, kühle, und dem Arzt zeigen, womit sie es hier zu tun hatten.

»Danke«, sagte Jonah. »Ich bin wirklich stolz auf mich. Ich hätte nicht gedacht, dass es mir gelingt, aber ich habe mich dahintergeklemmt und nicht aufgegeben, bis es endlich geklappt hat.«

Martin war sich nicht sicher, ob der Arzt den Unterton dieser Antwort registriert hatte.

»Aber dann hast du ja vielleicht auch gelesen, dass das eine sehr seltene Nebenwirkung ist. Das kommt so gut wie nie vor. Ich muss dich und deine Eltern nur darauf hinweisen, damit ihr auf frühe Warnzeichen achtet.«

»Mag sein. Aber ich habe auch keine Symptome einer Depression. Warum wollen Sie mich also dem Risiko aussetzen, dass ich Selbstmordgedanken bekomme, wenn ich doch gar nicht depressiv bin und es mir gut geht?«

»In Ordnung, Jonah. Weißt du, was? Ich unterhalte mich jetzt noch einmal mit deinen Eltern allein. Wäre das in Ordnung? Du kannst draußen in der Kinderecke warten. Da gibt es Bücher und Spiele.«

»Okay«, sagte Jonah. »Dann geh ich jetzt mal rumrennen und spielen.«

»Da«, sagte Martin, »da«, nachdem Jonah die Tür geschlossen hatte. »Da war es wieder. Das macht er ständig.«

»Sarkasmus? Es mag Ihnen nicht sonderlich gefallen, aber Sarkasmus bei jungen Menschen behandeln wir nicht. Viel zu ansteckend, wenn Sie mich fragen.« Der Arzt kicherte.

»Nehmen Sie es mir nicht übel«, sagte Martin zu ihm, »also ich bin mir sicher, dass Sie Ihr Metier beherrschen und das Ihr Spezialgebiet ist, aber ich glaube, Ihre Art, mit ihm zu sprechen –«

»Was für eine Art?«

»Na ja, Sie wissen schon, so, als ob er viel jünger wäre. Er ist nur – ich glaube, das funktioniert bei ihm nicht.«

»Und wie sprechen Sie mit ihm?«

»Bitte?«

»Wie sprechen Sie mit ihm? Ich bin neugierig.«

Rachel hustete und fühlte sich offenbar unbehaglich. Sie hatten verabredet, offen zu sein, die Gedanken und Gefühle des jeweils anderen zu akzeptieren, ohne sich aufzuregen oder angegriffen zu fühlen.

»Guter Hinweis«, sagte sie. »Na ja, Martin, ich glaube, du warst in letzter Zeit überrascht, wie reif Jonah geworden ist. Und das hat dich offenbar geärgert, regelrecht auf die Palme gebracht. Du hast ihn auch wirklich oft angeschrien. Wir können nicht einfach so tun, als wäre das nicht passiert.« Sie sah ihn an, ihr Blick eine Bitte um Entschuldigung. »Abgesehen von den beängstigenden Dingen, die er gesagt hat«, fügte sie hinzu.

»Ist das wirklich Reife? Ich glaube nicht. War ich ärgerlich? Ja, zum Teufel. Du aber auch, Rachel. Und nicht weil er glaubt, die Juden seien schuld an 9/11, oder weil er gedroht hat, uns wegen sexueller Belästigung zu melden, als ich versucht habe, ihn zu umarmen, wobei ich dir diesen Teil eigentlich ersparen wollte. Ich wollte dir das ersparen. Weil ich glaube, du hättest es nicht ertragen.«

Rachel starrte ihn einfach nur an.

»Wir haben es hier mit einem sehr, sehr intelligenten Jungen zu tun«, sagte der Arzt.

»Zu clever für eine Therapie?«, fragte Martin.

»Ich würde eine Familientherapie hier für erfolgversprechend halten. Sehr herausfordernd, aber lohnenswert, wenn Sie mich fragen. Ich könnte Ihnen eine Überweisung schreiben. Aber was Sie im Hinblick auf Ihren Sohn so aus der Fassung bringt, fällt womöglich nicht in den Zuständigkeitsbereich der Medizin.«

»Den Zuständigkeitsbereich? Ach ja?«

»Zugegeben, ich war ohnehin unentschieden wegen der Medikation. Was auch immer Jonah hat, tritt nicht als Depression zutage. Meiner Ansicht nach zeigt Jonah kein Krankheitsbild.«

Martin stand auf.

»Okay, er ist also nicht krank, er ist bloß ein Arsch, wollen Sie das damit sagen?«

»Ich halte es für sehr gefährlich, wenn Eltern so fühlen«, sagte der Arzt.

»Ach ja?«, sagte Martin, der sich jetzt vor dem Arzt aufgebaut hatte. »Da haben sie recht. Da haben sie ausnahmsweise mal recht. Weil Gefühle von Eltern nämlich immer gefährlich sind, Sie blöder Wichser.«

 

Am Abend zu Hause stopfte Martin Zitronenhälften in ein Hühnchen, ertränkte es in Olivenöl, warf eine Handvoll Salz darüber und ließ es im Backofen brutzeln, bis es dunkelbraun war, die Haut zerbrechlich wie Glas. Rachel schenkte ihnen beiden Drinks ein, und sie bereiteten schweigend das Abendessen vor. Für Martin war es eine harmlose Stille. Er konnte ihr vertrauen, und wenn nicht, dann scheiß drauf. Er würde nicht jedem ungesagten Wort nachjagen und es herausbrüllen, als müssten sämtliche wichtigen Botschaften auf dem Planeten geteilt werden. Er hatte genug gesagt; Dinge, die er glaubte, und Dinge, die er nicht glaubte. Quote erfüllt. Übererfüllt.

Rachel sah klein und müde aus. Was alles andere anging, war er sich nicht sicher. Während er den Tisch deckte, Lester seinen Becher und Jonah sein Große-Jungs-Glas hinstellte, war ihm deutlicher denn je bewusst, wie unglaublich undurchschaubar sie für ihn immer bleiben würde – was sie dachte, was sie fühlte – und dass ihr charakteristischstes Merkmal die Art war, wie sorgsam sie alles für sich behielt.

Ungeachtet ihrer Theorien – über Jonah, über einander oder die Welt im Allgemeinen – war es ihre Aufgabe, Jonah auf seiner kühlen Reise zu beschützen. Früher oder später musste er zurückkommen. Dieser Art von kontrollierter Einsamkeit ließ sich nicht aufrechterhalten. Das konnte niemand ewig durchziehen, schon gar kein so junger Mensch. Nur dass so eine Argumentation elterliches Wunschdenken und damit Bullshit war, das wusste er. Natürlich konnte ein Kind das durchziehen. Wer, wenn nicht Kinder, konnte eine Spezies in die Finsternis führen? Und was bedeutete das dann für die zurückgelassenen Oldies?

Das Abendessen war kurz, ruiniert von Lester, der hastig alles hinuntergeschlungen hatte, bevor Rachel auch nur einen Happen in den Mund bekam, und dann quengelte, um aufstehen und wieder zu seiner Einheit aus Plastikmännchen zu dürfen, die er auf dem Teppich stationiert hatte. Lester zufolge warteten sie auf seinen Befehl. »Ich muss meinen Männern sagen, wen sie angreifen sollen!«, brüllte er. »Ich bin der Hauptmann!«

Auf dem Höhepunkt seines Wutanfalls beugte sich Jonah, der seit der Rückkehr vom Arzt geschwiegen hatte, zu Lester, legte ihm eine Hand auf die Schulter und bat ihn ganz ruhig, mit dem Theater aufzuhören.

»Nicht in diesem Ton«, sagte er. »Mom und Dad sagen dir schon Bescheid, wann du aufstehen darfst.«

»Okay«, sagte Lester und sah beinahe ehrfürchtig zu seinem großen Bruder hoch, und den Rest ihres wortlosen Abendessens saß er da, die Hände im Schoß gefaltet, und wartete so geduldig, wie ein Junge in seinem Alter nur warten kann.

 

Als es Zeit zum Schlafengehen war, fragte Rachel Martin, ob er was dagegen hätte, wenn sie heute Nacht jeder für sich blieben. Sie sei einfach todmüde. Und sonst könne sie wahrscheinlich nicht schlafen. Sie rang sich ein Lächeln ab, und er sah, wie viel Mühe es sie kostete. Sie zog ihr Kissen und ihre Decke in eine Ecke des Fernsehzimmers und baute sich dort ein kleines Nest. Er hatte das Schlafzimmer für sich allein. Er kroch auf Rachels Seite der Matratze, die höher, weicher und weniger durchgelegen war, und schlief ein.

Am Morgen machte sich Jonah auf den Weg zur Schule, ohne sich von Martin zu verabschieden, und als er nachmittags nach Hause kam, begrüßte er ihn auch nicht. Als Martin ihn nach seinem Tag fragte, sagte Jonah, ohne hochzuschauen, es sei alles okay gewesen. Vielleicht gab es auch nicht mehr zu sagen, und ganz ehrlich, warum sollte man sich wegen so einer Antwort aufregen?

Jonah ließ sich auf seinem Platz auf dem Sofa nieder und las still bis zum Abendessen, während Lester zu seinen Füßen spielte. Martin beobachtete Jonah. War das ein Grinsen oder eine Grimasse auf seinem Gesicht?, fragte er sich. Und worin lag letztlich der Unterschied? Warum hatte man überhaupt ein Gesicht, wenn man sein Innenleben so perfekt verbergen konnte? Das Buch, das Jonah las, war nichts, irgendein Blödsinn. Konstruiert und bunt und harmlos. Offenbar gehörte es zu einer Serie, zur selben wie Der Kurzschluss. Auf dem Cover war ein Junge mit ausgebreiteten Armen, der in jeder Hand einen Draht hielt, und er glühte von Kopf bis Fuß.

Wertvoll wertvoll

Die elende Jahreszeit neigte sich dem Ende zu; eine süße Kühle durchzog die Flure von Thompson Systems, wo einige der sorgenvollsten, selbstverliebtesten Köpfe aus Ida Grieves Generation die Zukunft hätschelten.

Heute Abend saßen einige von ihnen zusammen und tranken noch etwas, denn der Tod war im Anmarsch, und Foster, das Wunderkind, dessen offizieller Titel bei Thompson »Bienenzüchter« lautete, hatte irgendein ekliges Gebräu namens Mud bestellt. Es quoll in seinem Glas hoch und setzte sich in dunklen Klümpchen am Rand ab. Als sie den Kellner fragten, was dadrin sei, wirkte er verzweifelt, so als drohte er jeden Moment auf dem Teppich zu verbluten.

Sie sahen ihn davonschlurfen, vielleicht weil er es in Erfahrung bringen wollte, vielleicht aber auch, um sich von einer Klippe zu stürzen.

»O nein. Das ist jetzt, als hätten wir ihn zum Direktor geschickt«, sagte Foster. »Hey«, flüsterte er in Richtung Bar. »Alles gut. Sie haben nichts falsch gemacht. Wir haben Sie lieb.«

»Aber haben wir ihn denn wirklich lieb?«, fragte Aniel eine Spur zu laut. »Ich meine, das stimmt ja so nicht. In gewisser Weise ist er für uns kaum ein Mensch, überhaupt Leute wie er, auch wenn wir schlau genug sind, das nicht zuzugeben.«

»Mein Gott, Aniel«, sagte Foster. »Sind wir ja wohl offensichtlich nicht.«

 

Am Tisch saßen die Brutingenieure – Mort, Bummer und Cerise –, ziemlich jung, mit sichtlich geplätteten Gesichtern von den Nachtschichten an ihren Terminals, und obwohl sie Kohle hatten, trugen sie billige Sachen, tranken billiges Gesöff und wohnten in billigen Buden oben in den Hügeln. Maury Beryl war da, weil er immer da war, nippte an irgendeinem trüben Fizz und behielt manchmal noch einen Schluck im Mund, so als wollte er ihn jemandem ins Gesicht spucken. Ida spürte, dass sie in seiner Gegenwart traurig sein könnte – nicht dass sie es versucht hätte. Vielleicht irgendwann mal. Dann würde sie ihre Stimmungen über Maury Beryl auskippen und sehen, was passierte.

Neben Maury saß Harriet, über die es nichts zu sagen, zu denken oder zu empfinden gab. Außer dass Harriet bei Ida einen bestimmten Nerv traf, der ziemlich genau die Größe ihres gesamten Körpers hatte. Harriet durfte man nicht zu kleinlaut begegnen, sonst war man im Nullkommanichts ihre Back-up-Sängerin.

Ganz am Ende des Tischs saß ein geheimnisvoller junger Mann namens Donny Wohl. Gut möglich, dass er noch ein Teenager war, trotz seines hübschen Schnauzbarts, deshalb hatte Ida Angst vor ihm, obwohl er auf eigenartige Weise schön war und sie irgendwie ziemlich oft an ihn dachte, wenn sie allein war. Und neben Donny – vielleicht nur rein zufällig fast in seiner Hose, wo sie ihn, wie Ida vermutete, rein zufällig irgendwo kratzte, wo es schrecklich juckte – saß Royce, die im Pitch Room bei Thompson so ziemlich jeder Idee den Garaus machte. Royce war dafür zuständig, durch das kleine rosa Ventil in ihrem Gesicht Entmutigung in das intellektuelle Klima bei Thompson zu pumpen. Ida konnte sich darauf verlassen, dass sie sich nach einer Begegnung mit Royce wie das letzte Stück Scheiße fühlte. Aber mit Royce etwas zu trinken war etwas anderes. Sie war öde und wollte selbst darin die Beste sein, und obwohl sie gerade mit gleichgültiger Miene an Donny herumbaggerte, um endlich auch mal bei Mamas Liebling zum Zug zu kommen, war Ida froh, dass sie da war.

Foster nippte immer wieder vorsichtig an seinem Drink und versuchte zu lächeln. Ein wässriger brauner Fleck erklomm seine Oberlippe.

»Ich sage jetzt mal nichts dazu, wie du gerade grinst«, sagte Aniel.

»Vielleicht kommt der Schlamm ja von irgendwoher und hat irgendwelche, keine Ahnung, erstaunlichen Heilkräfte«, sagte Harriet und klopfte mit dem Fingernagel gegen ihr Glas. »Aus dem Toten Meer. Aus irgendeinem legendären Watt.« Sie studierte die Karte.

»Es schmeckt jetzt nicht schlimm oder so«, sagte er. »Ich hatte nur irgendwas Sahniges erwartet.«

Aniel stand auf und schnupperte an dem Drink. Er setzte ein versnobtes Weinkennergesicht auf.

»Das ist Superfood, Junge«, sagte er. Aniel war schon älter, so um die zweiunddreißig, mit all der Peinlichkeit, die das mit sich brachte. Er kleidete sich jung, aber modisch jung. Fifth-Avenue-Skater. Seine Sachen waren stets eins a gewaschen und gebügelt.

»Ich hab mal irgendwo gelesen, dass es regional Bodenproben gibt, die mehr Protein enthalten als Fleisch«, sagte Aniel. »Pro Kubikirgendwas.«

»Ach ja. Hab ich auch gelesen. Im Scientific American letzten August. Doch, das stimmt hundertpro.«

Das war Bummer, ein zwanghafter Bestätiger. Immer wenn Ida bei der Arbeit jemanden brauchte, der ihr zustimmte, einen Verbündeten, einen Helfer, einen Sparringspartner, einen Prügelknaben, einen Dummkopf, einen Freund oder gar einen lebendigen Menschen, der auf Kommando bluten konnte, ging sie zu Bummer, selbst wenn er wegen seiner absoluten Untauglichkeit als Reibungspunkt in einem Gespräch zu einer Pfütze zerschmolz, die gerade noch so von ein paar Knochen zusammengehalten wurde.

»Ich weiß nicht«, sagte Harriet. »Ich könnte mir das schon vorstellen. Wenn in der Erde tote Tiere vergraben sind, enthält die Probe auch ein paar Proteine. Zumindest Spuren davon.«

Ida lachte. »Wenn? Ist Erde nicht letztendlich genau das? Ein Kompost aus Totem? Also, Foster, im Grunde genommen trinkst du gerade deinen Großvater.«

»Musst du gleich persönlich werden?«, sagte Foster. »Und mein Großvater lebt noch, das ist widerlich.« Er hatte seinen Drink abgestellt und sah sich um. Nach Hilfe vielleicht. Nach einem Ausweg.

Royce flüsterte Donny etwas zu, und Donnys Gesicht blieb ausdruckslos. Donny schien geradewegs auf Ida zu starren, und sie rutschte auf ihrem Stuhl herum. Das Treiben unterm Tisch nahm jetzt offenbar Fahrt auf, so als würde Royce, ohne hinzusehen, einen Zauberwürfel lösen.

Ida hätte ganz gern zugesehen, ohne den Tisch im Weg, einfach nur so. Nicht aus sexuellem Interesse, nicht direkt jedenfalls. Fast so, wie man sich in einem Museum eine kurze Doku ansehen würde. Zusammen mit anderen auf einer Bank, in einem kühlen, dunklen Raum.

»Ich wünschte, es wäre etwas greifbarer, wie sich diese Idee zu Geld machen ließe«, sagte Maury. »Dass die Erde einfach nur aus komprimiertem Totenmaterial besteht. So was wie eine kompakte kugelförmige Leiche ist.«

»Geld!«, rief Bummer, und dann wiederholten einige von ihnen das Wort in allerlei fremden Akzenten, bis es wie Piratengemurmel klang. Ida war sich nicht sicher, wie viel Ironie dabei im Spiel war; wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht.

»Übrigens«, sagte Mort, und alle am Tisch stöhnten wie auf Kommando los.

»Was denn? Ich wollte bloß sagen, dass in diesem einen Science-Fiction-Roman genau das passiert. Echt jetzt. Kein Scherz.«

»Das wissen wir, Mort«, sagte Harriet. »Das ist ja das Deprimierende. Dass es dich an ein Buch erinnert hat und wir uns das jetzt anhören müssen.«

Cerise wandte ein, es könne ja nicht schaden, wenn er den Plot kurz erzählte. Man müsse ihm eine Chance geben.

Und ob das schaden könne, sagte Foster. Es wäre ja nicht das erste Mal. »Im Mittelalter war das eine Foltermethode, Leuten den Plot von Büchern zu erzählen.«

»Okay, okay«, sagte Mort. »Ich mach’s kurz, und ihr werdet mir danken. Also, die Erde schwillt immer weiter an, weil die Leute sterben und verrotten und sich dadurch die Erdmasse immer weiter vergrößert. Versteht ihr? Und dann wird sie zu groß für ihre Umlaufbahn, und alles läuft, na ja, irgendwie aus dem Ruder. Also wirklich ziemlich