Nächster Halt: Zukunft - Jean-Michel Payet - E-Book

Nächster Halt: Zukunft E-Book

Jean-Michel Payet

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Beschreibung

Jetzt schon an die Zukunft denken? Wird doch total überbewertet, findet der 15-jährige Emil Kolaux. Das sagt er zumindest allen, die es hören wollen. Denn eigentlich interessiert es ihn brennend, was mal aus ihm werden wird - deshalb benutzt er die geheime Zeitreisemaschine seines Opas. Aus Versehen landet er noch weiter in der Zukunft, als er eigentlich beabsichtigt hatte, in einer Welt, in der Autos mit Müll statt mit Benzin angetrieben und Alltagsgegenstände aus Emils Gegenwart als Antiquitäten ausgestellt werden. Eine abenteuerliche Suche nach seinem älteren Ich beginnt, denn er ahnt nicht, auf was er sich da eingelassen hat - und dass jeder seiner Schritte beobachtet wird ...

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Inhalt

Über das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungVersagerWladimirDer KellerLeben wie früherMoniqueAlaska Saint-Port-sur-Mer Eine Seite im GeschichtsbuchMelanieSaint-Port bei NachtDwight Mirienko Eine Stadt unter WasserBei MauriceWenn die Flut kommtPANDASilbermo..weKüstenexpressLa CalleAm Ende des WegesRückkehr in die GegenwartWenn die Zukunft existiert …

Über das Buch

Jetzt schon an die Zukunft denken? Wird doch total überbewertet, findet der 15-jährige Emil Kolaux. Das sagt er zumindest allen, die es hören wollen. Denn eigentlich interessiert es ihn brennend, was mal aus ihm werden wird – deshalb benutzt er die geheime Zeitreisemaschine seines Opas. Aus Versehen landet er noch weiter in der Zukunft, als er eigentlich beabsichtigt hatte, in einer Welt, in der Autos mit Müll statt mit Benzin angetrieben und Alltagsgegenstände aus Emils Gegenwart als Antiquitäten ausgestellt werden. Eine abenteuerliche Suche nach seinem älteren Ich beginnt, denn er ahnt nicht, auf was er sich da eingelassen hat – und dass jeder seiner Schritte beobachtet wird …

Über den Autor

Jean-Michel Payet, 1955 in Paris geboren, studierte Architektur u. a. an der École des Beaux-Arts inParis.Heute arbeitet er nicht nur als Architekt und Stadtplaner, sondern auch als Autor und Illustrator zahlreicher Kinder- und Jugendbücher.

Jean-Michel Payet

Nächster Halt:

Zukunft

Aus dem Französischen

von Ingrid Ickler

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der französischen Originalausgabe:

»2065, La ville engloutie«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2010 by Éditions Milan, France

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Umschlagmotiv: © Nele Schütz Design, München

E-Book-Produktion: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-1353-6

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Claudine und Didier

Versager

»Versager!«, hatte Melanie zu mir gesagt.

Einfach so. Keine Ahnung, warum. Wir standen vor der Schule und warteten darauf, dass die Tür aufgeschlossen wurde. Sie hing mit ihrer Clique herum, und ich gönnte mir ein Bounty. Ganz entspannt. Ich wollte gerade hineinbeißen, da drehte sie sich zu mir um. Versager. Ich war baff.

»Was’n los?«, fragte ich.

»Du bist ein Versager, das ist los.«

»Du bisch escht krank. Hab isch immer gewuscht!«

Superlecker, so ein Bounty, doch beim Sprechen störte es schon.

»Aber das Schlimmste ist«, regte sie sich jetzt so richtig auf, »du merkst es nicht mal!«

Und dann starrte sie auf den Boden. Da war doch gar nichts. Jedenfalls fast. Nur festgetretene Kaugummis und ein Riss im Asphalt. Und die Bountyverpackung.

»Meinschte etwa die?« Ich schluckte.

»Exakt. Du verschmutzt die Umwelt! Du verschmutzt unseren Planeten!«

»Komm wieder runter! Von einem Papierschnipselchen geht die Welt nicht unter, nicht mal von ’ner Plastikverpackung.«

»Wenn alle so denken würden, wäre die Welt ein Müllhaufen. Einmal Versager, immer Versager.«

Danach rümpfte sie abfällig die Nase, schnippte betont auffällig kaum erkennbare Kokoskrümel von ihrem Pulli und ließ mich stehen. Ich schluckte erneut, dann wischte ich mir mit dem Handrücken über den Mund und bückte mich, um das Corpus Delicti aufzuheben, das die Harmonie und Schönheit unseres Schulhofs beleidigte.

»Bitte schön«, sagte ich spöttisch und ließ die Verpackung in meiner Tasche verschwinden, »jetzt kann sich die Erde weiterdrehen!«

Doch als ich wieder aufsah, war Melanie verschwunden.

Als ich die Schule betrat, war ich doch etwas genervt. So ein Drama wegen einer lächerlichen Plastikfolie. Die Umwelt und die Natur spielten in meinem Leben eine etwa genauso große Rolle wie die Tatsache, dass in China ein Sack Reis umfällt. Will heißen: gar keine. Und wenn diese Bemerkung von irgendeiner anderen gekommen wäre, von Nolwenn oder Jennifer zum Beispiel, dann hätte ich darüber bloß müde gelacht. Aber bei Melanie mit ihren großen grünen Augen, die unter ihrem braunen Pony hervorblitzten, störte mich das schon. Das »einmal Versager, immer Versager« ging mir nicht aus dem Kopf.

Ich hätte es einfach vergessen können. Aber an diesem Nachmittag bekamen wir die Mathearbeit zurück, wobei unser Mathelehrer M. Bouton zu mir sagte: »Ist dir deine Zukunft eigentlich vollkommen egal, mein Lieber? Den Lamborghini kannst du mit solchen Noten nämlich vergessen. Für ein Mofa reicht’s vielleicht gerade noch …«

Voller Stolz auf sein billiges Witzchen teilte er weiter Arbeiten aus. Ich hielt mich zurück. Dass er seinen Lamborghini besser in der Garage lassen sollte, verkniff ich mir lieber. Wenn man einigermaßen intelligent war, legte man sich nicht mit Bouton an. Außerdem interessiere ich mich nicht für Autos. Und trotzdem beschäftigte mich seine spöttische Bemerkung. Schlimmer wurde es noch, als ich die Arbeit abends meinen Eltern zeigte. »Hör zu, Emil«, begann mein Vater gefährlich ruhig, »ich habe nichts dagegen, dass du dich mit deinen Freunden amüsierst, aber meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass du eine gute Zukunft hast. Auf keinen Fall sollst du wie ich auf einem Kutter enden und Fische fangen, die du dann wegen irgendwelcher Quoten wieder ins Meer schmeißen musst …«

»Jean-Pierre!«, unterbrach ihn meine Mutter.

»Ja und? Habe ich etwa unrecht? Merlan, Hering und Scholle – die werfen wir zu drei Vierteln wieder zurück … ganz zu schweigen von den Sardellen!«

»Darum geht’s doch gar nicht …«

»Ach nein? Und wie soll das weitergehen? Ich möchte dich daran erinnern, dass …«

Ich überließ sie ihrer Debatte über die Zukunft der Fischerei in Saint-Port-sur-Mer und schlich mich in mein Zimmer. Das Thema kam immer wieder zur Sprache. Was, wenn sie alle recht hatten, wenn wirklich nichts Gescheites aus mir werden würde? Wenn ich tatsächlich ein Versager war?

Ich betrachtete mich im Spiegel. Was würde aus diesem fünfzehnjährigen Typen mit dem Pickel auf der Nase werden, sagen wir in dreißig Jahren, im Jahr 2040 oder so? Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich mit einem Bart aussehen würde, einem Schnurrbart oder einem Vollbart. Mit Falten im Gesicht. Vielleicht mit Glatze. Igitt. Oder gar im Anzug? Als gefeierter Star im hippen T-Shirt? Als Obdachloser? Keine Ahnung. Aber der Pickel wäre wenigstens verschwunden.

Ich wollte mich gerade in »Fighting Demons VII« stürzen, aber dazu hätte ich den Computer hochfahren müssen. Momentan ungünstig, wenn man die Stimmung meiner Eltern bedachte. Deshalb beschloss ich, meine Schwester zu besuchen.

Clementine ist ernst. Nett, aber ernst. Meistens fühlt sie sich verpflichtet, mir Ratschläge zu geben, die aber oft wie Befehle klingen. Vielleicht weil sie glaubt, die Ältere von uns zu sein und mir ihre Überlegenheit zeigen zu müssen. Dann erinnere ich sie daran, dass ich es bin, der schon länger auf der Welt ist als sie, aber das lässt sie völlig kalt. Sie behauptet steif und fest, dass bei Zwillingen der Zweitgeborene der Reifere sei. Eine Behauptung, die mir ziemlich suspekt vorkommt, die sie aber immer wieder schamlos ausnutzt.

»Wie wär’s mit einer Partie Kniffel, Cle?«

»Hmm.«

»Komm schon, dauert doch nicht lange.«

»Emil, ich bin beschäftigt.«

»Lernst du, oder was?«

Meine Schwester seufzte geräuschvoll, als würde sie die ganze Luft auf einmal aus ihren Lungenflügeln pressen. Dann klappte sie ihr blau eingebundenes Schulheft zu und drehte sich zu mir um. Meine Zwillingsschwester sieht mir ganz und gar nicht ähnlich. Sie ist blond, ich bin braunhaarig, ihre Augen sind blau, meine kastanienbraun, sie hat niedliche Sommersprossen, ich bin immer blass … Wenn sie nicht gerade für die Schule lernt, dann kümmert sie sich um die Zukunft der Eisbären, kämpft gegen Gentechnik, informiert sich über die Klimaerwärmung und warnt uns vor dem Verschwinden fossiler Energien und dem Schmelzen der Gletscher. Ich dagegen hocke vorm Computer und zocke.

»Ärger mit den Eltern?«, fragte sie.

»Ziemlich.«

»Wie ging’s aus?«

»Großes Drama im Wohnzimmer. Ich habe mich in den sicheren Hafen zurückgezogen.«

Sie lächelte kurz, fiel dann aber sofort wieder in die Rolle der lebenserfahrenen großen Schwester zurück.

»Kein Wunder, Brüderchen, du hängst ja auch nur rum.«

»Nenn mich nicht Brüderchen.«

»Mathe ist doch echt nicht so schlimm …«

»Rosenkohl auch nicht. Aber ich finde ihn trotzdem ätzend. Genau wie Mathe.«

»Hör zu. Jeden Tag werden auf der Erde dreihundertdreiundfünfzigtausend Menschen geboren. Wenn man davon die einhundertneunundfünfzigtausend abzieht, die täglich sterben, dann werden es in vierundzwanzig Stunden fast zweihunderttausend mehr. Tag für Tag!«

»Ja und?«

»Jedes Jahr werden wir dreiundsiebzig Millionen Menschen mehr, siebenhundertdreißig Millionen in zehn Jahren!«

»Macht dir das etwa Angst?«

»Nein, aber was ich damit sagen will, ist Folgendes: Falls uns die Atomenergie oder die wachsende Versteppung der Erdoberfläche bis dahin noch nicht ausgerottet haben, wird es dann, wenn du einen Job suchst, siebeneinhalb Milliarden Menschen geben, die was zu essen brauchen. Und diejenigen, die bis dahin nur rumgehangen haben, werden bestimmt nicht die Ersten sein, die was abbekommen.«

Blöd ist sie nicht, meine Schwester. Sie wird bestimmt mal Ministerin oder Nobelpreisträgerin, und wenn sie dann irgendwann mal diesen Planeten regiert, werden die siebeneinhalb Milliarden Menschen spuren. Was mich betrifft …

Mich? Ja, was? Was wussten die eigentlich über mich? Am liebsten würde ich es ihnen allen beweisen, den Lehrern, meinen Eltern, meinen Freunden. Aus Emil würde kein zurückgebliebener Neandertaler, kein Vollpfosten, kein Versager werden. Keine Null. Wenn ich ihnen beweisen würde, was ich draufhabe, dann hätte ich meine Ruhe. Aber mein Hirn hatte sich zu einem hinterhältigen Knoten verwickelt. Und wenn ich doch ein Versager werden würde?

Am besten wäre es, mal nachzusehen.

Die Idee war nicht neu. Auch früher schon hatte ich einen Blick in die Zukunft werfen wollen. Dieser Gedanke hatte sich in mir festgesetzt und mich nicht mehr losgelassen. Nachsehen. Total abgefahren. Eigentlich aber doch nicht. Denn es gab ja Wladimir.

Wladimir

Wir durften ihn nie »Opa« oder »Großvater« nennen. Und als ich es einmal mit »Opi« versuchte, sauste eine Ohrfeige zwei Fingerbreit an meinem linken Ohr vorbei. Er hatte genau gezielt, um mich nicht zu treffen. Wladimir will von allen Wladimir genannt werden, Punkt. Das verstehe ich, der Name passt zu ihm. Vor allem zu dem slawischen rollenden Akzent seiner Stimme und dem hellwachen Blick, der ein bisschen verloren wirkt, seit Martha (die wir »Oma« nennen durften) gestorben ist.

Am Samstagmorgen bin ich also in den Bus gestiegen, mit dem Segen meiner Mutter, die froh war, dass jemand ihrem Vater Gesellschaft leistete. In meiner Tasche hatte ich einen Schlafanzug, meine Zahnbürste und eine Flasche Rotwein für Wladimir, dessen Gaumen mit dem Alter immer anspruchsvoller wurde. Zwei Stunden und neunzig Kilometer später stieg ich vor der Kirche von Dréanzé aus, einem Ort mit viertausendachthundert Einwohnern, einem Campingplatz, zwei Bäckereien und einem Kino, das nur am Wochenende Filme zeigte. Und auch nicht an jedem. Ein ruhiger Ort.

Wladimir war gerade dabei, seine Haustür anzustreichen. Knallrot. Das war schon von Weitem zu sehen, und ich vermutete, dass er diese Teufelsfarbe gewählt hatte, um die scheinheiligen alten Jungfern zu provozieren, die es ihm immer noch übel nahmen, dass er dieses alte, seit vierzig Jahren unbewohnte Pfarrhaus gekauft hatte. Die Leute in Dréanzé sind nachtragend. Mir fiel auch der kleine Feigenbaum auf, den ihm meine Eltern vor zwei Monaten zum Geburtstag geschenkt hatten. Er war nicht gerade begeistert gewesen: rausgeschmissenes Geld, zu nichts nütze. Aber dann hatte er ihm einen Ehrenplatz gegeben, und das Bäumchen streckte stolz seine Äste in alle Richtungen.

»Reich mir doch mal das Terpentin!«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Wladimir.«

»Wirst du von der Polizei gesucht?«

»Äh … Nein.«

»Und warum flüchtest du dann zu einem alten Mann wie mir?«

»Um dir auf die Nerven zu gehen.«

»Wusste ich’s doch.«

Überschwängliche Gefühle gab es bei Wladimir keine. Ich griff nach einem Pinsel, um ihm zu helfen. Wie auf Knopfdruck fing er an zu meckern: Ich kleckste, nahm zu viel Farbe oder zu wenig. Alles wie immer.

»Übernachtest du hier?«, fragte er, während wir die Pinsel reinigten.

»Wenn es dir recht ist.«

»Gibt nichts Besonderes zu essen. Nur Huhn. Und Kartoffeln. Magst du Bratkartoffeln?«

»Igitt.«

»Egal. Musst du trotzdem essen.«

Bratkartoffeln liebte ich über alles, und Wladimir wusste das ganz genau.

»Ich hab dir was mitgebracht«, verkündete ich und packte den Wein aus.

»Trinkst du etwa Alkohol?«

»Nein, der ist für dich.«

»Alles klar. Du willst mich besoffen machen, um mich auszuhorchen, wo ich mein Geld versteckt habe.«

»Genau.«

Das Huhn war ein Gedicht, die Kartoffeln waren knusprig und mit einem Hauch von Knoblauch, wie es nur wenige hinkriegen. Wladimir hatte mir erlaubt, Cola zu trinken, obwohl das in seinen Augen ein kulinarisches Verbrechen war. Er widmete sich dem Wein. Jedem das seine. Erst als er den Schoko-Nuss-Kuchen auf den Tisch stellte, ließ er ein knappes »Also?« fallen.

»Was?«

»Warum bist du hier?«

»Weißt du doch, ich will dir dein Erspartes klauen.«

»Jetzt mal im Ernst.«

»Ich möchte, dass du mir von deinen Entdeckungen erzählst.«

»Entdeckungen? Da gibt’s nichts zu erzählen.«

Dabei biss er herzhaft in sein Stück Kuchen, sichtbarer Beweis, dass das Gespräch für ihn an diesem Punkt beendet war.

Etwa zehn Jahre zuvor hatte Wladimir von einem Ausflug Steine mitgebracht, auf denen Zeichen eingeritzt waren, die Historiker in die mittlere Steinzeit datierten. Die Wissenschaftler waren überrascht, dass die fast zehntausend Jahre alten Steine in bestem Zustand waren. Mein Großvater musste ihnen die Fundstelle zeigen, eine Höhle in den Hügeln ganz in der Nähe. Alle Winkel der Höhle wurden fotografiert, untersucht und erforscht, ohne dass man auch nur einen einzigen weiteren Stein oder irgendwelche Spuren früheren Lebens darin gefunden hätte. Trotzdem wurde Wladimir in der örtlichen Presse als Held gefeiert, als Forscher, der der Wissenschaft einen unschätzbaren Dienst erwiesen hatte. Er wurde sogar zum Ehrenbürger von Dréanzé ernannt. Bis dann eines Tages ein berühmter Archäologe den Fund mit der Radiokarbonmethode untersuchte. Und über die Stadt ergoss sich Hohn und Spott: Die Steine waren gar nicht alt, jedenfalls nicht so alt, wie man geglaubt hatte. Der Wissenschaftler, der sie in die Steinzeit datiert hatte, war verschwunden, und Wladimir galt fortan bei seinen Mitbürgern als ahnungsloser Trottel. Er reagierte auf seine Weise, wie immer, wenn es ein Problem gab: Rollläden runter! Und kein weiteres Wort.

Wladimir war Tischler. Als er mit Martha nach Dréanzé zog, arbeitete er als »Mann für alle Fälle«, half hier einem Heimwerker, pflegte dort einen Garten. Aber seine heimliche Leidenschaft blieb die Geschichte. Kein Tag verging, ohne dass er sich in eines der Bücher vertiefte, die ganze Regalreihen seines Hauses füllten. Kein Monat, ohne dass er auf die Jagd nach Fundstücken und alten Dokumenten ging, er forschte zum Beispiel nach Resten von Uniformen und Zeitungen aus vergangenen Jahrhunderten.

Vor ein paar Monaten war mir zufällig ein Exemplar der Mercure Galant in die Hände gefallen, eine Sonderausgabe der Zeitschrift vom Mai des Jahres 1691, die dem damaligen Thronfolger des Königs von Frankreich gewidmet war. Das Dokument war in bestem Zustand, es machte den Eindruck, als sei es gerade erst gedruckt worden. Ich hätte es wahrscheinlich nicht weiter beachtet, wenn Wladimir es mir nicht aus der Hand genommen und hastig zurückgelegt hätte. Und da habe ich angefangen, mir so meine Gedanken über seine »Altertümer« zu machen … Auf den zweiten Blick glänzte dieser Säbel aus napoleonischer Zeit an der Wohnzimmerwand etwas zu sehr, die gallischen Sesterzen in der Kupferschale sahen aus wie frisch geprägt, und die mittelalterliche Münzwaage aus Kupfer auf der Kommode hatte das Auf und Ab der Jahrhunderte bestimmt nicht miterlebt. Kurz gesagt: Dieser ganze alte Plunder war nagelneu.

Als mir das klar wurde, begannen sich in meinem Kopf die Rädchen zu drehen. Seit der peinlichen Geschichte mit den Steinen verkehrte Wladimir nicht mehr mit den örtlichen Historikern. Er ging nur aus dem Haus, um dringend notwendige Besorgungen zu machen. Und auch das so selten wie möglich. Aber die Begeisterung für die Vergangenheit hatte ihn nicht losgelassen. Und noch etwas anderes war merkwürdig: Obwohl er früher seiner Frau nicht von der Seite gewichen war, schien er Marthas Tod besser zu verkraften als erwartet. Das ließ mein Hirn auf Hochtouren arbeiten: Was hatte Wladimir zu verbergen? Bei jedem meiner Besuche stellte ich meine Antennen auf Empfang, und meine Augen waren darauf fixiert, jedes noch so unscheinbare Detail, jedes noch so kleine Indiz wahrzunehmen und zu analysieren.

Durch eine Entdeckung letzten Sommer wurde mein Verdacht bestätigt: Wladimir hatte mich gebeten, die Gartenbank zu streichen, Omas Lieblingsplatz an warmen Sommertagen. Er hätte im Keller zu tun, das behauptete er zumindest. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass er mich bloß eine gute Stunde mit Farbe und Pinsel beschäftigt haben wollte. Dummerweise hatte er jedoch vergessen, mir Terpentin hinzustellen. Also ging ich in den Keller, um ihn danach zu fragen, aber dort war niemand. Ich stieg die Treppe hoch, durchsuchte das ganze Haus, dann den Garten und warf sogar einen Blick auf die Straße. Danach ging ich wieder in den Keller. Aber nichts, absolut nichts. Keine Spur von Wladimir. Ich wollte gerade aufgeben, als ich Schritte hinter mir hörte. Ich drehte mich um und sah gerade noch, wie Wladimir aus dem hinteren Teil des Kellers kam und zu seiner Werkbank ging.

»Bist du schon fertig?«, fragte er.

Dabei wandte er mir demonstrativ den Rücken zu.

»Äh, ich … Du hast vergessen, mir das Terpentin zu geben«, stotterte ich.

»Steht in der Garage.«

»Alles klar.«

Als ich dann kommentarlos die Treppe hinaufging, wurde mir klar, dass hier etwas nicht stimmen konnte. Der Keller war nicht sehr groß, ich hätte meinen Großvater unmöglich verpassen können, als ich nach ihm suchte. Einzige Erklärung: Er musste woanders gewesen sein. Und es gab noch etwas, das mich verwirrte: Er duftete nach Vergissmeinnicht. Ich hatte das zunächst ignoriert, denn ich wusste, dass das nicht der passende Augenblick gewesen war, um Fragen zu stellen. Erst als wir fast mit dem Abendessen fertig waren, wagte ich es:

»Zeigst du mir die Steine, die du damals gefunden hast?«

»Wertloser Plunder.«

»Nur mal anschauen, bitte.«

»Weiß nicht mehr, wo sie sind.«

Einen sechzigjährigen Sturkopf überredet man nicht in zwei Minuten. Wladimir war hartnäckig und eigensinnig, und ich war taktisch nicht gerade geschickt vorgegangen. Also nahm ich noch ein Stückchen Camembert und griff über die linke Flanke an:

»Seit wann benutzt du eigentlich Parfüm, Wladimir?«

»Was?«

»Du stehst auf Duft?«

»Was soll der Unsinn, lass das.«

»Warum riechst du dann nach Vergissmeinnicht?«

Er sprang auf, räumte die Teller zusammen, wandte seinen Blick ab und murmelte etwas in einer mir fremden Sprache, wahrscheinlich Russisch. Ich war ihm mit den Flaschen in die Küche gefolgt.

»Ich sag niemandem was, Wladimir.«

»Da gibt es nichts zu sagen!«

»Es ist im Keller, stimmt’s?«

Er räumte die Spülmaschine ein und antwortete nicht. Wladimir war keiner, den man so leicht überrumpeln konnte. Aber ich war nun fest davon überzeugt, dass meine Vermutung stimmte. Diese verrückte Idee, die mich einen Augenblick lang an meinem Verstand hatte zweifeln lassen: Mein Großvater konnte durch die Zeit reisen!

Wenn ich das meinen Kumpels erzählt hätte, wäre ich für einen Vollidioten gehalten worden, aber so verrückt das Ganze auch schien, für mich war die Situation ganz klar: Wladimir reiste in die Vergangenheit, um Erinnerungen an vergangene Zeiten wachzuhalten. Und wenn ihm seine verstorbene Frau zu sehr fehlte, dann reiste er ein paar Jahre zurück, um einige schöne Stunden mit meiner nach Vergissmeinnicht duftenden Oma zu verbringen. Niemals hatte sie das Haus ohne einen Spritzer Vergissmeinnicht, ihrem Lieblingsduft, verlassen. Aber in diesem Moment hatte ich nicht weiter nachgebohrt, und da ich weder Lust auf rosa Pillen hatte, noch darauf, mit anderen Spinnern in einer Gummizelle zu sitzen, habe ich auch niemandem etwas davon erzählt.

Heute nun lagen die Dinge anders, und ich war wild entschlossen, das Thema wieder aufzugreifen. Wie beim ersten Mal wartete ich das Ende des Abendessens ab, um etwas aus Wladimir herauszukitzeln.

»Wie geht es Oma?«, riskierte ich einen ersten Versuch.

Das Geschirr war in die Spülmaschine geräumt, Waldimir hatte es sich mit einem kleinen Glas Wodka in seinem ollen Sessel bequem gemacht und mir den neuen Liegestuhl überlassen. Ein Geschenk meiner Eltern, das er mit keiner Pobacke würdigte. An der Wand prangte der Jahreskalender 2010, mit einem sabbernden Bernhardiner darauf, das Einzige, das er seit Omas Tod jährlich wechselte. Alles andere gehörte zum eisernen Inventar.

»Warum fragst du?«, begann er schließlich.

Ich hatte Angst vor einem Sturm der Windstärke acht bis neun gehabt, aber nein, es war kein Unwetter in Sicht. Im Gegenteil, der Klang seiner Stimme verriet mir, dass ich auf der richtigen Spur war.

»Weil das nämlich – wenn es stimmt, was ich vermute – eine Riesensache ist!«

»Vergiss es, Junge. Gefährlich. Und zwar sehr.«

»Keine Sorge, ich sag niemandem was. Keiner Menschenseele.«

»Das ist verrückt. Da denkst du, du wärst in Sicherheit, und plötzlich stürzt der Himmel über dir zusammen.«

Damit meinte er natürlich die Geschichte mit den Steinen.

»Das bringt nichts Gutes«, fuhr er fort.

»Kannst du dich wirklich mit Oma treffen?«

Noch einen Schluck Wodka, zwei Minuten Schweigen, dann seufzte er. »Hat mir zu sehr gefehlt.«

Und wieder Schweigen. Langes Schweigen. Aber Wladimir hatte immerhin zugegeben, indirekt zumindest, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, in die Vergangenheit zu reisen, um seine verstorbene Frau zu treffen. Mir wurde ziemlich mulmig zumute. Trotzdem ließ ich nicht locker, denn ich wollte doch unbedingt wissen, was mal aus mir werden würde. Ob ich ein Versager sein würde.

»Die Steine kamen auch von dort, stimmt’s? Nicht aus der Höhle.«

»Blöd von mir, sie zu zeigen. Die Menschen sind noch nicht so weit, so was zu verstehen. Und wenn, dann wollen sie die Dinge verändern und zerstören sie. Selbst wenn sie es gut meinen, tun sie Böses, mein Junge.«

»Und der Säbel?«

»Ja, der ist auch von dort. Und die anderen Sachen auch. Alles. Erst kam ich mir vor wie ein kleines Kind im Spielzeugladen. Ich war so stolz. Ich konnte Geschichte hautnah erleben, ja sogar anfassen und die Sachen mit nach Hause nehmen, um damit anzugeben. Und dann, eines Tages …«

»Eines Tages?«

Wladimir ließ den Wodka im Glas kreisen, länger, als er es sonst tat, ehe er weitersprach.

»Hab ich Mist gebaut.«