Nackt unter Wölfen - Bruno Apitz - E-Book
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Nackt unter Wölfen E-Book

Bruno Apitz

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Beschreibung

Ein Welterfolg in neuem Licht. Der Roman „Nackt unter Wölfen“, in 30 Sprachen übersetzt, erzählt die bewegende Geschichte eines dreijährigen Kindes, das unter den unmenschlichen Bedingungen des KZ Buchenwald von Häftlingen gerettet wird. Aber es handelt ebenso von den Konflikten seiner Retter, die ihrem Gewissen folgen müssen und dabei die Gesetze der Illegalität brechen. Die außergewöhnliche Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte rückt Roman und Autor nun nach über fünfzig Jahren in ein neues Licht. Diese Geschichte hat Leser in aller Welt bewegt: In einem Koffer versteckt, wird im Frühjahr 1945 ein dreijähriger Junge in das KZ Buchenwald gebracht. Wenn die SS das Kind findet, ist ihm der Tod gewiss. Mit Hilfe des illegalen Lagerkomitees könnte es verborgen werden, aber man fürchtet, die gesamte konspirative Arbeit zu gefährden. Aller Vernunft zum Trotz widersetzen sich zwei Häftlinge der Anweisung des ILK, den Kleinen mit einem Transport nach Bergen-Belsen weiterzuschicken. Herz und Gewissen siegen über die Parteidisziplin, denn das Überleben des Jungen ist längst zum Sinnbild für den Überlebenswillen der Häftlinge geworden. Der Roman entstand frei nach Motiven einer wahren Begebenheit, wurde jedoch als Tatsachenbericht und als Symbol des antifaschistischen Widerstandskampfes rezipiert. Die erweiterte Neufassung macht nun deutlich, dass Apitz die Rolle der Kommunisten viel konfliktiver anlegte und das Lagerleben gnadenloser darstellen wollte. „In ‚Nackt unter Wölfen’ triumphiert die einfache Menschlichkeit.“ Marcel Reich-Ranicki

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Seitenzahl: 763

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Ähnliche


Bruno Apitz

Nackt unter Wölfen

Roman

Impressum

Bruno Apitz, Nackt unter Wölfen

Erweiterte Neuausgabe auf der Grundlage der Erstausgabe des Mitteldeutschen Verlags Halle (Saale) von 1958

Herausgegeben von Susanne Hantke und Angela Drescher

Mit einem Nachwort von Susanne Hantke

ISBN 978-3-8412-0435-6

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2012© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinBei Aufbau erstmals 1960 erschienen; Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Covergestaltung Geertje Steglich

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Inhaltsübersicht

Bruno Apitz: Nackt unter Wölfen

ANHANG

BRUNO APITZ

[Sechs Texte über Buchenwald von »Buchenwald-Häftling Nr. 2417«]

Bruno Apitz

Als »Zugang« ins Lager Buchenwald

Tagsüber schwerste Arbeit in Schlamm und Dreck, und nachts ließ man uns nicht schlafen

Der Flüchtling

Der 13. Mai 1938 – ein schwarzer Tag im Lager!

Leichen – 1945

Das »Kleine Lager«

Lebensdaten von Bruno Apitz

»Das Dschungelgesetz, unter dem wir alle standen«

Der Erfolg von »Nackt unter Wölfen« und die unerzählten Geschichten der Buchenwalder Kommunisten

Susanne Hantke

Editorische Notiz

Ersetzungen

Danksagung

Fußnote

Ich grüße mit dem Buchunsere toten Kampfgenossen aller Nationen,die wir auf unserem opferreichen Wegim Lager Buchenwald zurücklassen mussten.Sie zu ehren,gab ich vielen Gestalten des Buchesihre Namen.

Die Bäume auf dem Gipfel des Ettersberges troffen vor Nässe und ragten reglos in das Schweigen hinein, das den Berg umhüllte und ihn absonderte von der Landschaft ringsum. Laub, vom Winter ausgelaugt und verbraucht, moderte nass glänzend am Boden.

Hier kam der Frühling nur zögernd herauf.

Schilder, zwischen den Bäumen aufgestellt, schienen ihn zu warnen.

»Kommandanturbereich des Konzentrationslagers Buchenwald. Achtung, Lebensgefahr! Beim Weitergehen wird ohne Anruf scharf geschossen.« Darunter ein Totenkopf und zwei sich kreuzende Knochen als Signum.

Der ewige Nebelregen klebte auch an den Mänteln der fünfzig SS-Leute, die an diesem Spätnachmittag des März 1945 auf der betonierten Plattform standen, die von einem Regendach geschützt wurde. Diese Plattform, Bahnhof Buchenwald genannt, war das Ende des Eisenbahngleises, das von Weimar nach dem Gipfel des Berges führte. In der Nähe befand sich das Lager.

Auf seinem weitgestreckten, nach Norden hin abfallenden Appellplatz waren die Häftlinge zum Abendappell angetreten. Block neben Block, Deutsche, Russen, Polen, Franzosen, Juden, Holländer, Österreicher, Tschechen, Bibelforscher, Kriminelle …, eine unübersehbare Masse, zu einem exakt ausgerichteten Riesenquadrat zusammenkommandiert.

Heute gab es unter den angetretenen Häftlingen ein heimliches Geflüster. Irgendwer hatte die Nachricht mit ins Lager gebracht, die Amerikaner hätten bei Remagen den Rhein überschritten …

»Weißt du es schon?«, wurde Herbert Bochow von Runki, dem Blockältesten, gefragt, neben dem er im ersten Glied des Blocks 38 stand. Bochow nickte. »Sie sollen einen Brückenkopf gebildet haben.«

Schüpp, im zweiten Glied hinter den beiden stehend, mischte sich in das Geflüster: »Remagen? – Ist noch weit weg.« Er bekam keine Antwort. Nachdenklich blinzelte er in Bochows Nacken hinein. Auf dem stets treuherzig-erstaunten Gesicht des Lagerelektrikers Schüpp mit dem runden Mund und den kugligen Augen hinter runder, schwarz gefasster Brille lag das Erregende der Neuigkeit. Auch andere Häftlinge im Block flüsterten miteinander, und Runki brach das Getuschel mit einem gezischelten »Achtsehn« ab. Die Blockführer, SS-Leute der unteren Dienstgrade, kamen von oben herab und verteilten sich auf die einzelnen der angetretenen Blocks, die ihnen unterstanden. Das Geflüster erstarb, und die Erregung verkroch sich hinter den starren Gesichtern.

Remagen!

Es war tatsächlich noch weit weg von Thüringen.

Immerhin. Die Front im Westen war durch die entscheidende Winteroffensive der Roten Armee, die über Polen hinweg nach Deutschland eingedrungen war, in Bewegung geraten.

Nichts drückte in den Gesichtern der Häftlinge aus, wie sehr die Nachricht sie bewegte.

Schweigend standen sie auf Vordermann und Seitenrichtung, und ihre Blicke folgten {heimlich} den Blockführern, die die Blocks abgingen und die Häftlinge zählten. Gleichmütig wie an jedem Tag. – Oben am Tor gab Krämer, der Lagerälteste, die Liste mit dem Gesamtbestand des Lagers beim Rapportführer ab und stellte sich, wie es Vorschrift war, gesondert vor dem Riesenquadrat auf. Auch auf seinem Gesicht lag die Undurchdringlichkeit, obwohl seine Gedanken die gleichen waren wie die der Zehntausenden hinter ihm.

Längst schon hatten die einzelnen Blockführer ihre Meldungen bei Reineboth, dem Rapportführer, abgegeben und sich in losen Reihen am Tor aufgestellt. Es dauerte trotzdem noch eine Stunde, bis die Zahlen stimmten. Endlich trat Reineboth ans Stativmikrophon.

»Fertig – stillgestanden!«

Das Riesenquadrat erstarrte.

»Mützen – ab!«

Auf einen Schlag rissen die Häftlinge die speckigen Mützen vom Kopf. Am schmiedeeisernen Tor stand Kluttig, der zweite Lagerführer, und ließ sich von Reineboth den Rapport machen.

Lässig hob er den rechten Arm. –

Seit Jahren war das so.

In Schüpps Gehirn hatte die Neuigkeit inzwischen keine Ruhe gelassen. Er konnte den Mund nicht halten und quetschte aus dem Mundwinkel heraus in Bochows Genick: »Denen da oben wird der Arsch bald mit Grundeis gehen …«

Bochow versteckte sein Lächeln in der faltigen Haut des unbeweglichen Gesichts. –

Reineboth trat wieder zum Mikrophon.

»Mützen – auf!«

Ein Ruck! Die Speckdeckel flogen auf den Kopf zurück, wie sie im Schwung zu liegen kamen, schief nach vorn, nach hinten, nach der Seite – und die Häftlinge sahen lustigen Brüdern ähnlich. Weil militärische Exaktheit hier zur Komik ausartete, hatte sich Reineboth angewöhnt, durchs Mikrophon zu rufen:

»Korrigieren!«

Zehntausende nestelten an den Mützen herum.

»Aus!«

Ein einziger Schlag der Hände an die Hosennaht. Jetzt mussten die Mützen korrekt sitzen. Stramm stand das Quadrat. –

Von der SS wurde dem Lager gegenüber der Krieg geflissentlich ignoriert. Hier ging es weiter Tag für Tag, als ob nichts die Zeit bewegte. Doch unter dem automatischen Abrollen des Tageslaufs floss der Strom. Vor einigen Tagen erst waren Kolberg und Graudenz »… im heldenhaften Kampf der Übermacht des Feindes erlegen …«

Die Rote Armee!

»Rheinübergang bei Remagen …«

Die Alliierten!

Die Zange griff zu!

Reineboth hatte noch eine Meldung.

»Die Häftlinge der Bekleidungskammer zur Bekleidungskammer. Die Blockfriseure zum Bad!«

Nichts Neues war dieser Befehl fürs Lager. Es kam nur wieder, wie seit Monaten oft, ein neuer Transport an. Im Osten waren die Konzentrationslager geräumt worden. Auschwitz, Lublin …

Buchenwald, obwohl schon zum Bersten voll, musste aufnehmen, so viel es konnte. Wie die Säule im Fieberthermometer stieg die Zahl der fast täglich neu Ankommenden. Wohin mit den Menschen? Um die Massen der Zugänge unterzubringen, mussten im abseitigen Gelände innerhalb des Lagers Notbaracken errichtet werden. In ehemalige Pferdeställe wurden sie zu Tausenden hineingetrieben. Ein doppelter Stacheldrahtzaun um die Ställe, und fortan hieß, was hier entstanden war, das »Kleine Lager«.

Ein Lager im Lager, abgesondert und mit eigenen Lebensgesetzen. Menschen aus allen europäischen Nationen hausten hier, von denen niemand wusste, wo einstmals ihr Zuhause gewesen war, deren Gedanken niemand erriet und die eine Sprache sprachen, die keiner verstand. Menschen ohne Namen und Angesicht. {Für das »Kleine Lager« hatte die SS-Lagerführung alle Übersicht verloren.}

Von denen, die aus den fremden Lagern kamen, war die Hälfte bereits auf dem Marsch gestorben oder von der begleitenden SS zusammengeknallt worden. Auf den Straßen blieben dann die Leichen liegen. Die Transportlisten stimmten nicht mehr, die aufgeführten Häftlingsnummern gerieten durcheinander. Welche gehörte einem Lebenden, welche zu einem Toten? Wer wusste noch Namen und Herkunft dieser Menschen? –

»Abrücken!«

Reineboth stellte das Mikrophon ab. Das Riesenquadrat wurde lebendig. Die Blockältesten kommandierten. Block nach Block schwenkte ein. Das riesige Menschengebilde zerfloss und strömte den Appellplatz hinunter, den Baracken zu. Oben verschwanden die Blockführer durchs Tor. –

Auf dem Bahnhof rollte zur gleichen Zeit der Güterzug mit dem Transport ein. Noch ehe er richtig zum Halten kam, liefen etliche SS-Leute, die Karabiner von den Schultern reißend, den Zug entlang. Sie zerrten die Verriegelungen auf und stießen die Wagentüren auseinander.

»’raus, ihr Mistsäue! ’raus hier! ’raus!«

Mann an Mann gedrängt, standen die Häftlinge in der stinkenden Enge der Wagen, und der plötzlich einströmende Sauerstoff machte die Menschen taumeln. Unter dem Geschrei der SS quetschten sie sich durch die Öffnungen, einer über den anderen stürzend und kollernd. Die übrige SS-Mannschaft trieb sie zu einem wirren Haufen zusammen. Wie aufbrechende Geschwüre gaben die Wagen ihren Inhalt von sich.

Als einer der Letzten sprang der polnische Jude Zacharias Jankowski vom Wagen. Von einem SS-Mann erhielt er mit dem Gewehrkolben einen Schlag auf die Hand, als er seinen Koffer nachzerren wollte.

»Judensau, verfluchte!«

Jankowski gelang es, den Koffer aufzufangen, den der SS-Mann ihm wütend nachschleuderte.

»Hast wohl deine ergaunerten Diamanten drin, du Schwein?«

Jankowski zerrte den Koffer mit sich in den schützenden Menschenhaufen hinein.

Die SS-Leute kletterten in die Waggons und kehrten den Rest mit den Kolben aus. Kranke und Erschöpfte schmissen sie wie Säcke herunter. Zurück blieben die Toten, die während der langen Fahrt in einer mühsam frei gehaltenen Ecke abgelegt worden waren. Eine der Leichen lag halb aufgerichtet und grinste {den SS-Mann an}.

Wohl in jedem Block klebten Landkarten an der Wand oder am Pult des Blockältesten, der in der Regel ein erfahrener, langjähriger Häftling war. Man hatte diese aus Zeitungen herausgeschnitten, damals, als die faschistischen Heerhaufen über Minsk, Smolensk, Wjasma auf Moskau marschierten und später über Odessa, Rostow auf Stalingrad zu.

Die Blockführer, {meist} üble, prügelsüchtige SS-Leute, hatten das Anbringen der Karten geduldet und manchmal sogar eitel auf die Städte Russlands getippt, wenn sie guter Laune waren und die Siegesfanfaren schmetterten.

»Na, wo ist denn eure Rote Armee?«

Das war lange her.

Jetzt übersahen sie geflissentlich die Karten. Sie sahen auch nicht die Striche, die die Häftlinge darauf gezogen hatten. Dicke und dünne, blaue, rote und schwarze Striche.

Von tausend Fingern tausendmal abgegriffen, waren auf dem dünnen Zeitungspapier die Namen der ehemaligen Kampforte zu schwarzen Dreckflecken geworden. Gomel, Kiew, Charkow …

Wen interessierte das noch?

Jetzt ging es um Küstrin, Stettin, Graudenz, um Düsseldorf und Köln.

Aber auch diese Namen bestanden zum größten Teil schon aus aufgerauten Flecken. Wie oft war hier geschrieben, gestrichen, radiert und wieder geschrieben worden, bis das Zeitungspapier nichts mehr hergab.

Tausend mal tausend Finger waren an diesen Fronten entlanggestrichen, hatten sie verwischt und – ausgelöscht. Unaufhaltsam nahte das Ende!

Auch jetzt wieder, nachdem sich die tagsüber stillen Blocks mit dem Lärm der einströmenden Häftlinge gefüllt hatten, hingen Trauben von ihnen an den Karten.

Auf Block 38 zwängte sich Schüpp durch die Gruppe, die an Runkis Pult eine Karte studierte.

»Remagen. – Hier liegt es, zwischen Koblenz und Bonn.«

»Wie viel Kilometer sind das noch bis Weimar?«, fragte einer.

Schüpp machte ein erstauntes Gesicht, blinzelte, lief einem Gedanken nach. »Wenn die erst mal ’rankommen …«

Die Finger tasteten den künftigen Weg ab: Eisenach, Langensalza, Gotha, Erfurt …

Schüpps Gedanke hatte haltgemacht. »Wenn sie in Erfurt sind, dann sind sie auch in Buchenwald.«

Wann? In Tagen? In Wochen? In Monaten?

»Erst mal abwarten. Ich sehe schwarz für uns. Denkste, dass die da oben uns den Amerikanern überlassen! Die legen uns alle schon vorher um.«

»Mach dir nur nicht schon jetzt die Hosen voll«, verwies Schüpp den Skeptiker. Nervös fuhr der Stubendienst zwischen die Gruppe: »Möchtet ihr nicht gefälligst eure Fressschüsseln holen?«

Die Holzschuhe klapperten, die Schüsseln schepperten. Die SS hatte aus dem Haufen einen Marschzug formiert, der sich – eskortiert von der wilden Horde – nach dem Lager hin in Bewegung setzte, schwankend und taumelig.

Jankowski war es gelungen, in die Mitte eines Marschgliedes zu huschen, und entging so den Schlägen der dreinhauenden SS. Keiner im Zug kümmerte sich um seinen Nebenmann. Jeder war mit seiner eigenen Sorge vor dem Ungewissen angefüllt, das sie erwartete. Die Kranken und Erschöpften wurden aus der Gewohnheit eines tierisch gewordenen Erhaltungstriebes mitgeschleppt. So torkelte der Zug die Zugangsstraße entlang und durch das Tor ins Lager hinein.

Die vom Schlag betäubte Hand hing Jankowski am Gelenk wie etwas Fremdes und Feindliches, sie schmerzte entsetzlich. Die Aufmerksamkeit aber, die er seinem Koffer zuwenden musste, ließ Jankowski den Schmerz kaum spüren. Es galt, den Koffer auf jeden Fall sicher durch das Tor des neuen Lagers zu bringen.

Jankowski spähte mit flinken Augen um sich. Im Gedränge ließ er sich durch das enge Tor schieben. Seine Erfahrung half ihm, sich so geschickt zu verbergen, dass er, ohne die Aufmerksamkeit der SS auf sich zu lenken, mit dem Haufen unangefochten ins Lager strudelte.

Es war ein Wunder gewesen, dass er den Koffer überhaupt bis hierher gebracht hatte. Jankowski wies zitternd alle Gedanken ab, um das Wunder nicht zu verscheuchen. Nur an eines glaubte er mit heißer Inbrunst: Der barmherzige Gott wollte es sicher nicht zulassen, dass der Koffer in die Hände der SS geriet.

Auf dem Appellplatz ordnete sich der Haufen wieder.

Den letzten Rest der Kraft verbrauchte Jankowski, um mit einigermaßen sicheren Schritten im Zug zu marschieren, der jetzt ins Lager hineingeführt wurde. Nur nicht taumeln und torkeln, das fiel auf. Es sang und brauste Jankowski in den Schläfen, aber er hielt durch, und mit Erleichterung sah er, dass es Häftlinge waren, die den Zug begleiteten.

Auf dem freien Platz zwischen hohen Steingebäuden saßen bereits die Blockfriseure auf mitgebrachten Schemeln in langer Reihe, als der Zug anlangte. Hier gab es noch ein großes Gewirr. Die Neuangekommenen mussten sich entkleiden, um ins Bad zu gehen. Das ging nicht so einfach vor sich, denn ein Scharführer schrie und tobte unter den Zugängen und wirbelte sie durcheinander wie Hühner.

Als endlich Ruhe eingetreten und der Scharführer im Bad verschwunden war, sank Jankowski erschöpft auf den steinigen Boden nieder. Der stechende Schmerz in der Hand war zu einem stumpfen Pulsen abgeklungen. Mit hängendem Kopf saß Jankowski eine ganze Weile und schreckte auf, als er heftig gerüttelt wurde. Einer von den Häftlingen, die den Zug begleitet hatten, stand vor ihm, es war ein Angehöriger des Lagerschutzes. Er sprach polnisch: »Du, nicht schlafen.«

Jankowski erhob sich unsicher.

Die meisten waren schon nackt. Jämmerliche Gestalten, die im kalten Sprühregen zitternd vor den Friseuren standen, hatten sich aus den zerschlissenen Lumpen herausgeschält. Mit Handmaschinen wurden ihnen alle Körperhaare abgeschoren.

Jankowski versuchte, mit der gesunden Hand die dürftige Kleidung abzustreifen. Der Pole vom Lagerschutz half ihm dabei.

Zwei Häftlinge gingen indessen umher und stöberten in den abgelegten Sachen herum, um gelegentlich einen Sack oder ein verschnürtes Bündel prüfend aufzunehmen. Jankowski erschrak.

»Was suchen die da?«

Der Lagerschutzler drehte sich nach den beiden um und lachte gutmütig.

»Das sind Höfel und Pippig von der Effektenkammer.«

Er machte eine beruhigende Geste zum Koffer.

»Hier klaut dir keiner was. Nun geh schon, Bruder, und lass dich scheren.«

Jankowski balancierte auf nackten Füßen über den spitzen Schotter zu den Friseuren.

Vor dem Eingang des Bades verursachte der Scharführer wieder Gedränge und Geschrei und trieb die Zugänge in einen großen Holzbottich.

Fünf, sechs Mann zugleich. Sie mussten in eine vom langen Gebrauch stinkend gewordene Desinfektionslauge tauchen.

»’runter mit die Köppe, ihr Stinktiere!«

Mit einem dicken Knüppel fegte er über die kahlgeschorenen Köpfe hinweg, die schleunigst in der Jauche verschwanden.

»Der ist wieder mal besoffen«, raunte der kleine, ein wenig krummbeinige Pippig, ehemals Schriftsetzer aus Dresden.

Höfel beachtete die Bemerkung nicht. Er stieß gegen Jankowskis Koffer:

»Möchte wissen, was die alles mitgeschleppt haben …«

Als sich Pippig nach dem Koffer bückte, stolperte Jankowski herbei. Angst flatterte in seinem Gesicht. Er {stieß Pippig beiseite und} sprudelte auf die beiden ein. Sie verstanden den Polen nicht.

»Wer bist du?«, fragte Höfel. »Name, Name.«

Das schien der Pole zu verstehen.

»Jankowski, Zacharias, Warschawa.«

»Ist das dein Koffer?«

»Tak, tak.«

»Was hast du da drin?«

Jankowski redete, gestikulierte und hielt die Hände schützend über den Koffer.

Der Scharführer stürzte aus dem Bad und trieb mit Flüchen die Menschen vor sich her. Um Aufsehen zu vermeiden, schob Höfel den Polen in die Reihe der Nackten zurück. Jankowski fiel dem Scharführer gerade in die Hände hinein, der packte ihn am Arm und schlenkerte ihn ins Bad. So musste Jankowski in den Bottich steigen und wurde dann von den sich ängstlich Drängenden in den Baderaum gedrückt.

Die feuchte Wärme wirkte wohltuend auf seinen durchfrosteten Körper, und unter der Brause wurde Jankowski angenehm willenlos. Spannung und Angst lösten sich auf, und seine Haut saugte gierig die Wärme in sich ein.

Pippig kauerte sich neugierig nieder und öffnete den Koffer.

Sofort aber schlug er den Deckel zu und blickte bestürzt zu Höfel auf.

»Was ist?«

Pippig öffnete den Koffer wieder, aber nur so weit, dass Höfel, der sich gebückt hatte, eben noch hineinsehen konnte.

»Mensch, mach zu!«, zischte der, schnellte aus der gebückten Haltung hoch und sah sich ängstlich nach dem Scharführer um. Der war im Bad.

»Wenn die das spitzkriegen …«, flüsterte Pippig.

Höfel machte ungeduldige Handbewegungen.

»Weg damit! Verstecken! Schnell!«

Wie ein Dieb schielte Pippig nach dem Bad, und als er sicher war, nicht beobachtet zu werden, lief er mit dem Koffer eilig nach dem Steingebäude und verschwand.

Im Baderaum ging Leonid Bogorski zwischen den Brausen hin und her und musterte die Zugänge. Er war nur mit einer dünnen Drillichhose bekleidet, und an den Füßen trug er Holzpantinen. Sein athletischer Oberkörper glänzte vom Wasser. Der Russe, Kapo oder Vorarbeiter des Badekommandos, hielt sich bei Zugängen am liebsten im Hintergrund auf, hier wurde er vom Scharführer nicht gestört, der hatte am Bottich sein Vergnügen.

Unter dem warmen Rauschen des Wassers kamen die verstörten Menschen zum ersten Male seit ihrem Eingang ins Lager zur Ruhe. Als ob das Wasser alle Unrast, alle Angst und überstandene Schrecknisse von ihnen abgespült hätte. Diese immer wieder aufs Neue sich einstellende Verwandlung kannte Bogorski. Er war noch jung, kaum 35 Jahre. Fliegeroffizier. Doch das wussten die Faschisten des Lagers nicht. Für sie war er ein russischer Kriegsgefangener, der, wie die vielen anderen auch, aus einem Feldlager nach Buchenwald gebracht worden war. Bogorski tat alles, um seine Anonymität zu sichern. Er gehörte dem Internationalen Lagerkomitee an, dem ILK, einem streng geheimen Komitee im Lager, von dessen Vorhandensein außer den wenigen Eingeweihten kein Häftling, geschweige die SS wusste.

Bogorski ging still zwischen den Brausen hin und her. Sein Lächeln genügte bereits, um den Neulingen ein kleines Gefühl der Sicherheit zu geben. Vor Jankowski blieb er stehen und betrachtete sich den schmächtigen Mann, der sich mit geschlossenen Augen der Wohltat des warmen Regens hingab.

Wo mag dieser jetzt wohl sein?, dachte Bogorski, lächelte still, dann fragte er in perfektem Polnisch:

»Wie lange wart ihr unterwegs?«

Jankowski, aus einem fernen, fremden Traum gerissen, öffnete erschrocken die Augen.

»Drei Wochen«, antwortete er und lächelte zurück. Obwohl er erfahrungsgemäß wusste, dass Schweigen der beste Schutz war, noch dazu in einer neuen, noch unbekannten Umgebung, hatte Jankowski plötzlich das Bedürfnis, sich mitzuteilen.

Hastig {flüsternd}, mit unruhig schweifenden Blicken, erzählte er vom Marsch nach Buchenwald. Er berichtete von den Schrecken der Evakuierung {, berichtete, wie sie von der SS aus dem Lager Auschwitz gehetzt worden waren, und schilderte die Bluthunde und niedersausenden Gewehrkolben}. Wochenlang waren sie auf den Landstraßen dahingewankt, hungrig und schwach, ohne Ruhe und ohne Pause. – Des Nachts hatte man sie auf Feldern zu einem Haufen zusammengetrieben, und sie waren erschöpft auf steinhart gefrorenen Sturzäckern in den Schnee gesunken, eng aneinandergerückt, um sich gegen den grausamen Nachtfrost zu schützen. Wie viele waren am anderen Morgen nicht wieder zum Weitermarsch angetreten! Abteilungen der Begleit-SS gingen dann über die Äcker und knallten ab, was noch am Leben war. Bauern fanden die Leichen und vergruben sie auf den Feldern. Wie viele waren unterwegs in die Knie gebrochen. Wie oft knallten dann die Karabiner. Und jedes Mal, wenn die Fangschüsse peitschten, wurde der Zug im Laufschritt vorwärtsgejagt.

»Lauft, ihr Schweine! Lauft, lauft!«

Als Jankowski schwieg, weil nichts mehr zu berichten war, fragte Bogorski: »Wie viel sind von Auschwitz abmarschiert?«

Jankowski antwortete leise: »Es waren dreitausend …«

Über sein Gesicht zuckte ein ergebenes Lächeln. Er wollte noch mehr sagen. Es drängte ihn, irgendjemandem in diesem fremden Lager das Geheimnis seines Koffers anzuvertrauen, aber [das Pfeifensignal des Scharführers schrillte, die Brausen versiegten, und der Scharführer trieb die Menschen durcheinander. –

Ein alter, wohl an die 60 Jahre zählender SS-Mann kam um die Ecke der Effektenkammer auf die Zugänge zu. Erschrocken flüsterten einige vom Lagerschutz: »Achtsehn! Papa Berthold kommt.« Sie verdrückten sich schleunigst vor dem Alten, der in wulstigen, von übermäßigen Frostballen der Füße stark deformierten Knobelbechern daherstapfte. In dem bräunlichen, vom Alter schlaff gewordenen Faltengesicht saßen zwei kleine lustige Augen nah beieinander, und über der vorgerutschten Unterlippe hing eine kurze Tabakspfeife.

Zuerst griff sich Berthold zwei Mann vom Lagerschutz, die sich vor ihm nicht schnell genug hatten in Sicherheit bringen können, und schickte sie mit einer Handbewegung nach der gegenüberliegenden Mauer ans Wäschereigebäude. – Er grinste nur freundlich, als er das Widerstreben der Lagerschutzler bemerkte. Dann ging er durch den Haufen der Zugänge. Wie ein Lumpensammler las er alle vor Erschöpfung Zusammengebrochenen auf und ließ sie von anderen Lagerschutzlern zur Mauer tragen. Besonders krank erscheinende und alte Zugänge schickte er freundlich zu den Übrigen an der Mauer. Der Scharführer des Bades, der herauskam und Berthold gewahrte, rief ihm zu: »Du machst wohl wieder Luft, Wilhelm?«

Berthold grinste und hielt die Pfeife mit den Zähnen fest. Als er genug beisammenhatte, mussten die Lagerschutzler aus den Abgesonderten einen Zug bilden, die Erschöpften wurden aufgenommen, und Berthold zählte gewissenhaft durch.

»Genau 32«, nickte er den Lagerschutzlern vertraulich zu und ließ, vorangehend, abmarschieren. Die Lagerschutzler mussten folgen. Sie wagten es nicht, sich anzusehen, denn sie wussten, wozu sie jetzt missbraucht wurden. –]

Jankowski torkelte in die nasse Kälte hinaus.

Der Koffer war verschwunden!

Höfel, der auf den Polen gewartet hatte, drückte ihm schnell die Hand auf den Mund und raunte:

»Schnauze! Es ist alles in Ordnung.«

Jankowski begriff, dass er sich ruhig zu verhalten habe, er starrte den Deutschen an. Dieser drängte: »Nimm deine Klamotten und hau ab.«

Höfel warf Jankowski die Sachen über den Arm und schob ihn ungeduldig in die Reihe derer, die nach dem Baden zur Bekleidungskammer gehen mussten, um ihre schmutzigen gegen gereinigte Kleidungsstücke einzutauschen.

Jankowski redete auf den Deutschen ein. Obwohl Höfel den Polen nicht verstand, hörte er die Angst aus dessen Gesprudel, er klopfte ihm beruhigend den Buckel:

»Jajaja, es ist schon gut. Geh nur, geh.«

In den Schub hineingedrängt, musste Jankowski mit zur Bekleidungskammer.

»Nix Böses? Gar nix Böses?«

Höfel winkte ihn fort.

»Nix Böses, gar nix Böses …«

[Im Block 61 des Kleinen Lagers, der Seuchenbaracke, lagen Hunderte von Sterbenden. Alles, was im Kleinen Lager von Ruhr, Typhus, Fleckfieber oder von einer anderen Todeskrankheit befallen war, wurde nach der Seuchenbaracke abgesondert. Ein guter, stiller und frommer Mensch, der Pole Joseph Zidkowski, war hier Blockältester. Einige andere polnische Häftlinge versahen die Pflegerdienste. Doch konnten sie nichts weiter tun, als zu warten, bis diese hier starben, um dann die Toten hinter der Baracke abzulegen, die während des Abendappells gewöhnlich von einem Lastauto abgeholt und nach dem Krematorium gebracht wurden.

Jetzt war noch kein Appell, doch der LKW stand schon hinter der Seuchenbaracke mit heruntergeklappten Seitenwänden, und ein Dutzend nackter Leichen lagen bereits auf ihm.

Papa Berthold war bei der Arbeit. –

Von den 32 Ausgesonderten warteten keine 20 mehr vor der verschlossenen Tür. Nackend und zitternd, in sich verkrümmt und ängstlich.

Berthold befand sich in einem separaten, kleinen Raum. Ein kleiner Tisch mit einer großen, braunen Medizinflasche darauf und ein Hocker waren die Einrichtung. Berthold, im weißen Arztkittel, stand vor dem Hocker mit einer Injektionsspritze in der Hand, und vor ihm lag eine nackte Leiche. –

Berthold ging zur Tür der Hinterwand und klopfte mit der Stiefelspitze dagegen. Zwei polnische Pfleger kamen herein, hoben still den Toten auf und trugen ihn hinaus. Berthold schloss hinter ihnen die Tür, ging zum vorderen Eingang, klopfte ebenfalls mit der Stiefelspitze dagegen und setzte sich wartend auf den Hocker. Draußen gaben die Lagerschutzler dem nächsten der Nackten ein stummes Zeichen, hineinzugehen. Der Neuling blickte sie fragend an, und sie nickten ihm zu mit einem verkrampften Lächeln. –

Auch Papa Berthold lächelte, als der Ahnungslose den Raum betrat. Er bedeutete ihm, seine Sachen auf den Kleiderhaufen zu werfen, der in der Ecke lag, und winkte pfeifenuckelnd und mit freundlichem Kopfnicken den Nackten zu sich heran. –

Wie waren doch die Arme so dünn und die Beine … seufzend wiegte Papa Berthold mit dem Kopf, tätschelte tröstend die Hand des Nackten, die er ergriffen hatte. Dann wies er schnalzend auf die braune Flasche und sah den Nackten mit verschmitztem Skatspielergesicht an.

»Dobsche«, sagte er und klopfte sich auf die Oberarmmuskeln, nickte dem Nackten verheißend zu und griff zur Spritze. Er stach schnell und geübt in die Schlagader der Ellenbeuge, füllte die Spritze sofort wieder und legte sie auf den Tisch.

Der Gestochene stand vor ihm, und Papa Berthold blaffte dünne Rauchfetzen aus der Stummelpfeife.

Plötzlich veränderte sich das Gesicht des Gestochenen. Sein Mund öffnete sich staunend und wurde zu einem schwarzen Loch, die Augen wurden angstvoll groß, und der Brustkorb krampfte sich hoch, als wollte der Gestochene tief Luft holen. Aber schon sackte er, die Arme hochwerfend, in die Knie, fiel um wie ein Kegel, und einer der schlenkernden Arme schlug Papa Berthold die Pfeife aus dem Mund. –

Sie war zum Glück nicht zerbrochen. –]

Wie ein glücklich beschenkter Junge war Pippig mit dem Koffer {die Treppen} zur Effektenkammer hinaufgeeilt.

Um die späte Nachmittagsstunde hielt sich kein Häftling des Kommandos mehr in dem langgestreckten Kleiderraum auf, in dem Tausende von Säcken mit den Zivilsachen hingen. Nur der ältere August Rose stand an der langen Quertafel und kramte in irgendwelchen Papieren.

Er blickte verwundert auf den hereinschleichenden Pippig.

»Was bringst du da angeschleppt?«

Mit einer schnellen Handbewegung vertuschte Pippig die Frage.

»Wo ist Zweiling?«

Rose wies mit dem Daumen nach dem Zimmer des Hauptscharführers.

»Pass auf«, sagte Pippig hastig und huschte flink nach hinten in den halbdunklen Kleiderraum hinein. Rose sah ihm nach und beobachtete dann den Hauptscharführer, den er hinter dem großen Glasfenster in seinem Zimmer sehen konnte.

Zweiling saß am Schreibtisch vor der aufgeschlagenen Zeitung, den Kopf in die Hände gestützt. Es sah aus, als ob er schliefe. Aber der hagere, langstelzige Mensch schlief nicht, sondern grübelte {beunruhigt über die neuesten Meldungen von der Front. Zweiling erwog vielerlei Möglichkeiten der Flucht. Je näher die Front kam, desto gefährlicher wurde es, der SS anzugehören. Am besten war es noch, sich in Zivil beiseitezudrücken. –

Und wenn die Amerikaner so plötzlich da sein werden, dass ich nicht mehr Zeit habe, aus dem Lager zu kommen? Dann war man mittendrin. Adé, Gotthold! –

Mit den Häftlingen beizeiten gemeinsame Sache machen? –

Wie wäre das? – Zweiling grübelte. Das ist nicht so einfach. Die Burschen sind misstrauisch, und wer garantiert, dass sie einen nicht doch noch umlegen? Abenteuerliche Gedanken schwammen Zweiling im Gehirn herum wie Brocken in der Suppe.

Kurz vorm Einschnappen müsste man den Kommandanten abschießen und Kluttig und Reineboth dazu und noch ein paar andere mit … Da wäre man bei den Amerikanern sogar noch als ein Antifaschist avisiert … In Zweiling kicherte es. Aber sehr schnell gewannen die zweifelnden Gedanken wieder die Oberhand. Verfluchte Situation. Wie schlängelte man sich am sichersten durch? –}

Pippig kam wieder nach vorn, machte zu Rose hin eine beschwichtigende Geste, öffnete geräuschvoll die Tür zum Schreibbüro, das neben Zweilings Zimmer lag, und rief überlaut:

»Marian, komm mit ’runter zum Dolmetschen!«

Zweiling schreckte hoch. Er sah den herausgerufenen Polen mit Pippig davongehen.

{»Was heckst du wieder aus?«, knurrte Rose unwillig, als er sah, wie Pippig den Polen am Arm festhielt, der ahnungslos die Effektenkammer verlassen wollte. Mit unterdrückter Stimme fuhr Pippig den grämlichen Rose an:

»Mache nur kein Drama, Mensch! Pass lieber auf Zweiling auf.«}

Dieser gab Kropinski ein schnelles Zeichen, und die beiden schlichen nach hinten. In der äußersten Ecke des Kleiderraums verschwanden sie hinter hohen Stapeln von Garderobesäcken und Bekleidungsstücken verstorbener Häftlinge. Hier stand der Koffer. –

Pippig, quecksilbrig und aufgeregt, witterte mit langgestrecktem Hals noch einmal um die Stapel herum, rieb sich die Hände und grinste Kropinski an, ausdrückend: Nun pass auf, was ich mitgebracht habe … Dann ließ er die Schlösser aufschnappen und hob den Kofferdeckel hoch. Breitspurig schob er die Hände in die Taschen und genoss die gelungene Überraschung. –

Im Koffer lag, in sich verkrümmt, die Händchen vors Gesicht gedrückt, ein in Lumpen gehülltes Kind. Ein Knabe, nicht älter als etwa drei Jahre.

Kropinski kauerte sich und starrte das Kind an. Es lag reglos. Pippig strich zärtlich über den kleinen Körper.

»’n Miezekätzchen. – Ist uns zugelaufen.«

Er wollte das Kind an der Schulter herumdrehen, aber es schien sich dagegenzustemmen. Endlich fand Kropinski ein Wort. »Armes Wurm«, sagte er auf Polnisch, »wo kommst du her?« Beim Klang der polnischen Laute steckte das Kind sein Köpfchen vor wie ein Insekt, das die Fühler eingezogen hatte. Eine kleine, erste Lebensäußerung, für die beiden so unerhört erregend, dass sie dem Kind gebannt in die Augen starrten. Das schmale Gesicht hatte bereits den Ernst eines wissenden Menschen, und auf den Augen lag ein Glanz, der kein Kinderglanz war. Das Kind sah die Männer in stummer Erwartung an. Sie wagten kaum zu atmen. –

Rose hatte die Neugier nicht mehr gehalten. Leise war er nach dem Winkel geschlichen und stand unvermittelt vor den beiden.

»Was soll denn das?«

Jäh erschrocken fuhr Pippig herum und zischte den staunenden Rose an:

»Bist du verrückt? Hierherzukommen! Mach dich nach vorn! Du willst uns wohl Zweiling auf den Hals hetzen?«

Rose winkte ab.

»Der döst.«

Er beugte sich neugierig über das Kind{:

»Was wollt ihr damit?«

Pippig drängte Rose von dem Koffer zurück, ihm drohend:

»Wenn du ein Wort sagst …«

Rose} meckerte:

»Da hast du dir ein nettes Spielzeug angelacht.«

{Verlegen grinsend zog er sich aus der gefährlichen Zone zurück. –

»Ausgerechnet der läuft uns in die Quere«, zischte Pippig wütend, nachdem Rose verschwunden war.}

Vorn an der langen Tafel standen einige von den Zugängen, die irgendwelche Kleinigkeiten abzugeben hatten, einen Ehering etwa oder einen Schlüsselbund.

Häftlinge vom Kommando verwahrten die Habseligkeiten in Papierbeuteln, und Höfel, als Kapo, überwachte die Vorgänge.

Neben ihm stand Zweiling und sah zu. Sein ewig halboffener Mund gab dem ausdruckslosen Gesicht eine besondere Leere.

Der Ramsch interessierte ihn nicht, er verließ die Tafel. Höfels Blick folgte dem SS-Mann, dessen nachlässige Haltung der hageren Figur das Aussehen eines krummen Nagels gab. Zweiling stakte in sein Zimmer zurück.

Die Zugänge waren bald abgefertigt, und endlich hatte Höfel die Möglichkeit, sich nach dem Kind umzusehen. Rose, der wieder nach vorn gekommen war, hielt ihn zurück.

»Wenn du Pippig suchst …« Neugierlüstern wies er nach hinten. Höfel entgegnete kurz:

»Ich weiß Bescheid. Darüber wird nicht gequatscht, verstanden?« Rose tat entrüstet.

»Bin ich ein Zinker?«

Beleidigt blickte er Höfel an. Die anderen Häftlinge waren aufmerksam geworden und fragten, doch Rose antwortete nicht. Mit geheimnisvollem Lächeln ging er ins Schreibbüro.

Das Kind saß aufrecht im Koffer, und Kropinski, der vor ihm kniete, versuchte, es zum Sprechen zu bewegen.

»Wie du heißen? Du mir sagen. Wo ist Papa? Wo ist Mama? {Jak się nazywasz? Musisz mi to powiedzieą. Gdzie jest twói ojciec? Gdzie jest twoja mama?}«

Höfel war hinzugetreten. Pippig flüsterte ratlos:

»Was machen wir nun mit dem Ding? Wenn sie es erwischen, schlagen sie es tot.«

Höfel kniete sich nieder und sah dem Kind prüfend ins Gesicht.

»{Nie mówi.} Es nicht sprechen«, erklärte Kropinski verzweifelt.

Der fremde Mann schien das Kind zu beunruhigen, es zerrte an seiner zerlumpten Jacke, und sein Gesicht blieb seltsam starr, anscheinend wusste es nicht, was Weinen war.

Höfel hielt das nervöse Händchen fest.

»Wer bist du denn, du Kleines?«

Das Kind bewegte die Lippen und schluckte.

»Hunger hat es«, platzte Pippig erleuchtet heraus. »Ich hole ihm was.«

Höfel richtete sich auf und atmete tief. Die drei blickten sich ratlos an. Höfel schob sich unruhig die Mütze aus der Stirn.

»Ja … jaja … natürlich …«

Pippig fasste es als Bestätigung seiner Absicht auf und wollte forteilen. Aber die sinnlosen Worte waren nur Höfels Versuch gewesen, sich auszudrücken und die irrenden Gedanken zu ordnen. Was sollte aus dem Kind werden? Wohin mit ihm? Vorerst musste es wohl hierbleiben. Höfel hielt Pippig zurück und überlegte.

»Mache ihm ein Lager zurecht«, wies er Kropinski an.

»Nimm ein paar von den alten Mänteln, lege sie dort in die Ecke und …« Er stockte. Pippig sah ihn fragend an. In Höfels Gesicht zeichnete sich ein plötzliches Erschrecken ab.

»Wenn das Kind nun schreit …?«

Höfel presste die Hand an die Stirn. »Kleine Kinder fürchten sich, und dann schreien sie … Verflucht noch mal …!« Er starrte auf das Kind. Lange. »Vielleicht … vielleicht kann es gar nicht schreien …?« Er fasste das Kind an beiden Schultern und rüttelte es zart. »Du darfst nicht schreien, hörst du? Sonst kommt SS.« Plötzlich veränderte sich das Gesicht des Kindes schreckhaft. Der Knabe riss sich los, warf sich in den Koffer zurück und zog sich eng zusammen, das Gesicht in den Händen versteckend.

»Das weiß Bescheid«, stieß Pippig hervor.

Um seine Vermutung zu prüfen, klappte er den Deckel herunter. Sie horchten. Im Koffer blieb es still.

»Na klar«, wiederholte Pippig, »es weiß Bescheid.«

Er öffnete den Koffer wieder, das Kind hatte sich nicht bewegt. Kropinski hob es hoch, und es hing ihm wie ein zusammengekrümmtes Insekt zwischen den Händen. Fassungslos sahen die drei das sonderbare Wesen an{, und Pippig sagte langsam: »Menschenskind, was mag das kleine Ding schon alles hinter sich haben?«}.

Höfel nahm Kropinski das Kind ab und wendete es prüfend hin und her. Beine und Kopf eingezogen und die Händchen ans Gesicht gedrückt, erschien das Kind wie eben dem Mutterleib entrissen oder wie ein Käfer, der sich tot stellt. Erschüttert gab Höfel das Wesen an Kropinski zurück, der drückte es an sich und flüsterte ihm beruhigende polnische Worte zu.

»Das verhält sich bestimmt ruhig«, sagte Höfel dumpf. Er presste die Lippen aufeinander. Wieder blickten sich die drei Männer an. Einer erwartete vom andern eine Entscheidung in diesem ungewöhnlichen Fall. Höfel, in Sorge, dass ihr Fernbleiben von Zweiling bemerkt werden könnte, zog Pippig mit sich. »Komm, wir müssen nach vorn«, und zu Kropinski: »Bleib hier, bis wir abrücken.«

Kropinski legte das starre Bündel in den Koffer zurück, die Hände zitterten ihm, als er aus einigen Mänteln eine Liegestatt bereitete. Zart legte er das Kind darauf nieder, deckte es zu und zog ihm behutsam die Händchen vom Gesicht. Er merkte dabei das leise Widerstreben des Kindes, dessen Augen krampfhaft zugekniffen blieben.

Als Pippig ein wenig später mit etwas Kaffee und einem Stück Brot in den Winkel zurückgehuscht kam, war es Kropinski inzwischen gelungen, das Kind so weit zu beruhigen, dass es die Augen wieder geöffnet hatte. Kropinski setzte es aufrecht und reichte ihm die Aluminiumtasse. {Durstig trank das Kind.} Pippig hielt ihm ermunternd die Brotscheibe entgegen. Doch das Kind griff nicht zu.

»Angst hat es«, meinte Pippig und schob ihm das Brot zwischen die Händchen. »Iss«, nickte er freundlich.

»Musst nun essen und schlafen und {musst nicht} haben gar keine Angst«, flüsterte Kropinski. »Guter Bruder Pippig passen auf und ich auch, und ich werde dich mitnehmen zurück nach Polen.« Er zeigte lächelnd auf sich. »Da ist kleines Haus von mir.« Das Kind blickte ernst zu Kropinski hoch, gespannte Aufmerksamkeit im Gesicht. Ein wenig öffnete es den Mund. Unvermittelt und tierflink kroch es unter die Mäntel. Einige Augenblicke warteten die beiden{, aber das Kind kam nicht wieder zum Vorschein}. Vorsichtig hob Kropinski den Mantel hoch. Das Kind, auf der Seite liegend, kaute am Brot. Zart deckte es Kropinski wieder zu, und sie verließen den Winkel, dessen Eingang sie mit einem Sackstapel verstellten. Sie lauschten. Dahinter blieb es still.

Als sie nach vorn kamen, sammelten sich die Häftlinge des Kommandos bereits zur allabendlichen Kontrolle. Die Effektenkammer gehörte zu den »Kommandierten«, die längere Arbeitszeit hatten und darum am allgemeinen Lagerappell nicht teilnahmen. Sie wurden vom Kommandoführer, einer unteren SS-Charge, am Arbeitsplatz gezählt und dem Rapportführer gemeldet, der sie dem Gesamtbestand zurechnete. Soeben trat Zweiling aus seinem Zimmer, die beiden huschten noch schnell in die Reihe. Höfel spielte vor dem Hauptscharführer Theater, um das verspätete Kommen der beiden zu bemänteln, und knurrte ärgerlich: »Wollt wohl ’ne Extraeinladung haben?«

Er nahm vor Zweiling mit der Mütze in der Hand Haltung ein und meldete: »Kommando Effektenkammer, 20 Häftlinge zum Appell angetreten.« Darauf trat er zu den anderen ins Glied.

Zweiling stakte zählend die Reihen ab.

In Höfel war alles voll gespannter Aufmerksamkeit. Krampfhaft lauschte er nach hinten. Würde sich das Kind nicht dennoch fürchten und schreien?

Zweiling gab, nachdem er durchgezählt hatte, mit lässiger Hand ein Zeichen, es bedeutete »Wegtreten«. Die Reihen lösten sich auf, und die Häftlinge gingen an ihre Beschäftigung zurück. Nur Höfel stand noch, er hatte Zweilings Zeichen nicht bemerkt.

»Was ist denn?«, fragte ihn dieser mit seiner ausdruckslosen und teigigen Stimme.

Höfel erwachte und erschrak.

»Nichts, Hauptscharführer.«

Zweiling trat zur Tafel und unterschrieb die Bestandsmeldung.

»An was dachten Sie denn jetzt?«

Es sollte leutselig klingen.

»An nichts Besonderes, Hauptscharführer.«

Zweiling schob die Zunge auf die Unterlippe, so machte er es, wenn er lächelte.

»Sie waren wohl schon zu Hause, was?«

Höfel zog die Schulter hoch: »Wieso?«, fragte er verständnislos. Zweiling antwortete nicht. Mit einem vielsagenden Lächeln ging er ins Zimmer. Kurz darauf verließ er die Kammer, um die Bestandsmeldung abzugeben. Er hatte den braunen Ledermantel an, ein Zeichen dafür, dass er nicht wieder zurückkommen würde. Die Schlüssel zur Kammer hatte Höfel nach Arbeitsschluss bei der Torwache abzugeben.

Im Schreibbüro drängten sich die Häftlinge neugierig um Höfel zusammen und wollten Näheres wissen, denn Rose hatte gequatscht. Er verteidigte sich lärmend, als er von Höfel zurechtgewiesen wurde.

»Ich mache die Zicken nicht mit.«

Die Häftlinge rumorten durcheinander. »Wo ist denn das Kind?« – »Ruhe!« Höfel beschwichtigte und wandte sich Rose zu: »Hier werden keine Zicken gemacht. – Das Kind bleibt nur diese Nacht bei uns, morgen bringen wir es fort.« {Kropinski horchte verwundert auf. Pippig schwieg. Wollte Höfel nur ablenken? –} Die Häftlinge wollten das Kind sehen. Sie schlichen nach dem Winkel. Kropinski hob vorsichtig den Mantel hoch. Einer über die Schulter des andern äugend, betrachteten sich die Männer das kleine Ding. Es lag wie ein Engerling zusammengerollt und schlief. Über die Gesichter der Häftlinge ging ein Glänzen, sie hatten lange kein Kind mehr gesehen. Staunten! »Wie ein richtiger, kleiner Mensch …«

Höfel ließ sie sich sattsehen{, dann bat er leise: »Lasst es schlafen, Kumpel, und sprecht mit niemand darüber.«}.

Kropinski strahlte über seinen Besitz. Er legte sanft den Mantel um das Atmende, als die Häftlinge auf den Zehenspitzen den Winkel verließen. An diesem Abend hockten sie untätig herum, im Schreibbüro und auf der langen Tafel, schwatzten und freuten sich, und keiner wusste eigentlich warum. Am glücklichsten war Kropinski. »Ist kleines Polenkind«, lachte er immer wieder und legte seinen ganzen Stolz darein.

Pippig merkte, dass Höfel ihm auswich. Nach Arbeitsschluss, in der Baracke ihres Blocks, setzte er sich zu ihm an den Tisch und sah zu, wie er lustlos die kalt gewordene Suppe löffelte. Höfel spürte mit innerer Abwehr die Frage in Pippigs Schweigen, er warf den Löffel in die Schüssel und erhob sich.

»Das Kind soll wieder fort?«

Höfel winkte Pippigs Frage ab, zwängte sich durch die vollbesetzte Tischreihe und ging zur Waschkaue hinaus, um die Schüssel zu spülen. Pippig folgte ihm. Hier waren sie allein.

»Wohin willst du es denn geben?«

Diese ewige Fragerei! Höfel zog unmutig die Brauen zusammen.

»Lass mich in Ruhe damit.«

Pippig schwieg. Einen solchen Ton war er an Höfel nicht gewohnt. Das fühlte dieser und fuhr, teils in Ärger, teils in Verteidigung, Pippig unwirsch an: »Ich habe meine Gründe. Es kommt morgen fort. Frage nicht!«

Er verließ die Waschkaue. Pippig blieb zurück. Was war in Höfel gefahren? –

Der hatte schnell den Block verlassen. Draußen ging noch immer der durchdringende Sprühregen nieder. Höfel schauerte und zog die Schultern zusammen. Es reute ihn, Pippig so unwirsch behandelt zu haben. Doch er konnte dem Braven die Gründe seiner Weigerung nicht nennen, die tiefstes Geheimnis waren. Weder Pippig noch ein anderer wusste davon, dass er, der frühere Feldwebel einer Reichswehrgarnison in Berlin und Mitglied der damaligen Parteizelle, hier im Lager einer der militärischen Ausbilder der internationalen Widerstandsgruppe war. Niemand wusste davon.

Aus dem Internationalen Lager-Komitee war im Laufe der Zeit das Zentrum des Widerstands geworden. Ursprünglich hatten sich die Genossen der Partei als Vertreter ihrer Nationen im Internationalen Lager-Komitee, dem ILK, vereinigt, um unter Tausenden der Zusammengetriebenen eine Gemeinschaft zu bilden, die Verständigung unter den Nationalitäten herzustellen und mit Hilfe der Besten unter ihnen das Solidaritätsgefühl zu wecken, das keinesfalls von Anfang an vorhanden gewesen war. {Die Masse der Häftlinge war nicht einheitlich im Denken und Handeln.} Allein bei den deutschen Häftlingen gab es einige Blocks, die mit sogenannten Berufsverbrechern belegt waren. Unter ihnen wiederum eine große Anzahl von {Ganovenelementen}, die sich, um persönlicher Vorteile willen, zu willfährigen Subjekten der SS herabwürdigten, sie steckten mit den Block- und Kommandoführern unter einer Decke, wurden zu deren Zuträgern und zu Zinkern{, wie es im Lager hieß, und gefährdeten in vielen Fällen anständige Häftlinge, die sich nicht dazu hergaben, Kameraden zu schikanieren}. Auch unter den politischen Häftlingen gab es in allen Blocks und bei allen im Lager befindlichen Nationalitäten unsichere Elemente, denen die Angst um das eigene Leben höher stand als das Wohl und die Sicherheit der Gemeinschaft.

Denn nicht jeder, der einen »roten Winkel« trug, war tatsächlich ein »Politischer«, das heißt ein bewusster Gegner des Faschismus; schon »Meckerer« und sonstige von der Gestapo aufgegriffene missliebige Personen bekamen den roten Winkel des Politischen, so dass die Zusammensetzung in den Blocks der Politischen vom »labilen« Charakter bis zum latenten Verbrecher reichte und mancher Insasse eigentlich den grünen Winkel der Berufsverbrecher hätte tragen müssen. Zwischen den Blocks der Deutschen und der Ausländer, der Polen, Russen, Franzosen, Holländer, Tschechen, Dänen, Norweger, Österreicher, und vieler anderer Häftlingskategorien wollte anfangs wegen der Unterschiedlichkeit der Sprache und anderer Hinderungsgründe keine Verständigung entstehen. Die Genossen, die sich im ILK zusammengefunden hatten, mussten erst viele Schwierigkeiten überwinden, ehe es ihnen gelang, das Misstrauen der ausländischen Häftlinge zu beseitigen, die sich nur schwer daran gewöhnen wollten, in den deutschen Häftlingen {im deutschen, faschistischen Konzentrationslager} Kameraden zu sehen. {Glich doch einer dem anderen, und sah man keinem an, ob unter den Häftlingslumpen, die sie alle trugen, ein aufrichtiges Herz schlug.} Eine zähe und geheime und daher auch gefährliche Arbeit der Genossen des ILK war notwendig, um den Gedanken der Zusammengehörigkeit unter den Tausenden zu wecken und ihr Vertrauen zu gewinnen. In jedem Block schafften sich die Genossen Vertrauensmänner, und langsam fasste das ILK unter den Häftlingen Fuß, ohne dass auch nur ein Einziger das Vorhandensein einer so geheimen Verbindung ahnte. Keiner der Genossen vom ILK stand im Lager an exponierter Stelle oder machte von sich reden. Schlicht und unauffällig lebten sie. Bogorski im Badekommando, Kodiczek und Pribula als Fachkräfte in der Optikerbaracke, van Dalen als einfacher Pfleger im Revier, Riomand als französischer Koch im SS-Kasino, wo er von den Feinschmeckern sehr geschätzt wurde, und Bochow saß als untergeordneter Blockschreiber im Block 38. Hier hatte sich der ehemalige Landtagsabgeordnete der Kommunistischen Partei von Bremerhaven für sich selbst und seine gefährliche Aufgabe eine sichere Zuflucht geschaffen. Sein Geschick, mit der Redisfeder umzugehen und gute Druckschrift zu schreiben, hatte ihn dem lächerlich dummen Blockführer, einem Unterscharführer, wertvoll gemacht. Für ihn musste Bochow Dutzende von Zeichenkartons mit sinnigen Sprüchen beschriften. Und so malte Bochow: »Meine Ehre heißt Treue« – »Ein Volk, ein Reich, ein Führer«. Der Unterscharführer vertrieb die Spezialitäten unter seiner Bekanntschaft und machte sich ein einträgliches Nebengeschäft daraus. Er kam gar nicht auf den Gedanken, dass sein geschickter Blockschreiber im Lager etwas anderes sein könnte als sein »harmloser« Häftling.

Bochow war es gewesen, der auf einer Besprechung des ILK André Höfel als militärischen Ausbilder für die Widerstandsgruppen vorgeschlagen hatte. »Ich kenne ihn, er ist ein alter, guter Kumpel, werde mit ihm sprechen.«

Als Bochow vor einem Jahr nach dem Abendappell mit Höfel in einsamer Gegend hin und her gegangen war, weil das, was Bochow zu sagen hatte, von niemandem gehört werden durfte, war es ein gleicher Regenabend gewesen wie heute. Der Fünfzigjährige war neben ihm, dem schlanken und um zehn Jahre jüngeren Höfel, hergestapft, die Hände in den Taschen vergraben. Bochows sonore, gedämpfte Stimme hatte Höfel in den Ohren geklungen. Satz um Satz hatte Bochow abgewogen, um nur so viel zu sagen, wie Höfel wissen durfte. »Wir müssen uns vorbereiten, André … aufs Ende … internationale Kampfgruppen … verstehst du? … Waffen …«

Überrascht hatte Höfel aufgesehen, und Bochow hatte eine mögliche Frage mit kurzer Handbewegung abgeschnitten: »Davon später, jetzt nicht.«

Und zum Schluss, als sie sich trennten: »Du darfst niemals auffallen, auch nicht mit der geringsten Sache, verstanden?«

Das war vor einem Jahr gewesen, und seitdem war alles gutgegangen. Höfel wusste inzwischen auch, woher die Waffen kamen, über die Bochow damals nicht sprechen wollte. – Häftlinge hatten Hieb- und Stichwaffen in den verschiedenen Werkstätten des Lagers heimlich gebastelt. Sowjetische Kriegsgefangene stellten auf den Drehbänken der Weimarer Rüstungsbetriebe, in denen sie arbeiten mussten, Handgranaten her und schmuggelten sie ins Lager, und Fachleute, die im Häftlingsrevier und in der pathologischen Abteilung des Lagers arbeiteten, verstanden es, aus abgezweigten Chemikalien Sprengladungen für die Handgranaten zu mixen. Das wusste Höfel nun alles, und wenn er abends am heimlichen Ort den Kameraden der Gruppen die Handhabung der Waffen lehrte, freute er sich besonders, die Unterweisung an einer 7,65 mm Walther-Pistole vornehmen zu können. Diese Waffe war dem Zweiten Lagerführer Kluttig bei einem der Saufgelage im SS-Führerheim geklaut worden. Regelrecht geklaut von einem der Häftlinge, die die Saufenden zu bedienen hatten. Niemals war der Täter herausgekommen, denn solche Kühnheit traute selbst der verbissene Kommunistenfeind Kluttig einem Häftling nicht zu. Er hatte einen seiner Saufkumpane im Verdacht. Welch eisigkalte Gelassenheit gehörte für jenen einen dazu, nach dem Gelage mit seinem Kommando der Kellnersklaven ins Lager einzurücken und – vorbei an der SS – unter der Kleidung eine 7,65 durchs Tor zu tragen? – Diese eisige Kälte spürte Höfel jedes Mal, wenn er die kostbare Waffe in der Hand hielt, jedes Mal, wenn er sie aus ihrem Versteck nahm und sie an seinem Körper verbarg, um zur Unterrichtsstunde zu gehen, durchs Lager, an ahnungslos grüßenden Freunden vorbei, vorbei an so manchem SS-Mann. Da spürte er das kalte Metall an seinem Körper. –

Und immer war es gutgegangen!

Plötzlich aber kam ein kleines Kind ins Lager! Ebenso heimlich und gefahrvoll wie damals jene Walther 7,65 mm. – Darüber konnte er mit niemandem sprechen. Der Einzige war Bochow. Es waren für Höfel nur wenige Schritte bis zum Block 38, trotzdem aber ein langer Weg. In Höfels Brust lag es wie ein schwerer Stein. Hätte er anders handeln müssen? Ein kleiner Funke Leben war übergesprungen, ein Rest aus einem Lager des Todes. Musste er das Winzige nicht davor bewahren, ausgetreten zu werden?

Höfel blieb stehen und blickte auf die nass glänzenden Steine zu seinen Füßen. Auf der ganzen Welt konnte es nichts geben, was selbstverständlicher war.

Auf der ganzen Welt!

Nicht aber hier!

Daran dachte er jetzt.

Ahnungen von den Gefahren, die das Vorhandensein jenes gefährlichen Funkens auslösen konnte, der in einem heimlichen Winkel des Lagers glomm, durchhuschten Höfel schattenhaft, aber er wies sie von sich. Vielleicht konnte Bochow helfen?

Block 38 war eines der einstöckigen Steingebäude, die nach Jahren im Anschluss an die ersten Holzbaracken errichtet worden waren. Er umfasste, wie die übrigen Steinblocks, vier Aufenthaltsräume mit anschließendem Schlafsaal. Es war nichts Ungewöhnliches, dass der Kapo der Effektenkammer in einem der Blocks erschien, und die Häftlinge nahmen deshalb keine Notiz von Höfel, als dieser eintrat. Bochow saß am Tisch des Blockältesten und schrieb die Bestandsmeldung des Blocks für den kommenden Morgenappell aus. Höfel zwängte sich durch den dichtgefüllten Raum und trat zu Bochow ans Pult. »Kommst du mal mit raus?«

Wortlos stand Bochow auf, zog sich den Mantel über, und sie verließen den Block. Draußen sprachen sie nicht miteinander. Erst als sie auf den breiten, zum Revier führenden Weg gelangten, auf dem noch viele Häftlinge hin und her gingen, begann Höfel: »Ich muss mit dir sprechen.« – »Ist’s wichtig?« – »Ja.«

Sie redeten leise und unauffällig. »Da hat ein Pole Jankowski, Zacharias, ein kleines Kind mitgebracht …« – »Das nennst du wichtig?« – »Das Kind ist bei mir auf der Kammer.« – »Was, wieso?« – »Ich habe es bei mir versteckt.« Höfel konnte Bochows Gesicht im Dunkeln nicht erkennen. Ein eiliger Häftling, vom Revier kommend, den Kopf gegen den Nieselregen vorgeduckt, stieß sie im Vorbeigehen an. Bochow blieb stehen. »Mensch, bist du verrückt geworden?« Höfel hob die Hände. »Lass dir erklären, Herbert …« – »Ich will es gar nicht wissen.« – »Doch, du musst es wissen«, beharrte Höfel. Er kannte Bochow, der war immer hart und unerbittlich. Sie gingen weiter, und in Höfel schoss es plötzlich heiß auf. Völlig unmotiviert sagte er: »Ich habe zu Hause selber einen Jungen, der ist jetzt 10 Jahre alt. Ich habe ihn noch nie gesehen.« – »Gefühlsduselei, du hast strengste Anweisungen, dich aus allen Sachen herauszuhalten. Hast du das vergessen?«

Höfel verteidigte sich. »Wenn das Kind denen da oben in die Fänge gerät, geht es hops. Ich kann es doch nicht ans Tor schleppen: da, das haben wir in einem Koffer gefunden.« Sie waren auf ihrem Gang fast bis zum Revier gelangt, drehten um und gingen den Weg wieder zurück. Höfel fühlte die Härte, die von Bochow ausging, mit tiefem Vorwurf fuhr er ihn an: »Mensch, Herbert, hast du denn kein Herz im Leib?« – »Wenn das keine Gefühlsduselei ist!« Unvorsichtig laut hatte Bochow gesprochen. Er riss sich darum selbst das Wort vom Mund und fuhr leiser fort: »Kein Herz im Leib? Hier geht es nicht nur um ein Kind, sondern um 50000 Menschen!«

Höfel ging schweigend nebenher, er war aufs tiefste erregt, Bochows Einwand nahm ihm alles weg. »Nun gut«, sagte er nach ein paar Schritten, »dann werde ich das Kind morgen zum Tor bringen.« Bochow schüttelte den Kopf: »Willst du eine Dummheit durch die andere ersetzen?« Höfel wurde ungehalten. »Entweder ich verberge das Kind, oder ich gebe es ab!« – »Du bist mir ’n Stratege …«

»Was soll ich denn machen?« Höfel riss die Hände aus den Taschen und breitete sie hilflos aus. Bochow wollte sich von Höfels Erregung nicht einfangen lassen. Um sie in dem Kameraden selbst niederzuhalten, sagte er in seiner sachlichen und ein wenig unbeteiligten Art: »Ich habe auf der Schreibstube gehört, dass ein Transport abgeht, und werde dafür sorgen, dass der Pole dazugetan wird. Du gibst ihm das Kind mit.« Höfel erschrak über den harten Entschluss. Bochow blieb stehen, trat dicht an Höfel heran, blickte ihm nah in die Augen. »Was sonst?« – Höfel atmete schwer. Bochow spürte, was in diesem vor sich ging.

Im Abwägen der Notwendigkeiten wogen am schwersten die Pflichten hier im Lager. Konnte Bochow, den das ILK zum Verantwortlichen für die Widerstandsgruppen bestimmt hatte, zulassen, eines Kindes wegen den militärischen Ausbilder der Gruppen in Gefahr zu bringen oder sogar diese selber? Oder den ganzen mühselig aufgebauten Apparat? Dazu den Lagerschutz, der nach außen eine völlig legale Einrichtung, in Wirklichkeit aber ein ausgezeichneter militärischer Verband war? Man wusste nie, was aus einer harmlosen Sache alles entstehen konnte. Ein kleines Kind gibt den Anstoß, und mit einem Schlage rollt die Lawine des Verderbens über alle und alles hinweg. Das ging Bochow durch den Kopf, als er sich Höfel betrachtete. Er wandte sich wieder zum Gehen und sagte fast traurig: »Manchmal ist das Herz ein sehr gefährliches Ding! Der Pole wird schon wissen, wie er mit dem Kind zurechtkommt. Hat er es bis hierher gebracht, bringt er es auch noch weiter.« Höfel schwieg noch immer. Sie waren am Revierweg abgebogen und standen jetzt zwischen den Baracken. Hier war es einsam. Der kalte Schauerregen machte die beiden frösteln. Sie konnten im Dunkeln ihre Gesichter kaum erkennen. Höfel hatte die Hände tief in die Taschen geschoben, die Schultern frierend angedrückt. Er machte keine Anstalten zu gehen. Bochow packte ihn an der Schulter, rüttelte ihn. »Mach keine Geschichten, André«, sagte er mit warmem Ton. »Leg dich in deine Kiste, ich gebe dir noch Bescheid.«

Sie trennten sich.

Bochow sah Höfel nach. Mit müden Schritten ging der davon. Ein Bedauern wollte Bochow übermannen, von dem er nicht wusste, wem es galt, Höfel oder dem Kind oder jenem fremden Polen, dem es unbekannt war, dass über sein Schicksal in diesem Augenblick entschieden worden war. Entschieden durch Häftlinge, durch seinesgleichen, die aus dem Zwang einer Situation heraus Gewalt über ihn hatten. Bochow schüttelte die Gedanken ab. Hier musste schnell und furchtlos gehandelt werden. Er überlegte kurz. Rasch zum Block zurück! Runki, sein Blockältester, wollte soeben die ausgefüllte Bestandsmeldung zum Lagerältesten nach der Schreibstube bringen, als ihn Bochow an der Tür des Blocks abfing. »Gib her, Otto, ich bringe sie selber hin.« – »Ist was los?«, fragte Runki, dem Bochows besonderer Ton auffiel. »Nichts von Bedeutung«, entgegnete dieser. Runki wusste, dass Bochow zu dem Kreis alter Lagerkumpels gehörte, deren Wort galt. Von Bochows Zugehörigkeit zum ILK und dessen Existenz hatte er keine Ahnung. Unter den politischen Häftlingen war das Gesetz der Konspiration wirksam – das sie alle durch bedingungsloses Vertrauen miteinander verband. Es gab keine Neugier, nur wissendes Schweigen über alles, was im Lager zu geschehen hatte. Es gab eine strenge innere Disziplin und das Bewusstsein der unbedingten Zusammengehörigkeit, das keine unbedachten Fragen ließ für Dinge, die man nicht zu wissen brauchte. Es gab eine selbstverständliche Unterordnung: Wichtigem durch Schweigen zu dienen. – So schützten sie sich gegenseitig und bewahrten Geheimstes vor Entdeckung. Der Kreis dieser Häftlinge war groß und über das ganze Lager verbreitet. Überall Genossen, die das in Schweigen eingebettete Wissen im Herzen trugen. Die Partei, der sie verbunden waren, war mit ihnen im Lager, unsichtbar, ungreifbar, allgegenwärtig. Gewiss trat sie bei dem einen oder anderen Genossen sichtbar hervor, jedoch nur immer für den, dem es erlaubt war, sie zu sehen. Sonst glichen sie sich alle untereinander in ihren dreckigen Lumpen mit dem roten Winkel und der Nummer auf der Brust, mit ihren kahlgeschorenen Schädeln … So fragte auch Runki nicht viel, als ihm Bochow die Bestandsmeldung abnahm.

Im Nebenraum der Schreibstube, in dem die beiden Lagerältesten Krämer und Pröll ihren Platz hatten, war der allabendliche Betrieb schon vorbei. Pröll, der zweite Lagerälteste, hatte in der Schreibstube zu tun. Außer Krämer, dem ersten Lagerältesten, der den Gesamtbestand des Lagers für den kommenden Morgenappell an Hand der einzelnen Blockmeldungen zusammenstellte, waren nur noch einige Blockälteste und -schreiber anwesend, die ihre Meldungen bereits abgegeben hatten und herumklönten. Bochow trat ein. An seinem Verhalten – Bochow zögerte, die Meldung an Krämer weiterzugeben – erkannte der Lagerälteste, dass der Blockschreiber von 38 etwas auf dem Herzen hatte. Auch Krämer gehörte zu dem Kreis der Wissenden und Schweigenden. {Sein Vorgänger war ein von Kluttig ausgewählter Berufsverbrecher gewesen, der seinen Posten persönlicher Vorteile wegen missbraucht hatte und bald wieder abgelöst worden war. Die Einsetzung Krämers als »LA-I« war der Ausdruck von Gegensätzen zwischen Kluttig und Schwahl. Kluttig benutzte mit Vorliebe kriminelle Elemente für die Posten im Lager und machte die Verbrecher zu Spitzeln und Zuträgern. Schwahl – entsprechend seiner Erfahrung als ehemaliger Zuchthausinspektor – nutzte lieber Intelligenz und Korrektheit der Politischen aus. Er selbst hatte Krämer als neuen »LA-I« eingesetzt, und die Folgezeit schien ihm damit recht zu geben. Seit Krämer »LA-I« geworden war, hörten die Schweinereien und Durchstechereien im Lager auf. Schwahl wusste, dass er sich auf »seinen« LA-I verlassen konnte. Immer stand Krämer im Mittelpunkt der Ereignisse. Alles, was im Lager geschah, konzentrierte sich auf seine Person. Die Befehle erhielt er durch Schwahl, durch die Lagerführer und den Rapportführer. In seiner Person löste sich der unmittelbare Kontakt zwischen der Lagerführung und dem Lager selbst aus. Die Befehle mussten durchgeführt werden. Stets aber so, dass es galt, Leben und Sicherheit der Häftlinge zu schützen.} Das bedurfte oft der Klugheit und des geschickten Manövrierens. Krämer, der kompakte, breitschultrige Kupferschmied aus Hamburg, war die Ruhe selbst. Ihn konnte so leicht nichts erschüttern. In verschwiegener Zusammenarbeit mit den Genossen der Partei füllte er seinen schweren Posten aus. Die Partei in ihrer Lagerillegalität stand ihm in Person Herbert Bochows gegenüber. Ohne dass es jemals ausgesprochen worden war, wusste Krämer, was von Bochow kam, das kam von der Partei. In seinem Bestreben, dem Lagerältesten möglichst wenig Einblick in das illegale Gefüge zu geben, übertrieb Bochow stark. »Frag nicht danach, Walter, es ist besser für dich«, war oft der Einwand, wenn Krämer den Sinn mancher Anweisung erfahren wollte, die Bochow ihm brachte. Krämer schwieg gewöhnlich, obwohl es ihm manchmal sonderbar erschien, aus Anweisungen »Geheimnisse« zu machen. Dann war er versucht, Bochow auf die Schulter zu klopfen: »Mach’s nicht so spannend, Herbert, ich weiß Bescheid …« Oft belustigte er sich im Stillen über sein Wissen von dem, was er nicht wissen durfte, oftmals aber ärgerte er sich auch darüber. In vielen Fällen hätte Bochow nach Krämers Meinung besser getan, ein offeneres Wort zu sprechen. So auch jetzt, nachdem er den überflüssigen Besuch mit freundlichem Gebrumm hinausbefördert hatte. Er sah Bochow auffordernd an.

»Eine dumme Geschichte«, begann dieser.

»Was ist los?«

»Du stellst einen neuen Transport zusammen?«

»Na und«, fragte Krämer zurück. »Pröll macht drüben die Liste fertig.«

»Da ist mit dem letzten Schub ein Pole mitgekommen. Zacharias Jankowski heißt er. Er ist sicher im Kleinen Lager. Kannst du ihn in den Transport hineinstecken?«

»Was ist mit ihm?«

»Nichts«, entgegnete Bochow dunkel. »Du musst dich mit Höfel in Verbindung setzen. Er gibt dir was mit für den Polen.«

»Was?«

»Ein Kind.«

»Ein was???« Krämer warf den Bleistift hin, mit dem er die Eintragungen gemacht hatte. Bochow bemerkte Krämers Überraschung. »Bitte, frag mich nicht. Es muss sein.«

»Aber ein Kind? Mensch, Herbert! Der Transport geht ins Ungewisse! Du weißt, was das heißt?«

Bochow wurde nervös. »Ich kann dir nichts weiter sagen.« Krämer stand auf. »Was ist das für ein Kind? Was ist mit ihm?«

Bochow wehrte die Frage ab. »Nichts, es geht um anderes.«

»Das kann ich mir denken.« Krämer schnaufte. »Hör zu, Herbert. Ich frage sonst nicht viel, weil ich mich immer darauf verlasse, dass …«

»Also frage nicht.«

Krämer sah finster vor sich hin. »Manchmal machst du es mir verdammt schwer, Herbert.«

Bochow legte ihm versöhnend die Hand auf die Schulter. »Es kann sich kein anderer der Sache annehmen als du. Höfel weiß schon Bescheid. Sag, du kommst in meinem Auftrag.« Krämer brummte mürrisch. Er war unzufrieden.

Unruhig war Höfel durch die Reihen der Blocks gelaufen, ehe er jetzt nach seiner Behausung ging. Ein paar verspätete Häftlinge klapperten eilig ihren Blocks zu. In kurzen Abständen pfiff es. Der Lagerälteste machte seinen abendlichen Gang durch das Lager. Seine Pfeifsignale bedeuteten, dass sich kein Häftling mehr außerhalb der Blocks aufhalten durfte. Immer ferner und leiser klangen die Pfiffe. Die regennassen Dächer der Baracken glänzten matt. Unter Höfels Schritten knirschten und knackten die Schottersteine. Manchmal stolperte er, gab nicht acht auf seinen Gang vor Groll auf Bochow! Was machte der sich schon aus einem kleinen Kind? Fröstelnd betrat Höfel seinen Block. Der Aufenthaltsraum war leer, sie lagen schon alle in den Betten. Ein paar Stubendienste klapperten mit den Suppenkübeln. Am Tisch saß der Blockälteste. Im Raum hing noch der kalte Dunst der abendlichen Krautsuppe und mischte sich mit dem Ruch der Kleidungsstücke, die geordnet auf den Bänken lagen. Keiner beachtete Höfel, der sich auszog und seine Kleidung auf der freien Stelle seines Bankplatzes zurechtlegte.

Aber hatte Bochow nicht eigentlich recht? – Was geht mich das fremde Kind an, dachte Höfel, ich belaste mich nur mit ihm.

So unwirsch war der Gedanke, dass sich Höfel dessen schämte. Als er aber den bösen Gedanken verscheuchen wollte, schob sich die Erinnerung an seine Frau Dora dazwischen. Woher kam das so plötzlich? Hatte das Kind dort im Winkel die schmerzende Erinnerung ihm aus dem Verlies der Brust gezogen? Sie überschwemmte mit einem Male sein Inneres, und er staunte, dass es in einer ihm fremd gewordenen Welt eine Frau gab, die seine Frau war. Es begann in ihm zu irrlichtern. Er besaß einen Sohn, den er noch niemals gesehen, er besaß eine Wohnung, eine richtige Wohnung mit Stuben und Fenstern und Möbeln. Doch das alles fügte sich nicht zu einer Ordnung zusammen, sondern umwirrte ihn wie die Trümmer einer geborstenen Welt im lichtlosen Raum. Höfel hatte die Hände ums Gesicht gepresst und wusste es nicht; er starrte wie in einen nachtschwarzen Abgrund hinein. Alle vier Wochen schickte er einen Brief in das Dunkel hinaus: »Liebe Dora. Mir geht es gut, ich bin gesund, was macht der Junge?« Und alle vier Wochen kam aus dem Dunkel ein Brief zu ihm, und jedes Mal schrieb die Frau am Schluss: »… ich küsse Dich innig …«

Aus welcher Welt kam das? Mein Gott, aus welcher, dachte Höfel. Sicher aus einer Welt, in der es auch kleine Kinder