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Eine unfreiwillige Beobachtung weckt in Yun den unaufhaltsamen, ursprünglichen Drang nach Wahrheitsfindung. Auf eigene faust macht er sich auf die Suche und findet schließlich noch mehr, als er sich insgeheim erhofft hatte.
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Seitenzahl: 176
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für Tommy
Widmung
1 MITTWOCH
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4 DONNERSTAG
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6
7
8 FREITAG
9 MONTAG
10
11 DIENSTAG
12
13
14 MITTWOCH
15
16
17 DONNERSTAG
18
19 FREITAG
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22 SAMSTAG
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Impressum
Schnell wurde die Pfütze aus Blut immer größer, bis sie zu einem roten See in einer Vertiefung des grauen Betonbodens angeschwollen war.
Die leblosen, weit aufgerissenen Augen blickten ausdruckslos ins Leere.
Als er die Haustür öffnete, schlug ihm ein scharfer Wind entgegen. Mit eiligen Schritten ging er, den Reißverschluss seiner Jacke bis ganz nach oben geschlossen und die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, zu seinem Auto, das mitten in der Einfahrt parkte.
Aus dem Kofferraum holte er ein große Big Bag heraus. Schnell klemmte er es unter den Arm und kehrte zum Leichnam zurück. Er hob die Füße des Toten an, stülpte den großen Sack darüber und schob den weißen Gewebestoff dann langsam an den Beinen nach oben bis zur Hüfte.
Jetzt wollte er den Körper auf die Seite drehen, aber vorher musste er noch das große Jagdmesser entfernen, dass mit der ganzen Klinge fest in der Taille des Toten steckte.
Ganz vorsichtig zog er die Schneide Stück für Stück aus dem Fleisch, dabei stieg ein leichter Brechreiz seine Kehle empor und er schluckte kräftig, um ihn zu unterdrücken.
Die große aufgeplatzte Wunde oberhalb der Schläfe, aus der immer noch etwas Blut sickerte, versuchte er beim Drehen des Körpers zu ignorieren.
Früher, als er noch ein Junge war, hatte ihn sein Vater um ihn abzuhärten, ohne Vorwarnung an einem Nachmittag mit in die Schlachterei eines befreundeten Metzgers genommen.
„Schau genau hin!“, hatte er gesagt, während er seinen Kopf zwischen die Hände klemmte, so dass er seinen Blick nicht abwenden konnte, als dem Schwein, nach der Betäubung mit dem Bolzenschussgerät, das Schlachtmesser die Halsschlagader durchtrennte.
Der Anblick des über Kopf an den Hinterläufen aufgehängten Tieres, aus dem das Blut in einem dünnen Faden aus dem weit aufklaffenden Schnitt an der Halsschlagader in einen Eimer lief, würde er nie wieder vergessen.
Damals hatte er direkt neben dem Eimer auf den weiß gefliesten Boden der Schlachterei gekotzt und sein Vater beschimpfte ihn als elende Memme.
Doch er hatte recht gehabt, es hatte ihn härter gemacht. Trotzdem wurde ihm noch heute sofort schlecht, wenn er größere Mengen Blut sah.
Nun hob er den Kopf an. In die noch warme Wunde zu fassen, kostete ihn Einiges an Überwindung. Zum Glück war die Totenstarre noch nicht eingetreten, denn kerzengerade würde der tote Körper nicht in den Big Bag hineinpassen. Also richtete er den Sack auf und zog ihn mehrmals ruckartig nach oben, so dass der Tote darin in sich zusammen sackte. Dann band er mit seinen blutverschmierten Händen die Schnur so zusammen, dass sich die Öffnung schloss. Das eben noch weiße Gewebe saugte die Flüssigkeit auf wie ein Schwamm und verfärbte sich rot.
Mit dem blutigen Messer in der Hand lief er in die Küche. Dort spülte er es gründlich ab, schäumte das Waschbecken danach gewissenhaft ein und ließ das Wasser noch eine Weile nachlaufen, um auch die kleinsten Blutreste wegzuspülen. Dann legte er das Messer, nur mit einem Taschentuch haltend, zurück in die Schublade, wo es hingehörte.
Um die Leiche wegzuschaffen, würde er nicht seinen eigenen Wagen nehmen, das wäre eine viel zu große Sauerei, außerdem auch noch zu auffällig. Nein, er würde sein Auto nach hinten fahren, damit es von der Straße aus nicht zu sehen war und den alten Transporter aus der Scheune holen. Sicher steckt der Schlüssel noch, wer sollte das alte rostige Ding auch stehlen wollen?
Zum Transportieren durchs Haus würde er den hässlichen Teppich aus dem Wohnzimmer nehmen. Wenn er den Sack darauf ablegt, könnte er die Leiche bis zur Haustür durch den Flur ziehen, ohne dabei eine blutige Schleifspur zu hinterlassen. Den Transporter könnte er dann bis vor die Tür fahren und den Teppich würde er später einfach verbrennen. Er wusste auch schon, wo er die Leiche hinbringen würde.
Als er seinen Plan umgesetzt hatte und der Tote im Laderaum des alten Transporters verstaut war, wischte er mit einem dreckigen Handtuch aus dem Badezimmer alle Klinken und Flächen ab, die er glaubte berührt zu haben.
Anschließend verbrannte er das Handtuch und den Teppich hinter dem Haus im Garten. Der starke Wind, der vom nahegelegenen Meer herüberwehte, ließ die Flammen wild und hoch auflodern und fegte die schwarze Rauchwolke Richtung Landesinnere davon.
Ganz zum Schluss, bevor er den Tatort verließ, holte er noch das, weshalb er gekommen war.
Später würde er nochmal zurückkommen müssen, um auch noch die große Blutlache zu entfernen, doch jetzt musste er sich erstmal um den Leichnam kümmern.
Kristin saß zu Hause in der oberen Etage an ihrem PC und sah gedankenverloren aus dem großen Schlafzimmerfenster, neben dem sie sich ihren Arbeitsplatz eingerichtet hatte.
Es war ein stürmischer Sommertag Ende August.
„Man könnte meinen, es wäre schon Herbst“, dachte sie, während ihr Blick in die Ferne über die grünen Wiesen des benachbarten, landwirtschaftlichen Betriebes schweifte, der nun schon seit fast zwei Jahren nicht mehr bewohnt war.
Naja, das stimmte so nicht ganz, denn verteilt auf die drei großen, zum Teil schon sehr in die Jahre gekommenen Ställe, lebten auf dem Hof auch noch ungefähr hundertfünfzig Mastbullen verschiedenen Alters, deren Gebrüll nach Futter sie morgens schon des Öfteren aus dem Schlaf gerissen hatte.
Vorne in der Einliegerwohnung neben dem ehemaligen Wohnhaus war erst vor Kurzem ein junger Mann eingezogen. Bisher hatte sie aber nur von ihm gehört, gesehen hatte sie ihn noch nicht.
Die ehemaligen Besitzer des rund zweihundert Jahre alten Bauernhofs, die diesen über mehrere Generationen mit der Haltung von Milchvieh und etwas Ackerbau bewirtschaftet hatten, wohnten dort nicht mehr.
Gesunkene Milchpreise und die schlechte wirtschaftliche Lage für Kleinbetriebe hatten sie schließlich in die Knie gezwungen.
Ein Großbauer aus dem Nachbarort hatte das Grundstück und die übrig gebliebenen Ländereien anschließend aufgekauft und einen Teil seines Tierbestandes und seiner Landmaschinen dorthin ausgelagert.
Nun kam zweimal am Tag einer seiner Mitarbeiter, um nach den Tieren zu sehen und sie zu versorgen. Die übrige Zeit des Tages wirkte der Hof verlassen und strahlte eine traurige Ruhe aus. Das Gras um den großen Güllebehälter war fast kniehoch und sogar durch den Recycling-Schotter, mit dem der breite Hofweg bedeckt war, hatten sich Unkräuter ihren Weg an die Oberfläche gebahnt. Braune Wildkaninchen hoppelten ungestört zwischen den Ställen herum und auch eine kleine Gruppe verwilderter Katzen fühlte sich auf dem Gelände zu Hause und jagte dort nachts nach Ratten und Mäusen.
Wäre die hohe Maschinenhalle nicht im Weg, so würde Kristins Sicht weit über die Felder bis in das Vorland der Nordsee reichen. Am nebligen Horizont zeichneten sich verschwommen die Umrisse der großen Windmühlen ab, die sich gleichmäßig und unermüdlich im stärker werdenden Wind im Kreis drehten.
Eine Windböe rüttelte kräftig an den Ästen der großen, alten Eichen in Kristins Garten und das beruhigende Geräusch der rauschenden Blätter vor dem offenen Fenster wurde lauter. Die beiden Sturmmöwen, die auf dem First der gegenüberliegenden Maschinenhalle saßen, kreischten mehrmals laut auf und flogen dann Richtung Küste davon.
„Oh nein, nicht schon wieder“, murmelte sie zu sich selbst. Eigentlich wollte sie noch ein bisschen vorarbeiten, als freie Mitarbeiterin einer Werbeagentur konnte sie sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen, aber die weißen Flecken, die im nächsten Augenblick ihr Sehfeld einschränkten, waren eindeutige Vorzeichen einer aufkommenden Migräne und so entschied sie sich, ihren Rechner wieder herunterzufahren, um sich kurz hinzulegen. An stürmischen Tagen oder wenn sich das Wetter veränderte, häuften sich ihre Migräneattacken.
Die viertönige Abschiedsmelodie des PCs erklang und das Licht des Bildschirms erlosch.
Als sie noch einen letzten Blick aus dem Fenster hinunter auf den Nachbarhof warf, rollte gerade in diesem Moment ein blauer, alter Lieferwagen über den Schotterweg und kam vor einem der alten Kuhställe zum Stehen. Die seitlich aufgeklebte Werbeaufschrift war schon zum größten Teil abgeblättert und nicht mehr zu entziffern, nur noch ein paar Fetzen einzelner Buchstaben waren auf dem von der Sonne ausgeblichenen Blech davon übrig geblieben.
Kristin beobachtete, wie ein großer Mann mittleren Alters aus dem Transporter stieg. Seine dunkelblonden, etwas längeren Haare flogen ihm vom Wind erfasst sofort ins Gesicht. Mit einer hektischen Handbewegung strich er sich die Haare nach hinten und zog sich schnell die Kapuze seiner schwarzen Jacke über den Kopf.
„Wahrscheinlich ein neuer Mitarbeiter, der sich um das Vieh kümmert“, dachte sie bei sich, als der Unbekannte Richtung Maschinenhalle ging und durch die rostige Metalltür verschwand.
Nur wenige Sekunden später kam er mit einer großen Schubkarre zurück.
„Kristin?“, die Stimme ihres Mannes ertönte von unten. Sie stand auf und trat in den Flur, um ihn besser verstehen zu können. „Ja?“
„Ich fahre eben einkaufen, Luka hat sich für heute Abend Pizza gewünscht. Brauchst du noch etwas?“
Sie überlegte kurz.
„Bringst du mir für später eine Cola mit? Ich hab mal wieder Kopfschmerzen und muss mich kurz hinlegen.“ Ihre Stimme klang niedergeschlagen und Simon wusste sofort, was mit ihr los war.
„Okay, ruh dich aus, ich bin gleich wieder da“, erwiderte er und dann hörte sie das Zufallen der Haustür.
Als Kristin zurück ins Zimmer ging und wieder aus dem Fenster blickte, stand der Transporter noch immer da, doch der Mann war nirgendwo zu sehen.
Sie wandte sich ab und ließ sich kraftlos auf ihr Bett fallen. Dann schloss sie die Augen.
Die Kopfschmerzen waren nun so stark geworden, dass ihr bereits übel war.
Ungefähr eine Viertelstunde später fuhr der Unbekannte mit seinem Transporter wieder vom Hof, aber da war sie schon längst einschlafen.
Als Yun das herannahende Fahrzeug auf dem Schotter hörte, rannte er so schnell er konnte zum nächstgelegenen Stallgebäude.
Nur mit großer Anstrengung ließ sich die alte, schwere Schiebetür auf der rostigen Bodenschiene bewegen. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, durch den offenen Spalt ins Innere des Stalls zu schlüpfen, bevor der Transporter auch schon um die Ecke kam.
„Das war knapp!“, stöhnte er. Würde er wieder bei den Stallungen erwischt werden, gäbe es richtig Ärger, denn in den Stallgebäuden und in der Maschinenhalle hatte er nichts zu suchen, das wurde ihm beim letzten Mal mehr als deutlich gemacht. Die Worte des unsympathischen Lohnarbeiters in seinen klobigen, schwarzen Gummistiefeln konnte er immer noch in seinem Kopf hören: „Wenn ich dich noch ein einziges Mal in einem der Ställe erwische, dann sorge ich dafür, dass du aus der Wohnung fliegst, kapiert?“
Dabei wollte er sich doch nur mal die Tiere anschauen, die er fast jeden Morgen und Abend nach Futter brüllen hörte. Sie waren ja sozusagen seine einzigen Mitbewohner, denn das große Bauernhaus, das an seine Wohnung grenzte, stand schon lange leer.
Allgemein hatte Yun bei den Dorfbewohnern noch keinen Anschluss gefunden und er fragte sich manchmal, ob es vielleicht daran lag, dass er halb Koreaner war. Die sichelförmigen Augen und seine pechschwarzen Haare ließen ihn eher asiatisch als europäisch aussehen. Da hatte sich sein Vater ausnahmsweise mal nicht durchgesetzt, dachte Yun und ein kurzes Lächeln erhellte sein Gesicht.
Andererseits musste er zugeben, dass er sich auch noch keine besondere Mühe gegeben hatte, sich in das Dorfleben seines neuen Wohnortes zu integrieren. Bislang kannte er nur zwei Menschen: den Postboten und den Hofbesitzer, oder wahrscheinlich war es nicht der Besitzer selbst gewesen, sondern nur der Verwalter des Grundstücks, der ihm vor ungefähr zwei Wochen die Wohnungsschlüssel übergeben hatte.
Ein starker Windstoß erfasste kurz das Tor und ließ es einmal heftig gegen die untere Laufschiene schlagen. Der laute Knall riss Yun aus seinen Gedanken.
Er hatte das große Schiebetor nicht ganz hinter sich schließen können, denn ein kirschgroßer Stein steckte in der Bodenschiene und hatte sich dort verkeilt.
Vorsichtig lugte er jetzt durch den schmalen Spalt nach draußen.
Der Unbekannte war ausgestiegen und gerade in Richtung Maschinenhalle unterwegs. Er war groß, hatte ein kräftiges Kreuz und aus seiner dunklen Kapuze schauten seitlich ein paar Büschel blonder Haare heraus, die im Wind unruhig hin und her flatterten.
Nach wenigen Minuten kam er mit einer großen Schubkarre zurück, die er direkt vor dem Kofferraum seines Transporters platzierte.
Yun hatte den Mann noch nie gesehen, aber wie einer der Stallarbeiter sah er nicht aus. Er wirkte äußerst ernst, vielleicht auch wegen seiner geraden, buschigen Augenbrauen und den tiefen Zornesfalten, die zwischen seinen Augen lagen.
Ungeduldig warf Yun einen Blick auf sein Handy. „Schon halb acht. Mist“, dachte er, wenn er es noch schaffen wollte, den Supermarkt vor Geschäftsschluss zu erreichen, müsste er spätestens in fünf Minuten mit dem Fahrrad losfahren.
Er schob das Handy zurück in seine Gesäßtasche und sah wieder hinaus.
Eilig öffnete der Fremde die beiden Flügeltüren seines Kofferraums und stieg hinein. Yun hörte ein Kratzen, so als würde er etwas Schweres über den Metallboden schleifen, dann sprang der Mann wieder aus dem Fahrzeug heraus und zog einen weißen, großen Gewebesack nach vorn an die Kofferraumkante. Der schien einiges zu wiegen, denn bei jedem Zug musste er sich mit seinem ganzen Körpergewicht nach hinten lehnen. Stück für Stück schaffte er es unter Stöhnen und Fluchen, den Sack weiter aus dem Wagen zu hieven, bis dieser schließlich mit einem dumpfen Geräusch in die Wanne der Schubkarre fiel.
Kurz überlegte Yun, einfach rauszugehen und dem Unbekannten zu helfen, doch schon im nächsten Moment wurde ihm schlagartig klar, dass es besser war, es nicht zu tun.
Der obere Teil des aus festem Gewebe bestehenden Stoffes, der ein Stück über die Wanne der Schubkarre hinausragte, war triefend nass und dunkelrot verfärbt. Stetig tropfte die rote Flüssigkeit auf den steinigen Boden und schnell bildete sich eine kleine Lache.
Größe und Form des Big Bags ließen Yun sofort vermuten, dass es sich bei dem Inhalt um einen menschlichen Körper handeln könnte, und wenn dem so war, dann ohne Zweifel um einen TOTEN menschlichen Körper. Erschrocken legte er seine Hand auf den Mund, um nicht doch noch einen Schrei des Entsetzens von sich zu geben. Dann bewegte er sich langsam und mit zitternden Knien rückwärts in Richtung der großen Strohballen, die an der hinteren Stallwand zu zwei Stapeln aufgetürmt waren. Die umgekippte Schaufel, die auf dem Boden hinter ihm lag, sah er dabei nicht. Mit der Ferse stieß er dagegen und ein kurzes, aber lautes Geräusch ertönte, als das Metall über den Betonboden rutschte.
„Oh Scheisse“, flüsterte er. Schnell drehte er sich um und flitzte auf leisen Sohlen hinter einen der Strohballen-Stapel. Schon im nächsten Augenblick wurde von außen das große Tor aufgeschoben.
Yun regte sich nicht, er wagte es nicht mal, einen Blick durch die Ballen zu riskieren. Lauschend und vor Angst erstarrt, hockte er an der Wand.
Der helle Lichtstrahl, der in den Stall fiel, wurde kurz durch den Schatten des Mannes unterbrochen. Yun hörte seine langsamen Schritte. Er stand jetzt mitten im Raum.
„Hallo? Ist da jemand?“, die tiefe, fordernde Stimme des Unbekannten ließ Yun zusammenzucken.
Als keine Antwort kam, ging er noch zwei weitere Schritte auf die Strohballen zu.
„Wer ist da?“
Er war Yun jetzt so nah, dass er das erregte Schnaufen des Mannes beim Atmen hören konnte.
Auf dem obersten Strohballen lag eine kleine getigerte Katze, die plötzlich, durch den Mann aufgeschreckt, in zwei großen Sätzen nach unten auf den Boden sprang und schnell an ihm vorbei nach draußen huschte.
Ein paar Sekunden war es mucksmäuschenstill.
Dann verschwand der Schatten endlich und Yun hörte das schleifende Geräusch der Tür, als sie über die Schiene rollte. Auch diesmal wurde sie von dem kleinen Stein in der Schiene aufgehalten, doch anstatt sie einen Spalt offen zu lassen, schob der Mann sie wieder ein Stück zurück, um sie dann mit roher Gewalt gänzlich zu schließen. So flog der eben noch fest verkeilte Stein durch die Luft und prallte dann mit einem lauten Knall gegen die Stallwand. Erschrocken zuckte Yun in seinem Versteck zusammen.
Dann Dunkelheit. Erleichtert atmete er auf. Das war gerade nochmal gut gegangen.
Was der Fremde noch tat und wohin er die vermeintliche Leiche brachte, wollte Yun in diesem Moment gar nicht wissen. Er war noch immer schockiert von dem, was er eben gesehen hatte.
Die verschiedenen Geräusche, wie etwa die Schritte auf dem Hof, das Quietschen der Schubkarre oder das Plätschern von Wasser, nahm er nur noch gedämpft wahr, so, als wäre er in eine dicke Nebelwolke gehüllt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hielt Yun es in seinem Versteck nicht mehr aus. Er zog sich die Kapuze seines Pullis über den Kopf und öffnete vorsichtig und ganz langsam das Tor.
Der Transporter stand noch immer an derselben Stelle. Yun sah sich nach dem Mann um, konnte ihn aber nirgendwo sehen.
Sollte er sich lieber wieder verstecken oder konnte er es riskieren, sich über den Hof Richtung Wohnung zu schleichen?
Mit klopfendem Herzen trat er nach draußen, als er hinter sich aus der Richtung, wo sich die große Maschinenhalle befand, plötzlich Schritte auf dem Schotter hörte.
„Hey, bleib stehen!“, rief ihm der Unbekannte zu, doch Yun rannte los. Gleich sein erster Schritt traf mitten in die Pfütze aus Blut, so dass einige Spritzer sich auf dem Hosenbein seiner blauen Jeans verteilten, aber das bemerkte er gar nicht. Das Vorbeirauschen des Windes in seinen Ohren war das einzige, was er noch wahrnahm. Sein Verfolger war überraschend schnell und blieb ihm dicht auf den Fersen.
Immer kleiner wurde der Abstand zwischen ihnen, beinahe konnte sein Verfolger schon nach ihm greifen, doch dann stolperte er über einen aus dem Schotter empor gewachsenen Grasbüschel und stürzte unsanft zu Boden.
Yun rannte weiter bis zur Haustür seiner Wohnung ohne sich umzudrehen. Hektisch riss er sie auf und schloss sofort danach die Tür hinter sich ab.
Nach Atem ringend hielt er inne und lauschte, aber er hörte nichts außer seinem eigenen, stark pochenden Herzschlag. Der Mann schien die Verfolgung abgebrochen zu haben.
Wenige Minuten später vernahm er das knirschende Geräusch rollender Reifen auf dem Schotter, das immer leiser wurde, bis es schließlich ganz verstummte. Yun wartete noch weitere fünf Minuten, bevor er es wagte, aus seinem Versteck zu kommen.
„Verdammt!“, fluchte er verärgert über sich selbst.
Wie konnte er nur so dumm sein und direkt in seine Wohnung flüchten. Aber in seiner Panik war ihm so schnell kein besseres Versteck eingefallen.
Langsam öffnete er die Tür und lief nochmal zum Stallgebäude zurück, immer mit einem Ohr aufmerksam hinter sich horchend, denn er rechnete damit, dass der Mann noch einmal zurückkommen würde.
Statt der Blutlache fand er nur noch eine große, schwach rosa gefärbte Wasserpfütze vor und auch sonst wies nichts auf das hin, was hier eben passiert war. Der Fremde hatte keine Spuren hinterlassen.
Schließlich ging er nach vorn zu seiner Wohnung.
Im Haus angekommen, verschloss er sofort wieder die Haustür hinter sich.
Er zog sich die blutbesprenkelte Hose aus und schmiss sie zusammen mit seinem Pulli in die Waschmaschine. Dann ging er duschen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Die Lust noch Einkaufen zu fahren war Yun vergangen, aber es war sowieso schon viel zu spät.
Grrrr, Grrrr, Grrrr, der unangenehme Ton der Weckfunktion seines Smartphones ließ Yun zusammenfahren. Er fühlte sich wie gerädert, als hätte er in dieser Nacht überhaupt nicht geschlafen.
War er gestern wirklich unfreiwilliger Zeuge einer Leichenentsorgung geworden? Das alles kam ihm unwirklich vor, wie ein mieser Traum.
Immer wieder kreisten das dumpfe Geräusch des in die Schubkarre fallenden Big Bags und das Bild des tropfenden Blutes in seinem Kopf herum und die Überlegung, die Polizei zu informieren und die Beobachtung zu melden, ließen ihn bis spät in die Nacht wach bleiben. Daran änderten auch die beiden Bierdosen nichts, die er am Abend noch in seinem Kühlschrank gefunden und zügig geleert hatte. „Nervennahrung“, dachte er, doch beruhigen konnte ihn der Alkohol kaum, denn der Mörder wusste nun, wo er wohnte und das machte ihm Angst.
Er setzte sich auf und rieb sich einmal durch das von Kissenabdrücken zerfurchte Gesicht.
Sofort drängten sich wieder die Erinnerungen an den gestrigen Tag in seinen Kopf. Er war sich noch nicht sicher, ob er die Polizei einschalten sollte, aber diese Entscheidung würde er auf später verschieben müssen, denn jetzt musste er sich erstmal auf sein bevorstehendes Vorstellungsgespräch konzentrieren.
Als er vor drei Wochen Hals über Kopf sein Elternhaus in Koblenz verlassen hatte, wusste er noch nicht, wie es für ihn weitergehen sollte. Er wollte einfach nur weit weg von zu Hause und von seinen Eltern, die er in letzter Zeit kaum noch ertragen konnte.
Seine Mutter, die ihre koreanische Höflichkeit nicht mal dann vergessen konnte, wenn ihr Mann ihr in einem seiner cholerischen Wutanfälle die wildesten Beleidigungen an den Kopf warf. Und seinen Vater, dessen Unzufriedenheit ihm quasi in Großbuchstaben auf die Stirn geschrieben stand.
Früher, so mit Dreizehn oder Vierzehn, hatte Yun seiner Mutter noch verteidigend beigestanden, wenn sein Vater sie beschimpfte, doch in den letzten Jahren, als ihm klar wurde, dass sich sowieso nichts ändern würde, ergriff er lieber die Flucht. Mit einem lauten Türknall verließ er dann das Haus und kam oft erst abends zurück, wo er sich dann leise und unbemerkt in sein Zimmer schlich.