Nacht über Blackheath - Anne Perry - E-Book

Nacht über Blackheath E-Book

Anne Perry

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Beschreibung

Der neue Thomas-Pitt-Krimi als deutsche Erstausgabe

London 1897: In einer eisigen Winternacht verschwindet Kitty, die Zofe der ehrwürdigen Familie Kynaston. Zurück bleiben nur einige Haare von ihr – und Blut. Da Mr. Kynaston hochsensible militärische Geheimnisse hütet, übernimmt Thomas Pitt als Chef des Staatsschutzes den Fall. Er spürt, dass der Kynaston etwas zu verbergen sucht, kommt aber mit den Ermittlungen nicht weiter. Bis eine schrecklich zugerichtete Leiche auftaucht ...

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Zum Buch

Es ist noch nicht sehr lange her, dass Thomas Pitt zum Leiter des Staatsschutzes ernannt wurde. In seinem neuen Fall bekommt er es mit Verbrechen zu tun, die in die höchsten Ebenen reichen. Kitty, die Zofe des angesehenen Mr. Kynaston, ist verschwunden – und auf den Vortreppen des Herrenhauses finden sich Blutspuren und Haarlocken von ihr. Mr. Kynaston arbeitet als Waffenexperte für die Kriegsmarine und kennt die gefährlichsten Geheimnisse der Regierung. Pitt steht in dem mutmaßlichen Mordfall daher schnell unter Druck, doch die Ermittlungen laufen erfolglos. Bis eine schrecklich zugerichtete Leiche auftaucht. Pitt entdeckt nun auch Ungereimtheiten in den Aussagen Mr. Kynastons. Ein harmloses Versehen? Oder steckt dahinter eine Gefahr nicht nur für die Familie Kynaston, sondern auch für das ganze Königreich?

Zur Autorin

Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane begeistern ein Millionenpublikum und gelangten international auf die Bestsellerlisten. 2000 erhielt sie den renommierten »Edgar Award«. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland. Zuletzt bei Heyne erschienen: Tod am Eaton Square.

Lieferbare Titel

Der Verräter von Westminster – Mord in Dorchester Terrace – Tod am Eaton Square – Die dunklen Wasser des Todes – Eine Weihnachtsreise – Der Weihnachtsmord – Der Weihnachtsfluch – Das Weihnachtsversprechen – Der Weihnachtsverdacht – Die Weihnachtsleiche – Der Weihnachtsverrat

Zahlreiche weitere Thomas-Pitt-Romane und Weihnachtskrimis sind außerdem als E-Book erhältlich.

ANNE PERRY

NACHT ÜBERBLACKHEATH

Ein Thomas-Pitt-Roman

Aus dem Englischenvon K. Schatzhauser

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe

DEATH ON BLACKHEATH

erschien bei Headline Publishing Group, London

Vollständige deutsche Erstausgabe 4/2015

Copyright © 2013 by Anne Perry

Copyright © 2015 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Uta Dahnke

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,unter Verwendung einer Illustration von © Pether, Henry /National Gallery of Victoria, Melbourne, Australia /The Bridgeman Art Library

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-14485-2

www.heyne-verlag.de

Für Ileen Maisel

KAPITEL 1

In der Januarkälte fröstelnd, stand Pitt auf der Treppe, die vom Hof vor dem Dienstboteneingang des großbürgerlichen Hauses zur Straße hinaufführte, und richtete den Blick auf die blutverkrusteten Haarbüschel zu seinen Füßen. Die Stufen über und unter ihm waren mit Glasscherben übersät, an denen bereits geronnenes Blut zu erkennen war. Der von der etwa zwei Kilometer entfernten Themse kommende kalte Wind, der den Klang von Nebelhörnern mit sich brachte, fegte über die offene Landschaft in Richtung der nahegelegenen Kiesgruben.

»Es wird also eine Zofe vermisst?«, fragte Pitt ruhig.

»Ja, unglücklicherweise«, sagte der junge Polizeibeamte mit Bedauern in der Stimme. Sein Gesicht hatte im grauen Licht des frühen Morgens scharfe Züge. »Ich dachte, es wäre das Beste, Sie gleich anzurufen, wo doch Mr. Kynaston hier wohnt.«

»Das war genau richtig«, versicherte ihm Pitt.

Sie befanden sich in Shooters Hill, einer vornehmen Wohngegend in einem der Außenbezirke Londons, nicht weit von Greenwich mit seiner Marineakademie und der Königlichen Sternwarte, die der ganzen Welt die genaue Uhrzeit vorgab. Das imposante Gebäude, vor dem sie standen, gehörte einem hohen Regierungsbeamten, der als Waffenexperte im Dienst der Kriegsmarine tätig war. Eine Gewalttat quasi direkt vor seiner Haustür beunruhigte den Staatsschutz verständlicherweise und damit auch dessen Leiter Pitt. Da Pitt dieses Amt noch nicht besonders lange innehatte, bereitete ihm die damit verbundene Machtfülle immer noch ein leichtes Unbehagen. Vielleicht würde er sich nie wirklich daran gewöhnen, dass es niemanden gab, mit dem er sich die Last der Verantwortung teilen konnte. Von seinen Erfolgen würde die Öffentlichkeit nie etwas erfahren, dafür aber umso mehr von Fehlschlägen.

Den Blick auf die grausigen Spuren zu seinen Füßen gerichtet, hätte er liebend gern mit dem jungen Wachtmeister neben ihm getauscht. In dessen Alter war auch er ein einfacher Polizeibeamter gewesen, doch das lag zwanzig Jahre zurück. Damals hatte er mit alltäglichen Straftaten zu tun gehabt: Einbruchsdiebstahl, Brandstiftung, gelegentlich einem Tötungsdelikt, doch war es dabei so gut wie nie um politische Verwicklungen oder gegen den Staat gerichtete Gewalttaten und Terroranschläge gegangen.

Er richtete sich wieder auf. Der Wind war so kalt, dass er sogar durch Pitts neuen, elegant geschnittenen dicken Wollmantel drang.

»Und gemeldet hat den Vorfall der Dienstbote, der als Erster aufgestanden war?«, fragte er. »Das muss ja vor Stunden gewesen sein.« Er ließ den Blick von der Anhöhe über das Umland schweifen. Im Osten wurde es über der Themse allmählich hell.

»Ja, Sir«, gab der Beamte zurück. »Das Küchenmädchen, ein schmächtiges Ding, aber blitzgescheit. Obwohl ihr die blutigen Haarsträhnen eine höllische Angst eingejagt haben, hat sie geistesgegenwärtig reagiert.«

»Sie wird doch nicht im Dunkeln bis zur Polizeiwache von Blackheath gelaufen sein?«, fragte Pitt ungläubig. »Bis dahin sind es mindestens zwei Kilometer.«

»Nein, Sir«, gab der Mann zurück. »Sie ist zwar meiner Schätzung nach erst dreizehn Jahre alt, aber sie hat, wie ich schon sagte, einen kühlen Kopf bewahrt. Sie ist ins Haus zurückgelaufen und hat die Haushälterin geweckt. Nachdem sich diese, eine äußerst vernünftige Frau, vergewissert hatte, dass Blut und Haare nicht von irgendwelchen Tieren stammten, ist sie ans Telefon gegangen und hat auf der Wache angerufen. Sonst wären wir möglicherweise noch gar nicht hier.«

Pitt sah erneut zu Boden. Das Blut hätte in der Tat ohne Weiteres von einem Tier stammen können, aber die im Schein der Blendlaterne rotbraun schimmernden langen Haarsträhnen konnten nur von einem Menschen stammen, genauer gesagt, von einer Frau. Flüchtig kam ihm der Gedanke, dass er, wenn er kein Telefon hätte, jetzt in seiner warmen Küche in der Keppel Street beim Frühstück säße, ohne etwas von dieser schrecklichen und möglicherweise komplizierten Geschichte zu ahnen.

Er brummte zustimmend, doch ehe er noch mehr erwidern konnte, hörte er Schritte, die sich rasch näherten. Im nächsten Augenblick erschien Stokers schlanke Gestalt oben an der Treppe. Er war nicht nur ein scharfsinniger Ermittler, sondern in der Abteilung Staatsschutz auch der Einzige, auf den sich Pitt in jeder Hinsicht verlassen konnte. Seit Verrat und Intrigen innerhalb der Behörde zur Amtsenthebung des früheren Leiters Victor Narraway geführt hatten, traute Pitt keinem der anderen Mitarbeiter mehr über den Weg. Obwohl es nach verzweifelten Bemühungen und mit großem Aufwand gelungen war, Narraways vollständige Schuldlosigkeit zu beweisen, war der Innenminister nicht bereit gewesen, dessen Suspendierung vom Dienst rückgängig zu machen.

»’n Morgen, Sir«, sagte Stoker mit kaum spürbarer Neugier in der Stimme. Nach einem Blick auf die von der Blendlaterne des Polizeiwachtmeisters beleuchtete Stelle am Boden sah er Pitt an. Auf seinem kantigen Gesicht lag stets ein Ausdruck der Verdrießlichkeit.

»Die Zofe der Hausherrin wird vermisst«, erläuterte Pitt. Er hob den Blick zum Himmel und wandte sich dann erneut Stoker zu. »Notieren Sie sich genau, was Sie sehen. Fertigen Sie eine Zeichnung an. Dann nehmen Sie einige Proben mit – man kann nie wissen, ob wir die nicht eines Tages als Beweismaterial brauchen. Und beeilen Sie sich, damit Sie fertig sind, bevor es anfängt zu regnen. Ich gehe inzwischen hinein und rede mit den Leuten.«

»Sehr wohl, Sir. Aber was haben wir mit der Sache zu tun? Wieso kann die örtliche Polizei nicht nach dieser Zofe suchen?« Bei diesen Worten nickte er zu dem jungen Polizeibeamten hinüber.

»Das Haus gehört Dudley Kynaston. Der Mann ist ein für die Kriegsmarine tätiger hoher Regierungsbeamter«, gab Pitt zurück.

Stoker stieß einen leisen Fluch aus.

Pitt lächelte. Auch wenn er Stokers Ansicht teilte, war er froh, den genauen Wortlaut nicht gehört zu haben. Er wandte sich um, klopfte pro forma an die Tür des Dienstboteneingangs, öffnete sie und ging an den in der Speisekammer lagernden Gemüsevorräten vorüber in die Küche. Dort empfingen ihn neben einer angenehmen Wärme auch die köstlichen Gerüche der Speisen, die zubereitet wurden. Er genoss die Atmosphäre der Behaglichkeit. Alles war, wie es sich gehörte. Das Licht brach sich in den polierten Kupfertöpfen und -pfannen, die, der Größe nach geordnet, an ihren Haken hingen. Saubere Porzellanteller stapelten sich auf der Anrichte. Auf Regalen standen ordentlich beschriftete Gläser mit Gewürzen. Getrocknete Kräuter und Zwiebelzöpfe hingen von den Deckenbalken herab.

»Guten Morgen«, sagte Pitt, woraufhin sich die drei in der Küche tätigen Frauen zu ihm umwandten.

»Morg’n, Sir«, sagten sie beinahe im Chor. Die rundliche Köchin hielt einen großen Holzlöffel in der Hand, ein Dienstmädchen in einer mit einer Borte verzierten gestärkten Schürze machte ein Tablett mit Tee und Toast zurecht, um es nach oben zu bringen, und das Küchenmädchen schälte Kartoffeln. Unter ihrem dunklen, widerspenstigen Haar sah sie ihn mit großen Augen an. Er wusste sogleich, dass sie diejenige war, die als Erste hinausgegangen war und die Glasscherben und das Blut entdeckt hatte. Die Ärmel ihres grauen Kleides waren bis über die Ellbogen aufgekrempelt, und die schwarzen Rußflecken auf ihrer weißen Schürze zeigten, dass sie sich schon um das Feuer im Herd gekümmert hatte.

Die Köchin sah Pitt unsicher an, weil sie nicht recht wusste, wie sie ihn einordnen sollte. Ein Herr konnte er kaum sein, sonst wäre er nicht zum Dienstboteneingang hereingekommen, und er strahlte auch nicht die zur zweiten Natur gewordene Hochnäsigkeit eines Mannes aus, der es gewohnt war, Dienstboten Anweisungen zu erteilen. Andererseits schien er nicht nur äußerst selbstsicher zu sein, sie sah auch auf den ersten Blick, dass sein Mantel von erlesener Qualität war. Angesichts der Situation vermutete sie, es müsse sich um irgendeine Art von Polizeibeamten handeln, doch sah er auch nicht wie ein gewöhnlicher Wachtmeister aus.

Pitt lächelte ihr knapp zu. »Darf ich wohl bitte mit dem Küchenmädchen sprechen? Am besten in einem ruhigen Raum, wo uns niemand stört. Sofern Sie wünschen, dass die Haushälterin mitkommt, erhebe ich selbstverständlich keine Einwände dagegen.« Er formulierte diese Anweisung zwar als Bitte, sah ihr dabei jedoch in die Augen, um sicher zu sein, dass sie begriff, was er wollte.

»Ja, Sir«, sagte sie mit belegter Stimme, als sei ihr Mund plötzlich ausgedörrt. »Dora kann mit ihr gehen.« Sie wies auf das verblüffte Dienstmädchen. »Ich bring dann Mrs. Kynastons Tablett selber rauf. Maisie, geh mit dem Mann und sag ihm, was er wissen will. Und dass du mir ja höflich bist!«

»Mach ich«, sagte Maisie gehorsam und führte Pitt zur Tür. Dort wandte sie sich zu ihm um und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Se seh’n ganz verfror’n aus. Woll’n Se ’ne Tasse Tee … Sir?«

Unwillkürlich musste Pitt lächeln. »Vielen Dank. Das wäre mir in der Tat sehr recht. Vielleicht kann uns Dora eine Kanne bringen?«

Ganz unübersehbar war das Stubenmädchen in keiner Weise damit einverstanden. Es gehörte nicht zu ihren Aufgaben, Polizisten und Küchenmädchen mit Tee zu versorgen. Doch sie fand nicht die rechten Worte, um ihren Standpunkt zu vertreten.

Pitt lächelte sie freundlich an. Mit den Worten »Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen« machte er ihr den Auftrag schmackhaft, der ihr so zuwider zu sein schien. Dann folgte er Maisie durch den Gang zum Aufenthaltsraum der Haushälterin. Diese war nicht dort – zweifellos hatte sie Dinge zu erledigen, die mit den beunruhigenden Ereignissen des Morgens zusammenhingen.

Pitt setzte sich in den Sessel am Kamin, in dem man wohl erst vor Kurzem Feuer gemacht hatte, denn es wärmte noch nicht. Maisie nahm aufrecht auf einem hölzernen Stuhl ihm gegenüber Platz.

»Wann bist du heute Morgen nach unten gegangen?«, kam Pitt sogleich zur Sache.

»Um halb sechs«, gab sie, ohne zu zögern, zur Antwort. »Ich hab in der Küche die Asche aus’m Herd geräumt und zur Tonne auf’m Hof gebracht. Da hab ich das …«, sie schluckte, »… das Blut … und das andere entdeckt.«

»Also gegen Viertel vor sechs?«

»Ja …«

»Wie kam es, dass du darauf aufmerksam geworden bist? Um die Zeit muss es noch ziemlich dunkel gewesen sein, und von der Aschentonne bis zur Treppe ist es ein ganzes Stück. War außer dir noch jemand da, Maisie?«

Sie holte tief Luft und stieß sie dann mit einem Seufzer wieder aus. »Der Schuhputzer von gegenüber. Aber der würde so was nie machen. Außerdem kann er Kitty gut leiden … Ich mein, se war immer nett zu ihm. Er … er ist vom Land und vermisst seine Familie.« Sie sah Pitt mit ihren dunklen Augen unverwandt an.

»Wer ist Kitty?«

»Kitty Ryder«, sagte sie in einem Ton, als müsse er das wissen. »Die Zofe von der Gnädigen, Mrs. Kynaston. Die wird vermisst.«

»Wieso denkst du, dass sie mit den Spuren auf der Treppe zu tun hat?«, fragte er neugierig. Soweit er wusste, standen Zofen nur selten morgens vor halb sechs auf, um dann schon nach draußen zu gehen.

»Weil se nich’ hier is’.« Mit dieser durchaus vernünftig klingenden Antwort wich das Mädchen der Frage aus. Ihr widerspenstiger Gesichtsausdruck und das leichte Naserümpfen zeigten ihm, dass ihr das durchaus bewusst war.

»Du meinst also, die Haare auf den Treppenstufen sahen aus wie die von Kitty Ryder?«, fasste er nach.

»Eigentlich schon …«

Ihm kam ein Gedanke. Dora konnte jeden Augenblick mit dem Tee kommen und würde dann sozusagen als Anstandsdame bleiben. Er musste die Gelegenheit rasch nutzen.

»Und du hast befürchtet, dass Kitty etwas zugestoßen sein könnte?«

»Ja … ich …« Sie hielt inne und sah ihn offen an. Sie witterte, dass er ihr mit seiner Frage eine Falle gestellt hatte.

Er hörte Schritte im Flur. Sicher war das Dora.

»Ist diese Kitty möglicherweise am späten Abend oder irgendwann mitten in der Nacht auf der Treppe mit jemandem in Streit geraten, der dann ausgeartet ist? Hat sie einen Verehrer, den du nicht ausstehen kannst?«

In diesem Augenblick kam das Stubenmädchen Dora herein. Sie stellte das Tablett mit einer Teekanne, einem Milchkännchen, einer Zuckerschale sowie zwei Tassen auf den Tisch und trat einen Schritt zurück. Auf ihrem Gesicht lag unübersehbar Missbilligung.

Pitt nickte ihr dankend zu, ohne Maisie aus den Augen zu lassen. »Ein Verehrer«, wiederholte er. »Ich nehme an, Kitty hatte einen Verehrer, mit dem sie sich trotz der kalten Winternacht draußen getroffen hat. Daher hast du beim Anblick des Blutes und der Haare sofort an sie gedacht und nachgesehen, ob sie da war.«

In dem Blick, mit dem ihn das Mädchen ansah, mischten sich Hochachtung und Angst. Sie nickte stumm.

»Und hast du sie gefunden?« Er kannte die betrübliche Antwort bereits, musste sie aber noch einmal hören.

Maisie schüttelte den Kopf. »Se is’ nirgends.«

»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte er.

Sie nickte, wobei sie ihn nach wie vor unverwandt ansah.

»Dora, würden Sie uns bitte den Tee eingießen?«, sagte er. »Ich nehme Milch, aber keinen Zucker. Maisies Vorliebe werden Sie kennen. Und dann könnten Sie bitte dafür sorgen, dass entweder die Haushälterin oder der Butler herkommt.«

Mit einem empörten Blick kam sie seiner Aufforderung nach. Ihr war klar, dass man Ärger mit Polizisten am besten aus dem Weg ging, ganz gleich, wie hoch oder niedrig deren Rang sein mochte.

Eine Stunde später wusste Pitt alles, was ihm das Personal sagen konnte. Nachdem auch Stoker mit seinen Skizzen von allem fertigt war, suchten sie das Empfangszimmer auf, um mit dem Hausherrn zu sprechen. Sofern es sich als nötig erweisen sollte, würden sie danach noch dessen Gattin einige Fragen stellen müssen. Es wunderte Pitt, dass das große Empfangszimmer so behaglich eingerichtet war, als wollten die Bewohner des Hauses damit nicht in erster Linie Besucher beeindrucken, sondern sich selbst darin wohlfühlen. Die weichen Teppiche waren ziemlich abgetreten und das Leder der Sessel vom langen Gebrauch faltig. Überall lagen bequeme Kissen. Dudley Kynaston stand in der Mitte des Raumes, doch auf dem Tisch vor dem Sofa, auf dem er vermutlich gesessen hatte, sah man einen Stapel Papiere. Wahrscheinlich hatte er die Schritte der Männer auf dem Parkettboden des Vorraums gehört und war zu ihrer Begrüßung aufgestanden. Pitt fragte sich, ob das aus Höflichkeit oder einem instinktiven Bestreben geschehen war, mit ihnen auf Augenhöhe zu sein.

Kynaston war fast so groß wie Pitt. Er sah gut aus und hatte regelmäßige Gesichtszüge. Sein dichtes blondes Haar begann an den Schläfen grau zu werden. Er wirkte bedrückt – eine Reaktion, die wohl jeder normale Mensch beim Gedanken an eine mögliche Gewalttat zeigte.

Pitt stellte sich und seinen Mitarbeiter vor.

Kynaston begrüßte ihn höflich und nickte Stoker knapp zu. »Ich habe keine Vorstellung davon, was ich für Sie tun kann. Zwar weiß ich es zu würdigen, dass sich der Staatsschutz Sorgen macht, aber sofern die bedauernswerte Zofe meiner Frau in die Sache verwickelt ist, dürfte es sich höchstens um eine ungewöhnlich heftige Auseinandersetzung gehandelt haben. Vielleicht wollte sich ein junger Mann, der zu viel getrunken hatte, nicht von ihr abweisen lassen. Das wäre zwar unerfreulich, aber so etwas kommt immer wieder einmal vor.« Er wirkte nicht wie jemand, der sich aus einer Situation herausreden wollte, gab Pitt mit seinen Worten aber höflich zu verstehen, dass er nicht bereit war, seine Zeit mit der Sache zu vergeuden.

»Ist Miss Ryder normalerweise bereits so früh auf?«, fragte Pitt.

Kynaston schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Nein, das ist äußerst ungewöhnlich. Ich habe keine Erklärung dafür. Man kann sich eigentlich in jeder Hinsicht auf sie verlassen.«

Pitt merkte, dass Stoker hinter seinem Rücken unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.

»Und Sie sind sicher, dass sie sich nicht irgendwo im Hause befindet?«, fragte Pitt.

»Ich wüsste nicht, wo sie sein sollte.« Kynaston sah verwirrt drein. »Sie hat so etwas noch nie getan. Nach allem, was mir der Butler gesagt hat, lässt das, was man draußen auf der Treppe sieht, auf einen ziemlich üblen Streit schließen. Die ganze Sache ist außerordentlich unangenehm, und wir werden das Mädchen wohl entlassen müssen. Ich hoffe nur, dass sie nicht ernsthaft verletzt ist. Abgesehen davon, dass ich Ihnen gestatten kann, selbst im Hause nachzusehen und jeden zu befragen, wüsste ich nicht, auf welche Weise ich Ihnen behilflich sein könnte.«

»Vielen Dank, Sir«, gab Pitt zurück. »Könnte ich vielleicht mit Ihrer Gattin sprechen? Sicher weiß sie mehr über das Personal. Ganz wie Sie gesagt haben, dürfte es sich um einen Streit handeln, der ausgeartet ist. Sobald wir die Zofe gefunden haben und sicher sind, dass es ihr gut geht, können wir den Fall abschließen.«

Kynaston zögerte.

Unwillkürlich fragte sich Pitt nach dem Grund dafür. Tat er das, um seine Frau zu schützen, oder fürchtete er, sie könne unabsichtlich etwas ausplaudern, was niemand wissen sollte? Auch wenn das nicht unbedingt etwas mit dem Blut und den Haaren auf der Treppe zu tun haben musste, zog Kynaston es möglicherweise vor, dass es nicht bekannt wurde. Schon so manches Mal hatte Pitt Dinge aufgedeckt, die mit dem Fall, den er untersuchte, nicht das Geringste zu tun hatten. Sobald jemand von außen in die Privatsphäre eindrang, war sie nicht mehr wirklich privat. Er empfand ein gewisses Mitgefühl mit Kynaston, konnte es sich aber nicht erlauben, dem nachzugeben.

»Mr. Kynaston«, sagte er.

»Ja … gewiss«, gab dieser seufzend zurück und betätigte den Glockenzug neben dem Kamin. Sogleich trat der Butler ein, ein ernst und gelassen wirkender Mann, auf dessen freundlichen Zügen ein besorgter Ausdruck lag. »Ah, Norton. Könnten Sie Mrs. Kynaston bitten, zu uns ins Empfangszimmer zu kommen?« Ganz offensichtlich dachte er nicht daran, Pitt die Möglichkeit zu geben, mit ihr allein zu sprechen.

Der Butler zog sich zurück, und die Männer warteten eine Weile schweigend, bis sich die Tür öffnete und Mrs. Kynaston eintrat. Sie war äußerst schlank und von durchschnittlicher Größe, hatte dichtes braunes Haar, regelmäßige Gesichtszüge und graublaue Augen. Alles in allem war sie eine eher unauffällige Erscheinung, und als sich Pitt später zu erinnern versuchte, hätte er nicht sagen können, wie genau sie aussah oder was sie getragen hatte.

»Ich bedaure, dich belästigen zu müssen, meine Liebe«, begann Kynaston mit ruhiger Stimme. »Wie es aussieht, hat die örtliche Polizei wegen des Blutes und der Haare auf der Treppe zum Dienstboteneingang den Staatsschutz hinzugezogen. Solange wir nichts Näheres über Kitty wissen, müssen wir den Leuten gestatten, dem Fall nachzugehen. Sie scheinen zu vermuten, dass ihr etwas Gravierendes zugestoßen sein könnte.«

»Grundgütiger!«, sagte Mrs. Kynaston überrascht und sah Pitt mit plötzlich erwachtem Interesse an. »Der Staatsschutz! Ist die Sicherheit unseres Landes so wenig bedroht, dass Sie genug Zeit haben, dem Fehlverhalten von Dienstboten nachzuspüren?« Die volltönende und wohlklingende Stimme war das einzig Bemerkenswerte an ihr. Wäre sie eine Sängerin, ging es Pitt unwillkürlich durch den Kopf, würde ihr empfindungsreicher Vortrag die Zuhörer wohl in ihren Bann schlagen.

Kynaston wirkte angesichts der Reaktion seiner Frau sprachlos.

»Wir wissen noch gar nicht, ob es sich um Miss Ryders Haare handelt, Ma’am«, antwortete Pitt. »Oder ob das Blut von ihr stammt.«

Sie schien leicht überrascht. »Soweit mir bekannt ist, waren die Haare, die man dort gefunden hat, von der gleichen Farbe wie Kittys Haar. Aber sicher haben viele Menschen diese Haarfarbe. Hat das Ganze womöglich gar nichts mit unserem Hause zu tun? Es handelt sich doch um die Treppe, die zur Straße führt, nicht wahr? Da hätte sich jeder Beliebige aufhalten können.«

Kynaston verzog das Gesicht. Als er merkte, dass Pitt zu ihm sah, glätteten sich seine Züge wieder. »So ist es«, stimmte er seiner Frau zu. »Allerdings werden wir hier normalerweise nicht von vorüberkommenden Fremden belästigt. Wir haben nur wenige Nachbarn«, fügte er überflüssigerweise hinzu. Das Haus stand frei in der baumarmen Landschaft unweit der großen Kiesgruben, von denen es zwischen Greenwich Park und dem Dorf Blackheath eine ganze Reihe gab.

»Ach, Dudley«, sagte Rosalind Kynaston mit geduldiger Stimme. »Die Leute finden überall hin! Und sicher ist es um diese Jahreszeit auf der Treppe zum Dienstboteneingang deutlich weniger ungemütlich, als auf freiem Feld dem Wind ausgesetzt zu sein.«

Pitt gestattete sich ein Lächeln. »Zweifellos«, räumte er ein. »Aber hätte Kitty Ryder zu diesen Leuten gehören können?«

»Möglich.« Sie hob die sanft gerundeten Schultern zu einem leichten Achselzucken. »Sie geht hin und wieder mit einem jungen Mann aus. Einem Tischler oder etwas in der Art.«

Kynaston sah sie verblüfft an. »Tatsächlich? Davon hast du ja nie etwas gesagt!«

Mit mühsam beherrschter Ungehaltenheit gab sie zurück: »Natürlich nicht. Warum sollte ich? Ich hatte gehofft, dass das vorübergeht. Er ist kein besonders anziehender Mensch.«

Kynaston holte Luft, als wollte er etwas sagen, stieß sie dann aber wieder aus und wartete darauf, dass Pitt das Wort ergriff.

»Sie scheinen den jungen Mann nicht besonders gut leiden zu können«, wandte sich Pitt an Mrs. Kynaston. »Glauben Sie, dass er es übel aufgenommen hätte, wenn Kitty die Bekanntschaft hätte beenden wollen?«

Nach einigem Überlegen erklärte sie: »Ehrlich gesagt, ist er mir in der Tat nicht sonderlich sympathisch. Ich hatte angenommen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, ohne dass sie seine Gefühle erwiderte. Ganz davon abgesehen, hatte ich Kitty für klüger gehalten, als dass sie sich mitten in einer Winternacht draußen auf die Treppe gestellt hätte, um ihm das zu sagen.«

»Immerhin durfte sie sich in unmittelbarer Nähe des Hauses sicher fühlen!«, gab Kynaston zu bedenken. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Du meinst also, dass er nicht der Richtige für Kitty war?«

»Das will ich nicht sagen, Dudley. Ich denke nur, dass sie mehr hätte erwarten können«, erwiderte sie. »Schließlich ist sie ausgesprochen hübsch. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie jederzeit in London eine Stelle als Stubenmädchen haben können.«

»Und das wollte sie nicht?«, fragte Pitt neugierig. Was mochte eine gut aussehende junge Frau draußen in Shooters Hill halten, wenn sie an einem der eleganten Plätze mitten in der großen Stadt hätte leben können? »Hat sie Verwandte in der Nähe?«

»Nein«, versicherte ihm Mrs. Kynaston. »Sie kommt aus Gloucestershire. Bestimmt hatte sie Angebote in der Stadt – ich weiß nicht, warum sie sie ausgeschlagen hat.«

Das mochte unerheblich sein, aber dennoch nahm Pitt sich vor, der Frage nach dem Grund von Kittys Anhänglichkeit an das Haus Kynaston nachzugehen, sofern sie nicht bald gesund und munter wieder auftauchte.

»Augenscheinlich hat dein Rat bei ihr nicht so recht gefruchtet«, merkte Kynaston mit einem Blick zu seiner Gattin an. »Ich hatte sie für vernünftiger gehalten.« Er wandte sich Pitt zu. »Allem Anschein nach vergeuden Sie hier Ihre Zeit, Commander. Bitte entschuldigen Sie. Sofern der Sache überhaupt nachgegangen werden muss, was wahrscheinlich nicht nötig ist, dürfte das ausschließlich die Polizei betreffen. Sollte Kitty nicht auftauchen oder sollten wir Grund zu der Annahme haben, dass ihr etwas zugestoßen ist, werden wir es melden.«

Mit einem Lächeln neigte er den Kopf, als wollte er Pitt damit verabschieden.

Dieser zögerte, da er nicht bereit war, die Sache ohne Weiteres aus der Hand zu geben. Jemand war auf der Treppe zum Haus verletzt worden, möglicherweise schwer. Hätte es sich dabei nicht um eine Hausangestellte gehandelt, sondern um die Tochter des Hauses, würde man die Sache mit Sicherheit nicht so leichthin abtun.

»Können Sie mir Miss Ryder beschreiben?«, fragte er, ohne sich vom Fleck zu rühren.

Kynaston zwinkerte.

»Wie groß ist sie?«, fasste Pitt nach. »Wie sieht sie aus?«

Die Antwort kam von Mrs. Kynaston: »Mindestens fünf bis sechs Zentimeter größer als ich, und sie hat eine ausgezeichnete Figur.« Sie lächelte belustigt. »Sie sieht wirklich ausgesprochen gut aus. Wenn sie eine Dame der Gesellschaft wäre, würde man sie als Schönheit bezeichnen. Sie hat eine helle Haut und dichtes, gewelltes rotbraunes Haar.«

»Ich glaube, du bist da etwas zu wohlwollend, meine Liebe«, sagte Kynaston mit leichter Schärfe in der Stimme. »Sie ist eine Zofe, der ein junger Mann äußerst zweifelhafter Herkunft den Hof gemacht hat.« Er wandte sich erneut Pitt zu. »Sicher ist Ihnen bekannt, dass Hausangestellte am Wochenende einen halben Tag frei haben. Aber es ist völlig inakzeptabel, wenn sie sich dabei auf diese Weise draußen herumtreiben – genau deshalb hat sie es ja wohl auch heimlich getan. Sofern Sie sich nach wie vor Sorgen machen, sollten Sie die Möglichkeit ins Auge fassen, dass sie mit dem Burschen durchgebrannt ist.«

Das Eintreten einer anderen Dame ersparte es der Hausherrin, etwas darauf zu sagen. Sie hatte weißblondes Haar, war ziemlich groß – nur eine knappe Handbreit kleiner als Kynaston –, und ihr Gesicht war dazu angetan, andere in seinen Bann zu schlagen, nicht, weil sie besonders schön gewesen wäre, sondern wegen der emotionalen Intensität in ihren Zügen und der leuchtend blauen Augen.

»Ist das Hausmädchen wieder aufgetaucht?«, fragte sie und sah Kynaston an.

»Zofe«, verbesserte Rosalind sie. »Nein.«

»Guten Morgen, Ailsa«, sagte Kynaston in freundlicherem Ton, als Pitt unter den Umständen erwartet hätte. »Leider nicht. Der Herr ist Commander Pitt vom Staatsschutz.«

Die geschwungenen Brauen der Angesprochenen hoben sich. »Staatsschutz?«, sagte sie ungläubig. »Hast du etwa den Staatsschutz hinzugezogen, Dudley? Großer Gott, die Leute haben bestimmt Wichtigeres zu tun!« Sie wandte sich Pitt zu und sah ihn neugierig an. »Oder nicht?«, fragte sie in herausforderndem Ton.

»Meine Schwägerin, Mrs. Bennett Kynaston«, erklärte der Hausherr. Pitt erkannte auf dem Gesicht des Mannes einen flüchtigen Ausdruck von Schmerz, den er mit Mühe unterdrückte. Ihm fiel ein, dass Bennett Kynaston etwa neun Jahre zuvor gestorben war. Es erschien ihm sonderbar, dass dessen Witwe nach wie vor in so enger Beziehung zu der Familie lebte und, wie es aussah, nicht wieder geheiratet hatte. Mit ihrem Aussehen hätte sie sicher reichlich Gelegenheit dazu gehabt.

»Guten Morgen, Mrs. Kynaston«, sagte er und fand sich angesichts ihres fragenden Gesichtsausdrucks geneigt, auf ihre Bemerkung einzugehen. »Eine junge Frau wird vermisst, und auf der Treppe vor dem Haus finden sich Blut, Haare und Glasscherben. Das genügt als Hinweis auf die Möglichkeit, dass es zumindest eine hässliche Auseinandersetzung gegeben hat. Da der örtlichen Polizei Mr. Kynastons Bedeutung für die Regierung und unsere Marine bewusst ist und sie die Möglichkeit einer ernsthaften Bedrohung seiner Person nicht ausschließen konnte, hat sie uns hinzugezogen. Sollte sich herausstellen, dass es sich lediglich um einen unschönen Streit zwischen Liebesleuten handelt, werden wir den Fall wieder der Polizei übergeben, damit diese die nötigen Schritte unternimmt. Im Augenblick aber müssen wir annehmen, dass Miss Ryder verschwunden ist.«

Ailsa schüttelte den Kopf. »Du musst dir eine andere Zofe suchen, Rosalind. Sie ist untragbar, ob sie nun zurückkommt oder nicht.«

Ein Ausdruck von Zorn trat auf das Gesicht ihrer Schwägerin und verschwand so rasch wieder, dass Pitt nicht sicher war, ob er richtig gesehen hatte. Hatte er sich das nur eingebildet, weil ihm bewusst war, auf welche Weise Charlotte, seine Frau, eine solch hochfahrende Anweisung aufgenommen hätte, selbst wenn sie von ihrer Schwester Emily gekommen wäre, der sie herzlich zugetan war?

Bevor Rosalind antworten konnte, wandte sich Pitt dem Hausherrn zu und erklärte: »Es ist unsere Pflicht, dem Fall nachzugehen, bis die Zofe gefunden ist oder Sie etwas von ihr hören. Die Haushälterin hat mir gesagt, dass Miss Ryder nichts von ihrer Habe mitgenommen hat und alles noch in ihrem Zimmer ist, sogar das Nachthemd und die Haarbürste. Angesichts dessen müssen wir davon ausgehen, dass es nicht in ihrer Absicht lag, das Haus für längere Zeit zu verlassen. Sollte sich zeigen, dass Sie irgendwelche Wertgegenstände vermissen, teilen Sie das bitte der örtlichen Polizei mit. Ich würde Ihnen raten, noch mehr als sonst darauf zu achten, dass nachts alle Türen verschlossen sind. Vielleicht können Sie Ihren Butler darauf hinweisen, dass möglicherweise ein Diebstahl stattgefunden hat …«

»Ja, das dürfte es sein«, gab ihm Kynaston recht. »Eine äußerst unangenehme Geschichte. Kitty ist mit guten Zeugnissen zu uns gekommen, doch Ihr Rat erscheint mir durchaus angebracht, und ich werde ihn befolgen. Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet.«

»Ich glaube nicht, dass Kitty etwas mit einem Diebstahl zu tun haben könnte«, sagte Rosalind in ziemlich scharfem Ton, wobei sich ihre bleichen Wangen leicht röteten.

»Ich verstehe, dass du dich mit diesem Gedanken nicht anfreunden magst«, sagte Ailsa freundlich und trat einen Schritt auf die Schwägerin zu. »Schließlich war sie deine Zofe, und du hast ihr vertraut, was völlig normal ist. Gewöhnlich ist das auch angebracht, aber jeder kann hin und wieder vom Pfad der Tugend abweichen. Soweit ich verstanden habe, hat sie sich mit einem ziemlich üblen Burschen eingelassen, und wir alle wissen, wie leicht solche jungen Männer selbst Mädchen aus den besten Familien umgarnen können – und erst recht eine junge Frau, die weit von ihrer Heimat entfernt als Hausangestellte arbeitet.«

Gegen die Berechtigung dieser Bemerkung ließ sich nichts einwenden, doch erkannte Pitt auf Rosalinds Zügen Ungläubigkeit und Ärger darüber, dass sie Ailsa die Unrichtigkeit ihrer Unterstellung nicht beweisen konnte.

»So ist es wohl«, sagte Kynaston und nickte seiner Schwägerin zu. Dann wandte er sich an seine Gemahlin. »Vielleicht könntest du es mit Jane versuchen, bis wir eine andere Zofe gefunden haben. Du kommst gut mit ihr aus, und sie scheint mir ziemlich tüchtig zu sein.«

»Warum sollte ich?«, fragte Rosalind mit Schärfe in der Stimme. »Kitty ist doch erst seit ein paar Stunden aus dem Haus! Wenn man dich reden hört, könnte man glauben, sie sei tot und begraben!«

»Selbst wenn sie zurückkehren sollte, meine Liebe, ist sie untragbar, denn man kann sich auf keinen Fall mehr auf sie verlassen«, sagte er etwas freundlicher. »Ich denke, es ist das Beste so.« Zu Pitt gewandt fuhr er fort: »Ich danke Ihnen erneut aufrichtig für Ihren Rat wie auch für Ihre Bereitwilligkeit, uns rasch zu unterstützen. Wir wollen Sie jetzt nicht länger aufhalten. Guten Tag.«

»Guten Tag, Sir«, gab Pitt zurück. »Ma’am«, sagte er mit einer leichten Verneigung zu den beiden Damen und verließ den Raum zusammen mit Stoker. Als sie aus der Haustür auf die Straße hinaustraten, bekamen sie die ersten Regentropfen ab.

»Was halten Sie von der Sache, Sir?«, fragte Stoker neugierig, während er den Mantelkragen hochschlug. Die Frage klang beiläufig, doch als Pitt ihn ansah, erkannte er Zweifel auf den Zügen des Mannes. »Auf den Stufen war eine Menge Blut«, fuhr Stoker fort. »Das war mehr als ein Kratzer. Da hat jemand heftig zugeschlagen. Die Frau kann nicht bei klarem Verstand gewesen sein, wenn sie bereit war, mit einem Mann fortzugehen, der sie so misshandelt hat.« An die Stelle des Zweifels war unüberhörbarer Zorn getreten.

»Vielleicht hat sie sich an einer der Glasscherben geschnitten«, sagte Pitt nachdenklich und schritt kräftig aus. Dabei zog er die Hutkrempe in die Stirn und legte sich den Schal um den Hals, denn der Regen hatte rasch an Heftigkeit zugenommen. Er hob den Blick zum Himmel. »Nur gut, dass Sie die Zeichnungen rechtzeitig gemacht haben. In zwanzig Minuten gibt es da nichts mehr zu sehen.«

»Die Scherben waren voll Blut«, sagte Stoker. »Und die Haare auch. Wie es aussah, sind sie büschelweise mit der Wurzel ausgerissen worden. Mag sein, dass dieser Kynaston für die Marine von Bedeutung ist – aber auf jeden Fall gibt es da was, womit er nicht herausrückt … Sir.«

Pitt lächelte. Die gezielten Frechheiten, die Stoker unauffällig vorbrachte, waren ihm wohlvertraut. Sie galten nicht ihm persönlich, sondern den Politikern, unter deren Federführung der Staatsschutz arbeitete und die Pitt mitunter ebenso wenig ausstehen konnte wie sein Mitarbeiter. Stoker schien nach wie vor zu fürchten, Pitt könne sich auf ihre Seite schlagen, zumal er sich nicht sicher war, ob dessen Vorgänger Narraway das nicht ebenfalls getan hatte. Zumindest nach außen hin war Victor Narraway allerdings in jeder Hinsicht anders als Pitt. Er stammte aus den besseren Kreisen, war erst Leutnant beim Heer gewesen, hatte dann Rechtswissenschaften studiert und war gerissen und so glatt wie ein Aal. Zwar hatte sich Stoker in seiner Gegenwart nie recht wohlgefühlt, doch seine Achtung vor Narraways Fähigkeiten war grenzenlos.

Pitt, der Sohn eines zu Unrecht zur Deportation nach Australien verurteilten Wildhüters, hatte sich bei der Londoner Stadtpolizei vom Streifenpolizisten bis zum Oberinspektor und Leiter der Londoner Innenstadtwache in der Bow Street emporgedient. Als sich einige hochstehende Persönlichkeiten bei ihren unsauberen Machenschaften durch ihn bloßgestellt fühlten, war er aus dem Polizeidienst entlassen und gegen seinen Willen zum Staatsschutz versetzt worden. Sogar in Momenten, da er raffiniert vorzugehen glaubte, las Stoker in ihm wie in einem offenen Buch.

All das war Pitt bewusst, als er zurückgab: »Das kommt mir auch so vor, Stoker. Ich weiß aber nicht, ob es dabei um etwas geht, was uns Sorge bereiten müsste.«

»Nun, wenn in dem Haus krumme Sachen gedreht wurden und dabei jemand vom Personal zu Schaden kam, sollten wir uns das auf jeden Fall näher ansehen«, sagte Stoker erbittert. »Das Ganze riecht mir sehr nach Erpressung.« Er überließ es Pitt, sich den Rest zu denken.

»Sie meinen also, Dudley Kynaston hatte eine Liaison mit der Zofe seiner Gemahlin und hat sie mitten in der Nacht auf der Treppe zum Hintereingang misshandelt?«, fragte Pitt mit einem Lächeln.

Stoker errötete leicht und blickte starr vor sich hin, um Pitt nicht ansehen zu müssen. »Nein Sir, das nicht. Falls er so verrückt wäre, müsste man ihn nicht nur im Interesse der Allgemeinheit ins Irrenhaus stecken, sondern auch in seinem eigenen.«

Pitt hätte fast hinzugefügt, dass die Angelegenheit höchstwahrscheinlich genau das war, wonach sie aussah, ohne allerdings sagen zu können, wonach sie eigentlich aussah. Die Dienstboten hatten im Haus keinen fehlenden Gegenstand aus Glas gefunden. Das viele Blut auf der Treppe konnte auf keinen Fall aus einer einfachen Schnittwunde stammen. Auch war noch nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um Menschenblut handelte und, falls ja, ob es das der Zofe war, die bei ihrem Verschwinden nichts mitgenommen hatte, nicht einmal ihre Haarbürste. Stammten die Haare auf der Treppe von ihr oder von einem anderen Menschen mit einer ähnlichen Haarfarbe?

Woher könnte er erfahren, worum es beim Streit zwischen ihr und dem jungen Mann gegangen war, sofern es sich um einen solchen gehandelt hatte?

»Die örtliche Polizei soll die Sache im Auge behalten und uns benachrichtigen, wenn die Frau zurückkommt oder anderswo auftauchen sollte«, sagte er schließlich.

Stoker knurrte etwas Unverständliches. Zwar war er damit nicht zufrieden, musste aber eingestehen, dass sich im Augenblick nichts weiter tun ließ. Mit gesenktem Kopf schritten sie schweigend über den nassen Gehweg durch den Regen.

Obwohl Pitt ziemlich früh in sein Haus in der Keppel Street zurückkehrte, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen. Die Gaslaternen schimmerten wie Leuchttürme durch den dichten Regen, tauchten einen kurzen Augenblick lang, von einem Lichtschein umgeben, auf und wurden dann wieder von der Finsternis verschluckt.

Er ging die Stufen zur Haustür empor und wollte gerade in seinen wie üblich übervollen Taschen nach dem Schlüssel suchen, als sich die Tür öffnete. Von einem Augenblick auf den anderen umgaben ihn die Helligkeit des Hauses und die Wärme aus dem Kamin im Wohnzimmer, dessen Tür offen stand.

»’n Ab’nd, Sir«, sagte Minnie Maude mit einem Lächeln. »Woll’n Se Ihr’n Tee vor dem Essen? Ach je, Se sind ja klatschnass!« Voll Mitgefühl musterte sie ihn von Kopf bis Fuß. »Das muss ja wie aus Kübeln geschüttet ha’m.«

»Das können Sie laut sagen«, erwiderte er, während sie die Haustür hinter ihm schloss. Wasser tropfte vom Saum seines Mantels auf den Boden. Beim Anblick von Minnie Maudes sommersprossigem Gesicht und ihrer hochgesteckten rotbraunen Haarfülle musste er unwillkürlich an die aus Kynastons Haus verschwundene Zofe denken und fragte sich, wo sie wohl sein mochte. Die hochgewachsene und fraulich wirkende Minnie Maude sah auf ihre Weise gut aus, war lebenserfahren, vertrauenswürdig und eine tüchtige Hilfe im Haushalt. Ein Gefühl der Beklemmung erfasste ihn, als er sich vorstellte, sie wäre irgendwo allein, möglicherweise verletzt, vollständig durchgefroren und auf der Suche nach einem schützenden Obdach. Was nur mochte mit Kitty Ryder geschehen sein?

»Fehlt Ihn’n nix, Sir?«, riss ihn Minnie Maudes besorgte Stimme aus seinen Gedanken.

Er zog den völlig durchnässten Mantel und die durchweichten Schuhe aus und gab ihr beides, dazu Hut und Schal.

»Nein, mir geht es gut. Ich hätte nur gern eine Tasse Tee und auch etwas zu essen. Ich weiß schon gar nicht mehr, was es zu Mittag gab.«

»Ja, Sir. Wie wär’s mit ’n paar klein’n Pfannkuch’n?«, fragte sie. »Mit Butter und Zucker?«

Er sah sie an. Sie war neunzehn, vier Jahre älter als seine Tochter Jemima, die seiner Ansicht nach viel zu schnell zu einer Frau heranreifte. Innerlich dankte er Gott dafür, dass Jemima nicht als Dienstbotin in einem fremden Haus würde leben müssen.

»Vielen Dank. Ja … und bringen Sie mir bitte alles ins Wohnzimmer.« Er wollte noch etwas hinzufügen, doch fiel ihm nichts Passendes ein.

Als Jemima und ihr jüngerer Bruder Daniel nach dem Abendessen zu Bett gegangen waren, setzte sich Pitt in seinen Sessel am Kamin Charlotte gegenüber, die ihre Stickerei für den Abend beiseitegelegt hatte. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und saß jetzt mit unter dem Rock angezogenen Beinen da. Die Glaszylinder der Gaslampen an den Wänden dämpften deren goldfarbenes Licht, sodass alles ein wenig verschwommen erschien: die vertrauten Bücher in den Regalen an den beiden Längsseiten des Raumes, die wenigen Dekorationsgegenstände, von denen jeder mit bestimmten Erinnerungen verknüpft war. Die bis zum Boden reichenden Vorhänge vor der zweiflügeligen Fenstertür zum Garten waren gegen die Kälte zugezogen. Er konnte sich keinen behaglicheren Ort vorstellen.

»Was gibt es?«, fragte Charlotte. »Du überlegst, ob du mit mir darüber sprechen willst. Dann kann es ja wohl nichts sein, was du geheim halten musst.«

Früher, als er noch bei der Polizei war, hatte sie an der Lösung vieler seiner Fälle mitgewirkt und gelegentlich schon vor ihm gewusst, dass es sich um ein Verbrechen handelte. Damals war sie selbst eine Art Detektivin gewesen. Sie besaß eine ausgeprägte Beobachtungsgabe, konnte das Verhalten von Menschen gut einschätzen und war immer, wenn sie überzeugt war, der Gerechtigkeit zu dienen, mit einer Furchtlosigkeit vorgegangen, die ihn mehr als einmal zutiefst beunruhigt hatte.

Jetzt, da ein beträchtlicher Teil seiner Arbeit der Geheimhaltung unterlag, konnte er ihr selbstverständlich weit weniger mitteilen als früher, so gern er das getan hätte. Nur der Preis, den das kosten konnte, hielt ihn zurück, wenn ihn doch das Bedürfnis zu übermannen drohte. Geheimnisverrat würde ihn in seinen eigenen Augen wie auch in den ihren herabsetzen. Außerdem würde der Verlust seiner Stellung nicht nur das Ende seiner Berufslaufbahn bedeuten, sondern auch der Möglichkeit, für seine Familie zu sorgen. In dieser Situation hatte er sich bereits befunden, als man ihn aus dem Polizeidienst entlassen hatte, ohne jede Aussicht auf Wiedereinstellung. Er hatte mächtige Feinde, zu denen leider auch der Thronfolger gehörte, den ein Ende von Pitts Karriere geradezu begeistert hätte.

Charlotte wartete auf seine Antwort. Im Fall Kynaston ging es um kein Staatsgeheimnis, sondern, zumindest bisher, um nichts als einen ziemlich unglücklichen häuslichen Zwischenfall.

»Wie es aussieht, hat es wohl einen Streit auf der Treppe eines Hauses am Shooters Hill gegeben«, gab er zurück. »Und eine Zofe ist verschwunden. Da sie eine Beziehung zu einem jungen Mann hatte, besteht die Möglichkeit, dass sie mit ihm durchgebrannt ist.«

»Ich hatte gar nicht gewusst, dass auf dem Shooters Hill Häuser stehen«, gab sie mit gerunzelter Stirn zurück. »Wenn ich nichts davon erfahren darf, behalt es für dich, aber einen richtigen Sinn kann ich dem, was du gesagt hast, nicht entnehmen.«

»Ich weiß, dass es keinen Sinn ergibt«, erwiderte er. »Blut, Haare und Glasscherben auf der Treppe … und eine Zofe, die am frühen Morgen verschwunden war, während sie im Hause hätte sein sollen.«

»Wieso hast du damit zu tun?«, fragte sie neugierig. »Falls es sich um ein Verbrechen handelt, müsste doch die Polizei dafür zuständig sein?« Dann trat Verstehen auf ihre Züge. »Ach so … da geht es wohl um eine wichtige Persönlichkeit?«

»Ja. Und natürlich hast du recht. Wenn überhaupt etwas dahintersteckt, ist das Aufgabe der Polizei. Hattest du nicht gesagt, dass Jemima ein neues Kleid braucht?«

Sie zog ihre Füße noch näher zu sich heran. Funkensprühend sanken die Kohlen in die Glut.

»Ja, bitte … wenigstens eins.«

»Wenigstens?« Er hob die Brauen.

»Sie geht auch zu der Gesellschaft im Hause der Grovers«, erklärte sie. »Es ist eine ziemlich formelle Angelegenheit.«

»Ich dachte, sie wollte nicht daran teilnehmen?«, sagte er verwirrt.

Ein leichter Schatten legte sich auf ihre Züge. »Ja«, erwiderte sie. »Aber Mary Grover hat sich ihr gegenüber sehr liebenswürdig verhalten, und so hat Jemima versprochen, ihr zu helfen.«

Pitt konnte sich noch deutlich an das erinnern, was Jemima zu dem Thema gesagt hatte, und sah seine Frau erneut an.

»Meinst du nicht …«, setzte er an.

»Ja, ich weiß. Sie wollte nicht hingehen, weil auch die Hamiltons eine Gesellschaft geben. An der hätte sie lieber teilgenommen. Sie kann Robert Hamilton gut leiden.«

»Dann …«

»Thomas, sie schuldet Mary Grover einen Gefallen und wird diese Schuld einlösen. Sag ja nicht, dass das auch ein andermal noch geht. Das gehört sich einfach nicht.«

»Ich weiß.«

»Das freut mich.« Mit einem Mal lächelte sie, sodass sanfte Wärme ihr ganzes Gesicht überstrahlte. »Ich möchte nicht gegen euch beide kämpfen müssen – jedenfalls nicht gleichzeitig.«

»Gut«, sagte er und entspannte sich endlich. Allerdings zweifelte er keine Sekunde lang daran, dass sie es doch getan hätte, wenn er es darauf hätte ankommen lassen.

KAPITEL 2

Drei Wochen später klingelte gegen sieben Uhr morgens Pitts Telefon, während er in der behaglichen Wärme seiner Küche frühstückte. Unbestreitbar war ein Telefon eine äußerst nützliche Einrichtung, die ihm schon gute Dienste geleistet hatte, doch es gab Momente, in denen es ihn außerordentlich störte. Wie konnte jemand so früh an einem kalten Morgen Ende Januar anrufen, wenn er seinen Toast noch nicht gegessen hatte? Widerwillig erhob er sich, ging in die Diele und nahm den Hörer ab. Vermutlich gab es einen plausiblen Grund dafür, dass ihn jemand zu dieser frühen Stunde anrief.

Stoker meldete sich. Seine Stimme klang erregt.

»Man hat eine Leiche gefunden, Sir.« Im Hintergrund hörte Pitt Schritte und Stimmen. »Ich bin auf der Polizeiwache von Blackheath«, fuhr Stoker fort. »Es ist eine junge Frau, soweit sich feststellen lässt … Gut gebaut …« Er schluckte. »Rötliches Haar …«

Pitt schnürte sich die Kehle zu, und tiefe Schwermut legte sich auf ihn. »Wo hat man sie gefunden?«, fragte er, wobei ihm längst klar war, was das bedeutete, wenn Stoker aus Blackheath anrief.

»In einer Kiesgrube an der Shooters Hill Road«, gab Stoker zurück. »Ganz in der Nähe vom Haus der Kynastons.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, unterließ es dann aber.

»Ich komme«, sagte Pitt. Er brauchte ihm nicht zu erklären, dass er selbst unter günstigen Umständen mindestens eine Stunde brauchen würde. Von der Keppel Street zu seinem Büro in Lisson Grove waren es nur zwei Kilometer, aber um das am anderen Themseufer gelegene Blackheath oder Shooters Hill zu erreichen, musste er eine ganze Weile nördlich des Flusses ostwärts fahren und ihn dann an einer geeigneten Stelle überqueren.

Er hängte den Hörer an den Haken. Als er sich umwandte, sah er Charlotte am Fuß der Treppe stehen. Offensichtlich wartete sie darauf, dass er ihr sagte, was es gab. Bestimmt hatte sie an seinem Gesichtsausdruck und seiner Körperhaltung erkannt, dass es eine unangenehme Nachricht war.

»Stoker«, sagte er gefasst. »Man hat in einer der Kiesgruben am Shooters Hill die Leiche einer jungen Frau gefunden.«

»Du musst also dorthin …«

»Ja. Er ist bereits an Ort und Stelle. Ich vermute, dass ihn die örtliche Polizei informiert hat.«

»Wieso?«, fragte sie.

Er lächelte trübselig. »Ich könnte sagen: Weil die Beamten da sehr gewissenhaft sind. Allerdings habe ich eher den Verdacht, dass er da immer wieder nachgefragt hat, ob Kitty Ryder wieder aufgetaucht ist. Vermutlich nimmt die Polizei an, dass der Fall ziemlich verwickelt sein könnte, und da wollen sie lieber selbst nichts damit zu tun haben.«

»Kann man ihn denn einfach so auf dich abschieben?«, fragte sie in zweifelndem Ton.

»Ja. Der Fundort der Leiche liegt praktisch vor Kynastons Haustür, und so lässt es sich nicht ausschließen, dass es sich um die Zofe seiner Frau handelt. Sollte sie es wirklich sein, muss die Polizei den Fall ohnehin dem Staatsschutz übergeben.«

Sie nickte bedächtig. Trauer lag auf ihrem Gesicht. »Die Ärmste.« Sie fragte nicht, welchen Grund jemand gehabt haben könnte, die junge Frau umzubringen, oder ob sie sich das womöglich selbst zuzuschreiben hatte, weil sie vielleicht jemanden hatte erpressen wollen. Sechzehn Jahre Ehe mit Pitt hatten sie gelehrt, dass solche Tragödien kompliziert sein konnten. Auch wenn Ungerechtigkeit jeder Art sie nach wie vor ebenso sehr aufbrachte wie zu der Zeit, da sie ihn kennengelernt hatte, fällte sie ihr Urteil längst nicht mehr so hitzig wie damals – jedenfalls meist nicht.

Er kehrte in die Küche zurück, in der es nach Kohle, Brot und frischer Wäsche roch, um die letzten Bissen seines Toasts zu essen und den Tee zu trinken, sofern er nicht inzwischen kalt war. Er verabscheute kalten Tee. Anschließend würde er auf der eiskalten Straße eine Droschke suchen. Innerhalb der nächsten Stunde musste die Sonne aufgehen, sodass er die Kiesgrube bei Tageslicht erreichen würde – wenigstens das.

Charlotte eilte ihm voraus, nahm seine Tasse vom Tisch und holte eine frische von der Anrichte. »Dafür reicht die Zeit«, erklärte sie mit Nachdruck, bevor er den Mund auftun konnte. Sie füllte die Teekanne aus dem Kessel nach, wartete einen Augenblick und goss ihm dann eine Tasse ein.

Gerade als er dankbar seinen heißen, wenn auch etwas dünnen Tee trank, kam Minnie Maude mit Kartoffeln und einem Zopf Zwiebeln herein. Uffie, das struppige Hündchen, das sie als mutterlosen Welpen ins Haus geschmuggelt hatte, hing ihr wie immer praktisch am Rocksaum. Zwar hatte man ihn eigentlich nicht in der Küche haben wollen, aber er hatte sich dem beharrlich widersetzt. Das hätte sich Charlotte eigentlich gleich denken können. Mit einem Lächeln stellte sich Pitt Kynastons Küche vor. Dort ging es bestimmt sehr viel anders zu. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme«, sagte er und wandte sich zum Gehen.

Ganz wie von ihm vermutet, begann das graue Morgenlicht das öde Gelände der Kiesgrube zu erhellen, als er dort eintraf. Der Ostwind biss eisig in die Haut seines Gesichts und Nackens. Früher hatte er sich einen langen Wollschal mehrfach um den Hals geschlungen, um die Kälte fernzuhalten. Angesichts der herausgehobenen Position, die er inzwischen bekleidete, erschien ihm das zu schlicht und zwanglos, und so trug er einen Seidenschal. Es war ohnehin schwer genug, die Menschen zu beeindrucken. Alle seine Vorgänger im Amt waren Abkömmlinge vornehmer Familien gewesen. Da sie, wie beispielsweise Narraway, meist einen höheren Offiziersrang in Heer oder Marine bekleidet hatten, war es für sie ganz selbstverständlich gewesen, von anderen Gehorsam einzufordern.

Mit den Worten »Morgen, Sir« trat Stoker auf ihn zu, wo-bei die gefrorenen Grashalme unter seinen Füßen knirschten. »Da drüben ist sie.« Er wies auf eine etwa fünfzehn Meter entfernt stehende kleine Gruppe von Männern, denen der Wind den Mantelsaum um die Beine schlug. Sie hatten die Mützen tief in die Stirn gezogen und drängten sich dicht aneinander. Das Licht ihrer Blendlaternen schimmerte gelblich.

»Wer hat sie gefunden?«

»Das Übliche: ein Mann, der mit seinem Hund draußen war.«

»An dieser gottverlassenen Stelle?«, fragte Pitt zweifelnd. »Wer, zum Teufel, geht hier an einem eiskalten Wintermorgen so früh mit seinem Hund spazieren?«

Achselzuckend erklärte Stoker: »Ein Fährmann aus Greenwich. Er setzt Leute über, die vor sieben hier sein müssen. Scheint mir ein ganz vernünftiger Mann zu sein.«

Darauf hätte Pitt selbst kommen können. Auch er hatte in dieser Gegend die Themse schon mit dem Fährboot überquert, aber nicht weiter auf den Mann geachtet, der es ruderte. Der Mord ging ihm nahe, obwohl er in all den Jahren bei der Polizei mit so gut wie nichts anderem zu tun gehabt hatte. Zwar hatte er das Opfer nicht lebend gesehen, doch durch die Beschreibungen der Dienstboten im Hause Kynaston hatte er von Kitty Ryder einen persönlichen Eindruck gewonnen. Er hatte sich vorgestellt, wie sie lachte, von ihrer Zukunft träumte – er hatte geradezu eine Art innerer Nähe zu ihr entwickelt.

»Als er der Polizei seinen Fund gemeldet hat, haben die Leute sofort an Ihr Interesse an dem Fall gedacht und Sie kommen lassen?«, fragte Pitt Stoker.

»Ja, Sir. Sie haben auf der Wache in der Nähe meiner Wohnung angerufen, die dann einen Wachtmeister zu mir geschickt hat.« Stoker wirkte, als gestehe er etwas, bevor Pitt selbst dahinterkam. »Ich bin gleich hergekommen, ohne Sie anzurufen, Sir, für den Fall, dass uns das nichts angeht. Ich wollte Sie nicht unnötig behelligen.«

Natürlich hätte er Pitt ebenfalls durch die Polizeiwache seines Stadtviertels informieren lassen können, hatte es aber vorgezogen, erst einmal selbst zu erkunden, was es gab.

»Ich verstehe«, sagte Pitt mit einem schwachen Lächeln im trüben Licht des frühen Morgens. Dann trat er auf die drei Männer zu, die im auffrischenden Wind unübersehbar vor Kälte zitterten: zwei Streifenbeamte und ein Gerichtsmediziner.

»’n Morgen, Sir«, sagte der Leiter der Gruppe. »Tut mir leid, dass wir Sie so früh herkommen lassen mussten, aber möglicherweise ist das Ihr Fall.«

»Das wird sich zeigen.« Pitt war nicht bereit, sich so früh festzulegen. Er hatte ein ebenso geringes Interesse daran, den Fall zu übernehmen, wie der Polizeibeamte. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es sich um die verschwundene Zofe handelte, hatte ihr Tod vermutlich nichts mit Dudley Kynaston zu tun. Allerdings drohte in dem Fall ein Skandal. Durch das Interesse der Öffentlichkeit würde Kynaston unter Druck geraten, und das möglicherweise zu Unrecht.

ENDE DER LESEPROBE