Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers - Kathrin Tordasi - E-Book

Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers E-Book

Kathrin Tordasi

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Beschreibung

Niemand weiß besser als Finn, wie gefährlich es ist, den Nachtschattenwald zu betreten. Der gefürchtete Mondwandler holt alle, die nach Sonnenuntergang dort unterwegs sind – behaupten die Erwachsenen. Und seit seine Schwester Hannah nicht aus dem Wald zurückgekehrt ist, scheint der Beweis erbracht. Trotzdem nagen Zweifel an Finn: Was, wenn die Geschichten über den Mondwandler nicht wahr sind? Tief im Nachtschattenwald macht Finn eine Entdeckung, die viel größer ist als das Geheimnis um Hannahs Verschwinden ... Folge Finn in den Nachtschattenwald!

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Seitenzahl: 379

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Kathrin Tordasi

Nachtschattenwald. Auf den Spuren des Mondwandlers

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Hannah1 Explosion im GewächshausSechs Jahre später2 Diebische Elstern3 Der gelbe Schmetterling4 Ein unerwartetes Leuchtfeuer5 Der Kompass6 Elli7 Märchen und Lügen8 Entscheidungen9 Der Zaun10 Im Baumhaus11 Flöckchen12 Der Sternlichtpfad13 Gefährliche Blüten14 Zeit zum Durchatmen15 Die Botschaft16 Der Mondwandler17 Wand aus Glas18 Das Lager des Mondwandlers19 Verrat20 Die Stadt erwacht21 Das Geistermädchen22 Im Saal der fliegenden Fische23 Entscheidungen24 Zusammen25 Der Frosch in der Mitte des Universums26 Verhandlung27 Stachelbeermarmelade und SonnenblumenblütenHannahWörterverzeichnisHat dir »Nachtschattenwald. Auf [...]PrologFerien in WalesPortiaEin Dieb in der NachtPortia

 

 

 

Für Mama

Hannah

Sie hatte die Regeln gebrochen. Hannah wusste es, und sie wusste auch, was als Nächstes passieren würde.

Sie lief durch den Wald, bahnte sich einen Weg durch hüfthohe Farnwedel und knackendes Springkraut. Halb hoffte sie, noch ein Versteck zu finden, aber eigentlich war ihr bereits klar, dass ihr das nicht gelingen würde. Sie sah hoch und erhaschte einen Blick auf die Mondsichel, die zwischen den Blättern der Bäume hervorlugte.

Geh niemals nach Sonnenuntergang in den Wald.

Wie oft hatte ihre Mutter ihr diese Regel eingetrichtert?

Am Tag können wir uns frei bewegen, können pflanzen, ernten, Verstecken spielen und so weiter. Aber die Nacht gehört dem Wald. Sie gehört dem Mondwandler.

Hannah blieb abrupt stehen. Sie hatte eine Stelle erreicht, an der der Waldboden in einen steinigen Krater abrutschte. Sie ging in die Knie und versuchte herauszufinden, wo sie am besten nach unten klettern konnte. Je weiter sie sich von der Lichtung entfernte, auf der sie Finn zurückgelassen hatte, umso besser.

Die Geschichte, die ihre Mutter ihr eingebläut hatte, hallte weiter in ihren Ohren nach.

Der Mondwandler hält Ausschau nach denen, die die Regeln brechen und sich zur Schutzzeit außerhalb ihrer Häuser aufhalten. Und wenn er so einen Regelbrecher findet, dann entführt er ihn, bringt ihn in sein Lager und versetzt ihn in einen immerwährenden Schlaf.

Warum macht er das? Diese Frage hatte Hannah mehr als einmal gestellt.

Weil es das Gleichgewicht so vorsieht, hatte ihre Mutter geantwortet.

Sie hoffte so sehr, dass ihr kleiner Bruder in Sicherheit war.

Sie schwang ihre Beine über den Rand des Kraters und suchte mit der Schuhspitze nach Halt, als ihr auffiel, wie still der Wald geworden war. Sie drehte sich um. Ein Lufthauch blies durch den Farn und ließ die Wedel zittern.

Er ist hier, dachte sie. Gänsehaut kroch über ihren Nacken. Hannah begann, nach unten zu klettern, während der silbrig schimmernde Nebel zwischen den Farnblättern hervorquoll.

1Explosion im Gewächshaus

Sechs Jahre später

Die Grünlilie hatte das Handy fast vollständig aufgeladen. Von seiner Bettkante aus konnte Finn das Licht des Akkus blau blinken sehen. Prima. Gerade rechtzeitig.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es neun Uhr morgens war. Der Efeu vor dem Fenster blockierte das Tageslicht, deshalb hatte er seine Nachttischlampe angeschaltet. Während Musik aus dem Wohnzimmer durch seine Tür drang, schnürte Finn seinen linken Stiefel zu, griff sich seine rote Kapuzenjacke und ging zum Fensterbrett.

Die Grünlilie, die Samira ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, stand in einem Tontopf, der mit bunten Mosaiksteinchen beklebt war. Lilly die Lilie hätte wie eine normale Zimmerpflanze ausgesehen, wäre da nicht das weiße Kabel, das wie ein Trieb aus der Erde wuchs. Samira hatte das Ende des Kabels so mit dem Wurzelstamm vernetzt, dass es den Bio-Strom, den die Lilie produzierte, direkt zu einem USB-Anschluss beförderte. Ein integrierter Wassertank sorgte dafür, dass Lilly immer gut gefüttert blieb.

Sie braucht eine Nacht, um den Akku aufzuladen, hatte Samira erklärt. Danach läuft das Ding für mindestens zwölf Stunden. Krass, oder?

»Krass«, wiederholte Finn jetzt mit einem Lächeln. Laut Display war der Akku jetzt bei hundert Prozent. Er fischte seine Kopfhörer aus der Jackentasche, pfriemelte das Kabel durch den Kragen seines T-Shirts und unter dem Saum wieder heraus. Dann stöpselte er das Ende des Kabels in die Buchse und schob das Handy in die Gesäßtasche seiner Jeans. Jetzt nur noch den Rucksack auf den Rücken, die Machete einsammeln, und dann konnte es losgehen.

Finn lebte mit seinen Eltern in einer Wohnung, die über und über mit Krimskrams vollgestopft war. Zwei Sofas standen in der Mitte des Wohnzimmers, auf dem Couchtisch stapelten sich Strickpullover, und von der Decke baumelten Kräutersträußchen zum Trocknen.

Als Finn an diesem Morgen ins Wohnzimmer kam, saß seine Mutter auf einem der Sofas und strickte an einem Pulli aus sonnengelber Wolle. Sein Vater werkelte indes in der Küche herum, und der Duft von köchelndem Zucker und warmen Himbeeren erfüllte die Luft.

»Ich geh jetzt los«, rief Finn. Als er zu seiner Mutter ging, warf sie ihm kurz einen Blick über die Schulter zu.

»Vergiss die neuen Handschuhe nicht«, sagte sie.

Finn drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich denk dran.«

Er schnappte sich einen der Kekse, die auf einem Teller auf dem Sofa lagen, und machte noch einen Abstecher in die Küche.

Sein Vater hatte sich eine karierte Schürze umgebunden und rührte in einem großen Topf mit Himbeergelee. Dabei summte er vergnügt mit den Beatles mit.

Als Finn in die Küche kam, ließ er gerade ein paar Tropfen Gelee auf eine Untertasse fallen, um die Festigkeit zu prüfen.

»Alles bereit?«, fragte er Finn, ohne aufzusehen.

»Yep.« Finn ließ seinen Blick durch die Küche schweifen. Überall standen Einmachgläser. Finns Vater hatte sie abgekocht und kopfüber auf Handtücher gestellt. Bald würden sie gut gefüllt ihren Weg zum Tauschmarkt hinter der alten Bibliothek finden. Genauso, wie die Pullover auf dem Couchtisch.

»Probier mal«, forderte Finns Vater ihn auf und hielt ihm die Untertasse hin. Finn tippte seine Fingerspitze in das warme Gelee und schleckte es genüsslich ab.

»Gut!«

»Ja?«, Finns Vater runzelte die Stirn. »Nicht zu süß?«

»Kann es gar nicht sein«, antwortet Finn und stibitzte sich noch eine Kostprobe.

»Irgendwas sagt mir, dass ich deinem Urteil nicht trauen kann, o Spross meiner Lenden.« Finns Vater zog ihm den Teller weg und rührte weiter in seinem Topf. »Du übernachtest heute bei Oma, ja?«

»Yep.«

»Nimm ihr ein Glas Kirschmarmelade mit«, sagte er und wies mit dem Kochlöffel auf einen Stapel Einmachgläser neben der Spüle. »Ist gestern Abend fertig geworden.«

»Mach ich«, sagte Finn, nahm sich eins der vollen Gläser und stopfte es auf dem Weg zur Haustür in seinen Rucksack.

»Handschuhe!«, rief seine Mutter aus dem Wohnzimmer.

»Ja, Mam!« Finn verzog das Gesicht, als er sich die neuen Schutzhandschuhe aus der Kiste neben der Wohnungstür schnappte und überstreifte. Sie waren ihm nicht nur ein Stückchen zu groß, sondern sie rochen sehr stark nach dem Imprägniermittel, mit dem sie eingesprüht worden waren.

Besser als Brennesselbrand, dachte Finn sich. Oder Bärenklaublasen. Oder Raupenätze.

Er rief seinen Eltern ein letztes Bis morgen! zu, nahm seine Machete vom Haken neben der Tür und verließ die Wohnung.

Finns Familie wohnte im fünften Stock, direkt unter dem Dach. Das Erdgeschoss sowie die Stockwerke eins bis zwei waren bereits seit Jahren zugewachsen.

Als Finn jetzt die Treppe herunterkam, sah er, dass sich der Wald in Form von Dickicht und grünen Ranken bereits bis zum oberen Treppenabsatz des vierten Stocks hochgekämpft hatte. Ein paar besonders motivierte Schnecken krochen über die Reste des roten Teppichs, der früher die Treppenstufen verkleidet hatte.

Finn stupste das gekringelte Ende einer Ackerwinde mit dem Stiefel an. Wurde demnächst mal wieder Zeit für eine GreenX-Sprühaktion. Geschickt stieg er über die Schnecken auf die Planke, die wie eine Brücke vom Treppenabsatz zu dem Loch in der Hauswand führte. Er balancierte zum Ausgang und verharrte kurz, um sich auf den Übergang in den Wald vorzubereiten.

Die Bäume rings um das Haus standen dicht an dicht, und direkt gegenüber dem Ausgang wuchs eine riesige Linde. Der Stamm war so dick wie ein Wehrturm, und die Äste reichten bis weit über das Dach von Finns Haus. Vor ein paar Monaten hatte ein Ast eine der Solarantennen umgeknickt, die Finns Eltern dort oben aufgestellt hatten.

Da haben wir wohl geschlafen, hatte Finns Vater kommentiert und geseufzt. Normalerweise funktionierte das Leben mit dem Wald ganz gut. Man musste jedoch darauf achten, dass alles im Gleichgewicht blieb, damit die Natur nicht doch noch alles überwucherte. Dafür gab es Regeln, aber wie gesagt: Wenn man die befolgte, kam man hier eigentlich ganz gut klar.

Finn sog tief die Luft ein, dann kletterte er an der Strickleiter hinunter in die tieferen Ebenen des Waldes.

Finns Welt war grün, und er hatte sie nie anders gekannt. In alten Filmen konnte man sehen, wie es früher auf diesem Planeten ausgesehen hatte. Die Bilder zeigten Spielplätze zwischen Backsteinhäusern, Eisdielen in trubeligen Fußgängerzonen und Menschen, die Bücher in fahrenden S-Bahnen lasen. Aber das alles hatte sich schon vor Finns Geburt radikal geändert.

Hier, wo Finn lebte, wuchs heute ein riesiger Urwald – genauso, wie auf dem Rest der Welt. Oder zumindest dem Rest des Kontinents. So genau wusste das keiner, denn Telefone oder Internet funktionierten schon lange nicht mehr.

Finn hatte den Waldbezirk, in dem er wohnte, noch nie verlassen. Es gab auch keinen Grund dazu. Alles, was er brauchte, war hier. An ein paar Tagen in der Woche fand in der alten Stadtbibliothek Schulunterricht statt. Zumindest wenn keine Ernte- oder Pflanzzeit war. Alles, was die Menschen aus Finns Bezirk an Lebensmitteln brauchte, stellten sie selbst her. Und was sie nicht selbst herstellen konnten, bekamen sie auf den Tauschmärkten, die auf den Grenzplätzen zwischen den Bezirken stattfanden. Warum sollte Finn woanders hinwollen? Seine beste Freundin Samira war hier und seine Familie.

Außerdem sind wir zu Hause sicher, dachte Finn, während er die Strickleiter hinunterkletterte. Zumindest tagsüber.

Unten angekommen, sprang er von der letzten Sprosse der Leiter und sah sich um. Diesen Moment mochte er nicht so gern. In die tiefen Ebenen des Waldes einzutauchen war, als würde man sich unter Wasser sinken lassen. Das Licht wurde dunkler und zäher, es roch nach feuchter Erde und moderndem Laub, und alles um einen herum schien sich in sachten Wellen zu bewegen. Finn hatte ein sehr gutes Gehör, und das machte den Wald in seinen Ohren noch lebendiger. Irgendwo raschelte immer ein Tier, tropfte Wasser auf die Blätter eines Busches, oder surrten Insekten durch ein Gestrüpp aus Brennnesseln und Giersch.

Wie immer war Finn dankbar für Hannahs rote Kapuzenjacke. Sie war zwar weich, fühlte sich aber trotzdem wie eine Art Rüstung an. Er trug sie beinahe jeden Tag, seit er sie aus dem Schrankfach seiner Schwester genommen hatte. Finn zog den Reißverschluss hoch.

Früher, als er noch mit Hannah im Wald unterwegs gewesen war, hatte sie ihm immer Geschichten erzählt. Über Irrlichter und winzige Baumgeister, die sich zwischen den Blättern versteckten. Mittlerweile war er alt genug, um zu wissen, dass sie sich diese Wesen nur ausgedacht hatte. Trotzdem hatte er ab und an das Gefühl, dass ihn jemand bei seinen Streifzügen durch den Wald beobachtete.

Alles Unsinn, natürlich. Finn straffte die Schultern und ging zu den bunten Nylonschnüren, die nicht weit vom Haus an einer Eisenstange festgebunden waren. Die Schnüre waren straff gespannt und führten in kerzengeraden Linien in fünf verschiedene Richtungen hinein in die Wildnis.

Hier im Unterwald war es sinnlos, Wege anzulegen, denn jeden Pfad, den man sich bahnte, hatte der Wald spätestens zwei Tage später wieder verschlungen. Die Wegfäden waren eine gute Alternative, denn sie wiesen einem die richtige Richtung, und die Natur wucherte einfach um sie herum.

Finn sah den roten Faden entlang, der ihn zum Haus seiner Großmutter führen würde. Yep. Der Faden verschwand nur wenige Meter entfernt in einem Gestrüpp aus Lindengrün, mannshohem Gras und Ahornschösslingen, das über Nacht gewachsen war.

»Dann mal los«, murmelte er. Er prüfte noch mal den Akku seines Handys, stöpselte sich seine Kopfhörer in die Ohren und schaltete die Musik an. Dann packte er seine Machete und bahnte sich einen Weg durch das üppige Grün.

Oma Veras Haus lag nicht weit entfernt, aber je nachdem, wie wild der Wald seit Finns letztem Besuch gewuchert war, konnte der Weg zu ihr auch mal eine Stunde dauern. Heute ging es schneller, denn kurz nachdem er den siebten Song auf seiner Playlist gehört hatte, kam er an eine Stelle, die schon jemand anderes gerodet hatte. Die rote Nylonschnur führte durch eine Schneise aus abgesäbelten Ästen und niedergetretenen Ranken. Finn steckte die Machete in die Halterung an seinem Gürtel, stellte seine Musik ab und ging weiter, dankbar für die Verschnaufpause.

Links und rechts ragten Wände aus Holundergestrüpp, Hopfen und Waldreben auf, so dass er sich fühlte, als würde er durch einen Tunnel gehen. Der Boden mit dem ganzen abgerissenen Laub war weich unter seinen Füßen, und jetzt fielen auch einzelne Sonnenstrahlen schräg durch das Dickicht. Die fedrigen Samen der Waldreben tanzten in den Lichtstreifen.

Mit wachsender guter Laune ging er auf das Ende des grünen Tunnels zu. Dort vorne sah er schon die mit wildem Wein überwachsene Gartenmauer von Oma Veras Grundstück und die riesigen Sonnenblumen, die dahinter ihre gelben Köpfe in die Höhe streckten. Nicht mehr lange, dann würde er mit Oma Vera und Samira in der Laube sitzen. Bestimmt hatte seine Oma Rosinenbrötchen gebacken. Es würde Tee geben, frische Butter, dazu die Kirschmarmelade von Finns Vater und …

RUMMS.

Ein ohrenbetäubender Knall, gefolgt von einem lauten Klirren und Scheppern, ließ den Boden unter Finns Füßen erzittern. Kurz schien der ganze Wald die Luft anzuhalten, dann gab es ein Krachen, ein Rascheln, und vom Haus her brüllte Oma Veras zutiefst empörte Stimme:

»SAMIRA!«

2Diebische Elstern

Das Dach des Gewächshauses lag überall im Garten verstreut. Glasscherben glitzerten im Rasen, in den Hochbeeten und zwischen den Mangoldpflanzen. Und dort, wo das Dach eigentlich sein sollte – nämlich auf dem Gewächshaus – ragte jetzt ein Apfelbaum empor. Die Krone befand sich in etwa zehn Metern Höhe, die Äste ragten nach allen Seiten über das Gewächshaus hinaus, und der Stamm drückte von innen gegen die Wände. Von den Setzlingsbänken, die Oma Vera drinnen aufgestellt hatte, waren jetzt bestimmt nur noch Splitter übrig.

Finn, Oma Vera und Samira standen auf der Wiese vor dem zerstörten Gewächshaus und dem Baum, der vor fünf Minuten noch nicht existiert hatte. Oma Vera trug eine Latzhose, und ein grünes Tuch hielt ihre orangeroten Haare im Zaum. Mit in die Hüfte gestemmten Händen starrte sie zur Krone des Apfelbaumes empor. Samira stand neben ihr und hatte ihre Schutzbrille hoch auf den Kopf geschoben. Ihr Gesicht war schwarz vom Ruß. Bis auf das bisschen hellbraune Haut um ihre Augen, das von der Brille geschützt gewesen war.

»Du hast wieder versucht, dein Schrumpfserum zu brauen?«, fragte Oma Vera.

»Ja«, antwortete Samira.

»Und weil du dich bei deinem Rezept verrechnet hast, hat das Serum wie ein Wachstumsbeschleuniger gewirkt?«

»Ja.«

Noch während sie hinsahen, löste sich ein roter Apfel von einem der unteren Äste und fiel polternd zu Boden.

Oma Vera seufzte. »Naja. Immerhin wird es in diesem Herbst viel Apfelmus geben.«

Eine halbe Stunde später saßen Finn und Samira in Oma Veras Küche und tranken Zitronenlimonade. Die Küche lag im Erdgeschoss und hatte an der linken Seite eine riesige Glasfront mit Schiebetür. Der Übergang zum Garten war fast fließend, denn die Klematis, die an den Pfeilern des Terrassendachs hochwuchs, hatte auch ein paar Ranken über die Decke der Küche ausgestreckt. Wie Fühler tasteten sie sich ins Innere des Hauses.

Oma Vera machte das nichts aus. Sie war in einer Zeit aufgewachsen, in der es noch Städte gab und der Wald nicht so wild wucherte wie jetzt. Aber sie behauptete steif und fest, dass sie nichts von früher vermisste. Im Gegenteil, sie liebte den Wald und seine Kapriolen. Sie hätte die Klematis aufhalten können, immerhin hatte sie GreenX erfunden, einen der besten Wachstumsregulierer, die es derzeit gab. Aber sie hielt nichts davon, den Wald zurückzudrängen, solange es keinen wirklichen Grund dafür gab. Für sie reichte es aus, ihren riesigen Garten und ihre Beete vor dem Vormarsch der Wildnis zu schützen. Und wenn ihr keine Blätter in die Teetasse fielen.

Während Finn und Samira am Tisch saßen, kochte Oma Vera in einem großen Topf Rainfarn. Der Sud daraus würde später in Flaschen abgefüllt und dann als Antilausspray verwendet werden. Der Geruch war eigenartig angenehm und erinnerte Finn an Pfefferminztee.

Samira hatte sich das Gesicht gewaschen. Ihre Schutzbrille hing an einem Riemen um ihren Hals. »Ich hätte mehr von der Nonansäure verwenden sollen«, sagte sie. »Ich war zu vorsichtig, das war der Fehler.

Oma Vera schnaubte amüsiert. »Herzchen, du bist vieles, aber nicht zu vorsichtig.«

Samira warf Finn einen empörten Blick zu, aber der zuckte nur mit der Schulter und grinste. »Sie hat recht.«

»Mit Vorsicht hat noch nie jemand Fortschritte gemacht«, brummte Samira, brach ein Stück Brot ab und tunkte es in die Kirschmarmelade, die Finn mitgebracht hatte.

Samira war Finns beste Freundin. Er hatte sie vor sechs Jahren kennengelernt, kurz nachdem sein Leben aus den Fugen geraten war. Das war keine gute Zeit für ihn gewesen. Aber Samira hatte ihn abgelenkt, hatte ihn mit ihrer Neugier immer wieder aus der Reserve gelockt und ihn mit ihren Streichen zum Lachen gebracht. Damals hatte sie ausgesehen wie eine kleine runde Eule mit ihren zerzausten schwarzen Haaren und den großen grauen Augen.

»Du könntest eine Probe aus dem Baum entnehmen«, schlug Oma Vera vor. »Wenn du die in ihre Bestandteile zersetzt, findest du vielleicht heraus, woran es lag.«

»Gute Idee«, antwortete Samira. »Was nehme ich da am besten? Lösung 4-B?«

»Nimm besser was aus der C-Sparte«, sagte Oma Vera. »Finn, braucht ihr noch mehr Brot?«

»Danke, Oma, wir sind versorgt.«

Finn füllte sich gerade Limonade nach, als er etwas Weiches, Warmes an seiner Wade spürte. Eine von Oma Veras Katzen strich um seine Beine herum, aber der Blick ihrer grünen Augen war ganz auf Samira fixiert. Samira bemerkte es und legte rasch die Hand über die Gürteltasche, die sie neben sich auf den Tisch gelegt hatte. Finn hob fragend eine Augenbraue, und Samira öffnete die Finger einen Spaltweit. Ein kleiner weißer Frosch streckte sein Köpfchen aus der Tasche.

»Ich hab ihn im Gewächshaus gefunden«, flüsterte Samira. »Kurz bevor, na, du weißt schon. Puff!« Sie blies die Backen auf, um die Explosion nachzuahmen. »Es war die Nonansäure«, sagte sie nachdenklich. »Ich bin mir fast sicher.« Die Katze lief auf sie zu, und sie schob sie sacht mit dem Fuß beiseite. »Ich will mir meine Notizen noch mal ansehen, kommst du mit?«

»Logo«, sagte Finn und trank seine Limonade aus.

Samira stand auf und wich der hartnäckig um sie herumschleichenden Katze aus. »Wir gehen ins Labor«, verkündete sie.

»Alles klar«, sagte Oma Vera, ohne sich umzudrehen. »Und den Frosch setzt du vorher noch hinter der Gartenmauer aus, ja? Wir brauchen wirklich nicht noch mehr Amphibien in unserem Teich.«

»Mhm«, sagte Samira, nur um danach in Finns Richtung zu nuscheln: »Deine Oma hat Augen am Hinterkopf, wusstest du das?«

»Behauptet meine Mama auch«, gab er ebenso leise zurück.

Während die beiden auf die Terrasse hinausgingen, rief Oma Vera ihnen hinterher: »Wenn ich noch eine einzige zusätzliche Stimme in dem nächtlichen Gequake höre, schütte ich den Teich mit Zement zu!«

Samira verdrehte die Augen, und Finn war sich ziemlich sicher, dass sie den Frosch behalten würde.

Als es Abend wurde, lagen Finn und Samira auf Samiras Bett. Ihr Zimmer lag direkt unter dem Dach. Sie hatte die Dachschrägen mit Pflanzenzeichnungen vollgeklebt und sogar Formeln direkt auf die Tapete geschrieben. Wenn Samira eine Idee hatte, musste die weiter ausgetüftelt werden, und zwar sofort.

Ableger von Lilly der Grünlinie standen auch überall herum und versorgten Samiras elektrischen Kram mit Strom. Sie hatte einen Laptop, auf dem an die hundert Filme gespeichert waren, einen E-Book-Reader, den Samiras Mutter von ihrer eigenen Mutter geerbt hatte, und ein halbes Dutzend Lichterketten, die sie an den Wänden und der Decke befestigt hatte.

Finn lag auf dem Bauch und spielte Musik von seinem Handy ab. Samira lag auf dem Rücken und ließ den weißen Frosch über ihre Hand krabbeln. Einen wie ihn hatte Finn tatsächlich noch nie gesehen. Seine Haut war so blass, dass man Schatten der Adern darunter sehen konnte. Seine Augen waren glänzend schwarz und so rund wie Stecknadelköpfe.

»Hey Mira, denkst du, es gibt mehr wie ihn?«, fragte Finn. »Oder ist er eine Ausnahme?«

»Keine Ahnung«, sagte Samira. »Aber er ist total hübsch, findest du nicht?«

»Sieht aus wie ein weißer Edelstein«, stimmte Finn ihr zu. »Und hey, er quakt nicht.«

»Braver Frosch«, lobte Samira mit einem Schmunzeln.

Finn und Samira hatten schon immer viel Zeit bei Oma Vera verbracht. Finn liebte es, mit seiner Oma im Garten zu werkeln oder abends Karten und Mensch ärgere Dich nicht zu spielen. Samira mochte das alles auch und war zusätzlich fasziniert von Oma Veras Labor und ihren Erfindungen. Finns Oma wiederum wusste Samiras Forscherdrang zu schätzen und unterstützte sie dabei, immer mehr Wissen über Chemie, Botanik, Biotech und Pflanzenenergie anzusammeln.

»Solange ihr nicht irgendwann unseren Bezirk bei euren Versuchen abfackelt«, hatte Finns Mama gesagt, als sie alle zusammen bei Pellkartoffeln und Gurkensalat im Garten gesessen hatten und Samira von ihren neuesten Experimenten erzählt hatte.

Oma Vera hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Und wenn, dann würde dieser kleine Überflieger hier im Nu einen superwirksamen Löschschaum erfinden.«

Samira hatte über das ganze Gesicht gestrahlt und sich an ihren Vater gekuschelt. Kurz darauf war Samira bei Oma Vera eingezogen. Vorübergehend, bis ihre Eltern zurückkamen. Die waren zwei der wenigen Forscher, die sich über die Grenzen der einzelnen Bezirke hinauswagten. Das war vor einem Jahr gewesen.

»Nächstes«, sagte Samira. Finn drückte auf die Weiter-Taste auf seinem Handy, und die Musik wechselte zum nächsten Track. Er mochte Samiras Zimmer. Es fühlte sich ein bisschen wie ein Baumhaus an. Von der Welt abgeschottet, gemütlich. Während draußen die Sonne unterging, funkelten hier drin die Lichterketten, und durch das offene Fenster drang die kühle Abendluft.

»Vielleicht gibt es tiefer im Wald mehr von seiner Sorte«, sagte Samira.

»Lass mich raten«, sagte Finn, »du würdest am liebsten los und nach seinen Artgenossen suchen, richtig?« Er sagte es leichthin, hatte dabei aber ein mulmiges Gefühl im Magen. Samira zuckte mit der Schulter und hielt dem Frosch den Finger vor das Schnäuzchen. »Wenn die Erwachsenen mich lassen würden, sofort.« Sie presste die Lippen zusammen. »Die richtige Ausrüstung habe ich eh schon.«

Ein Schatten schien sich über ihre Augen zu legen. Finn wusste, dass sie an ihre Eltern dachte. Er wartete ab, ob sie noch etwas sagen wollte, aber sie schwieg. Nur ihr Blick wurde trauriger.

Zeit für eine Ablenkung.

»Du würdest also bei der erstbesten Gelegenheit in den Wald stiefeln«, sagte er. »Ich habe echt keine Ahnung, warum Oma Vera denkt, du wärst unvorsichtig!«

Samiras Mundwinkel zuckte nach oben. »Sie hat ja recht.«

»Ach, auf einmal?«

Samira streckte ihm die Zunge heraus. »Ich werde nie vorsichtig sein«, sagte sie. »Vorsichtig ist langweilig.«

Finn schnaubte. »Das ist dein Motto, oder?«

Samira grinste. »Yep.« Der Frosch schnupperte an ihrem Finger. »Ich glaube, ich gebe ihm einen Namen«, sagte sie. »Hast du eine Idee?«

»Schneeball«, schlug Finn vor.

»Sahnehäubchen«, konterte Samira. »Oder hey, wie wär’s mit Veras Nervensäge?«

Finn prustete schon, als ihm das Aufheulen einer Sirene jäh das Lachen abschnitt. Sofort fuhr er kerzengerade in die Höhe. Kurz verharrten er und Samira starr auf dem Bett, dann heulte der Alarm unten vor dem Haus erneut los.

Finn und Samira wechselten einen Blick.

»Elstern!«, knurrte Samira, steckte den Frosch in die Fronttasche ihrer Latzhose, und sprang vom Bett.

Auf dem Weg nach unten nahm Finn immer zwei Stufen auf einmal. Die Sirene auf der Gartenmauer heulte ein drittes Mal auf, als er nach draußen rannte.

»Finn!« Oma Vera tauchte neben ihm auf. Sie trug einen Morgenmantel über ihrem Pyjama, und die frisch gewaschenen Haare klebten ihr am Kopf.

Samira machte neben ihnen halt, und gemeinsam starrten sie in den Garten, der schon fast in den Schatten der umstehenden Bäume versunken war. Finn sah, wie sich das letzte rote Glimmen des Himmels auf einer Glasscherbe im Gras widerspiegelte. Dann bemerkte er den Schatten, der zwischen den Mangoldstauden hindurch hinter das Gewächshaus huschte.

»Da!«, rief er, während drei weitere Gestalten von der Rückseite des Hauses in Richtung Gewächshaus rannten.

»Diese feigen Banditen!«, fluchte Oma Vera. »Die sind gekommen, um unsere GreenX-Vorräte zu klauen!«

Samira ballte die Fäuste. »O nein, kommt nicht in die Tüte!« Und mit diesen Worten rannte sie los.

»Samira!«, schrie Oma Vera, aber es war schon zu spät.

Oma Vera packte Finn an der Schulter. »Warte hier«, sagte sie und rannte dann weiter fluchend zum Haus zurück.

Finn stand wie angewurzelt da. Es wird dunkel, warnte eine Stimme in ihm. Es wird schon richtig dunkel. Vor ihm lag der schattengraue Garten, und er hörte genau, wie immer mehr Eindringlinge mit verräterischem Rascheln zur Rückseite des Grundstücks flohen. Er sah zum Himmel hoch, auf den schmalen Streifen aus Sonnenlicht über den Baumkronen. Die Nacht war nur noch wenige Minuten entfernt, und keiner von ihnen sollte jetzt noch hier draußen sein.

Aber Samira war hier irgendwo im Garten, und wenn sie so richtig wütend war, dann würde sie die Elstern wer weiß wohin verfolgen. Finns Herz pochte dumpf in seiner Brust, und eine Angst, die er sehr gut kannte, kroch seinen Rücken herauf. Er dachte an eine Lichtung, an Schmetterlinge, die in der Dunkelheit verschwanden, und an krachendes Holz …

Nein, er durfte sich jetzt nicht von seiner Angst besiegen lassen. Er biss die Zähne zusammen, packte den erstbesten Gegenstand – eine Gießkanne aus Blech – und rannte Samira hinterher.

Hinter dem Gewächshaus sah er sich um. Von Samira fehlte jede Spur, aber da, am Bohnengatter bewegten sich die Blätter.

»Ich seh dich, du Dieb!« Er hatte es kaum gerufen, da sprang eine Gestalt hinter dem Gatter auf und floh in Richtung Gartenmauer. Wut kochte in Finn hoch. Er packte die Gießkanne fester und nahm die Verfolgung auf. Das war der dritte Überfall in diesem Sommer. Und jetzt war Samira wegen diesen Mistkerlen in die aufziehende Nacht gerannt.

»Bleib stehen!«

Der Eindringling, der vor ihm davonlief, war gerade mal so groß wie er – und nicht viel schneller. Trotzdem sah es danach aus, als würde er entkommen. Die Gartenmauer ragte vor ihnen auf, und im letzten Zwielicht sah Finn die Strickleiter, die die Elstern über die Backsteine geworfen hatten. Die Gestalt war fast dort.

Mit einem wütenden Aufschrei warf Finn die Gießkanne. Sie traf den Dieb an der Schulter und er strauchelte, packte dann aber doch die Leiter und begann, an ihr hinaufzuklettern. Da hatte Finn ihn allerdings eingeholt und packte ihn am Knöchel.

Ein wütendes Knurren entfuhr dem Einbrecher. Finn packte das Hosenbein des Kerls mit der anderen Hand und zerrte ihn mit einem Ruck von der Leiter herunter. Er stürzte mit einem spitzen Aufschrei zurück auf den Boden. Finn packte ihn an den Schultern, drehte ihn herum und erstarrte.

Der Dieb war ein Mädchen. Aber das war es nicht, was ihn überraschte. Sie war ein Mitglied der Elstern, die schwarz-weiß bemalte Holzfeder an ihrem Kragen ließ daran keinen Zweifel. Auf ihrem Kopf trug sie jedoch eine Pandabärenmütze: Eine Mütze aus weißem Kunstpelz, mit schwarzen Ohren, schwarzer Schnauze und Kulleraugen aus Perlen. Genauso eine Mütze hatte Finns Schwester in der Nacht getragen, als sie verschwunden war.

Nein, es war nicht genauso eine Mütze. Es war dieselbe Mütze. Auf der rechten Wange des Pandas prangte immer noch das kleine rosafarbene Herz, das Hannah dorthin genäht hatte.

Finn starrte das fremde Mädchen an, und sie starrte mit dunklen, wütenden Augen zurück. Bevor er irgendetwas tun oder sagen konnte, bevor er überhaupt seinen Schock überwinden konnte, flammten zwei Flutlichter über ihren Köpfen auf. Gleißend weißes Licht blendete Finn, und er hob schützend den Arm vor seine Augen. Das Mädchen nutzte ihre Chance und stieß ihn mit beiden Händen von sich. Finn stürzte auf den Rücken, und das Mädchen kletterte flink wie ein Eichhörnchen die Leiter hinauf. Er sah gerade noch, wie die schwarz-weiße Mütze hinter der Mauer abtauchte, dann war sie verschwunden.

Mit pochendem Herzen starrte Finn ihr nach. Gedanken wirbelten wie ein Blättersturm in seinem Kopf, aber dazwischen leuchtete immer wieder das weiße Kunstfell der Pandamütze auf.

Noch einen Herzschlag länger zögerte Finn, dann sprang er auf und kletterte dem Mädchen hinterher.

3Der gelbe Schmetterling

In seinen Träumen kehrte Finn oft zurück zu der Nacht, in der seine Schwester verschwunden war. Dann war er wieder sechs Jahre alt und folgte einem Zitronenfalter in den Schatten der Bäume.

Es passierte im Juni. Finn und Hannah waren wie so oft bei Oma Vera zu Besuch. Eine Zeitlang hatten sie sich im Garten aufgehalten, dann waren sie durch das hintere Tor in den Wald gewandert. Ganz in der Nähe von Oma Veras Grundstück gab es eine Lichtung. Der Boden sackte hier ein wenig ab, so dass die Lichtung eine grüne Mulde zwischen den Wurzeln von Pappeln und Lindenbäumen bildete. Überall an den Rändern wuchs Geißblatt, und Wurzeln ragten wie die Buckel schlafender Drachen aus dem weichen Gras.

An jenem Nachmittag vergaßen Finn und Hannah die Zeit. Die Lichtung war ihr geheimer Platz, und dort hatten sie es sich gemütlich gemacht: Hannah auf einer Wurzel und Finn am Boden der Senke.

Finn liebte den Wald. Er liebte das Rauschen der Bäume, das Gezwitscher der Vögel und das Knacken von Ästen im Unterholz. Manchmal hörte er sogar ein zartes Klingeln, wie von silbernen Glöckchen. Auf den ersten Blick war alles so schön grün, und dann überraschte einen die wilde Natur mit weißen Blumentupfern, knallroten Beeren und dem warmen Braun von Erde und Rinde. Natürlich warnten ihn die Erwachsenen, und er befolgte die Regeln, die sie ihm beibrachten. Zumindest meistens. Aber er verstand nicht, warum sie ihre Umgebung so gefährlich fanden. Auf ihn wirkte der Wald wie ein freundliches großes Tier. So ein bisschen wie Oma Veras Stummelschwanzkater, der schnurrte, wenn man ihn am Bauch kraulte.

Während Finn also im Gras lag und die Ameisen beobachtete, die zu den Spitzen der Grashalme kletterten, saß Hannah auf ihrer Wurzel und malte. Finn liebte ihre Zeichnungen und betrachtete sie, wann immer er konnte. Hannah malte Naturgeister, denen sie ausgedachte Namen verpasste. Wurzelreiter, Blattlinge, Pfützenspringer. Manchmal malte sie nur die Umrisse, und Finn durfte die hüpfenden, tanzenden Wesen ausmalen.

Hannah besaß einen riesigen Kasten an Buntstiften und benutzte alle Farben des Regenbogens. So zog sie sich auch an. An jenem Nachmittag trug sie blaugrün geringelte Strumpfhosen, eine kurze Jeans, ein T-Shirt und ihre Pandamütze. Nur ihre geliebte rote Kapuzenjacke hatte sie zu Hause gelassen.

Hannah war sieben Jahre älter als Finn, aber man erkannte sofort, dass sie Geschwister waren. Sie hatte dasselbe glatte schwarze Haar wie er, dieselbe Stupsnase und dieselben braunen Augen. Allerdings war sie ein gutes Stück größer als er, und während seine Haare kurz geschnitten waren, hingen ihre lang auf die Schultern.

Eigentlich hatten die beiden Oma Vera versprochen, zum Abendessen zurück zu sein. Aber sowohl Finn als auch Hannah glaubten, dass sie noch jede Menge Zeit hatten, bevor der Abend hereinbrach. Sie irrten sich. Das Licht unter den Bäumen war unverändert matt und schimmerte grün, aber am Horizont jenseits der Wipfel stand die Sonne bereits gefährlich tief.

Vielleicht hätten sie es noch rechtzeitig bemerkt. Vielleicht wäre Hannah aufgefallen, dass die Schatten zwischen den Bäumen dunkler wurden. Doch dann sah Finn den Schmetterling.

Es war ein Zitronenfalter mit leuchtend gelben Flügeln. Er taumelte quer über die Senke und an Finns Nase vorbei. Fasziniert setzte Finn sich auf die Knie. Der Falter war größer als alle, die er bisher gesehen hatte. Er tanzte durch die Luft wie ein Blatt im Wind, drehte sich um sich selbst und segelte durch die dünnen Sonnenstrahlen, die durch das dichte Blätterdach der Bäume fielen. Wann immer er diese Lichtstreifen durchkreuzte, strahlte er wie ein lebendiger Stern.

Finn sprang auf die Beine. Und als der Schmetterling in fröhlichen Schlangenlinien aus der Senke hinaus in den Wald schwankte, ging Finn ihm nach.

Der Schmetterling flog voraus, und Finn folgte ihm, wie gefangen von dem schimmernden, federleichten Lufttänzer. Er kletterte über herabgefallene Äste, duckte sich unter mannshohem Farn hindurch und sprang über einen schmalen Bach. Der Schmetterling führte ihn immer tiefer in den Wald, bis sie plötzlich eine andere Lichtung erreichten und, oh, was für ein Anblick hier auf ihn wartete.

Er krabbelte mit seinen kurzen Beinen über eine letzte Wurzel, dann stand er staunend da. Diese Lichtung war größer, und der Boden war ein Meer aus blühenden Nesseln. Und über diesen Blumen tanzten Schmetterlinge – nicht nur zwei oder drei, sondern ein riesiger Schwarm. Wie ein Wirbelsturm kreisten sie über den Nesseln. Manchmal sah es so aus, als wären sie ein einziges Wesen, das sich in Wellen bewegte. Dann wieder blieb Finns Blick an einzelnen Faltern hängen und folgte ihrem Taumel durch das schwindende Licht. Die Flügel schienen die Sonne zu speichern: Als sich das dunkle Blau des Abends über die Lichtung senkte, leuchtete der Schwarm noch immer.

Finn starrte versunken auf das Schauspiel, bis die Schmetterlinge sich schließlich zerstreuten und das Licht aus ihren Flügeln wich. Erst dann bemerkte er die Dunkelheit, die sich um ihn herum gesammelt hatte. Erst dann bemerkte er, wie kühl die Luft geworden war.

Angst hatte er in diesem Moment noch nicht. Er war bisher nie bei Nacht draußen gewesen, und der dunkel-schattige, veränderte Wald machte ihn neugierig. Obwohl er alt genug war, um zu wissen, dass sich kein Mensch nach Sonnenuntergang im Wald aufhalten sollte.

Wenn es draußen dunkel wird, hatte seine Mutter ihm immer wieder erzählt, dann erwacht der Mondwandler. Er schleicht auf leisen Pfoten durch den Wald und schnappt sich alle, die nicht rechtzeitig im Bett sind.

Finn mochte die Geschichte vom Mondwandler, auch wenn sie ein bisschen gruselig war. Ihm gefielen die Namen, die seine Mutter verwendete: Mondwandler. Nachtschwärmer. So nannte sie diejenigen, die die Regeln brachen und nach Sonnenuntergang in den Wald gingen.

Hannah behauptete, dass der Mondwandler ein Naturgeist war, und hatte ihn schon ein paar Mal gezeichnet. Als einen Schatten, der sich hinter den Bäumen bewegte. Zusammen hatten sie sich sogar ein Spiel über ihn ausgedacht: Einer von beiden versteckte sich, und der andere spielte den Mondwandler, der sich auf die Suche nach einem ungehorsamen Kind machte. Finn versteckte sich dann unter dem Sofa, hinter dem Duschvorhang und unter seiner Bettdecke. Der Trick war, dass man keinen Laut von sich geben und nicht mal einen kleinen Zeh aus dem Versteck herausstrecken durfte.

Finn dachte nicht daran, dass er dem Mondwandler tatsächlich begegnen könnte. Während er sich auf der verlassenen Lichtung umsah, hatte er nur das Gefühl, dass er gerade etwas machte, wofür er Ärger bekommen könnte. Er wollte zurück zu Hannah gehen, aber er wusste nicht mehr, aus welcher Richtung er gekommen war.

Das war der Moment, in dem er das Klingeln hörte.

Gebannt blieb Finn ganz still stehen. Er kannte dieses Geräusch: das silberne Läuten von Glöckchen zwischen den Bäumen. Aber er hatte es noch nie so deutlich gehört. Das Läuten wurde schneller, aufgeregter, dann verstummte es. Kurz darauf ertönte aus der Tiefe des Waldes ein lautes Krachen.

Finn zuckte zusammen. Es hatte sich angehört, als ob ein Baum erst zersplittert, und dann zur Erde gestürzt war. Ein letztes Mal klingelte ein Glöckchen, dann raschelte das Dickicht hinter Finns Rücken, und jemand packte ihn an der Schulter.

»Finn!« Hannah drehte ihn zu sich herum und starrte ihn mit blassem Gesicht und großen Augen an. »Was machst du denn hier? Es ist schon dunkel, wir müssen –«

Weiter kam sie nicht, denn plötzlich begannen die Bäume, sich zu bewegen. Nein, das sah nur so aus. Die Erde bebte und ließ die Bäume zittern. Das Gebüsch jenseits der Lichtung raschelte und knackte, als ob sich etwas Großes den Weg in ihre Richtung bahnte.

Angst ist ansteckend. Als Hannah ihre Finger in Finns Schulter grub, spürte er die Furcht wie einen Funken in seiner Brust aufflackern.

»Hannah, ich will nach Hause«, sagte er, aber Hannah antwortete nicht. Sie starrte auf die gegenüberliegende Seite der Lichtung. Ein Vogel flog mit hektischen Flügelschlägen aus dem Unterholz auf und ließ sie beide zusammenfahren. Dann wurde es plötzlich ganz still.

»Hannah?«, fragte Finn leise. Sie nahm seine Hand, und sie beide sahen zu, wie ein seltsames, bläuliches Licht hinter den Bäumen aufglomm. Als würde ein schimmernder Nebel hinter den Ästen und Büschen aufziehen.

Hannah fasste Finns Hand fester, dann sah sie sich hektisch um.

»Komm mit«, drängte sie und kletterte mit ihm auf die Wurzeln hinter ihren Rücken. Rasch lotste sie ihn zu einem nahen Baumstamm, an dessen Fuß ein dunkles Loch klaffte.

Finn versteifte sich, aber Hannah schob ihn auf das Loch zu.

»Geh da rein«, sagte sie. »Mach schnell!«

Finn wollte nicht, aber Hannahs Stimme klang so beschwörend, dass er in das Baumloch kletterte. Es war gerade so groß, dass er darin sitzen konnte.

Hannah kauerte sich vor ihn hin. Das blaue Licht wurde stärker und brachte das weiße Kunstfell ihrer Pandamütze zum Schimmern. Finn zog den Kopf zwischen die Schultern, und Hannah berührte sein Knie.

»Hab keine Angst«, raunte sie ihm zu. »Das ist wie Verstecken spielen, erinnerst du dich?«

Er erinnerte sich sehr gut, aber das hier fühlte sich nicht wie ein Spiel an. Das Licht wurde so gleißend hell, dass Hannah kurz die Augen zusammenkniff. Dann lächelte sie und drückte Finns Knie. »Warte hier, bis es Morgen ist, okay?«

Bevor er etwas sagen konnte – oder auch nur begriffen hatte, was sie vorhatte –, sprang Hannah von der Wurzel und verschwand aus seinem Blickfeld.

Wie Verstecken spielen, dachte Finn. Er schlang die Arme um seine Beine, presste seine Stirn gegen seine Knie und schloss die Augen so fest, wie er konnte.

Stunden später, als die Sonne aufging und den Wald in rosafarbenes Licht tauchte, erschien Oma Vera vor Finns Versteck. Er hatte sich die ganze Nacht über nicht bewegt, hatte nichts von sich von draußen sehen lassen, nicht mal einen kleinen Zeh. Oma Vera hob ihn hoch und hielt ihn fest wie ein verirrtes Kätzchen.

Erst nach einer Weile bemerkte Finn die anderen Menschen, die auf der Suche nach Hannah durch den Wald streiften. Doch obwohl sie einen ganzen Tag lang suchten, fanden sie nicht die kleinste Spur von seiner Schwester.

4Ein unerwartetes Leuchtfeuer

Finn erreichte die Oberkante der Mauer gerade noch rechtzeitig, um den weißen Pelz der Pandamütze hinter einem Gestrüpp aufblitzen und verschwinden zu sehen. Er presste die Lippen aufeinander, sprang von der Mauer ins weiche Gras und rannte der Einbrecherin hinterher.

Äste peitschten ihm ins Gesicht, als er durch das Dickicht preschte. Jenseits von Oma Veras Garten wucherte der Wald hemmungslos, aber das Mädchen lief einfach drauflos. Kein Wegfaden zeigte ihr, wo es lang ging.

Finn wischte einen Vorhang aus Ranken beiseite und sprang über bucklige Wurzeln.

Woher hatte das Mädchen die Mütze? Wusste sie, wo Hannah war? Hatte sie Hannah getroffen?

Finn konnte nicht fassen, dass er nach der ganzen Zeit plötzlich eine Spur seiner Schwester vor sich hatte. Und zwar eine Spur, die er bald wieder verlieren würde, wenn er sich nicht beeilte.

Er duckte sich unter einem umgestürzten Baum hindurch, sah vor sich die Zweige eines Busches wippen und stürmte hinein ins Blättergewirr. Er blieb mit dem Ärmel hängen, riss sich los, stolperte … und trat ins Leere.

Finn keuchte auf. Er versuchte noch, nach einem Ast zu greifen, da stürzte er schon vornüber einen Abhang hinunter. Er überschlug sich einmal, zweimal, und landete hart auf dem Bauch.

Schwer atmend blieb er liegen, dann drehte er sich auf den Rücken und setzte sich auf. Er war in einer Mulde gelandet, die von schulterhohem Farn und Laubbäumen umgegeben war. Er schaute nach oben, zu dem Gebüsch, aus dem er gefallen war, aber das Mädchen mit der Pandabärenmütze war verschwunden. Hören konnte er sie auch nicht mehr.

So viel dazu.

Ächzend und verärgert über seine eigene Tollpatschigkeit stand Finn auf. Er tastete seine rote Kapuzenjacke ab, aber die hatte zum Glück keinen Riss bekommen. Der Sturz hatte ihn so aus der Fassung gebracht, dass er noch einige Sekunden brauchte, um sich seiner Lage völlig bewusst zu werden. Erst mal war er froh, dass er sich nicht verletzt hatte. Dann wurde ihm klar, was für eine kolossale Dummheit er begangen hatte.

Er war blindlings in den Wald gerannt. Hatte nicht einmal mehr versucht, Samira zu finden. Und jetzt war er irgendwo jenseits von Oma Veras Gartenmauer, und die Sonne ging unter.

Finn sah sich um. Vielleicht leuchtete irgendwo oben am Himmel noch ein letztes bisschen Tageslicht, aber nach hier unten, in die Eingeweide des Waldes, drang kein einziger Schimmer mehr. Es war die Blaue Stunde, in der alle Farben aus der Welt wichen. Die Schwellenzeit, in der Menschen schlafen gingen und andere Wesen erwachten.

Finn schauderte. Er hatte keine Machete dabei, keine Handschuhe, nicht einmal eine Taschenlampe. Er grub die Finger in die Ärmel seiner Jacke.

Samira, erinnerte er sich. War sie auch in den Wald gelaufen? Wenn sie den Elstern nachjagte, dann würde sie keine halben Sachen machen. Dann würde sie sich immer weiter von Oma Veras Garten entfernen. Und jeder wusste, was mit Leuten passierte, die nachts im Wald herumstreiften.

Ich hätte sie aufhalten müssen, dachte Finn, und die Angst schloss sich wie eine Faust um sein Herz. Er hätte sich nur auf Samira konzentrieren dürfen! Stattdessen war er dem Mädchen mit der Pandamütze nachgerannt. Hatte alle Vernunft, alle Vorsicht vergessen. Wie damals mit dem Schmetterling.

Die warnenden Worte seiner Mutter spulten sich in seinem Kopf ab wie ein Tonband. Der Mondwandler hält Ausschau nach denen, die die Regeln brechen und sich nach Sonnenuntergang außerhalb ihrer Häuser aufhalten. Und wenn er so einen Regelbrecher findet, dann entführt er ihn, bringt ihn in sein Lager und versetzt ihn in einen immerwährenden Schlaf.

Nicht schon wieder, dachte Finn. Bitte nicht schon wieder! Er ballte die Fäuste. Atmen, ermahnte er sich. Panik würde jetzt niemandem helfen. Noch einmal sah er sich um und versuchte, wirklich alles wahrzunehmen. Sich nicht von seinen kreisenden Gedanken in eine Spirale zerren zu lassen. Sehen konnte er nichts. Aber vielleicht hören?

Er zwang sich auszuatmen, dann lauschte er.

Farnblätter raschelten. Irgendwo knarzte ein Ast, und Grillen zirpten im Unterholz. Keine ungewöhnlichen Geräusche. Nichts, was die Ruhe des Waldes störte.

Finn schlang die Arme um seine Brust. Es war lange her, dass er sich so intensiv auf den Wald konzentriert hatte. Normalerweise schützte er sich mit seinen Kopfhörern vor den unheimlichen Geräuschen der Wildnis.

Er widerstand dem Drang, seine Kapuze aufzusetzen, und sah zu der Kuppe hoch, von der er abgestürzt war. Wenn Samira hier irgendwo war, dann wahrscheinlich dort oben.

Die Waldgeräusche begleiteten ihn, als er auf den Abhang zuging. Das Abendkonzert der Insekten wurde immer lauter, als sich mehr und mehr Stimmen dazu schalteten. Finns Hand griff automatisch in die Tasche seiner Jacke, aber die Kopfhörer waren natürlich immer noch nicht dort. Er schloss die Hand zur Faust.

Du brauchst die Musik nicht, sagte er sich. Aber das Mantra funktionierte nicht. Was, wenn er wieder jenes Klingeln hörte? Den Klang silberner Glöckchen, von dem er immer noch träumte und der ihn so schnell zu der Nacht zurückversetzte, in der Hannah verschwunden war?

Die Grillen zirpten, knisterten, schabten mit ihren Beinchen aneinander. Im Unterholz knackte und knirschte es. Trockenes Laub raschelte, wenn Tiere aus ihrem Bau schlüpften und sich auf die nächtliche Jagd machten. Und darunter, dumpf aber beharrlich, klang ein metallisches Summen.

Finn wollte sich bewegen, schaffte es aber nicht. Die Geräusche umzingelten ihn, wurden lauter und rauschten in seinen Ohren. Er drehte sich um, wollte schon die Hände auf die Ohren pressen, als eine Gestalt neben ihm aus dem Farngestrüpp trat.

Er fuhr zurück. Einen Moment lang konnte er nicht sehen, wer da stand. Er hörte nur dieses eigenartige Brummen. Es klang wie eine Glühbirne, deren Draht kurz davor war, durchzubrennen. Die feinen Härchen auf Finns Armen richteten sich auf. Er wich zurück, aber das Summen wurde lauter und lauter, bis er es wie ein Kitzeln auf seiner Haut spürte. Dann fasste ihn die Gestalt am Arm, und das Geräusch verstummte.

»Finn!«

Er blinzelte. Samira stand vor ihm, die Augen vor Besorgnis weit aufgerissen.

»Ist alles okay mit dir?«

»Hast du das auch gehört?«, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

»Da war so ein … so ein Summen«, Finn brach ab. Sein Herz klopfte heftig.

»Ich habe nichts gehört«, sagte Samira. »Nichts außer die verdammten Elstern. Die sich echt mit unserem GreenX aus dem Staub gemacht haben. Einer von denen hat gleich zwei Kanister weggeschleppt. Mistkerle.«

Samira starrte zurück auf das Gebüsch, so als könnte sie durch es hindurchsehen und die Elstern mit ihren wütenden Blicken treffen.

Finn rieb sich mit der Hand über die Stirn. Sein Gehör musste ihm einen Streich gespielt haben. Wahrscheinlich lag’s an seiner Panik. Er schüttelte den Kopf, und es knackte in seinen Ohren.

Als hätte ich mir unter Wasser die Nase zugehalten, dachte er.

»Hast du dir weh getan?«, fragte Samira besorgt.

»Nein, geht schon«, sagte er. »Ich bin gestürzt, aber es ist alles okay.« Er wollte schon sagen, dass sie sich besser schleunigst auf den Heimweg machten, da trat Samira einen Schritt zurück, und das Summen erklang erneut. Leiser dieses Mal, aber unverkennbar.

»Wenn dir was passiert wäre, dann würde ich diese –«, begann Samira, aber Finn unterbrach sie.

»Sch«, machte er und hielt sie am Arm fest. »Da ist es wieder!«

»Wovon redest du?«