Nacht in Damaskus - Shukri al Rayyan - E-Book

Nacht in Damaskus E-Book

Shukri al Rayyan

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Beschreibung

Im Vordergrund dieses lebhaften Romans, der ins Damaskus des Jahres 2011 führt, steht die Geschichte eines Geld-Diebstahls mit weitreichenden Folgen. In der aus wechselnden Perspektiven beleuchteten Rahmenhandlung spielen Dschawad, ein junger Ingenieur, und Lamis, eine auffallend schöne und beruflich ambitionierte junge Frau eine besondere Rolle. Ihre leidenschaftliche Liebesbeziehung droht zu scheitern, als die junge Frau erfährt, dass ihr Geliebter das fieberhaft gesuchte Geld gestohlen hat. Was sie zunächst nicht weiß: der verliebte Dieb wurde selbst zum bestohlenen Opfer und ist durch den Verlust der Beute in eine lebensgefährliche Situation geraten. Längst sind ihm Männer aus den oberen Etagen des Machtapparats auf der Spur und die verfolgen vor allem eins – die unbedingte Befriedigung ihrer masslosen Gier. Begleitet werden Dschawad und Lamis von etlichen Figuren. Ihre jeweiligen Geschichten werfen immer neue Schlaglichter auf das Leben im «Assad-Königreich der Angst», die Strategien eines korrupten und gnadenlosen Systems und die ersten Monate der Revolution. Vor dem Hintergrund der syrischen Tragödie musste Shukri al Rayyan lange warten, bis er aus den ersten Ideen zu einem Roman diese an Volten reiche, mit grosser Fabulierlust vorgetragene Geschichte entwickeln konnte.

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Seitenzahl: 453

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Shukri Al Rayyan

Nacht in Damaskus

Roman

Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch

INHALT

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Die wichtigsten Figuren des Romans

Glossar

VORWORT

2004 verfasste ich die ersten Zeilen dieses Romans. Doch bis zum Winter 2011 wagte ich nicht, auch nur einen einzigen Satz hinzuzufügen. Seit Beginn der Revolution der Syrer gegen das tyrannische Assad-Regime waren acht Monate vergangen und in dieser Zeit hatte sich das Leben in Syrien auf eine Weise verändert, von der wir noch wenige Stunden vor dem 15. März 2011 nie zu träumen gewagt hätten. An diesem Tag fand im Herzen der Hauptstadt Damaskus die erste Demonstration statt. Jahrzehntelang hatten die Menschen in einer Angst gelebt, die alle Aspekte ihres Lebens beherrschte.

Als Araber litten wir unter Regimen, die miteinander um die Unterdrückung ihrer Völker konkurrierten. Nun erlebten wir eine vollkommen neue Zeit, den Arabischen Frühling. Er hatte Ende 2010 in Tunesien begonnen und weitete sich bald auf Ägypten aus, wo die Revolution auf dem Tahrir-Platz ihren Ausgang nahm, und dann weiter auf Syrien, Libyen und Jemen. Damals versprach alles ein neues Leben, von dem wir so lange geträumt hatten.

Vom Entwurf der ersten Zeilen des Romans bis zu dem Moment, in dem ich ihn tatsächlich zu schreiben begann, mussten sieben Jahre vergehen, bis eine Revolution ausbrach, die unser gesamtes Leben erschüttern würde. Erst dann fand ich, wie Millionen anderer Menschen, meine wirkliche Stimme wieder, wurde wieder ich selbst und konnte meinen alten Traum verwirklichen, über uns und unser Leben in einer Todesgrube zu schreiben. Denn zu einer Todesgrube war Syrien unter den Tyrannen geworden.

So begann ich die Geschichte von Dschawad und Lamis und ihrer Liebe, die trotz aller Aussichtslosigkeit ein gutes Ende nehmen sollte. Genau wie die Revolutionäre, die öffentliche Plätze als Orte des Zusammenlebens freier Menschen zurückeroberten, wollten auch diese beiden ihr Recht auf Leben, Meinungsäußerung und Liebe wahrnehmen. Ihre Geschichte spielt in Damaskus vor und während des Beginns der Revolution von März bis Mitte Juni 2011 und entwickelt sich entlang der fieberhaften Suche nach einem großen, plötzlich verschwundenen Geldbetrag. Im Lauf der Zeit wird diese Suche das Leben des Paars und der Menschen in ihrer Umgebung auf den Kopf stellen. Dabei überschneidet sich die Geschichte der Liebenden mit vielfältigen anderen Geschichten, die in verschiedene Milieus und Zeiten entführen und ein vielfarbiges Porträt der syrischen Gesellschaft am Vorabend der Revolution entwerfen. Der Roman will die Ursachen dieser Revolution aufzeigen, während der Leser der Suche nach dem verschwundenen oder gestohlenen Geld bis zu einem völlig unerwarteten Ergebnis am Ende des Romans folgt.

Auf den verschlungenen Wegen des Romans begegnen wir bei jeder neuen Wendung dem wahren Schuldigen, den Verhältnissen, die das tyrannische Regime der Assad-Familie zu verantworten hat, in dem die Syrer entweder zu Kriminellen oder zu Opfern gemacht wurden.

KAPITEL1

1.1

Als Dschawad die Bürotür aufschließen wollte, war seine größte Sorge, Aiman, dieser bösartige Kerl, könnte seinen Schlüssel von innen ins Schloss gesteckt haben, um nicht in einer unpassenden Situation überrascht zu werden. Dazu muss man allerdings wissen, dass bei Aiman nichts in irgendeiner Weise passte, weder das Verhältnis zwischen seinem Gewicht von mehr als 120 Kilogramm und seiner Größe von einem Meter siebzig noch seinem Benehmen, das im besten Fall unhöflich zu nennen war und zwar gegenüber allen. Das schien ihm aber völlig gleichgültig zu sein, und er bemühte sich nur dann um ein einigermaßen angemessenes Verhalten, wenn er auf Nadia lag, der Sekretärin aus dem gegenüberliegenden Büro.

Dschawad konnte sich Aiman und Nadia nur in dieser einen Situation vorstellen. Die Vorstellung, wie die beiden zu einem riesigen Fleischberg verschmolzen, erregte in ihm Übelkeit. Ohnehin wurde ihm regelmäßig die Laune verdorben, denn das Leben hielt für ihn wie für die meisten in diesem Land nicht viel Erfreuliches bereit. Doch seit er in Aimans Büro arbeitete, war es noch schlimmer geworden. Die sexuellen Eroberungen seines Chefs waren nur ein Übel unter etlichen.

Während Dschawad also den Schlüssel ins Schloss steckte, stellte er sich frustriert den Rest des Szenarios vor. Bei dem Versuch, den Schlüssel herumzudrehen, würde dieser sich nicht bewegen. Nach einem geräuschvollen, aber erfolglosen weiteren Versuch würde er den Schlüssel wieder herausziehen und zum Fahrstuhl am Ende des Ganges gehen. Das wäre für Aiman die Gelegenheit, seine Hose anzuziehen und zur Tür zu eilen, um sie einen Spalt zu öffnen, nachdem er sich durch den Spion vergewissert hatte, dass niemand vor der Tür stand. Er würde seinen kleinen Kopf auf den Gang hinausstecken und Dschawad hüstelnd mitteilen, er habe ein Nickerchen gemacht und deshalb die Tür verschlossen. Ganz so, als wüsste er nicht, dass Dschawad zum Büro zurücklaufen würde, wo sich Nadia im Vorraum hinter der Tür eilig das Kopftuch zurechtrückte, um dann schnell das Büro zu verlassen. Verlegen würde sie sagen: »Ich komme später wieder, um das Büro sauberzumachen, Herr Aiman«, dabei Dschawad einen Blick aus den Augenwinkeln zuwerfen und mit einem listigen Lächeln hinzufügen: »Es scheint, ihr habt jetzt zu tun.«

Dieses Lächeln machte ihn wütender als alles andere in dieser absurden Situation. Am Ende dächte Nadia vielleicht noch, er sei genauso scharf auf sie wie sein Chef! Dieser Gedanke war besonders ärgerlich angesichts all der Erniedrigungen, von denen es in seinem Leben nicht gerade wenige gab. Welcher Idiot würde schon etwas von diesem »Fleischberg« wollen, wie er Nadia Aiman gegenüber nannte. Der provozierte ihn ganz bewusst mit einem durchtriebenen, zweideutigen Lächeln, das andeuten sollte, Dschawad habe es tatsächlich auf Nadia abgesehen. Und so überschritt Dschawad bei ihrer Beschreibung Grenzen, die nach seiner Meinung eigentlich bei keiner Frau überschritten werden durften. Aiman brach in schallendes Gelächter aus, wenn er diesen Ausdruck von ihm hörte, als würde er Dschawad nur deshalb provozieren, damit dieser Nadia mit genau solchen Worten beschrieb. Das erregte bei Dschawad Abscheu und Ekel – und das nicht nur, weil Aiman eine Frau, mit der er schlief, so wenig achtete, dass er seinem jungen Angestellten erlaubte, sich in dieser Weise über sie zu äußern. Diese Missachtung betraf Dschawad in gewissem Maße schließlich auch selbst, denn Aiman achtete niemanden und provozierte jeden, schlecht über andere zu reden. Damit wollte er sich selbst beweisen, dass er besser war als alle anderen. Dschawad war auch deshalb wütend, weil Aiman ernsthaft glaubte, er und viele andere beneideten ihn um Nadia. Und wer weiß, vielleicht hatte dieser Idiot Nadia bereits davon überzeugt – viel würde es dafür nicht brauchen –, dass sie für Dschawad und unzählige andere junge Männer die Frau ihrer feurigen Träume war. Es stimmte allerdings auch, dass Dschawad sich in den fünfunddreißig Jahren seines Lebens mit Träumen und Pornofilmen hatte begnügen müssen. Sich einer Frau zu nähern, kam für ihn aus sozialen und kulturellen Gründen nicht infrage, und genug Geld, um zu heiraten, hatte er nicht.

Als sich der Schlüssel im Schloss entgegen aller Erwartung doch umdrehen ließ und sich die Tür öffnete, war Dschawad erleichtert. Nun konnte er das erledigen, wofür er in der Mittagspause noch einmal ins Büro gekommen war. Weil Aiman wusste, dass Dschawad aus wichtigen Gründen im Büro erschien, musste er gelegentlich seine Eroberungen unterbrechen, auch wenn er gerade kurz vor einem überwältigenden Sieg stand. Hörte er ein Geräusch, lief er eilig zur Tür, um zu sehen, wer draußen stand. War es Dschawad, konnte Aiman den ›Sieg‹ auf später verschieben, denn er wollte die Arbeit seines fleißigsten – und außer ihm selbst und seiner Sekretärin Lamis – einzigen Mitarbeiters nicht behindern. Lamis diente Aiman als Beweis, dass er Arbeit und Vergnügen nicht miteinander vermischte. Er war darauf bedacht, sie nur in ihrer Funktion als Sekretärin wahrzunehmen und entsprechend zu behandeln. Er hatte sie nämlich nur eingestellt, weil sie mit dem Leibwächter eines hochrangigen Funktionärs verwandt war, und Aiman träumte davon, dass sein Name gegenüber diesem Funktionär erwähnt würde. Deshalb wagte er es nicht, Lamis auch nur flüchtig anzusehen, selbst wenn der himmelweite Unterschied, der zwischen ihr und Nadia in jeder Hinsicht bestand, ein ausreichender Grund gewesen wäre.

Dschawad betrat das Büro und ging zu seinem Zimmer, das sich neben dem von Aiman befand. Er wollte die Unterlagen holen, die er vergessen hatte, und schnell wieder aufbrechen. Doch da sah er Aiman hinter seinem Schreibtisch sitzen, den Kopf an die Stuhllehne gelegt. Lächelnd begriff er, dass Aiman dieses Mal tatsächlich ein Nickerchen machte und deshalb den Schlüssel nicht ins Schloss gesteckt hatte. Er ging schnell in sein Zimmer, nahm die Akte und trat wieder hinaus in den Vorraum. Dort fiel ihm ein, dass er Aiman etwas fragen musste. Es war nicht sonderlich wichtig, doch er beschloss, es gleich zu tun, bevor er sich am Abend mit einem potenziellen Kunden treffen und danach ins Büro zurückkommen würde. Er kehrte um und ging mit einem breiten Lächeln in Aimans Zimmer. Es würde Spaß machen, ihn aus seinem Nickerchen zu wecken und ihm etwas Unbehagen zu bereiten, gewissermaßen als kleine Rache für sein unmögliches Benehmen gegenüber allen und jedem.

Mit einem Hüsteln betrat er das Zimmer und erwartete, dass Aiman aufwachen und sich sein anfänglicher Schreck in sichtliches Missfallen verwandeln würde. Er unterdrückte ein Lächeln. Aber Aiman bewegte sich nicht. Dschawad ging zum Schreibtisch, um ihn leicht an der Schulter zu rütteln. Noch ahnte er nicht, dass Aiman aus diesem Nickerchen nicht mehr aufwachen würde. Doch noch bevor er den Stuhl erreichte und ihm dies schlagartig bewusst wurde, entdeckte er unter dem Schreibtisch eine Reisetasche. Der geöffnete Reißverschluss gab den Blick auf Geldbündel frei, die aus 1.000-Lira-Scheinen bestanden. Die Tasche war ziemlich groß, und da es sich um Bündel mit jeweils 100.000 Lira handelte, war er sicher, dass dort mehr als zehn Millionen Lira lagen.

1.2

Dschawad zog die Tasche hinter sich her und als er zum Eingang des Gebäudes gelangte, spürte er einen kalten Luftzug durch die geöffnete Glastür streichen. Erst da wurde ihm klar, dass er sich nun entscheiden musste, entweder weiterzugehen oder ins Büro zurückzukehren. In den zwanzig Minuten seit der Entdeckung des Geldes neben dem toten Aiman war seine einzige Sorge gewesen, jemand aus einem der Nachbarbüros könnte ihn dabei beobachten, wie er das Büro mit der Tasche verließ. Doch er hatte Glück gehabt. Nun stand er an der Tür und hatte nur wenig Zeit, eine Entscheidung zu treffen.

Die letzten zwanzig Minuten waren die längsten seines ganzen Lebens gewesen. Dschawad hatte nach dem Schock über Aimans Tod fast automatisch gehandelt. Er hatte ihn an der Schulter gerüttelt, dabei war sein Kopf nach vorn gekippt und er wäre fast vom Stuhl gefallen. Dschawad hatte den Körper eilig und unter großer Anstrengung wieder in seine ursprüngliche Position gebracht. Nachdem ihm das mit viel Mühe gelungen war, griff er sofort nach dem Telefon. Aber wen sollte er anrufen?

Aiman war vor sechs Monaten von seiner dritten Frau geschieden worden. Er hatte die gemeinsame Wohnung verkauft, noch bevor die Scheidungspapiere auf dem Tisch lagen. Seine Frau war in die Wohnung ihrer Eltern zurückgekehrt, zornig über einen erneuten Ehebruch, den sie zufällig entdeckt hatte. Sie war davon ausgegangen, dass er sie nach einer Weile um Verzeihung bitten würde. Er jedoch hatte sie – wie schon die Frauen vor ihr – damit überrascht, dass er die Wohnung verkaufte, damit sie keine Forderungen an ihn stellen und den ihr nach einer Scheidung zustehenden Anteil des Brautgeldes verlangen konnte. Die Wohnung wäre das Erste, was die betrogene Frau aus der verwirrenden Vielzahl von Aimans Besitztümern und Immobilien fordern würde. Dabei wüsste selbst der mächtigste aller Dschinn nicht, wie er in solch ein Labyrinth hineingelangen und wie und mit welchem Ergebnis er wieder aus ihm herauskommen konnte – vorausgesetzt, es würde ihm überhaupt Einlass gewährt.

Sollte er die Familie anrufen? Außer zwei Söhnen von Aimans erster Frau gab es keine Angehörigen. Seine Eltern waren bereits gestorben und seine drei Brüder waren in die USA und nach Europa ausgewandert. Die einzige Schwester, die noch im Land lebte, befand sich mit Aiman in einer offenen Fehde um ein Stück Land, das der Mutter gehört hatte. Aiman behauptete, sie habe ihm dieses Land vor ihrem Tod verkauft, und legte dafür einen von ihr unterschriebenen Kaufvertrag vor. Die Schwester jedoch war der festen Überzeugung, dass der Vertrag gefälscht war. Außerdem hatte Dschawad nicht einmal eine Telefonnummer von ihr. Als Nächstes dachte er daran, die Polizei anzurufen. Er hatte bereits den Hörer in der Hand und war drauf und dran, die Notrufnummer zu wählen. Dann fiel sein Blick auf die Tasche und er zögerte. Das Geld würde ihn einem Verhör durch die Polizei aussetzen, vor allem durch die Kriminalpolizisten, die in kürzester Zeit eintreffen würden. Da sie, wie jedermann wusste, so überaus intelligent waren, würden sie annehmen, dass er Aiman wegen des Geldes vergiftet oder erwürgt hatte. Zumindest im ersten Moment würden sie nicht auf den Gedanken kommen, dass er dann doch sicher mit dem Geld getürmt wäre, niemanden über Aimans Tod informiert und nicht auf die Polizei gewartet hätte. Es würde eine Weile vergehen, bis ihnen ein Licht aufgegangen wäre, denn solch eine logische Schlussfolgerung widerspräche ihren allseits bekannten Fähigkeiten. Sie versuchten verzweifelt, den Leuten Angst einzujagen, um etwas von dem Ansehen zurückzugewinnen, das die verschiedenen Geheim- und Sicherheitsdienste, die weitreichendere Vollmachten und einen weitaus größeren Einfluss hatten als die normale Polizei und die Kriminalpolizei, systematisch untergraben hatten. Bis sie also die richtigen Schlüsse ziehen würden, hätten sie Dschawad aus reinem Vergnügen und um sich an ihm abzureagieren mit ihrem merkwürdigen ›Humor‹ bereits mehrfach gedemütigt.

Dann würde es den Bericht eines Gerichtsarztes geben. Dschawad wusste noch nicht, woran Aiman gestorben war, aber er nahm an, dass es ein natürlicher Tod war, eine Folge von Aimans Maßlosigkeit. Schlechtes Essen, noch schlechtere Frauen, starkes Rauchen, täglicher Alkoholkonsum, hohes Übergewicht und drei verstopfte Arterien, derentwegen man ihm Stents eingesetzt hatte. Man hatte ihn bei jeder Operation ausdrücklich gewarnt, dies könnte die letzte gewesen sein, und die Warnung hatte sich nun offensichtlich bewahrheitet. Aber natürlich wusste Dschawad nicht, ob der Gerichtsarzt zu diesem Ergebnis gelangen würde. Vielleicht kämen noch andere Dinge zum Vorschein und vielleicht würde ihm auch Aimans Tod angelastet?

Er ließ den Hörer sinken und saß eine Weile unschlüssig da. Keiner konnte wissen, dass er zu dieser Zeit hier gewesen war, denn es war doch Mittagspause. Morgens kam er nie ins Büro, da er mindestens bis elf Uhr an seinem eigentlichen Arbeitsplatz sein musste. Die Tätigkeit bei Aiman hatte er zusätzlich angenommen, um seinen Verdienst etwas aufzubessern. Nach elf Uhr ging er entweder ins Büro oder direkt zu einem Kunden. Manchmal, wenn er etwas im Büro zu tun hatte, kam er vor der Mittagspause vorbei, die um zwei begann, andere Male ging er erst nach Hause und kam um fünf in Aimans Büro. Ausgerechnet heute war er tatsächlich um halb zwölf im Büro gewesen. Bevor er sich auf den Weg zu ein paar Kunden machte, informierte er Aiman, dass er am Nachmittag etwas später kommen würde, weil er einen Termin mit einem neuen Kunden hatte. Lamis hatte das gesehen und gehört. Er hatte also ein Alibi und es sollte keine Probleme geben, es sei denn, es hatte ihn jemand aus einem der anderen Büros gesehen. Doch das war ziemlich unwahrscheinlich; die anderen Angestellten aus dem Gebäude waren nur selten während der Mittagspause anwesend. Deshalb musste Dschawad so schnell wie möglich wieder verschwinden und es Lamis überlassen, Aimans Tod zu entdecken und ihren Verwandten Farqad, den Geheimdienstmitarbeiter und Leibwächter des hochrangigen Funktionärs, zu informieren. Dieser würde dann mit seinen Kollegen kommen, noch bevor die Polizei eintraf, und die Sache in die Hand nehmen. Aiman hatte Dschawad schon genug geärgert, als er noch lebte, und Dschawad wollte sich seinetwegen keinem weiteren Ärger aussetzen. Er würde ihn also für weitere zwei Stunden so sitzen lassen und sich damit den Stress ersparen, den selbst der tote Aiman noch für ihn vorgesehen hatte.

Er ging zur Tür und stellte sich die Reaktion von Lamis vor, wenn sie so wie er versuchen würde, Aiman zu wecken. Aiman würde nach vorn kippen und Lamis erschrocken zur Seite springen, dann Farqad anrufen, der sie im Befehlston auffordern würde, nichts anzufassen oder zu tun, bis er einträfe. Dieser ›liebe Verwandte‹, der sich nicht die geringste Mühe gab, sein Interesse an Lamis zu verbergen, würde blitzschnell anrücken, sich als wichtiger Sicherheitsexperte aufspielen und wie ein Pfau vor dem Mädchen spreizen. Er war nämlich hinter Lamis her, wie Dschawad von Aiman gehört hatte, und würde sich vielleicht sogar von seiner Frau scheiden lassen, um sie zu heiraten. Das war vermutlich auch der Hauptgrund dafür, dass Aiman selbst im Traum nicht daran gedacht hatte, sich Lamis zu nähern. Und mit diesem vielen Geld würde es sicher eine sehr glückliche Ehe werden! Bei dem Gedanken an das Geld zu Aimans Füßen hielt Dschawad an der Bürotür inne und kehrte ins Zimmer zurück.

1.3

Die Sache bedurfte keines langen Nachdenkens. Farqad würde sofort nach seiner Ankunft die Tasche entdecken und schnellstens und mit erwartbarem Ausgang die Situation einschätzen. Da musste man gar nichts Böses denken. Einerseits wusste er aufgrund seiner Arbeit beim Geheimdienst und seiner Beziehungen sicher viel mehr über Aiman als Dschawad. Hinzu kam, dass Lamis seit etwa einem Jahr im Büro arbeitete. Das dürfte genügt haben, ihn mit immer neuen Informationen zu versorgen. Er würde also zur gleichen Schlussfolgerung gelangen wie Dschawad. Keiner war Aiman nah genug gewesen, um seine wahren Besitzverhältnisse zu kennen. Und wenn es doch jemanden gab, der von dem Geld wusste, dann verfügte diese Person ganz sicher nicht über die Beziehungen, die sie vor einer unangenehmen Situation und einem Verhör über die Herkunft dieses Geldes schützen würden. Farqad würde die Tasche an sich nehmen und in sein Auto legen, bevor er die Kriminalpolizei rief. Er hatte nämlich andererseits als Mitarbeiter des Geheimdienstes nicht nur die notwendige Deckung, zu tun und zu lassen, was er wollte. Er wäre auch vollends davon überzeugt, dass alle außer denen, die mit ihm zusammenarbeiteten, bestenfalls ein Stück überflüssiger Dekoration waren, derer man sich entledigen konnte, wenn sie einem im Weg stand. Und sollte zufällig jemand von dem Geld wissen, das Aiman zum Zeitpunkt seines Todes bei sich hatte, wäre er sicher nicht so dumm, es auch nur mit einem Wort zu erwähnen, wenn er erführe, dass Farqad, dieser Esel, es an sich genommen hatte.

Nun könnte sich Dschawad entscheiden, die Polizei zu rufen, um ihm keine Gelegenheit zu geben, das Geld mitzunehmen. Dann könnte er nach jemandem suchen, der zusammen mit ihm als Zeuge für Aimans Ableben und die im Büro vorhandenen Dinge auftreten würde – wenn überhaupt gerade einer der ihm bekannten Mitarbeiter der benachbarten Büros anwesend war und er ihn zu Hilfe rufen könnte. Doch diese Person wäre sicher nicht weniger beunruhigt als Dschawad und fände schnell einen Vorwand, um sich aus der Affäre zu ziehen. Am Ende würde sich alles um diese Tasche drehen, und alle würden den toten Aiman vergessen und ihn vielleicht auf dem Stuhl sitzen oder zu Boden fallen lassen. Wer weiß denn, ob die Kriminalpolizisten nicht genauso wie Lamis’ Verwandter darüber nachdenken würden, wie sie an das Geld kommen und sich Dschawads und der Person entledigen konnten, die das Pech dazu gebracht hatte, Dschawad in dieser außerordentlich unerquicklichen Situation beizustehen?

Vielleicht aber, und auch das war nicht ausgeschlossen, wenn man die allgemein bekannte Korruptheit der Polizei berücksichtigte, würden sie Dschawad anbieten, das Geld mit ihm zu teilen, und es im Protokoll nicht erwähnen. Doch auch dann wäre Dschawad nicht gerettet. Sobald der Fall abgeschlossen wäre, würden sie versuchen, ihm so viel wie nur möglich von seinem Anteil wieder abzunehmen und ihn vielleicht sogar aus dem Weg zu räumen.

Das waren nicht nur die Halluzinationen eines Menschen, der einen plötzlichen Schock erlitten hatte. Genauso würde jeder denken, der sich in einer ähnlichen Situation wie Dschawad befand und es mit den Muchabarat zu tun bekam. Diese syrischen Geheimdienste versuchten genau solche Angstvorstellungen in den Köpfen der Menschen zu erzeugen und die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Einbildung zu verwischen. Am Ende war es schwierig zu wissen, ob man zu den rechtschaffenen Bürgern oder zu den Kriminellen gerechnet wurde. Im letzteren Fall war gerade unter Assads Herrschaft klar, was einem blühte. Man würde dem Regime dazu dienen, ein Exempel zu statuieren, und mit allen nur erdenklichen Mitteln fertiggemacht werden. Einundvierzig Jahre lang waren die Muchabarat so vorgegangen. Sie hatten ein Volk geschaffen, das im Gefühl ständiger, unentrinnbarer Besatzung lebte. Wer glaubt, dass sie ihre Methoden mit der Zeit mehr ausfeilten, der irrt. Vom ersten Moment der Machtergreifung durch Hafez al-Assad an konnten sie zu jeder beliebigen Zeit tun und lassen, was sie wollten und mit wem sie es wollten.

1.4

Noch immer zog ein kalter Luftzug von der gläsernen Eingangstür durch das Gebäude. Der Schweiß, der über Dschawads Körper lief, ließ ihn die Kälte noch mehr spüren. Er hätte das Geld dort liegen lassen und unbemerkt hinausgehen können. Sollten sie doch machen, was sie wollten. Es war nur wichtig, dass er aus dieser ganzen Sache herauskam und nicht mit ihr in Verbindung gebracht wurde. Aber wer sagte denn, dass er nichts mit ihr zu tun hatte? Er wusste alles. Und er wusste, dass die Millionen, die er jetzt hinter sich herzog, nie zu ihren eigentlichen Besitzern, Aimans Erben, gelangen würden. Wahrscheinlich hatten sie ohnehin keine Ahnung von ihrer Existenz, weil Aiman alles immer so geschickt verborgen hatte. Zugleich konnte Dschawad jedoch nicht ignorieren, dass er nach einer neuen Arbeit bei einem neuen Aiman würde suchen müssen, die mit neuen Scherereien und Demütigungen einherginge.

Die Gelegenheit, seinem Leben eine neue Richtung zu geben, konnte er nicht ungenutzt lassen. Vielleicht brauchte er, der noch nie festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, einfach nur etwas Mut, um in die Luft zu springen und mit beiden Beinen sicher auf dem Boden zu landen. Mit einer Hand zog er den Reißverschluss seines Anoraks zu, mit der anderen schleifte er die Tasche hinter sich her und setzte seinen Weg zum Ausgang fort. Es war ein kalter Februartag und er hatte das Gefühl, einen großen Kühlschrank zu betreten.

KAPITEL2

2.1

Lamis durchkreuzte seinen Plan, kurz nach 18 Uhr im Büro zurück zu sein. Er wollte gerade das Gebäude betreten, in dem sich das Büro des Kunden befand, als sein Handy klingelte. Das war gegen 17.15 Uhr. Auf dem Display erschien Lamis’ Name. Er erschauderte ein wenig und entschied sich, nicht zu antworten und sich später mit seinem Kundenbesuch herauszureden. Er lief auf den Fahrstuhl zu, doch das Handy klingelte hartnäckig weiter. Es war nicht schwer, den Grund dafür zu erraten. Er beschloss, nun doch zu antworten und zu behaupten, er sei gerade im Büro des Kunden. Doch Lamis ließ ihm noch nicht einmal Zeit für ein »Ja, bitte?«. Schluchzend bat sie ihn, sofort ins Büro zu kommen. Er hatte auch keine Gelegenheit, irgendeine Frage zu stellen, denn sie überfiel ihn sofort: »Aiman ist getötet worden!«, dann brach sie weinend zusammen. »Beeil dich!«, sagte sie nur noch, bevor sie den Anruf beendete.

In solch einer Situation konnte er keine Entschuldigung mehr für eine Verspätung finden. Stattdessen musste er so schnell wie möglich ins Büro gelangen, das etwa zehn Minuten zu Fuß entfernt war. Auf dem Weg dorthin wunderte er sich über Lamis’ Worte: Er ist getötet worden! Insgeheim spottete er über ihre ›Geheimdienstfantasie‹. Wenn man sich aber überlegte, aus welcher Familie sie kam, war es eigentlich nicht verwunderlich, dass sie sofort auf diese Idee gekommen war. Nicht nur ihr Verwandter Farqad, sondern mindestens die Hälfte der Familie ging der gleichen ›Arbeit‹ nach. Aber warum hatte sie so sehr geweint? Vielleicht war es ihre erste Reaktion gewesen, als sie den toten Aiman gesehen hatte. Er kannte Lamis sehr gut. Sie würde sich schnell wieder fangen. Sie konnte sehr beherrscht sein, wenn sie wollte, aber auch richtig wütend. Sie wusste ganz genau, was andere Leute dachten, vor allem aber, was sie über sie dachten. Deshalb wahrte sie immer eine gewisse Distanz zu ihnen, ohne jedoch zu verbergen, dass sie ihre Gedanken kannte.

Für Dschawad war es anstrengend, ihr täglich im Büro zu begegnen. Die Reize ihres schlanken Körpers kamen zur Geltung, ohne dass sie es besonders darauf anlegte. Ihre Kleidung war einfach, wirkte an ihr jedoch sehr elegant, und der Schmuck, den sie trug, machte sie nur noch attraktiver. Sie benahm sich ungezwungen und ohne besondere Zurückhaltung, solange ihr Gegenüber die notwendige Distanz wahrte. Dschawad war darum bemüht, diese Distanz auch im wahrsten Sinne des Wortes einzuhalten. Lamis musste nur ein paar Schritte auf ihn zu machen, wenn sie mit etwas beschäftigt war, oder ihm zufällig im Vorraum oder in seinem Zimmer begegnen, da begann dieser unbeschreibliche Duft auf ihn zu wirken. War es der Duft einer Frau, die gerade gebadet hatte? In welchem Wasser hatte sie gebadet? War es Rosenwasser oder badete sie gar in Rosenblättern? Er wusste es nicht. Ihm genügte, dass ihm für ein paar Augenblicke schwindlig wurde, und er entfernte sich schnell. Lamis aber reagierte darauf mit diesem ebenso unbeschreiblichen Lächeln. War es ein listiges Lächeln oder ein spöttisches? Oder gar ein mitleidiges? Er wusste so wenig über diese junge Frau, die sein Herz und seinen Kopf erobert hatte.

Lamis ertrug es nicht, wenn man sie unterschätzte. Obwohl sie nur eine Ausbildung zur Sekretärin absolviert hatte, tat sie, ohne zu zögern, was immer man ihr auftrug. Eines Tages überraschte sie Dschawad mit etwas, das er nicht von ihr verlangt und erst recht nicht erwartet hatte. Aiman hatte gemeinsam mit Farqad, der von seinem Chef einen Tipp bekommen hatte, einer mittelmäßig einflussreichen Person ein großes Geschäft mit Mobiltelefonen abgejagt. Vielleicht war das eine erste Prüfung für Aiman, bevor man ihn in den ›Hofstaat‹ des Chefs aufnahm, so wie er es sich seit Langem erträumt hatte. Zu jener Zeit war er seinem Traum schon merklich nähergekommen. Dschawad hatte vorgeschlagen, eine Werbekampagne zu starten. Als Aiman das hörte, wäre er fast vom Stuhl gefallen. Dschawad hatte schnell hinzugefügt, er habe etwas ganz Einfaches im Kopf. Er wolle nur eine Broschüre mit allen Modellen und ihren Produktdaten drucken und sie an Geschäfte verteilen, die sie dann ihren Kunden mitgeben würden. Weil Dschawad wusste, dass diese letzten Worte Aiman zu dem üblichen Schwall an Flüchen veranlassen würden, in denen er sich über ein räudiges Volk ausließ, das jemanden brauchte, der den Leuten die Eier massierte, damit sie zwei Lira ausfurzten, ging er aus dem Zimmer. Ihm war klar, dass Aiman nicht genügend Handys verkaufen und damit äußerst unzufrieden sein würde. Sollte er von ihm aus doch Verluste machen und sich dann zu Dreck ärgern, schließlich war er der Geizkragen und würde den Preis dafür bezahlen. Doch zu Dschawads Überraschung hielt ihn Aiman zurück und willigte in seinen Vorschlag ein. Als er sich ungläubig zu ihm umdrehte, erklärte Aiman mit einem listigen Lächeln, es gäbe da jemanden, der ihm Geld schuldete und bis jetzt nur ein Viertel davon zurückzahlen konnte. Dieser Mensch besaß eine Druckerei und Aiman würde mit ihm vereinbaren, die von Dschawad vorgeschlagene Broschüre zu drucken.

Die nächste Überraschung wartete in Dschawads Büro auf ihn. Kaum hatte er es betreten, kam Lamis herein und legte einen Stapel Blätter auf seinen Tisch: Sie habe diesen Vorschlag erwartet und schon einmal sämtliche Broschüren der Firma, die die Handys exportierte, aus dem Englischen übersetzt. Wie gewöhnlich gab sie ihm keine Gelegenheit zu einer Antwort, doch er wäre ohnehin nicht dazu fähig gewesen. Sie ging mit eben jenem Lächeln wieder hinaus, das ihm zu verstehen gab, sie kenne seine unausgesprochenen Gedanken. Ihr Duft blieb im Raum zurück. Und in diesem Moment dachte Dschawad ernsthaft darüber nach, aus dem Fenster hinter seinem Schreibtisch zu springen …

2.2

Als er das Bürogebäude betrat, überlegte Dschawad, wer wohl auf ihn warten würde. Höchstwahrscheinlich hatte Farqad noch nicht die Kriminalpolizei geholt. Vielleicht, weil ihm alles sehr verdächtig vorkam, so wie er und seinesgleichen instinktiv alles verdächtig fanden, und er beschlossen hatte, zuerst Dschawad kommen zu lassen, um ein paar Nachforschungen anzustellen und sich vor Lamis noch mehr aufzuplustern. Bevor er auf den Fahrstuhlknopf drückte, blieb Dschawad wie angewurzelt stehen. »Er ist getötet worden!«, hatte Lamis gesagt. Hatte Farqad ihr gegenüber vielleicht den Verdacht geäußert, Dschawad könnte das getan haben, nachdem er erfahren hatte, dass Lamis und Dschawad die Einzigen waren, die Schlüssel für das Büro hatten? Was wollte dieser Bastard eigentlich von ihm?? Am Ende käme ihm noch in den Sinn, Dschawad auf einen Ausflug zu einem Geheimdienstbüro mitzunehmen, um etwas Unterhaltung zu haben und sich wichtigzutun, bevor der Bericht des Gerichtsarztes vorläge, von dem noch nicht klar war, wie er ausfallen würde. Und wer weiß, vielleicht würde man auf die Idee kommen, das Zimmer zu durchsuchen, in dem er die Tasche versteckt hatte, und dann würde die Unterhaltung in eine Sache der nationalen Sicherheit umschlagen! Dschawad stand wie erstarrt da und überlegte für einen Augenblick, einfach zu verschwinden. Aber wohin? Es würde die Sache nur noch schlimmer machen. In diesem Moment kam ihm ein Besucher zu Hilfe, der das Gebäude betrat und den Fahrstuhl rief. Dschawad ging mit hinein und wählte – wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Galgen – automatisch die Etage aus, auf der sich das Büro befand.

Als er seinen Kopf aus der Fahrstuhltür steckte, gewann er etwas von seinem Gleichgewicht zurück. Seine trockene Kehle schmerzte ein wenig, als er versuchte, seinen Speichel zu schlucken. Vor der geöffneten Bürotür standen mehrere Personen. Er hörte jemanden weinen und erkannte Nadias Stimme. Ihr Weinen hatte die Leute aus den Nachbarbüros herbeigerufen, und Dschawad wurde klar, dass es Farqad nicht möglich sein würde, mit ihm allein zu sein.

Mit unsicheren Schritten lief er aufs Büro zu. Die Umherstehenden drehten sich zu ihm um. Einer kam auf ihn zu und drückte ihm sein Beileid aus. Er nickte automatisch, ohne darauf zu achten, welcher der Büronachbarn ihn angesprochen hatte, und beeilte sich, ins Büro zu kommen.

Die Erste, die er sah, war Nadia. Sie hatte Blutergüsse unter den Augen. Er wunderte sich darüber, bis er sah, dass es nur die Wimperntusche war, die unter ihren Tränen verlaufen war. Weinend lief sie auf ihn zu: »Sie haben Herrn Aiman getötet … getötet haben sie ihn!« Da wusste er, wer das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, doch das war nicht weiter verwunderlich. So ein unerschrockener Liebhaber wie Aiman konnte nicht einfach eines natürlichen Todes gestorben sein. Er musste schon getötet worden sein und am besten noch durch einen rivalisierenden Liebhaber. Dschawad versuchte, ein Lächeln zu verbergen, das sich auf seinem Gesicht breitmachte – nicht wegen dieses witzigen Einfalls, sondern weil Nadia sich so seltsam benahm, verwirrt und komisch zugleich. Er wusste nicht, ob sie wirklich traurig war oder nur so tat und es ihr nicht wirklich gelang. Doch er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn sobald seine Augen auf Lamis fielen, vergaß er Nadia und all die anderen.

Lamis saß wie gewöhnlich völlig still an ihrem Schreibtisch. Als sie aufblickte, sahen sie – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – einander in die Augen. Man sah, dass sie geweint hatte, aber es gab keine Spuren von Wimperntusche. Sie stand auf und ging auf ihn zu. Er war etwas verlegen. Ihre Bewegung ließ eindeutig erkennen, dass sie sich an seiner Schulter ausweinen würde, wenn er sie in die Arme nähme, so sehr war sie an seine Anwesenheit gewöhnt. Er überlegte, das tatsächlich zu tun, doch sogleich fiel ihm Farqad ein. Dschawad wandte die Augen von dem Meer ab, in dem er fast ertrunken wäre, und suchte nach einem Rettungsanker. Das hätte selbst der Esel von einem Verwandtem sein können, aber von dem war weit und breit keine Spur! Dschawads Blick fiel auf die Tür zu Aimans Büro. Sie war verschlossen, und er vermutete, dass Farqad dort drin war. Doch Nadias Chef, der in der Nähe der Tür saß, erklärte, sie hätten sie bis zum Eintreffen der Kriminalpolizei verschlossen. Dschawad drehte sich zu Lamis hin, um nach ihrem Verwandten zu fragen. Sie war inzwischen nah an ihn herangetreten und erweckte nicht gerade den Eindruck, als wolle sie irgendwelche Fragen beantworten. Sie brauchte einfach nur jemanden, der sie tröstete. Ihre Trauer um Aiman war jedenfalls verständlich, denn dieser Mann hatte sich trotz all seiner schlechten Eigenschaften ihr gegenüber freundlich und großzügig benommen, wie es kein anderer von ihm erlebt hatte. Ohne zu überlegen, fasste Dschawad sie an der Schulter und geleitete sie behutsam zu einem Stuhl neben ihrem Schreibtisch. Sie ergab sich seiner Bewegung mit solch überwältigender Bereitwilligkeit, dass er nicht wagte, die Hand, mit der er sie zum ersten Mal berührte, zurückzuziehen. Er hockte sich vor sie hin, die Hand noch immer auf ihrer Schulter, ohne zu wissen, was er tun sollte. Seine einzige Rettung bestand darin, so zu verharren und zu hoffen, sich in eine steinerne Statue zu verwandeln, doch da trafen die Männer von der Kriminalpolizei ein … endlich.

2.3

Die Sache zog sich wie erwartet in die Länge. Unerwartet aber war, dass Lamis ihren Verwandten nicht angerufen hatte. Dschawad war der Erste, mit dem sie gesprochen hatte, nachdem sie Aiman entdeckt, aufgeschrien und dadurch Nadia herbeigerufen hatte.

Die Kriminalpolizisten versiegelten nach ihrer Ankunft das Büro. Zwei von Aimans Neffen, die einer der Büronachbarn angerufen hatte, waren als Zeugen dabei. Dann erlaubten die Polizisten allen, den Ort zu verlassen, auch Lamis, nachdem man von ihr sowie von einigen der Anwesenden aus den benachbarten Büros persönliche Daten und Aussagen aufgenommen hatte. Aimans Neffen und Dschawad wurden aufgefordert, mit zur Kriminaldirektion zu kommen, um dort die Vernehmung fortzusetzen. Der Leichnam wurde zur ärztlichen Obduktion in die Leichenhalle gebracht. Lamis jedoch weigerte sich, nach Hause zu gehen, und beschloss stattdessen, Dschawad aufs Revier zu begleiten.

Dschawad vermutete, dass sie ihm helfen wollte. Wenn ihm irgendetwas passierte, würde sie ihre Beziehungen nutzen und ihn aus der Misere befreien. Doch sie machte nicht die geringste Andeutung, die seine Vermutung bestätigt hätte. Die einzige ›Instanz‹, die Lamis anrief, war ihre Mutter, die sie darüber informierte, dass sie später nach Hause kommen würde, weil Herr Aiman gestorben und sie nun bei der Kriminalpolizei war, um eine Zeugenaussage zu machen. Als Lamis eine Weile still zuhörte, nahm Dschawad an, dass die Mutter ihr Hilfe anbot, doch sie antwortete mit einem Blick auf ihn: »Nein, Mama, Dschawad bringt mich nach Hause.«

Oberstleutnant Muwaffaq, den man herbeigerufen hatte, war sichtlich über seinen Stellvertreter verärgert. Der – so hatte man ihm am Telefon gesagt – wusste nicht, wie er ein übliches Verhör, das einen ganz normalen Todesfall betraf, zu führen hatte. Doch Lamis wandte deutlich hörbar ein, der Stellvertreter könne, das habe er ihnen erklärt, das Verhör ohne die Unterschrift des Oberstleutnants gar nicht abschließen. Es sei auch nicht rechtens, Dschawad eine ganze Nacht in der Dienststelle festzuhalten. Diese Worte erstaunten nicht nur den Oberstleutnant und Aimans Neffen, die am anderen Ende des Korridors saßen, sondern vor allem Dschawad.

Zuletzt entschied Oberstleutnant Muwaffaq, den Vorgang bis zum Eintreffen des Obduktionsberichts noch nicht abzuschließen. Er hatte den Arzt angerufen und dieser hatte ihm erklärt, die bisher vorliegenden Informationen deuteten auf einen natürlichen Tod hin, er brauche aber noch bis zum Mittag des nächsten Tages, um die Obduktion des Leichnams zu beenden und ihm den Bericht zu senden. Oberstleutnant Muwaffaq ließ Aimans Neffen nach Hause gehen, nachdem ihr Anwalt eingetroffen war und sie ihren Aufenthaltsort mitgeteilt hatten. Dschawad jedoch sollte bis zum Eintreffen des Abschlussberichts in Polizeigewahrsam bleiben, obwohl aus seinen und Lamis’ Aussagen klar hervorgegangen war, dass sich keiner von beiden zur Mittagszeit im Büro aufgehalten hatte. Dschawad hatte das Büro zweieinhalb Stunden vor Lamis verlassen und Aiman war eine halbe Stunde nach Dschawad weggegangen. Als Lamis das Büro verließ, war es leer. Diese Aussagen stimmten mit denen von Nadias Chef überein, der seine Aussage noch im Büro gemacht hatte. Er habe Aiman zur genannten Zeit beim Verlassen des Büros gesehen und anschließend mit ihm den Fahrstuhl zum Parkdeck im unteren Geschoss des Gebäudes genommen.

Dschawad wurde zur Gewahrsamszelle der Polizeistation geführt, während Lamis mitten auf dem Korridor allein zurückblieb und ihm mit Tränen in den Augen hinterhersah, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. In diesem Moment vergaß er alles – die Tasche, Aiman, den Verwandten und den Bericht des Gerichtsarztes, und zum ersten Mal, seit er Lamis kannte, fühlte er, dass er mit ihr mehr teilte als mit irgendeinem anderen Menschen, den er im Laufe seines Lebens kennengelernt hatte. Sie war einsam, ganz einfach nur einsam …

2.4

Noch bevor Dschawad am nächsten Morgen ins Büro von Oberstleutnant Muwaffaq gerufen wurde, der wie immer erst später erscheinen würde, und noch bevor jemand von seiner Familie kam, war Lamis bereits da. Er konnte sie zwar nicht sehen, aber er hörte ihre Stimme, als sie den Polizisten zurechtwies, der ihr nicht erlauben wollte, zu seiner Zelle zu gehen, um mit ihm durch die Öffnung in der Zellentür zu sprechen. Zum ersten Mal seit Langem lachte er und verspürte den unbändigen Wunsch, sie in die Arme zu nehmen. Zu seinem eigenen Erstaunen verwirrte ihn dieser Gedanke keineswegs. Ganz anders als in den vergangenen Monaten, wenn er ähnliche Gedanken gehabt hatte, nicht nur, nachdem er sich nach ein paar Pornofilmen heftig selbst befriedigt hatte, sondern immer dann, wenn seine Gedanken zu Lamis gegangen waren. Erst jetzt, als es ihm unmöglich war, sie tatsächlich in die Arme zu nehmen, erkannte er, wie sehr er sich danach gesehnt hatte und dass es dieser Wunsch gewesen war, der ihn verwirrt hatte. Aber zum ersten Mal spürte er auch, dass er jene Distanz überwinden konnte, die er sich selbst auferlegt hatte.

Die Nacht war anstrengend gewesen. Er konnte immer nur für ein paar Augenblicke schlafen. Seine Gedanken drehten sich darum, was nun alles passieren könnte. Er dachte an den Obduktionsbericht, an die Tasche in seinem Zimmer, an Oberstleutnant Muwaffaq, einen offensichtlich bösartigen Menschen, dem es vielleicht einfallen konnte, zu ihm nach Hause zu gehen und sein Zimmer zu durchsuchen, an einen Zeugen, der plötzlich auftauchen und sagen könnte, dass er aus der Ferne gesehen hatte, wie Dschawad während der Mittagspause ins Büro gegangen war, oder der ihn beim Hinausgehen beobachtet hatte. Es war eiskalt gewesen in dieser Nacht. Die wenigen Decken hatten diejenigen, die schon länger in der Zelle waren, untereinander aufgeteilt. Er und die anderen Neuankömmlinge mussten sich mit dem begnügen, was sie auf dem Leib hatten.

Nachdem man Dschawad in die Zelle gesteckt hatte, wurden noch weitere Gefangene hereingebracht. Die Neuen und die schon länger Einsitzenden fragten einander, ob jemand Zigaretten hatte. Ansonsten drehten sich die Gespräche in kurzen Worten darum, weshalb man an diesem Ort war. Nachdem jeder bekräftigt hatte, es handele sich bei ihm nur um einen Verdacht, wurde schnell klar, dass es bei allen Anschuldigungen um Diebstahl oder Schlägereien ging. Als Dschawad an der Reihe war, sagte er nur, er sei Zeuge bei einem Todesfall gewesen, und erwartete Gelächter. Zu seiner Überraschung musste er hören, dass auch andere Gefangene Zeugen von irgendwelchen Vorfällen gewesen und nun bereits die zweite Woche im Gefängnis waren. Das waren keine guten Aussichten! Dann begannen einige, versteckte Anspielungen auf die Notwendigkeit zu machen, sich eine wirklich einflussreiche Person zu organisieren, die intervenieren würde, um die Untersuchungen schnellstmöglich zu beenden. Als Dschawad den Obduktionsbericht erwähnte, lachten einige. Einer sagte: »Den kannst du dir abschminken« und meinte, das Versprechen, die Obduktion am nächsten Tag zu beenden, würde frühestens nach einem Monat erfüllt, wenn nicht noch später. Ein anderer fügte hinzu, der Gerichtsarzt sei schließlich auch nur ein Staatsdiener und wo gäbe es denn Staatsdiener, die ihre Arbeit in einer angemessenen Zeit und mit voller Zuverlässigkeit verrichteten, ohne vorher ›geschmiert‹ worden zu sein. Die letzten Worte machten die Lage für Dschawad nur noch schrecklicher. Er versuchte, die schlimmen Gedanken zu vertreiben, und sagte, als spräche er mit sich selbst, der Oberstleutnant Muwaffaq habe versprochen, die Sache am nächsten Tag abzuschließen. Als er den Namen erwähnte, brachen endgültig alle in Gelächter aus. Er war offensichtlich allen in der Zelle bekannt. Da näherte sich ihm einer der Männer und erklärte leise, er solle gut aufpassen und nichts bezahlen, bevor er sich nicht davon überzeugt hätte, dass die Untersuchung tatsächlich am Tag nach der Zahlung beendet werden würde. Das Geld würde am Ende auf jeden Fall bei Oberstleutnant Muwaffaq landen und deshalb solle er sich auf ihn konzentrieren und ihm lieber gleich den gesamten Betrag geben, anstatt an mehreren Stellen kleinere Beträge zu verteilen. Denn letzten Endes lag die Entscheidung bei ihm und nicht bei einem der anderen, die vorgaben, ihm helfen zu können.

Die Männer wandten sich nun einzelnen Gesprächen und ihren eigenen Sorgen zu und ließen ihn allein mit seiner Angst, die immer größer geworden war, seit er die Gewahrsamszelle betreten hatte. Allein der Gedanke an Lamis mit ihrem Duft bescherte ihm etwas Schlaf. Er wünschte sich von ganzem Herzen, sie würde die Erste sein, die ihm beim Verlassen dieses Hühnerstalls begegnete. Und so war es nun tatsächlich. Ihre Augen sahen etwas müde aus; es war deutlich, dass auch sie die letzte Nacht nicht gut geschlafen hatte. Doch sie eilte strahlend auf ihn zu, sobald sie ihn erblickt hatte. Das überwältigte ihn und er fühlte sich endlos glücklich.

Die Maßnahmen für die Entlassung dauerten nicht lange. Das überraschte ihn, aber diesmal brachte er es nicht mit Lamis’ Beziehungen in Verbindung. Aimans Neffen waren in Begleitung ihres Rechtsanwalts gekommen, der auf einen Ordner in seiner Hand deutete. Er enthielt eine Kopie des Obduktionsberichts. Als Dschawad das hörte, entspannten sich seine Gesichtszüge etwas, zumal er von dem Rechtsanwalt erfuhr, Aiman habe einen Schlaganfall erlitten. Wie ihm später klar wurde, hätte Aimans Schwester nicht zugelassen, dass ihre Söhne wegen des Todes ihres Bruders noch länger festgehalten wurden, auch wenn das für sie nur bedeutet hätte, sich zu Hause aufzuhalten. Außerdem konnte man nicht über das Erbe verfügen, solange die Sache nicht abgeschlossen war, und diese Erbschaftsangelegenheit war ohnehin schon mit Komplikationen verbunden, die viel Zeit und Mühe verlangen würden und keinen Aufschub vertrugen. Denn es gab da auch noch Aimans erste Ehefrau und seine beiden Söhne sowie drei Brüder, und alle wollten wissen, wie viel Aiman wirklich hinterlassen hatte, damit man es untereinander aufteilen konnte. Als Oberstleutnant Muwaffaq später wieder in seinem Büro saß, war ihm deutlich der Ärger darüber anzumerken, dass alles so schnell gegangen war. Offensichtlich waren die Beziehungen des Ehemanns von Aimans Schwester größeren Kalibers, als Dschawad und auch Muwaffaq erwartet hatten. Deshalb wurde Dschawad freigelassen, und er verließ das Gefängnis in Begleitung von Lamis und seinem Bruder Jasir, der eingetroffen war, als die ganze Sache fast schon vorüber war.

Jasir arbeitete als Abteilungsleiter in der Staatlichen Verwaltung für Mühlen. Er war so sehr von der Bedeutung seiner Position eingenommen, dass er vom Augenblick, in dem er Muwaffaqs Büro verließ, bis zum Moment, als er die Tür des Polizeireviers erreichte, nur davon sprach, welch große Anstrengungen es ihn gekostet hatte, seine wichtigen und verantwortungsvollen Aufgaben liegen zu lassen und mit dem Dienstwagen hierherzukommen. An der Tür sagte ihm Dschawad, er würde allein nach Hause gehen und Jasir könne deshalb zu seiner Arbeit zurückkehren. Dieser fuhr davon, jedoch nicht, ohne Lamis vorher einen prüfenden Blick zuzuwerfen. Dschawad musste sich nicht sehr anstrengen, um zu sehen, dass Jasir sich sofort ein Urteil über sie gebildet hatte, so wie er es bei jeder hübschen jungen Frau tat, auf die seine Augen fielen. »Eine Alawitin«, war schlicht und einfach sein Urteil. Damit kompensierte er, wie Dschawad ganz genau wusste, einen Minderwertigkeitskomplex, denn bei Jasir zu Hause saß eine zweite Nadia.

Auf der Straße vor dem Revier drehte sich Lamis lächelnd zu Dschawad um. Sie werde ihn sofort nach Hause gehen lassen und ihn auch von seinem Versprechen vom Vortag entbinden, sagte sie. Mit einem noch breiteren Lächeln sah er sie an: Welches Versprechen meine sie denn? »Hm, du hast also vergessen, dass du mir gestern versprochen hast, mich nach Hause zu bringen«, antwortete sie. Da lachte Dschawad erleichtert auf und blickte auf die lächelnde Lamis. Ihr Lächeln war weder listig noch spöttisch noch mitleidig. Es war einfach nur das wunderschöne Lächeln einer außergewöhnlich schönen Frau.

KAPITEL3

3.1

Auf dem Weg nach Hause rief Dschawad seine Schwester Buschra an, um sie zu beruhigen. Zu seiner Überraschung war sie gerade in einem Büro für Geldtransfer. Zuerst verstand er nicht, was sie dort wollte, als sie aber erwähnte, sie begleite Adil, den Sohn von Dschawads und Buschras Bruder Nabil, begriff er, dass dieser nicht nur schnell, sondern auch effektiv gehandelt hatte. Ganz sicher hatte er mit seinem Vater in Doha telefoniert und ihn gebeten, sofort Geld zu schicken, um Dschawads Problem zu lösen. Adil hatte genau das getan, was erforderlich war, und nach dem, was Dschawad in der Zelle gehört hatte, wäre nur er in der Lage gewesen, ihm zu helfen.

Adils Reaktion überraschte Dschawad tatsächlich. Er hatte sie nicht erwartet, aber das war es nicht allein. Adil hatte auch schneller als alle anderen begriffen, in welcher Klemme Dschawad steckte. Woher wusste er das nur? Er hatte nur die ersten drei Jahre seines Lebens im Land verbracht und war dann mit seinem Vater nach Doha gezogen, wo er bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr blieb. Vor zwei Jahren war er zurückgekehrt, um an der Universität Damaskus zu studieren. Genügten zwei Jahre, um zu erfassen, in welcher Situation die Leute in Syrien lebten? Dschawad lachte in sich hinein und dachte, dass dafür bereits ein paar Stunden genügten, in denen man sich nicht einmal in Syrien aufhalten müsste. Schon ein Treffen mit einem Syrer, der zu sagen wagte, was er dachte, reichte aus, um die katastrophale Lage zu erkennen. Und dann war Adil ohnehin ein besonderer Mensch. Er hatte sich seit seiner Kindheit sehr verändert. Allerdings waren die gemeinsamen Besuche mit seinem Vater Nabil in Damaskus zu kurz gewesen, als dass Dschawad diese Veränderung mit eigenen Augen hätte beobachten können.

Hatte das Leben in Doha Adil so verändert? Konnte es einen Menschen überhaupt grundlegend verändern? Manche Leute, die dort gelebt hatten, kamen mit der Erkenntnis zurück, die Region sei ganz im Gegensatz zu ihrem Klima wie ein Kühlschrank. Vom Augenblick der Ankunft bis zur Rückkehr in die Heimat bleibe man, wie man war. Man lebte nur im Heute, denn in einem Land, in dem man lediglich als ausländische Arbeitskraft behandelt wurde, konnte man sich nicht wirklich etwas Neues aufbauen, selbst wenn man ein ganzes Leben dort verbrächte. Und wenn man so blieb, wie man war, konnte man noch von Glück sagen. Denn eine Veränderung konnte durchaus eine zum Schlechteren sein.

Nabil war ein anschauliches Beispiel für solch eine negative Entwicklung. Das betraf nicht nur sein Aussehen – er hatte einen auffällig großen Bauch bekommen und war deutlich gealtert, was man noch damit erklären konnte, dass das Altern eben seinen eigenen Gesetzen folgte. Er hatte sich auch sehr zurückgezogen und war von einem Tag auf den anderen in einer Weise religiös geworden, die keinen Zweifel daran ließ, dass dieser Mann eine große Last zu tragen hatte, für die er andere, und ganz besonders seine Brüder, verantwortlich machen wollte. Allen war klar, dass diese übertriebene Frömmigkeit ein vorübergehendes Phänomen sein würde. Vielleicht spielte dabei eine Rolle, mit wem er Umgang pflegte und wie er in einer Umgebung wahrgenommen werden wollte, von der er nicht genau wusste, wie ernst sie solche Dinge nahm. Die Furcht vor dieser neuen Umgebung belastete ihn, veranlasste ihn zur Übertreibung und bereitete ihm und den Menschen um ihn herum Stress. Der neue Nabil war sehr anstrengend für seine Brüder und so waren sie froh, dass seine niederträchtige Frau, die Nabils Familie nichts gönnte, darauf bestand, während der regelmäßigen Besuche in Syrien bei ihrer eigenen Familie unterzukommen. So mussten die Brüder nur dann ein paar Stunden mit ihm verbringen, wenn er das Haus seiner Familie aufsuchte.

Als Nabil entschied, Adil, der zum Studium nach Damaskus kam, sollte im Haus seines Großvaters väterlicherseits wohnen, richtete sich Dschawads und Buschras Unmut nicht nur gegen Nabil, sondern auch gegen Adil. Zu diesem Zeitpunkt kannten sie ihn noch nicht gut genug, um zu wissen, dass er anders war als sein Vater, den die beiden nicht sonderlich mochten, und sie wussten auch nicht, dass Adil nichts mit der Entscheidung seines Vaters zu tun hatte. Warum sollten sie noch eine weitere Person aufnehmen und ihr ein Zimmer in einer Wohnung geben, in der es doch nur vier Räume gab? In Dschawads Zimmer konnte Adil nicht wohnen und schon gar nicht in dem Zimmer, das Buschra sich so lange mit ihrer Mutter teilte, bis diese starb. Es gab nur eine Lösung. Er musste ins Gästezimmer einziehen und damit ging ein Ort verloren, in dem sich unangemeldete Gäste aufhalten konnten, ohne jemandem zur Last zu fallen. Aber das Problem bestand nicht allein darin, dass Adil nun zwangsweise dieses Zimmer okkupierte. Die Art der Einrichtungsgegenstände, die angeschafft wurden, um das Zimmer in einen Raum zu verwandeln, in dem ein Student schlafen und studieren konnte, verärgerte Dschawad und Buschra. Auch die Mutter war nicht glücklich damit, doch in Wahrheit störte es sie vor allem, die Sofagarnitur, die sie ein halbes Jahrhundert lang gehegt und gepflegt hatte, aus dem Gästezimmer ins Wohnzimmer stellen zu müssen, wo nun ein jeder darauf essen oder schlafen konnte, wie es ihm gefiel. Sie würde sich schnell abnutzen und den verbliebenen Glanz verlieren, der sie an üppigere Jahre erinnerte, Jahre, von denen sie meinen könnte, sie hätte sie nie erlebt, gäbe es nicht dieses Sofa und ein paar andere Dinge im Gästezimmer, die davon erzählten. Aber was hätte sie denn sagen sollen, wenn ihr ältester Sohn darauf bestand, dass Adil bei ihnen wohnte? Nabil hatte angedeutet, die Anmietung einer Wohnung für ihn allein oder auch zusammen mit ein paar Freunden würde nichts anderes bedeuten, als einen jungen Mann in der Blüte seines Lebens dem Verderben auszusetzen. So stimmte sie notgedrungen zu; man sollte schließlich nicht von ihr sagen, sie habe ihren Enkel auf der Straße wohnen lassen.

Für Buschra und Dschawad war die Sache viel komplizierter. Beide waren bereits seit mehr als zehn Jahren berufstätig. Buschra, die zwei Jahre älter als Dschawad war, hatte seit fünfzehn Jahren eine Stelle in der Erziehungsbehörde von Damaskus. Auch wenn sie von ihrem Gehalt nur wenig zu Hause abgab und Dschawad nahezu alles bezahlte, genügte es doch kaum für ihre eigenen Ausgaben. Hätte sie sich zum Beispiel einen Flachbildfernseher wie jenen kaufen wollen, den Adil in sein Zimmer gestellt hatte, hätte sie vier Monate lang ihr Gehalt sparen müssen, ohne etwas davon auszugeben. Ganz zu schweigen von den anderen Gegenständen!

Für Dschawad bestand das Problem außerdem darin, dass der ›hochwürdige‹ Herr Nabil nicht nur beschlossen hatte, ihnen seinen Sohn aufzunötigen, und dieser ein ganzes Zimmer für sich in Beschlag nahm. Er hatte auch nicht im Geringsten daran gedacht, Dschawad, der zwei Jobs hatte und für die Lebenshaltungskosten der Familie aufkam, finanzielle Unterstützung anzubieten. Immerhin lud Nabil seinem jüngeren Bruder nicht auch noch das Taschengeld für Adil auf, das Dschawads Gehalt in seinem Hauptjob als Ingenieur mit zwölfjähriger Berufserfahrung entsprach. Über diesen Betrag machte sich Nabil jedoch wegen seines hohen Einkommens in Doha keine Gedanken.

3.2

Als Dschawad in sein Zimmer trat, hatte er nur noch den Wunsch zu schlafen und sich so viel wie möglich von Lamis’ Rosenduft ins Gedächtnis zurückzurufen. Als er aber zu dem Schrank in der Zimmerecke blickte, in den er die Tasche mit dem Geld gestellt hatte, wurde er unruhig und wusste, dass der Schlaf nicht so einfach kommen würde. Der Gedanke daran, wie Lamis reagieren würde, wenn sie davon erführe, machte die Sache nur noch schlimmer. Was würde sie von ihm denken? In den vergangenen Stunden hatte sich Lamis ihm von einer Seite gezeigt, die er absolut nicht erwartet hatte.

Aber vielleicht war sein Verhältnis zu ihr vor allem auch durch seinen Versuch geprägt gewesen, sich entsprechend der Verhaltensregeln der Gesellschaft in gebührender Entfernung zu halten und sich ein Bild von ihr zu machen, dass diese Distanz rechtfertigte. Es entsprach nämlich zugleich einer allgemeinen Erwartung, dass die überwältigende Wirkung dieser Frau einen jeden Mann dazu veranlassen müsste – ganz gleich, wie zurückhaltend er war –, ihr wenigstens ein diskretes Zeichen seiner Bewunderung zu senden. Und so sah er in ihr eine verwöhnte junge Frau, die der herrschenden Glaubensgemeinschaft angehörte. Jetzt jedoch, als Lamis ihm so nah gekommen war, wie er es sich nie hätte träumen lassen, war sein Bild von ihr total auf den Kopf gestellt worden.

Es war nicht geschehen, was er von ihr angenommen hatte. Obwohl sie ihn durchaus hätte brauchen können, hatte sie ihren Verwandten nicht geholt. Sie hatte ihn nicht einmal erwähnt oder versucht, ihn anzurufen. Ihre aufrichtige Sorge um Dschawad und das ungewöhnliche Vertrauen in ihn zwangen Dschawad nun, ein bestenfalls beschämendes Verhalten zu rechtfertigen, das noch dazu eine Sache betraf, die auch sie etwas anging. Wahrscheinlich würde mit der Zeit und dem Abstand von Lamis, den die Situation unumgänglich gemacht hatte, sein ungutes Gefühl nachlassen. Aber in seinem Innersten spürte er, dass die Geschehnisse der letzten beiden Tage nur der Anfang der wohl schönsten Zeit seines Lebens sein würden – und die im Schrank in der Zimmerecke versteckte Tasche nichts anderes als ein Unheil, das auf dem Weg zum lang ersehnten Glück auf ihn lauerte. Dieses Mal trog ihn sein Gefühl nicht, denn als er sich auf sein Bett gesetzt und einen prüfenden Blick auf den Eckschrank geworfen hatte, klingelte das Handy und auf dem Display erschien ihr Name.

3.3

Er konnte nicht einschlafen, auch wenn sie ihm am Ende des Telefonats lachend aufgetragen hatte, gleich zu schlafen. Woher hatte sie nur dieses Vertrauen? Sie hatte die Distanz, an der er so lange festgehalten hatte, einfach überwunden, als hätte sie den Weg schon vorher gekannt. Es war, als würde sie sich in einem Raum bewegen, der ihr allein gehörte, davon überzeugt, dass sie alles, was sie wollte, von ihm verlangen konnte, und er es tun würde. Und er würde nicht zögern – aber wie sollte er überhaupt etwas tun können, wo doch alles auf einmal und ohne jegliche Vorwarnung über ihn hereingebrochen war?