Nachts, wenn sie kommen - Ursula Kollasch - E-Book

Nachts, wenn sie kommen E-Book

Ursula Kollasch

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Beschreibung

Übersinnliche Wahrnehmungen. Geister. Ruhelose oder verfluchte Seelen. Teufelsanbeter. Böse Dämonen, die Besitz von einem ergreifen. Untote, die aus ihren Gräbern wieder auferstehen. Manchmal ist es ein eiskalter Hauch, der dich streift. Ein Wispern oder leise Schritte auf dem Flur ... Ob in alten Gemäuern, verlassenen Motels, aus der winterharten Erde eines mittelalterlichen Klosterfriedhofs emporkriechend, plötzlich aus dem Nichts auftauchend oder hinter menschlichen Fassaden der Normalität lauernd: Sie kriegen dich! Immer ... Zehn unheimliche Geschichten, nichts für schwache Nerven!

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Ursula Kollasch

Nachts, wenn sie kommen

Für Helga Hauch, die beste Schwiegermutter der Welt. BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Stairway to heaven

Ruth wand ihren Kopf hin und her, gefangen in einem Traum. Ihre Augenlider zuckten, die Hand auf dem Kopfkissen ballend verzog sie ihr Gesicht, als ob sie Schmerzen erleiden würde.

Dennoch versuchte sie mit aller Kraft, nicht aus dem Schlaf zu gleiten. Das Auftauchen in die Nacht zu ignorieren, um dem zarten Goldfaden der Erinnerung weiter folgen zu können. Ihn nicht in der Dunkelheit versinken zu lassen.

Kathy ...

Ein leises Stöhnen entfuhr ihr, bevor sie abrupt hochschreckte, die Augen aufriss und in die Schatten des Zimmers starrte.

Die Dunkelheit veränderte sich, wurde dichter. Unbewusst hielt sie die Luft an. Neben sich vernahm sie Manfreds ruhigen Atem, doch da war noch etwas anderes ... dass sie geweckt hatte. Sie lauschte.

Die leisen, melodischen Klänge eines Gitarrenspiels wehten durch das riesige Haus zu ihnen ins Schlafzimmer. Ruths Magen zog sich zusammen, sie schluckte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, um danach wie wild zu klopfen. Ihre Hände in das seidene Laken verkrampfend biss sie sich so fest auf die Lippe, dass diese zu bluten begann. Doch sie bemerkte es nicht, schloss fest ihre Augen, unterdrückte den verzweifelten Schluchzer, der ihrer Kehle entweichen wollte.

Ist sie hier?

Träumte sie vielleicht gar nicht? War sie zurück??

Weiter horchte sie in die Dunkelheit hinein - die zarten Gitarrenklänge zogen wie traurige Geister durch die Villa. Ruth erkannte „Stairway to heaven“ von Led Zeppelin, eines von Kathleens Lieblingsliedern, und diesmal konnte sie nichts dagegen tun, leise aufzuschluchzen.

Am liebsten hätte sie sich ganz klein zusammengerollt und gewinselt, doch stattdessen rüttelte sie ihren Mann leicht an der Schulter. Er reagierte nicht. Wieder schüttelte sie ihn, diesmal etwas heftiger.

»Manfred!«, flüsterte Ruth. »Wach auf!«

Er brummte unwillig. »Was ist denn?«

»So hör doch! Die Gitarre ...«

Die Finger seiner Frau krallten sich so fest in seine Schulter, dass es schmerzte. Sachte löste er ihre Hand und umschloss sie mit der seinen, streichelte sie sanft.

»Da ist nichts, Liebling. Du hast wieder schlecht geträumt.« Seine Stimme klang warm, vertraut, und trieb Ruth Tränen in die Augen.

Er hörte es nicht! Da war nichts! Nur in ihrem Kopf. Wurde sie endgültig verrückt?

Weiterhin starrte sie in die Finsternis, während Manfreds Atemzüge regelmäßig wurden, er wieder leise zu schnarchen begann, seine Hand noch immer auf ihrer.

There’s a feeling I get when I look to the west, and my spirit is crying for leaving ...

Oh, mein Gott!

Die Liedfragmente schienen zischend die Wände hochzukriechen, klebrige Schatten bildend, sich ganz oben in den Ecken als Gespinste einzunisten.

Sie löste sich aus Manfreds Umarmung, schob sich aus dem Bett und tappte über den Dielenboden. Wie eine Schlafwandlerin durchquerte sie den Flur. Nun stand sie vor Kathleens Zimmer, aus dem die Musik drang, ihr Herz hämmerte so heftig in ihrer Brust, als wollte es sie sprengen.

Mit zitternden Fingern griff sie nach der Klinke, drückte sie langsam herab und zog die Tür auf.

Stille.

Dunkelheit umfing sie, als sie eintrat.

Ruth glaubte, einen kühlen Windhauch über ihr Gesicht und ihren Körper streichen zu fühlen und erschauerte. Sie knipste das Licht an und blickte sich um.

Nichts. Der Raum war genauso verlassen wie zuvor.

Tränen der Enttäuschung und des tiefen Grams schossen ihr in die Augen. Die Vergangenheit verfolgte sie gnadenlos wie ein großer, schwarzer Hund. Jetzt hatte er sie erneut lautlos von hinten angesprungen und ihr die Zähne in die Kehle gegraben.

Seit ihre Tochter spurlos verschwunden war, hatte sie nichts in deren Zimmer angerührt. Dort lagen noch immer ihre Kleidungsstücke auf dem Boden, die Schultasche stand geöffnet neben dem Schreibtisch. In der Ecke lehnte verwaist die Gitarre, auf der Kathleen so oft und gerne gespielt hatte.

Es wirkte, als würde ihre Tochter jeden Augenblick hereinkommen und ihre Mutter mit dem für sie typischen Schalk anlächeln.

Die Stille in dem Raum schwoll zu einem ohrenbetäubenden Schrei an, war unerträglich, die Leere eindringlich wie ein schwarzes Loch.

Ruth begann leise zu weinen, immer mehr Tränen quollen hervor und liefen über ihre Wangen. Das Leid legte sich wie ein zentnerschwerer Amboss auf ihre Brust, raubte ihr fast die Luft zum Atmen.

Oh Kathy, mein Schatz, ich vermisse dich so.

Das alles hatte sie verändert. Früher hatte sie immer gedacht, ein schwaches Nervenkostüm hätten nur Rosamunde-Pilcher-Figuren und Mädchen mit Heliumstimmen, die sich ihre Getränke ausgeben ließen.

Stets hatte sie fest mit beiden Beinen im Leben gestanden. Ruhig und unerschütterlich. Nie hätte sie geglaubt, derart zittrig und schreckhaft zu werden. Träumen und Halluzinationen zu erliegen.

Sie lehnte sich an den Türrahmen, ihre Finger bebten noch immer, und sie gab sich ihren Tränen hin.

Nein, ihre 16-jährige Tochter war nicht fortgelaufen, wie die Polizei vermutet hatte. Nie hätte Kathy sie einfach verlassen, ohne ein Wort, und niemals wäre sie ohne ihre geliebte Gitarre gegangen. Tief in ihrem Inneren ahnte Ruth, dass Kathleen etwas Schreckliches zugestoßen war, sie nie mehr zurückkehren würde. Eine Mutter spürte das.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort auf der Zimmerschwelle gestanden hatte. Irgendwann raffte sie sich auf, löschte das Licht und schlich zum Bad. Spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Verhärmte, bleiche Züge guckten ihr entgegen, unter ihren Augen, die sich vor Besorgnis verdunkelt hatten, lagen tiefe Schatten.

Wie sie im letzten Jahr gealtert war! Sie hatte gar nicht bemerkt, wie dünn ihr Haar geworden war, und dass sich so viele graue Strähnen hinein gestohlen hatten. Die Rippen stachen unter der Haut hervor, die aus dem Ausschnitt ihres Nachthemdes hervor lugte.

Gestern hatte sich der Tag von Kathys Verschwinden gejährt. Hatte sie deshalb von ihr geträumt? Sich das Gitarrenspiel eingebildet?

Angst stieg wie eine eisige Säule in ihr auf. In letzter Zeit versank sie immer wieder in schwarzer Dumpfheit, ohne sich später, wenn sie aus der Abwesenheit erwachte, an das zu erinnern, was sie getan hatte. Und oft überkamen sie unerklärliche Schwindel- und Schwächegefühle. Zwei Mal war sie in Ohnmacht gefallen, Gott - sei - Dank zu Hause, und nicht im Auto während der Fahrt.

Sie nahm die ihr verschriebenen Beruhigungsmittel, ja, und sie zwang sich zu essen. Trotzdem wurde sie immer weniger, als ob ihr Körper beschlossen hätte, zu verschwinden, der Tochter ins Nichts zu folgen.

Sie spürte einen Stich in der Brust, der sie einen Augenblick lang lähmte, atmete tief durch und ließ ihren Blick aus dem Fenster wandern. Am Horizont zeigten sich die ersten Farben der Dämmerung. Ein neuer Morgen brach an. Ein weiterer, schrecklicher Tag.

Ein grausames Datum.

Heute war Kathys Geburtstag.

 

Beim Frühstück betrachtete Manfred forschend ihr Gesicht über den Rand seiner Kaffeetasse. Sein Blick war zärtlich und mitleidig zugleich.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«, fragte er und legte seine Hand auf ihre, die ganz kalt war.

»Ja, fahr‘ ruhig zur Arbeit. Ich schaffe das schon«, murmelte Ruth, ohne aufzublicken.

»Vielleicht solltest du wieder Termine bei Dr. Bender ausmachen.«

Ruth schwieg.

»Wenn es dir schlecht geht, ruf‘ mich an. Ich komme dann sofort, ja?«

Erneut versuchte er, ihren Blick einzufangen, doch sie starrte weiter auf ihren unbenutzten Teller und nickte nur.

Ihr Mann erhob sich und trat zu ihr, küsste sie aufs Haar, bevor er das Esszimmer verließ. Sie hörte seine Schritte die Eingangshalle durchqueren, das Klappen der Haustür und kurze Zeit später den Motor des Mercedes starten.

Irgendwann stand auch Ruth auf und begann mit mechanischen Bewegungen den Tisch abzuräumen. Danach tappte sie ruhelos durch das Haus, immer wieder führten sie ihre Schritte vor Kathys Tür.

Endlich gab sie dem selbstquälerischen Drang nach und betrat das Zimmer. Zog ein Album aus dem Regal und ließ sich damit auf den Boden sinken. Blätterte langsam Seite für Seite um, während sich ihre Augen wieder mit Tränen füllten und auf die Fotos hinab tropften.

Kathy als Baby.

Der dritte Geburtstag.

Voller Stolz mit ihrer ersten Gitarre.

Die Einschulung.

Weihnachten.

Auf Klassenfahrt.

Auf jedem Bild strahlte der Mutter ihr glückliches, hübsches Kind entgegen, das sich im Laufe der Jahre zu einem ebenso hübschen Teenager entwickelte, und der Schmerz nagte sich wie eine gierige Ratte durch ihr Herz.

Sie schob das Album zwischen die anderen, verließ das Zimmer und kehrte mit einem Windlicht zurück. Stellte es ins Fenster und entzündete es.

»Ich denke an dich, mein Schatz.«

 

Als Manfred spät nachmittags zurückkehrte, fand er seine Frau im dämmerigen Zimmer der Tochter, das nur vom Schein einer einzelnen Kerze erhellt war.

»Ruth«, sagte er nur und blickte sie traurig an. Sie wandte ihm das Gesicht zu, es sah leer aus.

»Komm, wir gehen hinunter und trinken einen Tee.«

Er bewegte sich auf sie zu. Langsam stand sie auf und ließ sich in seine Arme ziehen.

 

Gegen Mitternacht erwachte sie genauso plötzlich wie in der vorherigen. Erneut waren es die gespenstischen Klänge von Kathleens Gitarre, die zu ihr heran schwebten und sie weckten. Und Ruth reagierte mit demselben Entsetzen darauf wie in der Nacht zuvor.

Sie kannte auch diesen traurigen Song, »I‘ m still loving you« der Scorpions, den ihre Tochter so oft geübt hatte, bis sie die Griffe perfekt beherrschte, und dessen zarte Töne nun durch ihre Schlafzimmertür drangen, ihr Gehör streichelten.

Diesmal erhob sie sich schneller und eilte über den Flur, während ihr das Herz in der Kehle pochte und sie am ganzen Leib zitterte. Sie riss die Tür auf und erstarrte. Wieder war die Musik abrupt verstummt.

Aber neben dem flackernden Schein der Kerze, die noch immer auf der Fensterbank brannte und Schatten an die Wände des Zimmers warf, leuchtete ihr ein weiteres, geisterhaftes Licht aus der Ecke entgegen, in der Kathleens Gitarre stand. Ruth kniff ungläubig die Augen zusammen und hielt den Atem an, versteinert wie eine Statue. Meinte, eine schimmernde, durchscheinende Gestalt auszumachen, die langsam auf sie zu schwebte. Bevor sie Ruth erreichte, begann die Erscheinung zu flimmern, ihr Strahlen wurde schwächer bis sie sich auflöste.

Mama ...

Scharf sog Ruth den Atem ein, als der seufzende Hauch, einer kühlen Liebkosung gleich, über ihr tränennasses Gesicht strich. Wie in Trance hob sie die Hand an ihre Wange, unfähig, einen Laut von sich zu geben. Zeitgleich erlosch die Flamme der Kerze und ließ sie in absoluter Finsternis mit heftig klopfendem Herzen zurück.

Sie drückte auf den Lichtschalter, die aufflammende Helligkeit blendete sie. Zaghaft schritt sie mit bebender Brust auf Kathleens Gitarre zu. Hob sie auf und umklammerte das Instrument, während Trauer und Sehnsucht ihr die Kehle zuschnürten. Endlich verließ ein leiser Klagelaut ihren Leib.

Oh Kathy, warst du das? Oder werde ich wahnsinnig ...

Was, wenn ich es mir nicht einbilde?

Es war so real gewesen ...

Diesmal schaffte sie es nicht, wieder einzuschlafen. Stattdessen wirbelten ihre Gedanken durcheinander, bis eine Idee Gestalt in ihrem Kopf annahm und sich dort fest verankerte. Sie mit einer seltsamen, lange nicht mehr verspürten Kraft erfüllte. Mit einer Hoffnung, an die sie sich klammerte wie eine Ertrinkende.

Sie fuhr den PC hoch und suchte. Schaute sich viele Seiten an, klickte sie wieder weg, um die nächste zu öffnen. Bis sie letztendlich fündig wurde.

 

»Ruth, das ist doch komplett verrückt!«

Manfreds Gesicht war gerötet vor Missbilligung über das, was seine Frau ihm soeben beim Frühstück eröffnet hatte. Selbst sein Hals lief an vor unterdrücktem Ärger. Doch Ruth blickte ihn gelassen an.

In dieser Sache würde sie nicht nachgeben, sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen.

»Ich werde die Dame anrufen und einen Termin ausmachen. Ich wollte dich nur informieren, nicht darüber diskutieren.«

Nach wie vor fühlte sie diese lang vermisste Energie durch ihre Glieder und ihren Geist fließen, und so fiel es ihr nicht schwer, ihrem Mann in diesem Streit die Stirn zu bieten.

»Ich bin dagegen!«, knurrte Manfred und fuhr sich durch das volle, graue Haar. »Das sind doch alles Scharlatane, die den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen wollen. 500 Euro für eine Sitzung - weil du Albträume hast! Ich fass´ mir an den Kopf! Wirf unser Geld doch gleich zum Fenster raus! Und zack! - eh du dich versiehst, fangen sie dich ein und lassen sie sich auch noch unser Haus überschreiben!«

Er hatte sich richtig in Rage geredet, sein Gesicht war nun puterrot. Aber Ruth blickte ihm fest in die Augen und erwiderte: »Mein Entschluss steht fest. Sie wird kommen. Und - es sind immer noch mein Geld und mein Haus und Grund!«

Manfreds Züge fielen in sich zusammen. Die letzten Worte waren ihr schärfer entwichen, als beabsichtigt. »Schatz«, versuchte sie mit sanfterer Stimme einzulenken. »Ich muss diese Frau treffen. Du kannst das vielleicht nicht verstehen, Kathy ist nicht dein Kind, aber ...«

Der Knall seiner auf den Tisch schlagenden Hand unterbrach sie. Kränkung und Wut rangen nun miteinander in seinem Gesicht.

»Nein, Ruth, das ist sie nicht. Aber seit ihrem zehnten Lebensjahr war ich ihr Vater, ob nun leiblich oder nicht!« Damit wandte er sich um und stapfte aus dem Zimmer.

 

Drei Tage später hatte sich die gereizte Stimmung zwar etwas beruhigt, aber es knisterte noch voller Spannung zwischen ihnen. Es war 19 Uhr. Jeden Augenblick konnte Florence Lamare erscheinen, sie hatte sich bereits um eine halbe Stunde verspätet.

Ruth machte ein Wechselbad der Gefühle durch. Aufregung, Traurigkeit, Hoffnung, Angst.

Die tiefe, samtige Stimme des Mediums hatte sie regelrecht eingelullt, als sie telefonisch den Termin vereinbart und das Vorzubereitende besprochen hatten. Jetzt stand Ruth am Fenster ihrer großzügigen, modernen Küche und behielt die Auffahrt im Blick, knetete ihre Finger.

Manfred kam herein, seine zusammengezogenen Augenbrauen und der mürrische Gesichtsausdruck verliehen ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Nussknacker.

Bis zu diesem Nachmittag hatte er sich vehement gegen die vorgesehene Sitzung gesträubt, letztendlich aber eingewilligt, daran teilzunehmen. Das erschien ihm sinnvoller, als seine Frau allein in die Fänge „dieser abzockenden Betrügerin“ tappen zu lassen.

»Na, entweder hat's deine feine Wahrsagerin nicht mit Pünktlichkeit oder sie kommt gar nicht mehr«, sagte er frostig.

»Ach Manfred, wie oft soll ich das noch sagen! Florence Lamare ist eines der bekanntesten und erfolgreichsten Medien Deutschlands, keine Wahrsagerin.«

Sie wandte sich ihrem Mann zu, blickte ihn um Verständnis heischend an. Sie wollte keinen neuerlichen Streit, war aufgeregt und voller Hoffnung, das sah er ihr an. Widerstrebend gab er sich einen Ruck und verkniff sich die bösen Worte, die ihm über die Scharlatanin und Ruths kindischem Verhalten noch auf der Zunge lagen.

In diesem Moment fuhr ein schwarzer Kombi vor. Beide beobachteten sie eine ältere Dame mit grauer Dauerwelle, die es nach zwei Anläufen endlich schaffte, ihren beleibten Körper aus dem Wagen zu wuchten und daraufhin langsam Richtung Haus zu schreiten.

»Florence Lamare - dass ich nicht lache!«, spuckte Manfred höhnisch hervor. »In Wirklichkeit heißt sie wahrscheinlich Elfriede Winkelmann oder Martha Schneider!«

Ruth funkelte ihn böse an, auch wenn sie selbst vom biederen Äußeren des Mediums überrascht war. Es läutete. Ihrem Mann noch einen warnenden Blick zuwerfend eilte sie zur Tür und öffnete. Aus der Nähe betrachtet war die Dame gar nicht so alt, wie sie zuerst vermutet hatte. Sie ging höchstens auf die sechzig zu. Aus klugen, grauen Augen musterte die Frau ihre Auftraggeberin und ergriff die dargereichte Hand.

»Guten Abend, Frau Lamare. Bitte, treten Sie ein.«

Die Ältere schloss für einige Sekunden ihre Augen, bevor sie sich in Bewegung setzte und die Türschwelle überschritt. In der eleganten Eingangshalle hob sie beide Hände.

»Ich fühle Spannungen, aggressive Schwingungen.«

Sie drehte sich zu Ruth um. »Haben Sie Streit?«

Der intensive Blick des Mediums schien tief in sie hinein zu tauchen, ihre Seele abzutasten, und Ruth schluckte und nickte. Die Lamare nickte auch.

»Nun gut, sehen wir, ob wir trotzdem eine Atmosphäre für eine erfolgreiche Sitzung herstellen können.« Manfred tauchte plötzlich im Türrahmen auf und betrachtete die Besucherin mit unverhohlener Ablehnung. Die schaute lange zurück, mit der gleichen Intensität, bis der Hausherr zuerst den Blick senkte.

»Ich kann Ihr Misstrauen wie auf mich gerichtete Dolche spüren, Herr Winter«, sprach sie mit ihrer tiefen Stimme. »Um aber den Erfolg dieses Abends nicht zu gefährden, versichere ich Ihnen, dass ich nur eine Fahrtkostenpauschale erhebe, falls Sie mit meinen Leistungen nicht zufrieden sein sollten. So,« Florence Lamare wandte sich wieder Ruth zu. »Haben Sie alles vorbereitet, wie besprochen?«

Erneut konnte Ruth nur nicken. Mit jeder vibrierenden Faser ihres Körpers spürte sie die seltsame Energie und die Macht, die diese Frau wie ein Kraftfeld umgaben. Mit weichen Knien ging sie ihr und Manfred voraus.

Nach den Anweisungen des Mediums hatte Ruth alles in Kathleens Zimmer aufgebaut. Die Vorhänge waren zugezogen, der runde Tisch in die Mitte des Raumes geschoben.

Vier Kerzen, eine für jede Himmelrichtung, flackerten darauf und tauchten den Raum in schummeriges Licht. In der Mitte des Tisches, um den die drei Platz nahmen, lag ein Foto der Tochter.

Frau Lamare senkte den Kopf, wie zum Gebet.

»Ich möchte Sie bitten, nun all ihre Gedanken auf Kathleen zu richten. Schließen Sie Ihre Augen und lassen Sie uns den Kreis bilden.« Sie fassten sich an den Händen. »Ich kann die Aura ihrer Tochter spüren, sie ist in der Nähe. Was auch gleich geschehen mag - unterbrechen Sie nicht den Kreis.«

Es war totenstill im Raum. Ruths Hände in der warmen ihres Mannes und der des Mediums zitterten.

Bevor sie ihre Augen schloss, blickte sie zu Manfred, sah einen herablassenden Zug um seinen Mund, doch er machte mit. Unwillkürlich begann das Paar das langsame Ein- und Ausatmen der Lamare zu übernehmen, bis sie es alle drei gleichzeitig taten.

Ruth fühlte sich plötzlich leicht, völlig entspannt. Sie hörte die Samtstimme raunen: »Kathleen, komm' zu uns, wir laden dich ein. Sprich zu uns … Zeige dich ...«

Die Kerzen begannen zu flackern, ein leichter Luftzug wehte durch das Zimmer, über den Tisch, das Foto verrutschte ein Stück. Das Windspiel am Fenster geriet in Bewegung und klirrte leise.

Ruths Atem beschleunigte sich, als die Temperatur im Raum zu sinken schien, eine Bö, kalt wie der Winterwind, über ihren Körper fuhr.

Zeitgleich spürte sie Manfreds Hand sich um ihre verkrampfen. Eine Art Zischen entwich den Lippen des Mediums. Ruth blinzelte und sah unter halb geöffneten Augenlidern, dass Florence Lamares Gesichtszüge erschlafften, genau wie ihre Hände in denen des Paares. Der eisige Luftzug wurde stärker, das Windspiel klimperte nun hektisch hin und her, die Flammen der Kerzen neigten sich noch tiefer, standen kurz vor dem Erlöschen.

Mama ...

Der feste Griff des Mediums um ihre Hand war wieder da und Ruth erschrak, riss die Augen auf. Fixierte die Frau gegenüber. Auch diese hatte die Augen geöffnet, sie glitzerten im flackernden Lichtschein wie dunkle Kiesel, waren das einzig Lebendige in dem leeren Gesicht.

Ein Schrei wollte Ruths Mund entfahren, doch sie bekam keinen Laut heraus.

Mama, du bist in Gefahr ...

Ruth sah, dass sich die Lippen des Mediums nicht bewegten, doch es war eindeutig die helle Stimme ihrer Tochter, die ihr entgegen schwebte!

Ihr wurde kalt, ihr Magen zog sich fast schmerzhaft zusammen und ein eisiger Schauer rieselte ihre Wirbelsäule herab. Manfred neben ihr keuchte erstickt auf, seine Hand presste die ihre nun so eisern, als ob er ihr die Knochen brechen wollte.

»Kathy«, krächzte sie hilflos.

Manfred hat mich erschlagen, als ich ihn mit der Frau erwischte. Sie haben mich beim Baumhaus verscharrt. Er und seine Geliebte, die Arzthelferin von Dr. Bender.

Sie vergiften dich ...

Wieder keuchte Manfred auf, er wollte seine Hände aus denen der Frauen lösen, doch beide umklammerten ihn wie Schraubstöcke, ließen nicht los.

»Nein! Nein!«, ächzte er.

Der Kopf der Lamare schnellte plötzlich zu ihm herum, ihre glänzenden Augen brannten sich in die seinen, die er voller Panik aufgerissen hatte.

Du Mörder! Meine Mutter wirst du nicht töten!

Ein schmerzerfülltes Aufstöhnen entfuhr Manfred, erneut versuchte er, seine Hände zu befreien, diesmal, um sie auf sein Herz zu pressen. Jedoch ohne Erfolg.

Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, während zeitgleich ein furchtbarer Schmerz gleich einem Stromschlag durch seinen rechten Arm schoss, dessen Hand Frau Lamare umklammerte. Ein weiteres Stöhnen entwich seinen Lippen, bevor er vornüber sackte und sein Kopf auf die Tischplatte fiel.

Ruth nahm es nur aus den Augenwinkeln wahr. Noch immer starrte sie wie gelähmt in das Antlitz des Mediums, in dem sie auch die weichen Züge ihrer Tochter auszumachen glaubte.

Ich liebe dich, Mama ... Wir werden uns wiedersehen ...

Die verblassenden Worte ihres Kindes flogen auf sie zu wie ein kühler, zärtlicher Atem, streichelten ihr Gesicht. Dann kippte der Kopf von Florence Lamare auf ihre Brust, ihre Hände sanken herab, sie atmete, als ob sie schliefe.

Wie in Zeitlupe wandte sich Ruth Manfreds regungslos auf dem Tisch liegenden Oberkörper zu.

Langsam näherte sie ihre bebenden Finger seinem Hals, legte sie darauf. Spürte keinen Puls.

Sie schloss die Augen.

Es war vorbei.