Nakam - Lars von Hasseldorf - E-Book

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Lars von Hasseldorf

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Beschreibung

Es geht um die immerwährende Gewalt des männlichen gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Und zwar über alle Grenzen, Religionen und Kulturen hinweg. Seit Anbeginn der Zeit. Wie oft werden Männer von Frauen vergewaltigt? Wie oft werden Männer von Frauen im Park überfallen? Wie oft werden Kinder von Frauen missbraucht? Wie oft werden Töchter von Ihren eigenen Müttern missbraucht? Wie viele weibliche Massenmörderinnen gibt es in der Menschheitsgeschichte? In diesem Roman wird die Protagonistin nicht verzeihen. Sie wird zurückschlagen. Sie wird Rache nehmen. Ganz persönlich. Ganz ohne gesellschaftlichen Auftrag. Und es wird blutig werden. Ein Mann wird um Gnade und Erlösung bitten. Eigentlich wird er flehen.

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Seitenzahl: 180

Veröffentlichungsjahr: 2019

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NAKAM

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Titel Seite

NAKAM

Lars von Hasseldorf

Impressum

Texte: © Copyright by Lars von Hasseldorf Umschlag:© Copyright by Lars von Hasseldorf

Verlag:Lindenberg

Hasseldorf 4, Vorpommern

Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Ich kann das, was ich über das Leben gelernt habe in drei Worten zusammenfassen: Es geht weiter.

Robert Frost

Kapitel 1

Und zum ersten Mal, seit sie die Sommer hier verbrachte, lag in der Stille im Haus etwas Unheimliches. Das Knacken von kleinen Ästen im nahe gelegenen Olivenhain. Sie wusste, es waren die Katzen vom Hof in der Nähe. Aber dieses Knacken hätte auch von etwas Größerem, Schwererem stammen können. Dafür ist die Zeit zu knapp, beruhigte sie sich, und sie merkte, wie ihr Rachen so trocken wurde, dass ihr das Schlucken schwerfiel.

„Mami, was ist los?“ Die Stimme ihrer Tochter drang durch den Schleier ihrer Gedanken. „Was wollte deine Freundin?“

Beatrix bemerkte die Verunsicherung in Larissas Stimme. „Trinken wir noch was?“, hörte sie sich möglichst unverfänglich fragen, während ihre Gedanken rasten. Von Stuttgart-Stammheim bis San Miniato sind es immerhin acht Stunden. Nur acht Stunden. Per Anhalter? Länger. Mit dem Zug? Auch. Mit einem gestohlenen Auto und aller Kraft des Hasses? Zu schaffen.

„Larissa, hör zu.“ Ruckartig drehte sie sich um. Ein Stein war gegen den alten Öltank geknallt. Hinter dem Haus.

„Mami, was ist los?“

Sie bemerkte, wie die Angst in Larissas Stimme aufstieg. „Was hast du?“

„Geh nach oben, hol deine Sachen, wir fahren.“ Sie war überrascht, wie barsch und klar ihre Ansage war.

Larissa, die sonst nicht mal den Müll rausbrachte, wenn ihre Mutter sie mit Engelszungen darum bat, gehorchte sofort. Doch Beatrix sah, wie ihr Tränen der aufkommenden Angst in Larissas Augen stiegen. Wie schön und anmutig sie schon war mit ihren dreizehn Jahren. Fast schon eine junge Frau. Alles, alles durfte passieren. Nur Larissa durfte auf keinen Fall etwas geschehen. Beatrix würde ihr Leben für sie einsetzen.

Sie musste sich wieder beruhigen. Klare Gedanken fassen. Zögerlich, fast tastend, ging sie zur Vordertür hinaus. War es vorhin schon so stockfinster gewesen? Wo war der Mond, das Licht, das vorhin noch so friedlich alles beleuchtet hatte? Sie schaute nach oben. Das ist ja lächerlich. Du übertreibst. Du verfällst in Panik. Lange schwarze Wolken verdeckten den Himmel und erstickten das Licht der Nacht.

Sie trat zurück in den Hausflur und hörte Larissa in ihrem Zimmer. Es war doch Larissa? Ihre Schritte klangen schwerer als sonst. Sie griff nach dem Schlüssel des altersschwachen Fiat, mit dem sie sich fröhlich und unbeschwert auf den Weg gemacht hatten. Sie hatten zehn Stunden gebraucht. Fuck! Ein Wort, das sie sonst nie benutzte. Der Tank war fast leer. Das reicht keine zehn Kilometer mehr. Ich wollte ihn auftanken. Ich wollte ihn auftanken. Fuck. Fuck. Fuck. Sie rannte zum Fiat. Die Wagentür war nicht abgeschlossen. Sie zitterte, als sie versuchte, den Schlüssel in die Zündung zu bekommen.

„Mami!“ Larissa stand mit ihrer Tasche auf der Veranda und irgendetwas schien hinter ihr zu stehen.

„Larissa! Komm her!“

Larissa hatte den letzten Rest ihrer teenagerhaften Fassung verloren und rannte los.

Beatrix drehte den Schlüssel im Zündschloss. Keine Reaktion. Zweiter Versuch. Nichts. Sie bewegte das Lenkrad, trat auf das Gas, drehte die Zündung. Nichts.

Sie hatten sich beim Italiener, ihrem Stammitaliener, kennengelernt. Es war ein Abend, wie er nicht so häufig vorkam bei Paolo. Die Stimmung war überschäumend, Korken knallten, Flaschen wurden spendiert und Männer forderten die Frauen auf dem nächtlichen Trottoir zum Tanz auf. Charmant und männlich war er aufgetreten. Andreas. Und dafür, dass er irgendwas mit IT machte, war er geradezu ein Prachtexemplar. Als er sagte, dass sie sich kennen würden, hielt sie das für einen dümmlichen Anmachspruch. Er erzählte dann von einem Sommer-Abend in Italien. Vor langer Zeit. Sie erinnerte sich. Schemenhaft. Da war etwas. Sie kannte ihn. Das ließ ein Gefühl der Vertrautheit aufkommen. Wer seine Sommer auf einem italienischen Festen verbrachte, konnte kein schlechter Mensch sein. Doch sie hatte sich im Griff gehabt in dieser Nacht. Ein Kuss, vielleicht zwei. Säuselndes Aneinanderschmiegen zu alten italienischen Liedern, sich ein bisschen begehrt fühlen, ein bisschen Frau sein. Larissa war fünfeinhalb und der Babysitter bis ein Uhr morgens bezahlt.

Ihre Handynummer hatte sie ihm gegeben. Dem Andreas. Und dann erst mal nichts gehört. Ihn fast vergessen. Er wusste, wie man das Spiel spielt. Und dann kam direkt ein Anruf. Keine feige SMS. Essen. Picknick in der Sommerfrische? Larissa beim Vater, was selten genug klappte. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Er schien Manieren und so etwas wie Geschmack zu haben. Geld war auch vorhanden und seine ruppige Art, sich ihr zu nähern, würde sich sicherlich ausschleifen. Pah, da hatte sie schon anderes erlebt.

Larissa. Andreas. Andreas. Larissa. Die offizielle Vorstellung. Sie mochte ihn. Sie wurde nicht stutzig, als er schnell, schneller als schnell bei ihr einzog. Sie wollte es ja auch. Endlich war wieder jemand da, der ihr zuhörte, ihr half mit der Tochter und für sie, nur für sie da war. Hätte jemand nach der perfekten Beziehung gefragt, sie hätte laut „hier“ geschrien. Sie lachten zusammen. Sie alberten herum. Sie machten sich lächerlich verliebt vor anderen und fanden es großartig. Er filmte alles mit seiner Kamera, einem verschrobenen alten Modell mit Kassetten. Larissa auf dem Arm. Larissa und Mami beim Picknick. Der tolle Bootsausflug. Beim Filmen wäre er beinahe über Bord gegangen. Sie mochte ihn. Liebte sie ihn sogar? Es fühlte sich so an und er sagte es ihr ständig, immer, jeden Tag. Sie wollten heiraten. Nein, das stimmt so nicht. Er wollte sie heiraten. Sie zögerte noch, im Grunde mehr aus Koketterie denn aus Zweifel.

„Seid ihr dann Mami und Papi?“, fragte Larissa immer.

Es trieb Beatrix die Tränen in den Augen.

Sie wollten es ihren Eltern sagen und er wollte es filmen. Natürlich. Am nächsten Tag, einem Freitag, wollten sie die hundert Kilometer mit dem Auto fahren. Er war am Abend davor beim Sport oder woanders, so richtig wusste sie das nie. Sie nahm schon mal die Kamera, um sie einzupacken. Ein rotes Lämpchen leuchtete und blinkte. Der Akku neigte sich dem Ende zu. Sie suchte nach der Kameratasche, um das Ladekabel anzuschließen, und fand sie schließlich ziemlich weit hinten im Schrank. Fein säuberlich beschriftet lachten sie die Kassettenhüllen an. Sie musste schmunzeln, als sie die Titel las und die Erinnerungen wiederkamen. „Bootsausflug mit Larissa und Beatrix“ stand da.

Sie schob die Kassette in das dafür vorgesehene Fach und drückte auf Play. Sie lachte laut auf, als sie die Aufnahmen auf dem kleinen Bildschirm der Kamera wiedersah, und bremste sich, weil sie Larissa nicht wecken wollte. Sie spulte ein wenig vor. Sie wollte die Szene sehen, wo er fast über Bord gegangen war.

Und da war es. Kurz nachdem sie das Spulen beendet hatte, veränderte sich das Bild. Es wurde krisselig, als wäre im Spurlauf der Kamera etwas kaputt. Sie schüttelte die Kamera ein wenig und dann wurde es wieder klar. Sie sah Larissa in ihrem romantischen Kinderbett liegen, schlafend, aus einem gewissen Abstand gefilmt. Friedlich sah sie aus. Andreas, der die Kamera irgendwo aufgesetzt haben musste, näherte sich ihrem Bett, hob die Bettdecke und betrachtete sie. Er trug ein T-Shirt und diese Boxershorts mit Motiven drauf, die sie immer als etwas lächerlich empfunden hatte. Er legte sich zu ihr. Larissa wurde wach. Sie schlug die Augen auf, diese wunderschönen Augen, und Beatrix sah Angst in Larissas Augen. Verzweiflung. Er berührte sie. Fasste sie an. Hart. Bestimmend. Keine Widerrede duldend. Er presste ihr seine große schwere Hand auf den kleinen, sechsjährigen Mund und die Hand fuhr brutal zwischen ihre Beine.

Das Bild wurde schlechter. Wie verrückt schüttelte Beatrix die Kamera und es wurde wieder klarer. Sie spürte, wie ihr übel wurde. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Ihr Hals war wie ausgedörrt. Das konnte nicht, das durfte nicht sein. Sie schaute wieder wie erstarrt auf den kleinen Bildschirm und sah, wie er sich befriedigte, während er seine große schwere Hand zwischen ihren unschuldigen Beinen hatte und sich dann über sie ergoss.

Beatrix übergab sich auf den Teppich. Es roch nach Magensaft. Wie mechanisch nahm sie die Kassette aus der Kamera, legte sie zurück in die Hülle und steckte diese in ihre enge Jeans.

Das Urteil war eindeutig. Acht Jahre Haft ohne Bewährung. Ihr Anwalt hatte Sicherungsverwahrung beantragt, weil er schon vorher sexuell auffällig gewesen war, was man ihm niemals hatte nachweisen können. Jeglicher Liebreiz war aus seinem Gesicht gewichen. Sein Charme, dem sie so einfach erlegen war, hatte sich in eine hässliche Fratze verwandelt. Ein ums andere Mal schien er sie auszulachen. Provokativ, kaltherzig, ein anderer Mensch.

Seine Schlussworte, die ihm per Gesetz zustanden, wählte er mit Bedacht: „Ich komme hier wieder raus und dann werde ich dich finden. Denke jeden Tag daran, mein Schatz.“

Der Richter unterbrach ihn und das Urteil wurde in seiner Abwesenheit gesprochen. Acht Jahre ohne Bewährung.

Sie sprang aus dem Auto und rannte auf Larissa zu. Durch die Olivenhaine gab es eine Abkürzung zum Nachbarhof. Sie nahm ihre Tochter fest an die Hand und rannte los.

„Mami, du tust mir weh. Meine Tasche!“

Sie zerrte Larissa weiter und schaute sich um. Ein Schatten zuerst, dann eine klar auszumachende Gestalt war vielleicht 100 Meter hinter ihnen. Sie konnte den Hof sehen. Es brannte kein Licht. Noch 200, vielleicht 300 Meter, dann würden sie den Hof erreichen.

Da fiel es ihr ein. Was hatten Michele und Angela gesagt, als sie vorgestern auf ein Glas da waren? Sie würden am Freitag für zwei Tage nach Rom fahren, um ihre Tochter zu treffen, die dort ein Auslandssemester machte.

Panisch und nassgeschwitzt erreichten sie den Haupteingang. Die Tür war verschlossen. Angela hatte mal irgendwas von einem Schlüssel gesagt. Denk nach! Mit mehr als einem Anflug von Panik schaute Beatrix unter den Blumenkästen, die Angela immer so liebevoll mit frischen Kräutern bepflanzte. Nichts, außer modriger Erde und aufgescheuchten kleinen Insekten, die aufgeregt auseinanderstoben. Pietra lavorata, hatte Angela gesagt. Sie kannte das Wort nicht, hatte aber so getan als ob und wollte es später nachschlagen. Sie hatte es nicht getan.

„Vielleicht hier, Mami“, sagte Larissa und streckte sich, um auf der Fensterbank neben der Haustür einen mittelgroßen Stein anzuheben.

Beatrix half und fand den Schlüssel. Ihre Hände zitterten, als sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Sie achtete darauf, dass Larissa nah bei ihr war. Sie spürte, wie sie zitterte. In der Ferne hörte sie Motorengeräusche. Sie schaute sich um. Niemand. Die Wolken hatten dem Mond wieder ein wenig Platz eingeräumt. Pechschwarz war es trotzdem. Sie konnte Licht in ihrem Haus erkennen. Hatte sie das Licht angelassen? Die Tür sprang auf. Sie zog Larissa herein, drehte den Schlüssel zweimal im Schloss und fand den Stein noch in ihrer Hand. Sie wollte kein Licht machen.

„Mami, was machen wir hier?“

„Es ist alles gut“, antwortete sie. „Ich passe auf dich auf!“ Beatrix wusste, dass sie log, und Larissa schien es auch zu spüren. „Der Hintereingang“, schoss es ihr in den Kopf, als sie ein lautes Krachen hörte. Ein schweres Stemmeisen hatte die hintere Tür aufgeknackt. „Nach oben!“, zischte sie. Sie packte ihre Tochter an der rechten Schulter und schob sie die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Schwere Stiefel waren auf den alten Holzdielen zu hören. Sie bewegten sich jetzt schneller auf sie zu. Larissa stolperte vor ihr und weinte jetzt stark.

Eine starke Hand griff Beatrix an der linken Fessel. Sie fiel auf der Treppe hin, drehte sich im harten Griff des Mannes, schrie Larissa an: „Nach oben, lauf!“

Sie trat ihm vor die Brust. Er stolperte zurück, verlor nur beinahe das Gleichgewicht und setzte wieder an, sie die Treppe herunterzuziehen. Sie hatte immer noch den Stein in der Hand und schleuderte ihn auf dem Rücken liegend ihrem Angreifer entgegen. Sie hörte das dumpfe Geräusch, das entsteht, wenn etwas Festes mit großer Wucht auf menschliches Gewebe trifft. Das Stöhnen des Mannes verriet ihr, dass sie getroffen hatte.

„Du verdammtes Miststück!“, waren seine ersten Worte. Die ersten Worte nach acht Jahren. Andreas.

Ohne ihn sehen zu können, hatte sie sein hassverzerrtes Gesicht aus dem Gerichtssaal vor Augen. Es gab keinen Zweifel. Sie fand schnell wieder auf die Beine. Ihre Augen hatten sich jetzt an die Dunkelheit gewöhnt und sie sah, wie jemand am Treppenabsatz kniete, sich den Kopf hielt und dann zu ihr hochsah. Trafen sich ihre Augen? Fast schien es so. Der Stein hatte ihn nicht außer Gefecht gesetzt. Aber er war jetzt angeschlagen. Es erschien ihr nicht als Vorteil. Sie musste an ein verletztes Tier denken, das sich blutend weiterschleppte, um die Beute zu erlegen. Wo war Larissa? Sie nahm die letzten Stufen der Treppe und hörte, wie er bereits wieder hinter ihr war. Er stand jetzt am oberen Treppenabsatz, vielleicht vier Meter von ihr entfernt. Eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit und schlug dem Mann von hinten eine Nachttischlampe auf den Rücken. Larissa.

„Lass uns in Ruhe!“, schrie sie.

Der Angriff überraschte Andreas, doch die Lampe verfehlte eine nachhaltige Wirkung. Er packte Larissa an ihrem langen braunen, mädchenhaften Haar und schleuderte sie in die Ecke, wie einen jungen Hund. Larissa war stumm vor Entsetzen und benommen vom Schmerz.

Was anfangs so perfekt schien, hatte irgendwann Risse bekommen. Sie wusste gar nicht genau, wann. Sie wollte es wahrscheinlich auch nicht wahrhaben. Immer häufiger wurde er eifersüchtig. Wenn sie mit den Arbeitskollegen wegblieb, einfach etwas trinken war. 28 verpasste Anrufe in drei Stunden sprachen eine deutliche Sprache. Die Auseinandersetzungen wurden heftiger. Immer öfter wurde das Kind davon wach. Und aus dem Ruppigen, das sie am Anfang als irgendwie wild und neu empfunden hatte, wurde jetzt Wutsex. Sex als Bestrafung. Sex als Ausübung von Macht. Immer öfter hielt sie den Atem an. Von Lust und Befriedigung keine Spur mehr. Sie ergab sich. Sie traute sich nicht, gegen diesen schweren Mann aufzustehen. Immer öfter roch er stark nach Alkohol. Was passierte den ganzen Tag, wenn sie bei der Arbeit war? Und er Larissa aus der Kita holte? Hatte sie sich nicht verändert? Das fröhliche Kind war immer verschlossener geworden, fast verängstigt. Sie selbst schlief mittlerweile auf dem Sofa und da sie sich nicht mehr im Intimbereich rasierte, war er so angeekelt, dass er sie meist in Ruhe ließ.

Es gab auch zärtliche, liebevolle Momente, die sie wieder zweifeln und alle guten Ratschläge ihrer Freunde in den Wind schießen ließen. Sie schob es auf den Alkohol. Der verdammte Alkohol. Wie bei ihrem Vater. Wie bei ihrem verdammten Vater. Doch daran wollte sie nicht denken.

Er machte drei schnelle Sätze auf sie zu, bevor dann ohne ein weiteres Wort seine Faust krachend in ihrem Gesicht einschlug. Sie knallte hart auf den Boden. Ihre Arme und Beine versagten. Nichts half ihr, den Sturz abzubremsen. Sie war ohnmächtig.

Als sie wieder zu sich kam, schmeckte sie Blut. Ihre rechte Gesichtshälfte war geschwollen. Sie saß am Tisch. Die Deckenleute brannte. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt, Plastik schnitt in ihre Handgelenke. Kabelbinder. Er saß ihr gegenüber. Der Stein hatte ihn an der rechten Schläfe etwas oberhalb des Auges getroffen. Er hatte stark geblutet. Sie konnte das getrocknete But an seinem Hemd sehen. Wo war Larissa? Sie schaute sich um. Er lächelte sie an. Es war das Lächeln, das sie so sehr an ihm gemocht hatte. Es war das Lächeln des anderen Andreas. Jetzt erschien es ihr nur abstoßend. Wie eine leere Fratze. Sie wollte hart und mutig erscheinen und wunderte sich selbst darüber, dass sie Kraft dafür hatte. „Etwas tiefer und es wäre das Auge gewesen, dein verdammtes Auge.“

Er blieb ruhig. Hatte sich gesammelt. Die Provokation verfehlt ihr Ziel. „Wie geht es dir, meine Süße? Ist lange her.“ Er machte eine Pause und lächelte süffisant. „Glaub mir, es gab nicht einen Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe.“

„Wo ist Larissa?“, fuhr sie ihn an. „Du widerliches Arschloch“

„Das steht dir nicht. Das bist du nicht, Beatrix, mit dieser Vulgärsprache“, antwortete er. „Warum nur musstest du alles kaputt machen? Wir waren doch glücklich?!“ Er klang jetzt fast weinerlich. „Musstest du in meinen Sachen herumschnüffeln?“

„Glücklich?“, unterbrach sie ihn., „Du krankes Stück Scheiße hast meine Tochter missbraucht. Larissa!“ Sie schrie ihren Namen in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten. Nichts.

„Acht Jahre, meine Süße. Weißt du, was acht Jahre Gefängnis bedeuten? Du hast keine Ahnung.“

„Die Eier hätten sie dir abschneiden sollen. Larissa!“, schrie sie wieder und versuchte, die Kabelbinder zu lösen. Ihr Gesicht schwoll jetzt stärker an und sie spuckte Blut.

„Schrei so viel du willst. Schrei, schrei, schrei!“ Seine Stimme überschlug sich. Fast hätte er die Fassung verloren, aber er fing sich wieder. „Du wirst nicht so sehr für die acht Jahre bezahlen, meine Süße, sondern dafür, dass du alles kaputt gemacht hast. Keiner hätte jemals etwas gemerkt und deiner Tochter hätte es früher oder später schon noch gefallen.“

Es sprach so viel menschliche Verachtung aus diesen Worten, dass es ihr schwerfiel, sich daran zu erinnern, wie sie auch nur eine Minute, mit diesem Menschen, frei von jeglicher Empathie, hatte zusammen sein können.

Sie hörte ein Auto auf knirschendem Kies zum Haus fahren. Andreas erhob sich, schob die Gardine ein wenig beiseite und ging zur Tür. Er schaute sich im Raum um, als würde er eine Waffe suchen. Draußen schlug eine Autotür zu und jemand bewegte sich auf das Haus zu.

Michele, schoss es ihr durch den Kopf. Er war zurück, vielleicht mit Angela. Sie konnten die Carabinieri rufen. Vielleicht hatten sie es schon getan? Hatte Michele nicht eine Waffe im Keller, für die Jagd? Sie war jetzt aufgeregt vor Erleichterung. Die Haustür wurde von außen geöffnet. Michele trat herein. Andreas machte einen Schritt auf ihn zu. Stumm schüttelten sich die beiden Männer die Hand.

Kapitel 2

Andreas war ungefähr vier, als die Mutter ihn das erste Mal verließ. Oder war es noch früher gewesen? Er hatte daran keine Erinnerung mehr. Nie wusste er, wohin sie verschwand. Das Alleinsein in dem riesig wirkenden Reihenhaus in einem Vorort der Stadt war eine furchtbare Qual. Er war wie ein Hund, dem man nicht erklärt hatte, dass das Herrchen gleich wiederkommt. Meist saß er zuerst lange an der verschlossenen Haustür und schaute. Ungläubig. Erwartungsfroh. Ein Spiel?

Der Harndrang, den zu kontrollieren er gelernt hatte, ließ ihn aufstehen. Er fasste sich in den Schritt und drückte seinen kleinen Penis mit dem Zeigefinger und dem Daumen zu, wie einen Schlauch, aus dem nichts rauskommen soll. Er traute sich nicht alleine auf Toilette, wo der dreckige Käfig mit Mamas Tieren stand. Er hatte vergessen, was für Tiere es waren. Sie sahen aus wie Ratten, nur größer. Jedes Mal sahen sie ihm beim Pinkeln zu, als wollten sie sagen, wenn die Gitterstäbe nicht wären, würden wir dir deinen Penis abkauen. Nutrias. Immer öfter nässte er sich ein. Er mochte dieses Gefühl der Erleichterung, wenn der Druck nachließ, wenn der warme Urin an seinem linken Bein herunterlief. Es war immer das linke, weil sein Penis nach links stand.

Es dauerte nur Minuten, bis der Urin kalt wurde und sein Bein anfing zu brennen. Die kleine Pyjamahose mit den Garfield-Motiven, die ihm sein Vater mitgebracht hatte, klebte fest und scheuerte beim Gehen. Sein Bein wurde rot. Manche Stellen am Oberschenkel hatten sich nach dem letzten Mal entzündet. Er zog die Hose aus und ließ sie neben der Lache liegen, die er hinterlassen hatte. Und es war klar, was passieren würde, wenn seine Mutter nach Hause kam.

Ohne Pyjamahose lief er durchs Haus und suchte sich eine Beschäftigung. Wie fast immer war es die Fernbedienung des großen Fernsehers, die seine größte Aufmerksamkeit fand.

Bis er das Türschloss hörte. Dann sprang er freudig erregt auf und lief zur Haustür, wo ihn eine aufgeräumte Mutter mit den Worten empfing: „Na, hast du mich vermisst?“

Er lutschte am Daumen und nickte.

Sie machte zwei, drei schnelle Schritte auf ihren hohen, roten Schuhen, die er immer bewundert hatte, bis sie auf dem Weg in die Küche die Urinlache und die nasse Pyjamahose mit einem dämlich grinsenden Garfield drauf entdeckte. Sie drehte sich zu Andreas um. Alle Zuneigung, zu der sie fähig war, war aus ihrem Gesicht gewichen. Sie zeigte mit ihren spitzen, knallrot lackierten Fingernägeln auf die Überreste und fragte mit tonloser Stimme, eigentlich zischte sie es mehr: „Was ist das?!“

Er versteckte sich zur Hälfte hinter dem Türrahmen. Was sollte ein Vierjähriger darauf auch antworten? Dass er seine Mutter sehr vermisst hatte und nicht verstand, warum und wohin sie ganze Tage lang verschwand? Und dass er sich so schämte? Und dass es ihm so leidtat? Er war nicht fähig, zu sprechen.

Er lief los. Er fing bereits deutlich an zu weinen. So richtig wollten seine Füße ihn nicht tragen. Sein kleiner Penis wackelte hin und her.

Schnell hatte sie ihn gepackt. Fest zog sie an seinem Haar, hob ihn förmlich daran in die Luft. „Was bist du bloß für ein Mensch, dass du uns einfach ins Haus pinkelst?“

Die flache rechte Hand mit den roten Fingernägeln klatschte heftig auf seine linke Gesichtshälfte. Sein kleiner Kopf flog zu Seite und wurde auf das Heftigste von ihrem festen Griff an seinem Haar gestoppt. Ihm blieb fast die Luft weg vor Schmerz.

Dann nahm sie seinen kleinen roten Penis zwischen Daumen und Zeigefinger und zerrte daran. „Pass auf, dass da nichts rauskommt!“ Bei jedem einzelnen Wort zog sie an seinem Penis.

Er konnte den Schmerz nicht beschreiben. Er schrie. Die Tränen schossen ihm aus den Augen.

„Muss das sein?“, fragte eine männliche Stimme von hinten. Sein Vater war unbemerkt dazugekommen. „Er ist doch noch ein Kind.“

„Du hältst dich da raus“, antwortete sie in scharfem Ton. „Hol die Einkäufe aus dem Auto und mach uns was zu essen.“

Sein Vater war so groß wie sie, wenn sie ihre Schuhe nicht trug. In seiner braunen Cordhose mit weinrotem Rundhalspullover verharrte er noch zwei, vielleicht drei Sekunden an der Tür. Dann drehte er sich um und verschwand aus dem Blickfeld.

„Geh auf dein Zimmer und komm dort vor morgen früh nicht mehr raus“ wies seine Mutter ihn an. Von seinem Vater konnte er keine Hilfe erwarten.

Hunger war ein Gefühl, das er früh kennengelernt hatte.

Michele und Angela waren seit dreißig Jahren verheiratet und ein Traumpaar. Er, mit italienischen Wurzeln aus der Region um Sienna, wo Teile seiner Familie noch heute wohnte, hatte es dank seines scharfen Intellekts nach oben geschafft. Bester seines Jahrgangs auf dem Albert-Schweitzer-Gymnasium in Offenbach. Stipendium für das Jurastudium in München, Volljurist in Madrid. Allerdings hatte er im zweiten Staatsexamen zur Verwunderung aller deutlich geschwächelt und das „Vollbefriedigend“ nicht geschafft. Die Top-Kanzleien lehnten ihn ab. Eine Schmach, die bis heute in ihm nagte.

Es reichte für einen sehr lukrativen Job bei einem Einkaufskonzern im Ruhrgebiet, in dem er sich unauffällig angepasst nach oben arbeitete. Die einzige Irritation, die er bei seinen Kollegen und Chefs hinterließ war nach dem Genuss von zu viel Alkohol. Bei den typischen Abteilungsfesten zwei-, dreimal im Jahr kam es vor, dass er unangenehm wurde. Michele war Alkoholiker. Niemand wusste davon, er selbst gestand es sich nicht ein und es wurde nur dann zum Problem, wenn sich der Schalter umlegte.