Nachtgeräusche - Mo Clare - E-Book

Nachtgeräusche E-Book

Mo Clare

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Beschreibung

Zwölf Kurzgeschichten aus dem Horror-Genre. Der Autor des Romans "Eichenbach" bietet dem Leser mit "Nachtgeräusche" zwölf Geschichten unterschiedlichster Art, welche für schaurig-schöne Gruselstunden sorgen werden. Neben neuen Erzählungen wie "Felix", "Die Scheuche" , "Ich komme wieder" und "Wir schenken Leben", ist in diesem Buch die Novelle "Gohbach" enthalten, welche direkt auf die Geschehnisse des Romans "Eichenbach" anspielt. " Schleichender" Horror aus Niedersachsen - auch für zartbesaitete geeignet!

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

„Nachtgeräusche“ ist ein Geschichtenband, welches zwölf Geschichten des norddeutschen Horror-Autors MO CLARE beinhält. Der Autor verarbeitet in diesen Geschichten sämtliche Kreaturen der Dunkelheit. Sind Sie bereit, in die Geräusche der Nacht einzutauchen?

Der Autor

Mo Clare wurde am 07.03.1988 in Hildesheim geboren und lebt heute in Schaumburg und Cuxhaven. Nach dem Fachabitur, dem Zivildienst und einer anschließenden Berufsausbildung, begann er später die freiberufliche Arbeit als Schriftsteller. Er schreibt (Horror-) Romane und Kurzgeschichten über Niedersachsen und Norddeutschland.

Sein Roman-Debüt „Eichenbach“ erschien 2022 im deutschen Buchhandel.

MO CLARE

Nachtgeräusche

Geschichtensammlung

tredition GmbH

Hamburg

© 2025 Mo Clare

Umschlag, Illustration: Michelle Clare

Lektorat, Korrektorat: Timo Clare

Druck und Distribution im Auftrag von Mo Clare:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

Paperback

978-3-384-37120-1

e-Book

978-3-384-37121-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Dieses Buch widme ich allen Geisterwesen, die in der dunklen Nacht umherziehen.

Schön, dass es euch gibt!

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

Vorwort vom Autor

Die Kirche in Ringmoor

Prolog

1

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Epilog

Nachwort vom Autor

Botschaften von Hohenfels

Felix

Nachwort des Autors zu „Felix“

Lazarus

Jemming – Wochen später

Die Scheuche

Vorwort zu „Die Scheuche“

Die Scheuche

Nachwort des Autors

Ich komme wieder

Gohbach

Vorwort

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Wochen später, im Oktober 1895

Nachtfahrt

Die Maus

Prolog – 1998 bis 2001

Erster Akt – Ende 2001

Zweiter Akt – 2004

Dritter Akt – 2017

Nachwort vom Autor

Ricarda

Wochen später

Nachwort vom Autor

Der Deal

Nachwort vom Autor

Wir schenken Leben

Januar 1991

Februar 1991

April 1991

Mai 1991

Juli 1991

Danksagung

Nachtgeräusche

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Vorwort vom Autor

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Nachtgeräusche

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Vorwort vom Autor

Da sind Sie ja, ich habe bereits auf Sie gewartet. Schön, dass wir uns nun ganz vertraut unterhalten können – nur Sie und ich.

Sind Sie sicher, dass Sie bequem und gut sitzen? Vielleicht liegen Sie ja auch in Ihrem Bett – die Beine, gut gehütet, unter der warmen Bettdecke versteckt?

Achten Sie bitte auf die Geräusche, die sich um Sie herum abspielen. Ordnen Sie diesen Geräuschen ihren natürlichen Ursprung zu. Können Sie alles sicher und genau zurückverfolgen? Das Ticken der Uhr sollte noch einfach sein, auch das Brummen, welches ein Kühlschrank permanent von sich gibt, sollte Ihr Gehör schon so gut kennen, dass Sie überhaupt nicht mehr darüber nachdenken brauchen.

Gut. Sie kennen also alle Laute, die Ihr Haus (oder Ihre Wohnung) so von sich gibt. Dann befinden wir uns in einer (hoffentlich) guten und sicheren Lage. Nun können Sie sich zurücklehnen und das neu erworbene Buch, welches Sie gerade in Ihren Händen halten, voller Spannung lesen. Ich hoffe, dass Sie das Buch auch genießen können, falls nicht, dann sind Sie vielleicht doch noch von irgendwelchen Geräuschen umhüllt, die lustvoll und begierig an Ihren Nerven knabbern.

Diese Geräusche sind ziemlich hinterhältig, sie lieben es, wenn wir uns fürchten. Manchmal wandeln sie sich auch um, dann verklingt plötzlich dieses Kratzen aus der Wand – dafür bewegt sich dann der Vorhang, wie von Geisterhand. Ich kenne das alles auch, das können Sie mir glauben. Früher hat mich so etwas extrem nervös gemacht, doch seit ich in diesem dunklen Genre schreibe, scheine ich die Oberhand zurückbekommen zu haben. Ich möchte keinesfalls sagen, dass ich mich mit den bösen und dunklen Mächten angefreundet habe und deswegen absolute Ruhe genieße – aber ich bin auch nicht mehr so entsetzt, wenn ich diese merkwürdigen Geräusche wahrnehme. Ich denke mir dann immer, dass mir wieder jemand neue Ideen einhauchen möchte. Sie lesen richtig, auch bei mir passieren all diese Dinge. Ich kenne den Schatten, der im Dunkeln auf dem Stuhl sitzt und mich neugierig beobachtet ebenso gut, wie die Geräusche aus der hinteren Ecke der Wohnung. Auch deshalb lege ich meine Füße immer unter die Decke. Man muss ja schließlich niemanden ködern, oder?

Ich glaube, dass ich (mittlerweile) ein gutes Leben führe. Auch bei mir ist am Ende des Geldes noch so viel Monat übrig, aber ich sage mir immer, dass Geld allein nicht alles ist. Wir kommen ohne Geld auf diese Welt – und wir verlassen die irdische Welt auch wieder ohne Geld. Es kann angenehm sein, in der Zeit dazwischen Geld zu besitzen, doch es sollte bitte niemals zu einem Lebensziel werden. Das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen – und das Leben ist zu kurz, um permanent dem Geld nachzujagen.

Ich bin verheiratet mit einer wunderbaren Frau und ich sehe zwei wunderbaren Kindern dabei zu, wie sie älter und klüger werden. Wahrscheinlich kann ich mich glücklich schätzen – ich tue es auf jeden Fall!

Trotz diesem Glück habe ich ein Faible für unheimliche Geschichten – solche, wie Sie sie im Anschluss lesen können, wenn ich Sie, lieber Leser, nicht jetzt schon verloren habe. Ich habe mich schon als Kind gegruselt (natürlich ungern) und ich fand Geschichten über Geister, Monster, Hexen und Dämonen schon immer spannend. Auch als Kind habe ich all diese Geräusche kennengelernt, von denen ich eben schon einmal erzählt habe. Das Unheimliche begleitet mich schon mein ganzes Leben, ich bin ihm verfallen und ich kann mir gleichzeitig kein schöneres Genre, als das der Spannung und des Horrors, vorstellen. Ich wage zu behaupten, dass ich mir mein Genre nicht ausgesucht habe. Das Genre hat mich auserwählt. Warum sollte ich dieses Schicksal also nicht mit Ihnen teilen?

Im Jahr 2018 hatte ich die Idee von einer Familie, die in ein altes Haus einzieht, dort machen sie dann sonderbare Erfahrungen. Das klingt auf den ersten Blick vielleicht wie ein typischer Gruselfilm. Vielleicht ist das sogar der klassische Einstieg, in die Welt des Horrors. Ein altes Spukhaus funktioniert schließlich immer, oder?

Damit die Geschichte nicht so platt wird, habe ich mir noch ein bisschen Story dazu ausgedacht, welche nicht nur das Haus, sondern das ganze Dorf betraf.

Im Sommer 2020 habe ich dann damit begonnen, diese Idee aufzuschreiben. Somit entstand mein Debütroman „Eichenbach“.

Das Buch, welches Sie nun hoffentlich immer noch in Ihren Händen halten, ist kein Roman – sondern ein Geschichtenband. Eine Sammlung, die aus zwölf kurzen Geschichten besteht. Es kommt immer wieder vor, dass mir Ideen in den Kopf kommen, die für einen Roman nicht ausreichend wären. Daher schreibe ich, parallel zu Romanen, auch Kurzgeschichten. So kann ich all die Ideen wieder aus meinem Kopf entlassen, und andere Menschen damit unterhalten. Endlich kann ich nun auch die folgenden Geschichten, in Form dieses Buches, auf Sie loslassen.

Alle Geschichten aus diesem Sammelband sind zwischen April 2021 und Oktober 2024 entstanden. Während ich meinen Roman „Eichenbach“ schrieb, sind demnach schon ein paar dieser Geschichten verfasst worden. Andere erst später, als ich an einem neuen (bisher noch unveröffentlichten) Roman arbeitete. Die meisten von diesen Kurzgeschichten schlummerten ungelesen auf meinem Laptop. Die Geschichten hiervon, die vorher schon einmal von einzelnen Personen gelesen wurden, sind nun noch einmal leicht abgeändert worden. Ich denke nicht, dass es jemanden auffallen sollte. Nun haben sie allerdings ihre endgültige Form erreicht.

In manchen Geschichten aus diesem Buch sind Kinder die Hauptpersonen. Manchmal kommen sogar Kinder zu Schaden. Lassen Sie uns das bitte kurz besprechen. Ich denke, dass wir beide (also Leser und Autor) etwas gemeinsam haben. Wir können es beide nicht ertragen, wenn unseren Kindern etwas zustoßen sollte. Es gibt einen Grund dafür, warum Sie gerne Schauergeschichten und Thriller lesen, so wie es eine Ursache dafür gibt, dass ich es immer wieder aufschreiben muss. Wir leben in ständiger Angst davor, dass sich unsere Kinder schlimm verletzen, oder – im schlimmsten Fall – nicht mehr nach Hause kommen. Wir haben dann eine große Gemeinsamkeit: wir stellen uns dieser Angst, indem wir uns damit konfrontieren. Sie, indem Sie Thriller lesen – oder Gruselgeschichten. Ich, indem ich über solche Dinge schreibe. Am Ende des Tages können wir beide uns dann ein High-Five geben, denn wir haben es geschafft, uns dieser Angst zu stellen – haben diese Angst durch Geschichten veranschaulicht und dann zusammen die Sache durchgemacht.

Ich bin immer bei Ihnen, auf jeder Seite dieses Buches. Jeden Satz, den Sie lesen, habe ich zuvor aufgeschrieben. Buchstabe für Buchstabe – Wort für Wort. Jede unheimliche Begegnung, die Sie verarbeiten, wurde vorher durch meinen Kopf gesiebt und gefiltert. Ich finde, wir sind ein hervorragendes Team. Der Autor und der Leser, wir geben uns einander das, was es braucht, damit eine Sache am Leben bleibt. Sie, die Hingabe und das Verlangen, alles wissen zu wollen, was in den Büchern dieser Welt steht – Ich, die Freude und das Bedürfnis von Klarheit, wenn ich solche Bücher schreiben darf. Eine Stimme flüstert mir die Ideen ins Gehör; Sie lesen hinterher, was dabei herauskommt. Solange es dabei dann auch noch all die merkwürdigen Geräusche der Nacht überschattet, sind wir am Ende wieder beide glücklich. Auch darauf ein High-Five!

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen und verbleibe mit den besten Grüßen!

M.C.

(November 2024)

Die Kirche in Ringmoor

Prolog

Das Gebäude stand schon lange leer. Viele von den alten Dorfbewohnern konnten sich gar nicht mehr daran erinnern, dass jemals eine Messe in der alten Feldsteinkirche gelesen wurde. Sogar Erna Tietz, die im Ort als fromme und gottesfürchtige Frau bekannt war, wusste nicht, wann die alte Glocke im Turm, zum letzten Mal mit ihrem hellen und durchdringenden Klang, zum Gebet gerufen hatte.

Das Dorf, welches den Namen Ringmoor trug, war vor über eintausend Jahren als kleine Schutzsiedlung der Anhänger des eingeborenen Sohnes, Jesu Christi, entstanden. Sie kämpften sich durch das noch heidnische Land, und suchten nach einem stillen Ort, an dem sie in Frieden ihr Dasein und ihren Glauben ausleben konnten. Damals, zu einer Zeit, als es noch kein Fegefeuer oder einen Ablasshandel gab, waren die braven und wissbegierigen Christenmänner nur auf ihr Familienleben - und die, so hochgelobte göttliche Offenbarung aus. Sie errichteten ihre bescheidenen Lehmhütten und die kleine Kapelle (der Mittelpunkt der Siedlung) mittig von einem kleinen, dicht bewaldeten Moor. So kam das Dorf später zu seinem heutigen Namen – Ringmoor. Es war seit jeher stets vom dunklen und manchmal auch ziemlich tückischen Moor umgeben. Später, in der modernen Zeit, wurden auch Straßen und Wege gebaut, doch das Moor wich nur ungern den großen Planierrauben und Teerfahrzeugen der Menschheit aus.

Die kleine Kapelle der frühen Siedlungsgründer, wurde im Laufe der Zeit zu einer größeren Dorfkirche ausgebaut.

Aufgrund der schwarzen Beulenpest, die im Mittelalter in ganz Europa tobte - und auch vor Ringmoor keinen Halt machte - erstarb die Gemeinde der Gläubigen zum ersten Mal. Im fünfzehnten Jahrhundert wurde der Versuch, wieder Leben in Gottes Gnaden zu führen, erneut aufgegriffen und die Bürger des Dörfchens gingen – fromm - ihren Aufgaben und Pflichten nach. Die Vielzahl der Leute, die an der schwarzen Grippe verstorben waren, wurden direkt neben der Kirche begraben. Tatsächlich waren es zu viele Opfer, und manche Leiche wurde auch, eilig und ohne Segenswünsche, im Moor versenkt. Der Platz des Kirchengrundstücks war viel zu klein, um einen derart großen Gottesacker entstehen zu lassen, wie die Pest ihn erfordert hätte. Die Überlebenden der Krankheit, hatten Angst davor, dass der Geruch der vielen Toten eine Rattenplage auslösen würde. So war das nahe und stille Moor ein guter Platz, um die überschüssigen Toten zu entsorgen. Bereits die ersten Siedler ließen ihre Toten im Moor nieder, welches sie „Das Moor der Braven“ nannten. Doch das wusste, viele hundert Jahre später, niemand im Dörfchen mehr und die mittelalterlichen Bauersleute waren der festen Überzeugung, dass ihre Toten die Ersten im Moor gewesen waren. Damals läutete die stumpfsinnige Glocke im Turm der Kirche noch regelmäßig. Wie es endgültig dazu kam, dass die Gemeinde erstarb und die Kirche vergessen wurde, wusste niemand mehr genau. Es wurde sich erzählt, dass der damalige Priester von Ringmoor bei Nacht und Nebel flüchtete, als die Geister der Vergangenheit um ihren Seelenfrieden baten. Seit diesem Tage hätte sich kein Priester jemals mehr nach Ringmoor getraut.

In der Neuzeit wurde die alte Kirche nicht mehr beachtet. Die Leute ignorierten sie und gingen ihrer Wege. Man erzählte sich, hinter vorgehaltener Hand, alle möglichen Geschichten über das Gemäuer - und auch die Geisterjäger-Szene kannte die Kirche. Sie hieß unter den Gruselfans schlicht Die Kirche in Ringmoor und jeder, der nur etwas Glaube für das Unsichtbare übrighatte, spürte die gottlose Präsenz in ihren Mauern.

1

Erna Tietz war müde. Sie hatte Arthritis und konnte, auch nachts in ihrem Bett, keine wirkliche Ruhe finden. Die Schmerzen in ihren Gelenken waren zu groß, als dass sich ein erholsamer Schlaf einrichten ließe. Sie betete viel und gerne und war der festen Überzeugung, dass der Herr im Himmel ein gutes Plätzchen für sie hatte, wenn der große Tag gekommen war, und Erna das goldene Tor des Paradieses passierte. Bis dahin gab es Valium, die Erna zwar nur äußerst ungern zu sich nahm, aber solange man auf die göttliche Fügung warten musste, half auch das weltliche Zeug - und war besser als nichts.

Erna war neunundachtzig Jahre alt und sie wollte die Neunzig gerne noch erreichen. Danach wäre es ihr egal gewesen, was noch komme – oder nicht. Erna hatte sogar fast ein gutes Leben gehabt, ihre Kinder waren mittlerweile selbst schon Großeltern geworden, und die Ehe mit Hermann war ohne böses Blut gewesen. Sie hätte Hermann gerne in der alten Dorfkirche geheiratet, doch diese stand vor fünfundsechzig Jahren schon leer und verlassen da. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal bewusst drin war, dachte Erna an diesem Abend, sie kannte bereits die Antwort: niemals. Dann schlief sie ein.

Während die alte Frau schlief, passierte im Dorf etwas Sonderbares. In der kleinen Sakristei der Kirche, einem flachen und gedrungenen Anbau, wurde ein Licht entflammt. Es brannte für eine gute Stunde, dann erlosch es so schnell, wie es aufgeleuchtet war. Der Wind heulte um die Kirchturmspitze und der alte Wetterhahn (ein rostiges und hässliches Stück Eisen) drehte quietschend seine Runden. Er wachte über Ringmoor und seinen Bewohnern, und wenn Gott es wollte, würde er noch lange Zeit seinen Dienst dort oben, auf der Spitze der Kirche, verrichten.

Erna hatte in dieser Nacht einen Traum. Sie war wieder eine junge Frau und machte sich für den sonntäglichen Kirchgang fein. Dazu trug sie ihre beste Bluse, hatte das goldblonde Haar fein säuberlich gebürstet und dann zu einem frommen Dutt gesteckt. Sie fischte ihr Gesangbuch aus der obersten Schublade (sie hatte ein Eigenes Buch mit einem schicken Einband) und verließ das kleine Haus. Ihre Eltern waren schon aufgebrochen und Erna wollte keinesfalls zu spät in die Kirche kommen. Als sie die alte Haustür behutsam hinter sich verschloss, begann die Glocke im Turm zu läuten. Nun musste Erna sich beeilen! Wer zu spät in die Kirche kam, bekam nicht nur einen schlechten Platz in einer der hinteren Bankreihen – nein, er würde auch die Blicke der anderen Leute auf sich ziehen. Das war zu früheren Zeiten, und in einem kleinen Dorf wie Ringmoor, einem Todesurteil gleichzusetzen. Je näher Erna der Kirche kam, desto lauter wurde das blecherne Geläut der alten Eisengussglocke. Sie konnte sogar schon das merkwürdige Gemurmel der Menschen im Kirchsaal wahrnehmen. Erna legte noch einmal einen Gang zu und erreichte die Feldsteinkirche, die dem heiligen Martin geweiht war, in letzter Sekunde. Natürlich bekam sie einen Platz in der allerletzten Bank und konnte die Messe nur schwach verfolgen. Es war eine sonderbare Zeremonie. Der Priester war ganz in schwarz gehüllt und trug eine dicke Kapuze über seinem Kopf. So konnte man das Gesicht des düsteren Geistlichen nicht sehen. Die Gemeinde bestand aus bleichen Leuten, mit wilden Haaren, dunklen Wülsten auf der Haut und knochigen Fingern. Erna fühlte sich wie ein schwarzes Schaf, das anders, als die frommen Weißen war. Die weißen und bleichen Schafe begannen zu singen, doch es kam kaum ein Laut aus ihren Mündern, so als wären ihre Stimmbänder bereits nicht mehr da. Als wären sie… verrottet. Erna war dazu verdammt, in der letzten Reihe zu sitzen, war zu spät dem Ruf der Glocke gefolgt, und schon morgen würden alle darüber reden. So war das in kleinen Dörfern nun einmal.

Während die alte Frau in ihrem Traum dieses unheimliche Kircherlebnis machte, verstummte in der wirklichen Welt die Glocke auf dem Turm der alten Kirche wieder. Der Wetterhahn drehte noch immer seine Runde und wenn er sprechen könnte, hätte er gesagt: Hey Leute, die Glocke hat geläutet, warum hört ihr es nicht? Aber der Wetterhahn konnte nicht sprechen und niemand im Dorf schien das nächtliche Geläut gehört zu haben. Einzig Erna Tietz nahm den Klang der Glocke unterbewusst wahr, und baute sie in ihrem wirren und gottesängstlichen Traum ein. Wer im Dorf sollte das Glockenläuten sonst mitbekommen, wenn nicht sie - die Frau, die praktisch mit dem lieben Gott verheiratet war!?

Mit einem Ächzen drehte sie sich in ihrem Bett herum. In Wirklichkeit hatte Erna die Glocke in ihrem ganzen Leben kein einziges Mal gehört. Es gab auch keine gemeinsamen Kirchbesuche mit ihren Eltern - nicht in dieser alten Feldsteinkirche – nicht in irgendeiner anderen Kirche. Erna Tietz, geb. Rietmüller, war ein Waisenkind.

2

»Mensch Junge, pass doch auf!« Der Lastwagenfahrer rief erbost und zutiefst erschrocken aus seinem Fenster. Frederick Häusler, genannt Freddy, drehte sich überrascht um. Er war neu im Dorf, war zu Beginn der großen Ferien mit seinen Eltern nach Ringmoor gezogen, und nun erkundete er den kleinen Ort. Freunde hatte er natürlich noch keine gefunden, doch er hoffte insgeheim, dass er auf seiner Tour durch die Straßen vielleicht ein paar Kids treffen würde. Freddys Ferien würden sich dadurch enorm vereinfachen, und der Gedanke an den ersten Schultag, in der neuen und fremden Schule, würde dadurch auch nicht mehr ganz so beklemmend sein.

»Tschuldigung«, sagte Freddy und hob grüßend seine Hand. Der Fahrer des Lasters schüttelte seinen Kopf und brummte anschließend davon. Freddy sah sich um. Viel zu bieten hatte Ringmoor tatsächlich nicht! Er hatte schon das halbe Kaff abgegrast, doch außer ein paar Rentnern und einem geschlossenen Kiosk (wäre auch zu schön gewesen, wenn er tatsächlich aufgehabt hätte), gab es nicht viel zu sehen. Es war ein heißer Sommertag.

Freddy sah zu einer Gruppe Wipfel aus Tannen und Fichten herüber. Oben, neben den Spitzen der Bäume, tanzte ein großer Wetterhahn. Im ersten Moment dachte Freddy, dass der Hahn auf einer der Tannen Platz genommen hatte, was natürlich Blödsinn war. Dann erkannte er die Spitze des Kirchturms, welcher mit dunklen Schindeln bedeckt war. Kirchen gehörten zwar nicht gerade zu Freddys Spezialität, doch immerhin war er in dieser Ecke von Ringmoor noch nicht gewesen. Und… Kirchen hatten oft einen Friedhof.

Mit einem Seufzen schlenderte der Dreizehnjährige in Richtung des Wetterhahns, der sich sanft im leichten Wind drehte. Als er näherkam sah Freddy, dass es eine sehr alte Kirche sein musste, denn das Dach war leicht eingefallen.

Sicher haben die kein Geld dafür, dachte sich Freddy und mit die meinte er die Politiker und Gemeindeleute. Sein Vater hatte einmal gesagt, dass Politiker immer so täten, als hätten sie kein Geld, nur um es dann bei der erstbesten Gelegenheit wo anders zu verscherbeln.

Freddy war jetzt nah genug an der Kirche, um zu sehen, dass es tatsächlich so etwas wie einen Friedhof neben dem Gebäude gab. Uralte und verwitterte Grabmäler ragten in die Höhe. Viele waren aber auch umgekippt oder standen zumindest schief. Die Kirche selbst, war mehr kaputt, als dass sie intakt gewesen wäre. Die Scheiben waren zerbrochen - vermutlich durch Steinwürfe beschädigt - und das Dach war nicht nur eingefallen, es hatte ganze Löcher, durch welche die Sonne schwach hindurch schimmerte. Hinter der Kirche lag ein Wald und dieser war komplett dunkel.

»Ist ja irre!«, sagte Freddy leise und schritt weiter auf die alte Dorfkirche zu. Er ging durch eine kleine geöffnete Pforte, die im Wind leise quietschte. Er schaute hoch zum Wetterhahn, der nun komplett stillstand. Seltsam, dachte der Junge. Das Tor wackelt im Wind und der Geier da oben rührt sich nicht!

Langsam schritt Freddy auf die Kirche zu. Wie alt mochte sie sein? Sechshundert, achthundert oder gar eintausend Jahre? Wie lange war sie schon kaputt? Einen Moment lang dachte er, dass ihm irgendjemand diese Fragen beantworten würde, aber wer sollte das schon tun? Der Wetterhahn etwa? Freddy umrundete die Kirche und sah sich die ersten Grabsteine an. Die Schrift der Steine war komplett verwittert und er konnte kaum etwas lesen, auch, weil die Sprache irgendwie merkwürdig war. Als hätten es Leute vor X-hundert Jahren eingemeißelt. Auf einem hellen Grabmal konnte Freddy mit zusammengekniffenen Augen eine Jahreszahl entziffern. Dreizehnhundertfünfzig stand dort. Er schluckte. »Dreizehn Fünfzig!«, und er fühlte sich auf einmal so jung wie ein frisch geschlüpftes Küken, welches noch etwas Eierschale auf dem Kopf hatte. Freddy tastete an seinen Kopf, doch da war natürlich keine Eierschale. Ehrfürchtig ging er weiter. Er erkannte, dass einige Grabsteine umgekippt waren, weil der weiche Boden sehr nachgiebig war und im Laufe der Zeit die Steine immer mehr versackten. Und wenn man siebenhundert Jahre lang, Stück fürStück, einsackte, fiel man irgendwann um, schoss es durch seinen Kopf.

Ein Knacken holte Freddy aus seinen Träumen zurück. Dann sah er einen Schatten, der sich langsam von ihm wegbewegte. Es war eine mittelgroße Figur, die sehr mühselig trabte und sich dabei nicht nach ihm umsah. Als Nase hatte sie etwas, das wie eine schwarze und sehr spitze Banane aussah. Freddy duckte sich. Die Figur mit der langen Nase ging auf die Kirche zu und verschwand um die Ecke. Als letztes konnte Freddy nur noch das wehende Gewand sehen. Dann war auf der Bildfläche seiner Augen nichts mehr zu erkennen. Langsam ging Freddy zu der Stelle hin, an der er die unheimliche Figur zuerst entdeckt hatte. Das Moos war grün und feucht und beinahe hätte er den flachen Stein übersehen. Er bückte sich, um die Schrift besser zu lesen. Doch es war zu verwittert und allmählich zogen dicke Wolken am Himmel auf, die das Sonnenlicht abschirmten. Victimae de plaga stand auf dem flachen Grabstein geschrieben. Freddy fotografierte mit seinem Handy die Schrift. Zuhause würde er schon rausfinden, was damit gemeint war! Hier, in diesem Kaff, war das Netz zu schwach. Das war noch höllisch untertrieben, denn in Ringmoor war das Netz gleich Null! Freddy steckte sein Handy wieder in die Hosentasche und sah zu der Ecke der Kirche herüber, um welche die Gestalt mit der komischen, langen Nase gegangen war. Wer feierte schon Karneval, mitten im Sommer?

3

Freddy drehte sich gerade um, weil er nach Hause gehen wollte, als es hinter seinem Rücken erneut knackte. Er dachte, dass die nächste unheimliche Kreatur über den alten Friedhof schleichen würde, und zuckte bei dieser Vorstellung leicht, doch spürbar, zusammen. Was mochte es diesmal sein? Ein gebücktes Etwas, mit einer schwarzen Kapuze und leuchtend blauen Augen? So tief und blau, dass der Blick Freddy in seinen Bann ziehen würde? Dieses Ding würde keuchend und ächzend über den Friedhof stolpern, sein Ursprung wäre ein weiteres, schiefes Grab, mit einer weiteren, fast unleserlichen Aufschrift…

Freddy schloss die Augen und zählte bis fünf. Dann blickte er über seine Schulter auf den alten Friedhof und zur leerstehenden Kirche zurück. Es waren Kinder, drei an der Zahl. Sie kamen aus dem nahen Wald und gingen geradewegs auf Freddy zu. Nun sah er endgültig Gespenster! Er wollte gerade losrennen, als einer der drei Jungs rief: »He, bleib stehen!«

Stille

Freddy drehte sich komplett um. Dann erleichterte er seine Atmung. Es waren keine Geisterkinder, die da gerade aus dem Wald stolzierten, sondern ganz normale Kinder. Drei Jungen, ungefähr in Freddys Alter! Er ging einen Schritt in ihre Richtung.

»Wer bist du?«, fragte der Größte der drei fremden Jungs. Er hatte blonde Haare und leichte Segelohren. Freddy dachte sich, dass der Blonde aufpassen müsste, wenn der Wind stärker würde – doch das behielt er lieber für sich!

»Frederick. Freddy… Ich bin neu hier im Dorf«, dabei kickte Freddy einen kleinen Kieselstein fort. Er landete irgendwo zwischen zwei kleinen Grabplatten im Moos.

»Dachte ich mir schon, dass du hier neu bist. Habe dich noch nie gesehen!«, sagte ein anderer der drei Jungen. Er hatte braune, leicht gelockte Haare und trug darauf eine viel zu große Mütze.

»Ich bin Lukas. Das hier ist Hannes, und der Dicke hier, heißt Franz!«, sagte der große Blonde.

Franz rempelte ihn an. »Hey, ich bin nicht dick!«

»Ne, nur in den Zaubertrank gefallen, ich weiß«, Lukas lachte. Er kannte diesen Spruch mit dem Zaubertrank erst seit kurzem, hatte ihn von anderen Kindern gehört, und fand ihn in diesem Moment passend. Hannes sah zu Freddy und hob dabei theatralisch seine große Mütze vom Lockenkopf. »Ich heiße eigentlich Johannes. Aber alle sagen Hannes.«

»Alle sagen Freddy«, gab dieser zurück und grinste. Dann fügte er hinzu: »Was ist das hier für eine Kirche? Und dieser Friedhof… unheimlich!«

Die drei Jungs sahen sich an, dann sagte Lukas: »Die Kirche ist verlassen. Schon ewig. Der Friedhof ist noch von ganz früher, als die Kirche noch richtig da war.«

Freddy blinzelte. »Also steht die hier nur so rum und verfällt?«

»Wenn du es so sagen willst, ja.«

»Und wohin gehen die Leute, wenn sie in die Kirche wollen?«, fragte Freddy und sah zur alten Feldsteinkirche, die ihm nun noch viel kaputter und unwirklicher als vorher erschien.

»Mir doch egal«, Lukas lachte. Dann hatte er eine Idee, denn er grinste merklich. »Freddy, wenn du Mumm hast und mit uns befreundet sein willst, dann schlage ich eine kleine Mutprobe vor!«

Freddy überlegte kurz. Das war sein Ticket aus der Einsamkeit und dazu noch seine Erleichterung für den ersten Schultag! »Was für eine Mutprobe?«, fragte er schließlich. Lukas steckte mit Hannes und dem dicken Franz die Köpfe zusammen. Es schien so, als besprächen sie die Lage. Dann drehten sich die Jungs wieder zu Freddy herum. »Morgen Abend, so gegen halb zwölf, treffen wir uns genau hier wieder! Dann erkunden wir das alte Gemäuer mal genauer. Bring eine Lichtquelle mit!«

»Ich bin dabei!«, rief Freddy aus. Doch innerlich überlegte er, wie er es schaffen sollte, sich morgen Abend unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. »Also halb zwölf hier morgen Abend!«, sagte er wieder, als wolle er den Deal mit den Dreien sicherstellen. Diese nickten feierlich und verabschiedeten sich wortlos von ihm.

Freddy musste es schaffen! Wenn nicht, hatte er seine Chance auf erste, neue Freunde vertan und er würde am ersten Schultag wie ein Versager dastehen. Wenn er morgen Abend aber hier auf dem Friedhof ankommen würde und die drei Jungs kämen einfach nicht? Wenn sie ihn nur veräppeln wollten? Doch für solche Gedanken war keine Zeit.

Zufrieden schlenderte Frederick Häusler nach Hause. Dort wartete sein PC auf ihn, um die komische Schrift des Grabes zu übersetzen. Das Grab, aus der die Person mit der langen Nase gekommen sein musste! Freddy schauderte.

Auch als er in seinem neuen Zimmer angekommen war und der Duft der Bratkartoffeln, die seine Mutter in der Küche briet, ihn bis dorthin verfolgte, lief dem Dreizehnjährigen noch immer ein Schauer über den Rücken.

4

Es war entsetzlich heiß im kleinen Büroraum der Gemeinde. Engler, der hinter vorgehaltener Hand Raffzahn hieß, hatte zu einer außerordentlichen Sitzung eingeladen - und das mitten im Juli, wo man lieber zuhause vor dem Ventilator lag und sich mit Eistee die Zeit vertrieb! Die Mitglieder des Gemeinderats, Jutta Buschenhagen, Kuno Ebermann, Manfred Stolpe, Bettina Leibrecht und Richard Vollmer, sahen zu ihrem Vorsitzenden auf. Stefan Engler, 52 und von Haus aus profitgeil, hatte den Projektor eingeschaltet.

»Es geht, wie ihr unschwer erkennen könnt, um die alte Kirche im Dorf«, sagte Engler und zeigte mit einem langen Stock auf das Bild. Dort war die graue Feldsteinkirche, mit ihrem kaputten Dach, den zerbrochenen Scheiben und dem dicken Wetterhahn zu sehen. »Ich habe mit der Bank gesprochen - und mit dem Bürgermeister. Wir haben eine echte Chance für Ringmoor!«

»Um was genau geht es?«, fragte Richard Vollmer und klang etwas genervt. Wegen dieser dämlichen Sitzung verpasste er ein Freundschaftsspiel seiner Wölfe gegen den HSV.

»Das Gelände der alten Kirche ist marode«, sagte Engler. »Das Teil steht seit mindestens hundertfünfzig Jahren leer, gammelt vor sich hin und nimmt Platz weg!«

»Platz wofür?«, fragte Bettina Leibrecht und rückte ihre Brille zurecht.

»Platz für einen neuen, großen Supermarkt!«, sagte Stefan Engler feierlich. »Wir können hier einen namenhaften Einkaufsriesen ins Dorf bekommen! Denkt nur mal an die vielen Besucher!«

»Und was wollen deine tollen Besucher hier?«, Kuno Ebermann verdrehte die Augen. »Denkst du, nur weil man bei uns einkaufen kann, lassen die ihr Geld bei uns in den Briefkästen? Oder malen sie dann unsere Häuser hübsch an?«

Jetzt war Engler genervt. »Überlegt doch einmal! Welches Kaff hier in der Gegend hat einen vernünftigen Laden?«

Allgemeines Gemurmel wurde laut.

»Eben drum. Keines der Dörfer! Wo ist der nächste Supermarkt?«, Engler kam in Stimmung.

»Lachendorf«, sagte Vollmer.

»Wenn nun alle Leute aus den umliegenden Gemeinden nicht mehr nach Lachendorf fahren, sondern zu uns nach Ringmoor kommen…«, sagte Engler. »Dann haben wir hier Durchgangsverkehr. Der Kiosk, der mehr geschlossen ist als alles andere, würde wieder öffnen. Ich habe schon Anfragen von einer kleinen Bäckerei bekommen, die sich neben dem Supermarkt niederlassen möchte. Später eine Tankstelle am Ortsrand…«, jetzt begann Engler zu schwärmen.

»Die alte Kirche kriegen wir niemals abgerissen!«, sagte Manfred Stolpe nun, nachdem er, bisher nur schweigend, zugehört hatte. »Die steht unter Denkmalschutz! Weil das auch eine Art Attraktion hier ist!«, dabei betonte er Attraktion so, als wolle er auf Englers Supermarkt-Sensation anspielen.

»Eine tolle Attraktion«, murmelte der Gemeinderatsvorsitzende nur. »Sie steht nutzlos herum, wird nicht gebraucht und sieht einfach nur gruselig aus!«

»Sie hat zwei Weltkriege unbeschadet überdauert!«, rief Kuno Ebermann. »Muss schon etwas Magisches sein!«

»Das liegt daran, weil sich kein Bomber nach Ringmoor verirrt!«, schnauzte Engler. Dann fuhr er fort. »Also, ich schlage vor, ihr überlegt es euch. Aber nicht zu lange. Die Bank möchte auch Gewissheit haben!«

»Wem gehört die Kirche überhaupt?«, war einer der Sätze, die nun gesprochen wurden. »Was sagt das Bistum dazu?«

»Die Kirche gehört einzig Ringmoor! Wir, als Gemeindevorsteher, haben hier das Sagen. Zusammen mit der Politik, versteht sich. Der Bürgermeister, der leider verhindert ist, ist auch vom Vorteil des Supermarktes überzeugt. Denkt doch nur mal an die entstehenden Arbeitsplätze«, Engler wurde ruhiger.

Wieder wurde ein Gemurmel laut. Konnte man ohne den Bürgermeister so etwas entscheiden?

»Aber der Friedhof… was ist mit den Toten?«, sagte endlich Richard Vollmer.

»Wenn du die meinst, die seit mindestens fünfhundert Jahren da unten liegen: Die sind alle zu Erde geworden. Aber natürlich würden die Baufahrzeuge den Grundboden ordentlich sanieren, wenn die Kirche erst nicht mehr steht.«

»Ich weiß nicht…«, sagten fast alle aus einem Mund. Doch am Ende des Tages stimmten sie zu. Wenn der Bürgermeister, die Bank und auch Engler schon beschlossene Sache gemacht hatten, was brachte es dann weiterhin an dem alten, noch dazu unheimlichen Gebäude festzuhalten? Man sagte sich zwar, dass die Kirche im Internet bei Geisterjägern als besonders attraktiv galt, aber das war kein Argument. Es war zu warm, als dass man noch länger im Gemeindebüro sitzen wollte. Vielleicht wäre das Dorf doch froh, wenn etwas modernisiert werden würde!? Die Toten auf dem Friedhof konnten sich schließlich nicht mehr beschweren!

5

Benno Häusler schlug die Zeitung heftig zu. Er sah zu seinem Sohn, dann zu seiner Frau, und dann wieder zu seinem Sohn. Freddy war ein guter Junge. Okay, er war jetzt im Flegelalter, wie viele Leute vielleicht sagten, aber trotz allem, war er ein unkompliziertes Kind. Die Nachricht, die Benno der Tageszeitung entnommen hatte, machte ihm Angst und er brauchte eine gewisse Körperbeherrschung, um seinen Kaffee, samt Brötchen, nicht wieder auszukotzen.

»Es werden drei Jungen vermisst«, sagte Benno und blickte erneut besorgt zu Freddy. War sein Sohn mit dreizehn Jahren schon groß genug, um vor bösen Menschen sicher zu sein? Oder lief er immer noch Gefahr in die Fänge von skrupellosen Bestien zu geraten? Freddys Mutter schaute von ihrem Abwasch auf. »Ich habe im Radio davon gehört!«, rief sie erschrocken aus. Freddy hörte damit auf, auf seinem Brötchen zu kauen. Interessiert griff er nach der Zeitung, die sein Vater vor sich hingelegt hatte. Schon auf der zweiten Seite fand er die Meldung.

Drei Jungen aus Lachendorf verschollen. Seit drei Tagen wird nach den Jungen Joshua K., Milan F. und Sven M. aus Lachendorf gesucht. Die Vierzehnjährigen waren zusammen unterwegs und kamen abends nicht mehr nach Hause. Es wird vermutet, dass es sich um eine geplante Absetzung der drei Teenager handelt. Die Polizei ermittelt. – Weiter las Freddy nicht.

Unter dem Artikel, in welchem noch nach Augenzeugen und sonstigen Eventualitäten gesucht wurde, waren drei Bilder der vermissten Jungen. Er kannte die Jungen nicht, doch einer von den Dreien trug eine Mütze und Freddy wusste nicht, wo er so eine Mütze schon einmal gesehen hatte. Sie kam ihm… irgendwie bekannt vor. Freddy fand, dass die drei Kids recht normal aussahen und - auch wenn sie ein Jahr älter als er selbst waren - er konnte sich vorstellen, mit ihnen befreundet zu sein. Sie wirkten wie gewöhnliche Teenager, die jeden Moment um die Ecke geschlendert kämen.

Bei diesem Gedanken wurde es Freddy flau im Magen. Jungen, so wie er. Verschollen. War die Welt voller Gefahren? Konnte es etwa jeden treffen? Dann fiel ihm etwas Anderes wieder ein, und das machte das komische Gefühl in seiner Magengegend nicht unbedingt besser: An diesem Abend war er verabredet, um halb zwölf, auf dem alten Friedhof…

Scheiße, dachte er in diesem Moment. Ihm war eingefallen, dass er es komplett vergessen hatte, die seltsame Inschrift der Grabplatte, mit Hilfe des Internets übersetzen zu lassen. Als er gestern Abend nach Hause kam, wollten seine Eltern einen Bericht von seiner Tour durch das Dorf haben. Dann hatten sie die gebratenen Kartoffeln gegessen und Freddy hatte ferngesehen.

»Ich bin fertig, muss dringend in mein Zimmer!«, sagte er und stand schnell auf.

»Räum bitte zuerst dein Geschirr weg, ich wasche gerade ab!«, rief seine Mutter verärgert.

Freddy gab ihr den Teller und sein Glas, und lief dann schnell in sein Zimmer. Dort angekommen, startete er seinen Computer und wartete ungeduldig, bis Windows gestartet war. Er öffnete den Browser einer Suchmaschine und gab den Text ein, welchen er am Vortag mit seinem Handy abfotografiert hatte: victimae de plaga.

Es war Latein und der Übersetzer sagte, dass der Tote des Grabes, das Opfer eines Schlaganfalls gewesen war. Freddy ärgerte sich. Er glaubte nicht, dass die Leute vor vielen hundert Jahren schon wussten, was ein Schlaganfall gewesen war - und selbst wenn, Freddy fände es merkwürdig, dieses auf einen Grabstein zu schreiben. Diese Übersetzer aus dem Internet waren anscheinend wirklich nicht sehr genau…

Er dachte nach. Wenn man davon ausging, dass der Tote tatsächlich ein Opfer von Irgendetwas war, dann war er ein Opfer der plaga, wie es auf dem Stein eingemeißelt stand. Wenn man plaga grob übersetzte, dann wäre der Tote also ein Opfer der Plage. Nur welche Plage? Er überlegte weiter. Im Religionsunterricht gab es die Plage des Froschregens oder eine, von einer tagelang dauernden Finsternis. Aber Freddy war sich sicher, dass keine von solchen Plagen den Toten umgebracht hatte!

Welche Plage gab es damals, dachte er. Dann fiel es ihm plötzlich ein. Im Mittelalter starben unzählige Leute an der… Pest. Es schien tatsächlich so, als hätte er gestern ein echtes Pestgrab entdeckt. Wow! Ein Grab, in dessen Tiefe ein Körper lag, der zu Lebzeiten mit todbringenden schwarzen Beulen übersät sein musste. Sie hatten in der alten Schule darüber gesprochen, kurz vor seinem Umzug nach Ringmoor. Die Menschen waren der Pest hilflos ausgeliefert, denn die Ärzte hatten damals keine Mittel, um etwas dagegen zu tun. Sie schützten sich selbst, indem sie mit gruseligen Pestmasken bekleidet waren, wenn sie ihre Patienten besuchten. Die Patienten, die hoffnungslos verloren waren. Freddy erinnerte sich an die Bilder, die seine Lehrerin damals im Klassenraum verteilt hatte.

Er dachte an die schwarzen Pestmasken, mit ihren langen Schnäbeln, die wie eine spitze, schwarze Banane aussahen. Dann fiel ihm die Kreatur wieder ein, die auf dem Friedhof unterwegs war - und die so eine schwarze Bananennase im Gesicht hatte. Sie kam aus dem Grab des Pestopfers, da war sich der Dreizehnjährige bombensicher. Mit einem Schlag meldete sich sein Magen wieder bei ihm zurück.

6

Erna Tietz war auf dem Weg zur Kirche. Sie hatte sich, ihr halbes Leben lang, davor gesträubt die Kirche aufzusuchen - und das, obwohl sie so ein gottesfürchtiges und frommes Leben führte. Ihre Gelenke schmerzten stark durch die Arthritis und Erna hatte das komische Gefühl, dass ihre Schmerzen zunahmen, je näher sie der Kirche kam. Schon bald sah sie die dunkle Turmspitze neben den Wipfeln der Tannenbäume hervorragen. In ihrem Traum, den sie vor zwei Tagen gehabt hatte, war sie eilig unter dem Geläut der Kirchenglocke den Weg entlanggelaufen, um nicht zu spät in die Messe zu kommen. Nun war der Weg leer. Die meisten Leute in Ringmoor interessierten sich nicht für das Gebäude. Erna war zu alt, um zu wissen, wie sich die Jüngeren darüber unterhielten - aber die älteren Menschen sahen die Kirche als eine Art Mahnmal an. Man erzählte sich, dass irgendeine göttliche Macht seine schützende Hand darüber gehalten haben musste, als im zweiten Weltkrieg die Fliegerbomben auf das Dorf abgelassen wurden. Erna konnte sich daran nicht mehr erinnern, denn sie war noch ein kleines Kind gewesen, frisch vom Tod der Eltern getroffen.

Einmal hatte eine gute Freundin ihr erzählt, dass die Toten des alten Friedhofs über die Kirche wachen würden, doch das hielt Erna schon damals für eine blöde Geschichte und jetzt, über vierzig Jahre später, konnte sich die Neunundachtzigjährige auch nicht mehr ganz genau daran erinnern. Die Toten bewachen ihre schützende Hülle, hatte ihre Freundin damals gesagt.

Wer in die Kirche gehen wollte, fuhr nach Lachendorf. Die Kirche in Ringmoor verfiel und wurde lieblos liegengelassen.

Erna wusste nicht, dass die jüngeren Leute diesen Lost Place, wie sie ihn nannten, häufig frequentierten. Sie machten Bilder und Videos, kletterten ins Gebäude - und manche von ihnen bekamen es auch tatsächlich mit der Angst zu tun, wenn, aus einer dunklen Ecke der verlassenen Feldsteinkirche, etwas knackte und knirschte. Erna wusste nicht, dass die Kirche unter Geisterjägern und Gruselfans als Geheimtipp galt. Einfach, weil es einmal ein heiliger Ort gewesen war, der in der Neuzeit fast verachtet wurde - und natürlich auch, weil der alte Friedhof mit seinen umgestürzten Grabsteinen die perfekte Kulisse bot. Doch woher sollte Erna Tietz das wissen? Sie war froh, wenn sie morgens noch atmete, nachdem es ihr gelungen war, die Augen aufzuschlagen!

Sie erreichte die Kirche. Die Pforte war nicht verschlossen, sondern klapperte lose in der Aufhängung. Es war nicht so warm, wie die letzten Tage, und ein kalter Wind heulte um die Baumkronen hinter der grauen Kirche. Der Wetterhahn schrie: Pass auf Erna, pass auf, sie werden dich holen! Doch Erna konnte ihn nicht hören. Er quietschte in fünfundzwanzig Metern Höhe vor sich hin, angetrieben durch den kalten Wind. Die alte Frau ging auf die Kirche zu und berührte die Klinke der morschen Holztür. Sie öffnete sich leicht und Erna betrat den dunklen und staubigen Kirchenraum. Als sie die Tür wieder hinter sich schloss, flammte in der kleinen Sakristei eine Kerze auf. Sie wurde entzündet von jemanden, der wusste, wie man die Toten zu begrüßen hatte.

7

Engler machte sich auf dem Weg zur lästigen, alten Dorfkirche. Bevor er dafür sorgte, dass das nutzlose Gemäuer dem Erdboden gleich gemacht wurde, wollte er noch einmal nachsehen, ob nicht irgendetwas Wertvolles darin enthalten war. Er glaubte zwar nicht daran - immerhin stand das Ding seit gefühlten zweihundert Jahren leer, und sicher war er nicht der Erste, der der Kirche seitdem einen Besuch abstattete.

Engler hatte von irgendwelchen Geisterjägern gehört, die dort angeblich öfter einkehrten. Doch diese waren meist so harmlos und spirituell angehaucht, dass sie es niemals wagen würden, irgendwelche Dinge zu entwenden. Doch was war mit der Jugend? Konnte man den Jugendlichen noch trauen, in der heutigen Zeit? Egal. Es würde ja nicht lange dauern, nur einen Moment in die Kirche schauen (groß war sie ja nicht) und dann: schnell wieder weg!

Stefan Engler kam an die Pforte, welche nun felsenfest verschlossen war. Er musste sie beinahe aufbrechen, damit er hindurchgehen konnte. Ein normaler Mensch wäre vielleicht herübergeklettert, aber seitdem er keinen Sport mehr machte, war Englers Körper etwas eingerostet. Der Vorsitzende des Gemeinderats schaffte es schließlich, unter Aufbringung großer Kraft, die Pforte zu öffnen. Langsam ging er auf die Kirche zu und lauschte. War da nicht ein Geräusch zu hören? Etwa einer von diesen dämlichen Geisterjägern, der nun stören würde? Leicht wütend stampfte Engler weiter. Vor der Holztür blieb er stehen. Er atmete tief durch. Wieder dieses Geräusch. Es kam von drinnen und klang fast so, als würde jemand winseln und jammern. Vielleicht ist das der Moment, an dem jemand meine Hilfe braucht, dachte er sich kurz. Dann öffnete er die Tür und ging in die Kirche.

Drinnen war es kalt (beinahe eisig) und ein schwaches Licht drang, aus einer hinteren Ecke, in den dunklen Kirchenraum hinein. Die Holzbänke waren staubig und mit seildicken Spinnenweben benetzt. Hier hatte schon lange keiner mehr gesessen! Engler ging den schmalen Mittelgang nach vorne hindurch. »Hallo!?«, rief er. »Ist hier jemand?« Keine Antwort. Er ging zwei Schritte weiter, dann keuchte jemand. Im Kirchenraum hallte der Laut merkwürdig nach und Engler dachte, dass er dieses Geräusch niemals vergessen würde.

Hinten, am Altar, befand sich das Tabernakel, ein kleines Schränkchen, in dem Kelche und Schalen mit Hostien aufbewahrt wurden. Es war zwar unwahrscheinlich, dass sie heute noch darinstanden, aber… man konnte ja einmal nachsehen. Engler sah Kelche aus purem Gold vor sich und der Glanz des Goldes schimmerte vor seinem inneren Auge. Prachtvoll und mächtig. Er ging die drei Stufen zum Altar hinauf. Gab es dort goldene Kerzenständer? Nein, Fehlanzeige. Die Altarplatte war leergeräumt.

Mit vor Gier zitternden Finger machte er sich daran, das Türchen des Tabernakels zu öffnen. Erst hole ich mir das Gold und dann kracht die Bude ein, schoss es ihm durch den Kopf. Er ruckelte am Verschluss, dessen rostige Scharniere klemmten. Dann war ein leises Knacken zu hören und der kleine Schrein öffnete sich.

Durch die zerbrochenen Fenster der Kirche heulte der Wind. Es klang so, als ginge jener Wind durch die Pfeifen der kleinen Orgel, die über und über mit Spinnenweben verdeckt war. Engler ließ sich davon nicht beirren. Er öffnete das Türchen… und fand nur einen kleinen Zettel darin. Verdutzt (und enttäuscht) nahm er das wertlose Stück Papier heraus. Er faltete es auf und sah darauf eine Nachricht, die mit dicker roter Tinte geschrieben war. Merkwürdigerweise schien es noch nicht lange her gewesen zu sein, denn die Tinte tropfte auf seine Finger und fühlte sich warm an. Christi Blut für dich vergossen…

Sie war vor dir hier, stand auf dem Papier geschrieben. Engler las es nochmal. Sie war vor dir hier… Wer war hier? Was sollte dieses Spiel überhaupt?

»Hört zu, ihr Geisterjäger - oder was ihr sonst hier treibt«, rief er. »Ich habe keine Zeit für dieses Spiel und ich lasse mich nicht von euch zum Narren halten! Habe euch von draußen schon gehört!«

Kichern

»Es reicht. Der Schuppen hier wird eh abgerissen!«, seufzte Engler und wollte den Weg vom Altar zurückgehen.

Wir haben ihr auch etwas abgerissen!

Engler schnaubte genervt. Sollten diese Kinder, denn in seinen Augen waren diese Geisterfans Kinder, doch ihre albernen Spiele spielen. »Ich rufe die Polizei«, sagte er nur.

Er ging nach vorne, in Richtung der Tür. War da jemand auf der hinteren Kirchenbank? Engler ging näher. Dort saß eine alte Frau, die ihm vorher noch nicht aufgefallen war. Sie starrte nervös nach vorne.

»Haben Sie eben hier gesprochen?«, fragte er nur, immer noch perplex von ihrer Anwesenheit. Doch er bekam keine Antwort. Als er näherkam und gerade meinte zu erkennen, was mit der Frau nicht stimmte, wurde es dunkel vor seinen Augen.

Von außen wäre in diesem Moment ein Schrei zu hören gewesen, doch da sich niemand für die alte Kirche interessierte - oder gar in deren Nähe kam - konnte es auch keiner hören. Als es wieder ruhig wurde, erklang nur noch das sanfte Quietschen des Wetterhahns, oben auf dem Turm.

8

Freddy blickte zur Decke. Es war endlich still geworden und seine Eltern schienen zu schlafen. Den halben Abend über hatte sich der Dreizehnjährige Gedanken gemacht, was er tun sollte, wenn seine Eltern nicht ins Bett gehen würden. Dann war sein Abenteuer in Gefahr - und sein Einstieg in die Dorfjugend ebenfalls. Guckt, das ist der Junge, der sich nicht traut, nachts zur alten Kirche zu kommen, hätten sie dann am ersten Schultag gesagt. Seht ihr den da? Er hat erst großspurig einem Treffen an der verlassenen Kirche zugestimmt, um dann wie ein Baby zu Hause zu bleiben!

Aber er hatte Glück. Gegen halb elf waren sein Vater und seine Mutter in ihr Schlafzimmer gegangen und schon um elf war alles ruhig und dunkel im Haus. Bis zur Kirche waren es etwas mehr als zehn Minuten und wenn Freddy um viertel nach elf aufbrach, leise natürlich, war er locker um halb zwölf auf dem kleinen Friedhof. Dem Pestfriedhof.

Vorsorglich hatte er seinen dunklen Rucksack gepackt und außerdem eine Taschenlampe besorgt. Freddy grinste. Lichtquelle hatte Lukas es genannt. Bring eine Lichtquelle mit! Über diesen altmodischen Ausdruck musste er etwas lachen, doch nur leise, innerlich. Er stieg in die Sneakers, zog sich seinen dunklen Kapuzenpulli über, nahm den Rucksack - und kam sich wie ein Bankräuber vor, wie er da so vermummt durch das Fenster seines Zimmers kletterte. Vermummt und mit einem Rucksack voller Beute. Dabei war in diesem Rucksack nur… die Lichtquelle.

Das Fenster machte keinen Mucks, obwohl Freddy der festen Überzeugung war, dass es höllisch knarren und quietschen würde, sobald er sich hinaus schwang. Nun war er doch froh, dass sein neues Zimmer im Erdgeschoss lag. Er kam mit seinen Schuhen auf dem feuchten Rasen auf, die Sohlen der Sneaker schmatzten auf den nassen Grashalmen. Auch dieses Geräusch empfand Freddy im ersten Moment als verräterisch und so laut, als käme es einer Explosion nahe. Doch es blieb still im Haus, kein Licht leuchtete auf.

(Keine Lichtquelle)

Er zog das Fenster wieder vorsichtig ran, legte einen kleinen Stein davor, und schlich sich in Richtung Dorf davon. Seine Eltern würden keinen Grund dazu haben, um in seinem Zimmer nach ihm zu sehen.

9

Der Mond schien hell, er war noch nicht ganz voll, hatte aber schon ein beachtliches Volumen erreicht. Im silbrigen Mondlicht tauchte die Spitze des Kirchturms auf. Freddy blieb stehen. Es war komplett ruhig. Er näherte sich der Kirche und hielt schon einmal Ausschau. Noch konnte er keinen der anderen Jungen entdecken, doch sie würden sicher hier sein. Vermutlich taten diese Burschen so etwas öfter. Vielleicht hatte es ja auch Tradition in Ringmoor, sich nachts auf Friedhöfen herumzutreiben? Oft würde er so etwas nicht brauchen, das stand fest. Aber einmal wollte Freddy es wagen. Die Kirche übte einen unbekannten Reiz in ihm aus, obwohl er sich sein Leben lang nicht um Kirchen, oder dergleichen, geschert hatte! Doch in dieser Nacht, zog die Kirche Freddy magisch an.

Schon hatte er die Pforte erreicht, die, wie beim letzten Mal auch, lose in der Aufhängung lag. Der Wald hinter der Kirche war schwarz und dunkel, außer ein paar runden, orangenen Lichtern, so klein wie Murmeln. Diese Lichter funkelten zwischen den Bäumen.

Freddy dachte an Glühwürmchen und ging weiter. Er zog sein Handy aus der Tasche, während er durch die Reihen der schiefen Grabmäler ging. Es war kurz vor halb zwölf. Er steckte das Handy wieder in die Hosentasche zurück und blieb stehen. Da war ein Geräusch gewesen. Es kam aus der verlassenen Kirche.

»Hallo?«, sagte Freddy. Er bekam keine Antwort. Vielleicht sind sie schon drinnen, dachte er sich. So musste es sein! Er näherte sich der Holztür und wollte gerade nach der Klinke greifen, als hinter ihm eine kalte Stimme erklang.

»Hallo Freddy.«

Freddy schnellte herum. Er sah direkt in die Gesichter von Lukas, Hannes und Franz. Hannes trug wieder seine viel zu große Mütze und plötzlich fiel es Freddy ein. Die Mütze, welche Milan auf dem Foto in der Zeitung getragen hatte. Jene Mütze, die ihm bekannt vorkam. Hannes trug so eine Mütze auf seinen dunklen Locken.

»Hey«, sagte Freddy nur.

»Hast du Licht dabei?«, fragte Lukas, die beiden anderen Jungen versteckten sich hinter ihm.

»Ja. Im Rucksack.«

»Gut«, sagte Lukas und er klang dabei irgendwie befriedigt.

»Woher hast du eigentlich diese Mütze?«, fragte Freddy an Hannes gewandt. »Die gefällt mir!«

»Die Mütze?«, Hannes klang überrascht. »Die habe ich gefunden!«

»Wo findet man denn Mützen?«, Freddy klang zweifelnd.

»Was weiß denn ich!«, raunte Hannes und wirkte unsicher.

»Lasst uns jetzt lieber reingehen!«, rief Lukas ungeduldig.

»Ich… ich würde mich gerne auch auf dem Friedhof hier vor der Kirche umsehen«, sagte Freddy und versuchte etwas Zeit zu schinden.

»Von mir aus«, Lukas klang beleidigt.

»Ja, ist doch wahnsinnig spannend. Ich habe herausgefunden, dass eines der Gräber durch die Pest entstanden ist!« Freddy lächelte leicht.

»Ja, das kann sein«, sagten alle drei Jungen wie aus einem Mund.

Sie entfernten sich von der Kirchentür und gingen zurück in Richtung der Grabsteine.

»Was glaubt ihr, wie alt sind diese Gräber?«, fragte Freddy interessiert.

Die Jungen antworteten nicht. Eher wirkten sie etwas unruhig, gar verletzt.

»Im Moor, unten im Wald, sind auch Gräber!«, sagte Franz und blickte zu Freddy.

»Im Wald ist Moor? Und noch ein Friedhof?«

Die Jungen nickten leicht mit den Köpfen.

»Wir können dir die Gräber zeigen, sie sind toll!«

»Aber die Kirche?«, sagte Freddy und blickte zum dunklen Gemäuer hinüber.

»Ja, die Kirche«, stimmte Lukas ihm zu. »Lasst uns endlich reingehen!«

Sie kehrten um, und Freddy glaubte ein kleines Licht in der Kirche zu sehen. Er schüttelte den Kopf, als wolle er eine dumme Idee loswerden, und ging weiter. Freddy schaute auf sein Handy, wie viele Minuten war er nun schon hier? Das Handy war tot.

Eine Minute später standen sie vor der Tür.

»Mach sie auf!«, riefen Lukas, Hannes und Franz. Dabei sahen ihre Augen für einen kurzen Moment so aus, als wären sie glühend heiße orangene Murmeln. Wie die Murmeln, welche vor wenigen Minuten im Wald leuchteten. Freddy gehorchte und griff an die Türklinke. Knarrend öffnete sich die Tür und ein kalter Luftzug schlug Freddy entgegen. Er ging in die Kirche, und die Jungen folgten ihm. Einer schlug die Tür zu.

»Willkommen«, sagte Lukas. »Setz dich doch!«

»Setzen?«, Freddy klang verwundert.

»Gleich beginnt die Messe. Such dir einen guten Platz aus, die anderen werden auch gleich reinkommen!«

Jetzt verstand Freddy gar nichts mehr.

»Sie hin, da sitzen schon zwei Leute!«

Freddy kniff die Augen zusammen. Er sah eine alte Frau und daneben einen, etwas dicklichen, Mann mittleren Alters.

Er näherte sich den beiden. In diesem Moment drang das Mondlicht durch das kaputte Fenster und Freddy sah, dass die alte Frau blutete. Etwas schien ihr aus der Brust genommen worden zu sein. Freddy schluckte. Der dicke Mann, der neben der Frau saß, starrte mit offenen Augen ins Nichts.

»Geh weiter nach vorne, feiere mit uns. Feiere für uns. Wir sind schon viele Jahre hier, wir sind die Vergessenen aus dem Moor«, flüsterte Lukas. Dann begann die Glocke im Turm der Kirche zu läuten. Ein Kerzenlicht wurde entzündet, dann noch ein weiteres Licht. Lukas, Hannes und Franz schlossen ihre Augen und genossen den Moment. Dann öffnete sich die Tür und bleiche, dürre Gestalten mit schwarzen Beulen torkelten in die Kirche. Sie schienen zu singen, doch aus ihren Mündern drang kein Ton. Freddy stockte der Atem, schließlich war das die erste Geistermesse, welcher er in seinem Leben beiwohnte.

Epilog

Die Kirche von Ringmoor nahm in dieser Nacht einen besonders strahlenden Glanz an. Wie so oft, strömten die Toten aus den Gräbern in die Kirche, um ihre Totenmesse abzuhalten. Wie so oft, gesellten sich auch drei Jungs dazu, die vor vielen hundert Jahren im Moor bestattet wurden, weil der Boden an der Kirche keinen Platz für die vielen Opfer der Beulenpest bot. Lukas, Hannes und Franz hatten Glück, als vor einigen Tagen drei fremde Jungen durch den Wald gingen. Sie waren leichte Opfer und endlich konnten sich die drei Burschen aus dem Moor zeitgemäßer kleiden. Der neue Junge aus dem Dorf war anders, das merkten sie schnell. Sie hatten ihn nicht ohne Grund zu ihrer Andacht eingeladen. Damals wurden sie wie Abfall in der Erde verscharrt, ohne einen Segen und ohne eine liebe Ansprache. Es wurde Zeit, dass die Menschen Notiz von ihnen nahmen. Solange die alte Kirche im Dorf existieren würde, solange würden sie ihre nächtliche Messe feiern. Dabei würden sich die Toten von Ringmoor, von niemanden aufhalten lassen.

Nachwort vom Autor

Als ich „Die Kirche in Ringmoor“ schrieb, befand ich mich noch mitten in der Schreibphase zu „Eichenbach“. Ich brauchte eine kurze Ablenkung, etwas, was meinen Kopf auf andere Gedanken brachte. „Die Kirche in Ringmoor“ war meine allererste Kurzgeschichte; aus diesem nostalgischem Grund, befindet sie sich auch an erster Stelle in diesem Buch. Alle anderen Geschichten sind willkürlich ihrer Entstehungszeit angeordnet.

Als ich die Kurzgeschichte von der alten Kirche redigiert habe, habe ich gemerkt, wie gut sie mir gefällt. Ich hoffe, dass Sie genauso viel Freude beim Lesen hatten, wie ich, als ich die Geschichte, mehr als drei Jahre später, neu für mich entdeckt habe.

Botschaften von Hohenfels