Nanny Bells - Ein Kindermädchen unterm Weihnachtsbaum - Karin Lindberg - E-Book

Nanny Bells - Ein Kindermädchen unterm Weihnachtsbaum E-Book

Karin Lindberg

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Beschreibung

Herzklopfen, funkelnde Lichter und ein verschneites Winterdorf in den österreichischen Alpen.

Nele liebt Weihnachten und ihren Job als Nanny, doch schon zum Saisonstart geht alles schief. Als ihr nach einem stressigen Tag in der örtlichen Bäckerei auch noch ein attraktiver Fremder das letzte Stück ihres Lieblingskuchen vor der Nase wegschnappt, wähnt sie sich am Tiefpunkt ihrer Pechsträhne. Natürlich ahnt sie da noch nicht, dass dieser charismatische Typ, vor dem sie sich gerade lächerlich gemacht hat, ihr nächster Auftraggeber sein wird…

Der neue Winterroman von Bestseller-Autorin Karin Lindberg – humorvoll, weihnachtlich und natürlich mit Happy End.

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NANNY BELLS

EIN KINDERMÄDCHEN UNTERM WEIHNACHTSBAUM

KARIN LINDBERG

Impressum

Copyright © 2022 by Karin Lindberg

Covergestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Covermotiv: © Jut_13, pimonova, Merggy,  nasteisha –cienpies

 depositphotos.com

 

Lektorat Dorothea Kenneweg

Korrektorat: Sybille Weingrill

2. Korrektorat Ruth Pöss

 Karin Baldvinsson, Am Petersberg 6a, 21407 Deutsch Evern

www.karinlindberg.info

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

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Über die Autorin

1

»Sieht so aus, als hätten wir dein Problem gefunden«, erklärte Neles Mitbewohnerin Klara und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden. In Kombination mit ihrem pinkfarbenen Samt-Hausanzug sah es witzig aus. Klaras Verhalten passte so gar nicht zu der stoischen Gelassenheit, die sie nach der Entdeckung des Desasters ausstrahlte. Denn gelöst hatte sich hier gar nichts, außer vielleicht der Tapete.

Klara zuckte ungerührt die Schultern. »Liebes, das ist Stock. Schimmel.«

Nele schniefte, dann putzte sie sich die Nase. Also war es keine Dauererkältung, die sie nun seit ihrer Ankunft in Österreich plagte, sondern eine allergische Reaktion. »Wir hätten in unserer Bude vom letzten Jahr bleiben sollen«, brummte Nele missgelaunt, obwohl sie sehr wohl wusste, dass das keine reale Option gewesen war. Die Vermieterin aus dem Vorjahr hatte nämlich den Preis verdoppelt, was ihr mageres Budget einfach nicht hergab. Das war der große Haken, wenn man in einem Skigebiet wie Lech am Arlberg arbeitete – die Lebenshaltungskosten waren auch für das Personal exorbitant hoch. Viele Hotels hatten aus dem Grund eigene Häuser errichtet, in denen die Angestellten kostenlos wohnen konnten. Aber die Mädels der örtlichen Nanny-Agentur mussten sich selbst um eine Bleibe kümmern, daher hatten sich Klara, Annika und Nele zusammengetan, sie konnten sich gut leiden, und gemeinsam wohnte es sich einfach angenehmer. Nun, normalerweise jedenfalls.

Annika, die dritte im Bunde, trat gerade ins Zimmer und furchte ihre Stirn, sie trug eine Pyjamahose, obwohl es schon Mittag war, denn sie hatte heute frei. Ihre dunkelblonden Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, sie rieb sich müde die Augen.

In den Sommermonaten führte Annika ein kleines Hotel am Wörthersee, und Klara arbeitete auf einem Pferdehof in Island, der Reittouren über das Hochland anbot. Nele ließ sich eher treiben, sie driftete von Job zu Job und von Ort zu Ort, seit sich ihre privaten Zukunftspläne vor einigen Jahren in Rauch aufgelöst hatten. Nur Lech blieb sie in den kalten Monaten treu. Meist ergab sich nach dem Winter dann spontan etwas für den darauffolgenden Sommer. Im Geheimen träumte Nele von einem Häuschen auf einer Insel irgendwo im Süden, wo sie als Selbstversorgerin leben konnte – wo, wusste sie noch nicht genau, und genügend Geld hatte sie dafür auch nicht beiseitegelegt. Vor allem deswegen wäre es extrem ärgerlich, wenn die Investition für dieses Winterquartier nun den Bach runtergehen würde – denn die Miete hatten sie im Voraus bezahlt, das war hier so üblich. Die aktuelle Saison hatte erst vor wenigen Tagen offiziell begonnen, in diesem Jahr recht früh mit Mitte November. Seitdem hatte Nele, sobald sie nach Hause kam, mit verstopfter Nase und tränenden Augen zu tun gehabt – ein eindeutiges Zeichen, dass mit der Bude etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Und jetzt hatten sie den Salat.

»Habt ihr auch gesundheitliche Probleme?«, wollte Nele wissen und überlegte, welche Optionen sie hatten. Sie konnten schlecht über Monate in einer verseuchten Wohnung leben. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, ihr Kopf müsste gleich platzen. Der Druck auf die Nebenhöhlen war äußerst unangenehm.

Annika trat näher, dann stieß sie ein angewidertes Schnauben aus, als sie sah, was hier gerade aufgedeckt worden war. »Igitt, das ist ja ekelhaft.«

Neles Bett stand nicht weit von der betroffenen Wand entfernt, in jedem Fall viel zu dicht an diesem schwarzen gesundheitsbedrohenden Schimmel.

»Denkt ihr, dass vielleicht das ganze Zimmer so aussehen könnte, also unter der Tapete, meine ich?«, fragte Annika.

Klara verzog ihr Gesicht. Sogar sie, die sonst nichts erschüttern konnte, wirkte ein wenig verunsichert. »Lasst uns das gleich untersuchen.«

Nele guckte auf ihre Armbanduhr. Sie wollte nur noch eines: weg von hier. Ihr war klar, dass das ihr Problem nicht lösen würde, aber sie hatte einen Termin mit ihrer Chefin und den konnte sie natürlich nicht sausen lassen. Nele stöhnte und verzog ihr Gesicht. »Ich würde ja gern alles mit euch untersuchen, aber ich kann nicht. Ich soll mich um vier bei Tammy melden, sie hat heute noch einen neuen Job für mich. Es klang wichtig am Telefon, wahrscheinlich wieder ein Scheich oder so was Abgefahrenes. Ich kann mich erst heute Abend um das Desaster hier kümmern.«

Weil sie tatsächlich spät dran war, fasste Nele ihre kastanienbraunen Haare mit einem Band zu einem Pferdeschwanz zusammen. Für aufwendige Frisuren hatte sie nichts übrig, außerdem würde sowieso gleich eine Pudelmütze auf ihrem Kopf landen.

Annika guckte skeptisch und nagte an ihrer Unterlippe. »Wir finden nie und nimmer so kurzfristig Ersatz für diese Bude und schon gar nicht zu diesem Preis. Davon mal abgesehen, glaubt ihr, wir kriegen auch nur einen Cent von unserem Geld zurück, wenn wir uns woanders etwas Neues suchen?«

Klara hob ihre Hand. »Mal nicht so vorschnell. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, wie es aussieht.«

Nele bewunderte Klara für ihren Optimismus. Sie wollte jetzt nicht daran denken, was es für ihren Geldbeutel bedeutete, wenn sie hier nicht wohnen bleiben konnten. Es grenzte ohnehin an Glück, dass sie diese Bude in letzter Minute ergattert hatten. Nun, das hatte sie bis vor Kurzem jedenfalls gedacht. Jetzt verstand sie, warum die Miete erschwinglich und die Zimmer noch frei gewesen waren. Ein Winter als Nanny in einem noblen Skiort konnte sehr lang – und vor allem sehr einsam werden. Nele hatte einmal die Erfahrung gemacht, allein in einem Fünfzehn-Quadratmeter-Loch zu hausen. Auf dieses Erlebnis konnte sie ein weiteres Mal gerne verzichten. Das befristete Zusammenleben gefiel ihr, mit ihren beiden Mitbewohnerinnen war es unkompliziert, es gab keinen Streit um den Putzdienst oder um Lebensmittel und sonstige Dinge, die das Leben in anderen WGs oft ungemütlich werden ließen.

»O Gott, ich kann es nicht fassen, was machen wir denn jetzt?«, wandte Klara ein, selbst sie hatte mittlerweile ihre Lässigkeit eingebüßt.

Nele hob ihre Hand und unterbrach die beiden. »Wo schlafe ich heute denn nur? Ich muss rausfinden, was man dagegen tun kann!«

»Ja – so kann es jedenfalls nicht bleiben. Geh du erst mal los, ich werde ein bisschen recherchieren«, bot Klara an.

Nele fiel ihrer Freundin vor Dankbarkeit um den Hals, sie fühlte sich mit der Situation heillos überfordert. Nachher mussten sie das vollständige Ausmaß des Schimmelbefalls überblicken. Vielleicht war es ja gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick ausschaute. Möglicherweise konnte sie sich davon überzeugen, wenn sie es sich oft genug vorsagte, aber sie glaubte keine Sekunde daran.

»Bis dann, Mädels«, schniefte Nele und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie schlüpfte in ihren Norwegerpullover, schnappte sich den Rucksack und machte sich dann auf den Weg zur Chefin der Nanny-Agentur. Die WG – das verschimmelte Kellerloch, das hübsch als Souterrain angepriesen worden war – lag in Zürs, Nele musste gleich den Bus nach Lech nehmen. Der fuhr im Winter regelmäßig, tagsüber sogar jede Viertelstunde und war kostenlos. Nachts kam er dann nur noch einmal die Stunde. Das gab manchmal Ärger mit den Eltern, wenn sie nicht zur verabredeten Zeit zurückkehrten und Nele dann viel Geld für ein Taxi ausgeben musste. Aber auch hier hatte Nele über die Jahre eine gute Strategie entwickelt, obwohl es immer mal wieder Leute gab, die Stress machten. Die meisten Gäste, die Nele ihre Kinder anvertrauten, waren sehr umgänglich, manchmal vielleicht ein bisschen verrückt. Extravagant in sehr vielen Fällen. Sie erlebte einen bunten Blumenstrauß an verschiedenen Charakteren. Das war das, was Nele an ihrer Tätigkeit so gut gefiel. Und wenn jemand mal nicht nett war, dann war sie diese Kunden auch bald wieder los, sie blieben ja nur für die Dauer ihres Urlaubs.

Die Sonne strahlte von einem eisblauen Winterhimmel, der Schnee glitzerte. Es war klirrend kalt, ihr Atem hinterließ kleine weiße Wölkchen in der eisigen Luft. Heute war einer der Tage, an denen es kaum einen Platz auf der Welt gab, den sie zauberhafter fand. Es roch nach Tannen und Winter. Sie atmete tief ein und ein wenig sanken ihre Schultern herab. Der Stress löste sich zwar nicht in Wohlgefallen auf, aber da sie im Moment daran nichts ändern konnte, beschloss sie, sich auf das Schöne zu konzentrieren. Sie seufzte und stapfte den Hang hinab zur Bushaltestelle. Der Schnee knirschte unter den Sohlen, sie liebte dieses Geräusch und das Gefühl ihrer kraftvollen Schritte auf dem verschneiten Weg. Leben, wo andere Urlaub machten, das war die Devise. Sie hatte es noch nie bereut hergekommen zu sein – auch von einem Schimmelproblem würde sie sich diese Freude nicht nehmen lassen.

Nele beeilte sich, um den Bus nicht auch noch zu verpassen. Weil gerade noch Vorsaison war, hielt es sich mit den Gästen in Grenzen, es war ruhig im Ort. Hie und da wedelten ein paar Skifahrer die Pisten nach unten, in wenigen Wochen würde das ganz anders ausschauen. Um Weihnachten und Silvester herum gab es selten ein freies Zimmer am Arlberg, dann hatten auch die Nannys lange Tage und vor allem lange Nächte. Ein Kribbeln stellte sich bei Nele ein, weil es endlich wieder losging. Sie hoffte, dass sie Glück hatte und für ihren ersten Job der Saison eine nette Familie zugeteilt bekam.

Der Bus fuhr gerade in den Kreisel ein, an dem sich die Haltestelle befand, als Nele dort eintraf. Perfektes Timing.

»Grüß dich, Basti«, rief sie dem Busfahrer zu und ließ sich auf einen Sitz fallen.

»Servus, Nele, schön, dass du auch wieder da bist.«

Nach einigen Jahren in Lech und Zürs war Nele keine Unbekannte mehr, es gefiel ihr, wie persönlich und familiär es hier trotz Tourismus zuging. Der Bus rollte los, und sie schaute aus dem Fenster. Nele genoss es, die vorüberziehenden Tannen, Berge und den glitzernden Schnee zu betrachten.

Eine gute Viertelstunde später erreichte Nele Tammys Haus, das zentral in Lech am Hang lag. Im unteren Bereich befand sich der Kinderclub, und in den beiden Stockwerken darüber lebte die Besitzerin selbst mit ihrer Familie. Die Tür zum Büro war nicht verschlossen.

Nele trat ein, und ein Schwall heißer Luft schlug ihr entgegen. Es duftete nach Orangen und Zimt. Sofort zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke nach unten und riss sich die Mütze vom Kopf. So eisige Temperaturen draußen herrschten, so gut geheizt war es in Österreich fast überall, wenn man reinkam. »Hallo«, grüßte Nele.

Tammy saß hinter ihrem Schreibtisch, auf dem sich die Papiere, Magazine und alles Mögliche stapelten. Ihre schwarze Brille war auf der Nase nach vorn gerutscht, sie schaute gerade angestrengt auf ihren Computerbildschirm. Als sie Nele entdeckte, lächelte die Australierin und richtete sich auf.

»Oh, hello my Dear«, begann sie auf Englisch. Auch nach zwanzig Jahren in Österreich merkte man Tammy die australische Heimat sofort an. Sie war einst als Touristin zum Skifahren nach Lech gekommen, hatte sich in einen Mann aus dem Ort verliebt und war geblieben. Als Tammy selbst Probleme gehabt hatte, eine geeignete Betreuung für ihre Kinder zu finden, hatte sie aus der Not heraus schließlich eine Nanny-Agentur gegründet, die heute etabliert und sehr beliebt war. Jedes Hotel rief bei Tammy an, jede Pension, wenn Gäste jemanden benötigten, der sich um den Nachwuchs kümmerte. Dabei waren die Vorlieben sehr unterschiedlich, manche Paare wollten nur einmal ohne ihren Nachwuchs romantisch essen gehen, andere buchten den Service rund um die Uhr, wobei sich Nele dann oft fragte, warum die Leute die Kinder überhaupt mitgebracht hatten. Natürlich behielt sie das für sich, denn es war nicht ihre Aufgabe, die Entscheidungen der Eltern zu hinterfragen, sondern dafür zu sorgen, dass es deren Sprösslingen gut ging.

Man konnte in einem Wintersportort wie diesem so viel mit den Kleinen unternehmen, dass es niemals langweilig wurde. Einen schnöden Bürojob konnte sich Nele nicht vorstellen, deshalb hatte sie auch nach dem Abitur eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Neben ihrer Leidenschaft fürs Gärtnern liebte sie Kinder über alles – auch, wenn sie keine eigenen hatte und vielleicht nie haben würde. Von dem Gedanken an eine glückliche Beziehung und die dazugehörige Vorstellung von einer Bilderbuchfamilie hatte sie sich nach dem Desaster mit ihrem Ex schon lange verabschiedet. Dieser Traum war ausgeträumt.

»Alles klar bei dir?«, wollte Nele von Tammy wissen und stellte ihren Rucksack auf einem Stuhl ab, der sich vor ihrem chaotischen Schreibtisch befand.

»Aber sure.« Tammys australischer Akzent war heute besonders ausgeprägt. »Es gibt sogar zwei Kunden für dich.«

»Gleich zwei?« Nele war überrascht. Es war nicht unüblich, dass sie zu den Feiertagen mehrere Jobs an einem Tag hatte, aber in der Vorsaison hatte sie damit noch nicht gerechnet.

»Beide sind in Oberlech. Einmal im Hotel Montana und dann ein privates Haus, du erreichst es über den Tunnel, nachdem du die Gondel verlassen hast.«

»Gut, und wohin soll ich zuerst?«

Tammy lächelte. »Zuerst das Privathaus. Christoph Maier hat zwei Mädchen, sie sind vier und zwei Jahre alt. Er möchte dich zunächst in einem Gespräch kennenlernen, ehe er zustimmt. Das dauert nicht lange, um fünf sollst du dich bei ihm zu Hause melden. Der andere Auftrag ist erst ein wenig später.«

»Zustimmt, wozu?« Nele konnte Tammy nicht ganz folgen, obwohl sie ihre Worte verstanden hatte. So ein Vorgehen war absolut unüblich.

»Na, dass du den Nannyjob bekommst.«

Nele lachte. Okay, das war neu. Sie hatte noch nirgendwo zum Bewerbungsgespräch auftauchen müssen, ehe sie Kinder hütete. »Sind es komplizierte Leute?«, wollte sie wissen. Nicht, dass sie etwas dagegen hätte, aber mit mehr Informationen konnte sie sich ein wenig besser darauf einstellen, was sie erwarten könnte. Vielleicht war eines der Kinder gesundheitlich beeinträchtigt, und die Eltern wollten sichergehen, dass Nele dem gewachsen war. Ihr fielen einige Gründe ein, die für ein solches Gespräch infrage kämen.

Tammy schob ihre Brille nach oben. »Nicht wirklich, das denke ich zumindest. Der Vater kommt aus Lech, hat eine Weile im Ausland gelebt und ist jetzt für den Winter zurück im Ort. Es geht also um was Längerfristiges.«

»Oh, das ist also ein Auftrag für die ganze Saison?«

Tammy grinste. »Könnte sein, also streng dich an. Du bist nun mal mein erfahrenstes Pferd im Stall!« Mit ihrer Ausbildung zur Erzieherin hatte sie auch die entsprechende fachliche Qualifikation – den meisten Gästen war das jedoch nicht so wichtig, nur sehr wenige bestanden auf eine pädagogische Fachkraft bei der Urlaubs-Nanny. »Warum braucht die Familie eigentlich ein Kindermädchen, wenn sie aus dem Dorf sind?«

»Die Großeltern haben eine Pension und im Winter natürlich keine Zeit zum Aufpassen. Und er muss wohl selbst arbeiten.«

Das klang so, als ob Herr Maier alleinerziehend war. Nele hinterfragte das nicht, den Rest würde sie vor Ort erfahren. Üblich war es allerdings nicht, dass Einheimische den Dienst buchten, denn die Preise waren dem Tourismus angepasst entsprechend hoch.

Tammy reichte Nele gerade einen Zettel mit der genauen Adresse. Chalet Schneekristall stand darauf. Dort war Nele noch nie gewesen, wusste aber, wo es sich befand. Kürzlich hatten die Besitzer einen Neubautrakt an das Hauptgebäude angebaut. Gut, also an Geld dürfte es der Familie schon mal nicht mangeln.

»Und dann? Was sagtest du noch mal? Montana? Aber um welche Uhrzeit?«

Tammy reichte ihr einen zweiten Zettel. »Genau, die Familie hat eine Suite gebucht, sie stammen aus dem Oman, und du bist von sieben bis dreiundzwanzig Uhr heute bei ihnen engagiert.«

»Okay, klar. Wie viele Kinder haben sie?«

»Nur eins, ein Baby. Das Mädchen ist erst acht Wochen alt.«

»Oh, noch so klein.« Das erlebte sie nicht allzu häufig. Jobs mit Säuglingen konnten entweder entspannt oder megastressig werden. Manchmal schliefen sie die meiste Zeit durch, dann konnte Nele lesen. Aber vier Stunden Dauergebrüll konnten einem ganz schön an die Substanz gehen. Nun, wie auch immer, sie freute sich auf den Tag und war auch ein wenig nervös.

»Gut, dann mache ich mich mal auf den Weg. Bis dann, Tammy«, verabschiedete Nele sich von ihrer Chefin.

»Viel Glück, my Dear«, rief die Australierin ihr hinterher.

Nele stapfte noch einmal durch den Ort, weil sie Hunger hatte. Es war erst kurz nach vier, aber die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Überall hingen Lichterketten, und die Häuser und Tannen waren wunderschön weihnachtlich geschmückt. Das erwartete man in einem Wintersportort. Die zwei Wochen um Heiligabend und Silvester waren mit die wichtigsten der ganzen Saison, der Dekoration nach müsste es bald so weit sein – was nicht stimmte, die Saison ging gerade erst los. Nele mochte diese Aufregung im Dorf, die gespannte Vorfreude, wie der Winter wohl laufen würde, ehe die Masse an Gästen eintraf. Alle waren nervös und freuten sich auf die kommenden Wochen und Monate.

Viele Fenster waren hell erleuchtet und weihnachtlich dekoriert. Nele kam gerade am Hotel Krone vorbei, das am Fuße der Schlegelkopfpiste lag. Musik tönte aus Lautsprechern im Außenbereich, Heizstrahler leuchteten rot im Bereich der Après-Ski-Bar. Ein paar Skifahrer gönnten sich einen Glühwein, nur noch wenige kurvten auf der Piste. Die Raupen hatten ihre Garage schon verlassen und damit begonnen, den Schnee für den kommenden Tag neu zu präparieren. Das Dröhnen der Schneekanonen hörte man bis ins Tal. Hach, es war schön, wieder hier zu sein. Sie lächelte in sich hinein.

Nele setzte ihren Weg fort und wechselte die Straßenseite auf Höhe der Brücke. Der Bach, der wie der Ort Lech hieß, plätscherte nur noch sanft vor sich hin, viele Stellen waren bereits vereist. Im Frühling, wenn das Tauwetter eingesetzt hatte, verwandelte er sich auch schon mal zu einem reißenden Strom. Bis dahin war es zum Glück noch ewig hin.

Nele schlug den Weg zur Bäckerei ein, sie hatte vorhin im ganzen Schimmelstress vergessen, sich etwas zu essen mitzunehmen. Da der Tag noch lange werden würde, wollte sie sich noch schnell etwas besorgen. Es war nicht davon auszugehen, dass die Gäste aus dem Oman etwas für sie organisierten, das mussten sie auch nicht.

Im Vorbeigehen erhaschte sie einen Blick auf die Dekoration im Schaufenster des bekanntesten und größten örtlichen Mode- und Skigeschäfts. Zwischen Tannengrün, Kunstschnee und Geschenkkartons standen Modepuppen mit teuren Kleidern, den neusten Skimodellen und Pistenausrüstungen. Hier gab es alles, von Helmen bis hin zur Gucci-Kluft. Das meiste lag weit über Neles Preisklasse, aber hübsch anzusehen war es trotzdem.

Sie war guter Dinge und summte leise Jingle Bells vor sich hin, als ihr eine Frau entgegenkam, die ihr schon von Weitem bekannt vorkam. Es war ihre Vermieterin. Nele ergriff die Gelegenheit beim Schopf und sprach sie direkt an. »Grüß Sie, Frau Klinger, haben Sie einen Moment?« Frau Klinger war nicht groß, dafür umso rundlicher. Sie trug einen teuren Lodenmantel und eine Fellmütze auf dem Kopf, die zusammen bestimmt ein Vermögen gekostet hatten. Neben dem Haus, in dem Nele mit ihren Freundinnen untergebracht war, gehörte Frau Klingers Familie noch ein Fünf-Sterne-Hotel in Zürs.

»Ah, grüß Gott, Frau Storm. Was gibt es denn?«, gab ihre Vermieterin zurück. Sie wirkte nicht genervt, aber auch nicht gerade begeistert, dass sie auf der Straße von Nele angequatscht wurde.

Nele wurde warm unter ihrem Anorak. Sie war nicht gut darin, sich zu beschweren oder Dinge einzufordern – auch, wenn sie ihr zustanden. »Es ist so, dass ich heute Schimmel in meinem Zimmer entdeckt habe. Ist Ihnen das Problem bekannt?«, fing sie an und merkte, dass ihr Puls immer höher schlug.

Frau Klingers Gesicht verschloss sich. Sie presste ihre Lippen zusammen, ehe sie antwortete. »Sie müssen sich täuschen. Das kann gar nicht sein.«

Nele atmete ein, ehe sie antwortete. Sie spürte, wie sie sich dabei verkrampfte. Nele glaubte Frau Klinger kein Wort, so viel Menschenkenntnis hatte sie sich über die Jahre angeeignet. »Leider doch, da muss dringend etwas gemacht werden.«

»Ich bin mir sicher, dass mit der Wohnung alles in bester Ordnung ist. Wenn sie Ihnen nicht gefällt, steht es Ihnen frei, sich etwas anderes zu suchen.«

Nele hasste es, wenn man sie so von oben herab behandelte, und Frau Klinger beherrschte es mühelos, Nele auch ohne weitere Worte klarzumachen, dass sie kein Interesse an einer Fortführung des Gesprächs hatte.

»Ach ja? Zahlen Sie uns dann die Miete zurück?«, erwiderte Nele und reckte ihr Kinn ein Stück nach vorn.

Frau Klinger schüttelte den Kopf, dabei zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. »Sicher nicht, gezahlt war im Voraus, und wenn Sie gehen, dann ist das Ihr Problem. Schönen Tag noch.«

Die Vermieterin ließ Nele einfach stehen. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Einen richtigen Vertrag gab es nicht, das war wie mit vielem im Gastronomie- und Tourismusbereich eine Grauzone. Verdammt. Wut brannte in Neles Bauch. Fassungslos starrte sie der arroganten Hotelbetreiberin hinterher. In Neles Magen hatte sich ein dicker Knoten gebildet. Immerhin wusste sie jetzt, dass Frau Klinger sich keinen Deut um die Gesundheit ihrer Mieter scherte. Sie war sich fast sicher, dass Frau Klinger ihnen die Wohnung sogar in vollem Bewusstsein vermittelt hatte, dass baulich nicht alles in Ordnung war –, der Frau war es einfach nur egal, solange das Geld in die Kasse kam. Nele dachte an den Spruch, dass man eine Kuh so lange melken konnte, wie sie noch Milch gab. Aber ihre Milch, das Geld, war alle …. Und da bereits alles gezahlt war, kümmerte Frau Klinger auch das nicht.

»Ich kann es nicht fassen«, brummte Nele und stapfte unzusammenhängende Flüche schimpfend weiter. Sie riss sich die Mütze vom Kopf, weil sie vor Wut schwitzte. Der Drang, der Frau einen Schneeball an den Kopf zu werfen war groß, aber sie wusste, dass so eine kindische Aktion auch nichts bringen würde außer noch mehr Ärger.

Was Nele jetzt dringend brauchte, war Zucker und Fett in Form ihres Lieblingskuchens. Viel davon. Das würde ihre Wohnungsmisere zwar nicht verbessern, aber zumindest ihre Stimmung heben. Nele hatte eine ausgeprägte Schwäche für Marillen-Rahmkuchen mit Streuseln. Allein beim Gedanken daran lief ihr das Wasser buchstäblich im Mund zusammen.

Mit einem Puls von hundertachtzig betrat Nele kurz darauf die kleine Bäckerei und guckte in die Auslage. Es duftete nach frischem Kaffee, Zucker und Gebäck. Gott sei Dank! Es gab noch ein letztes Stück. Es war ihre Rettung. Also war das Glück ihr doch hold! Nele kramte in ihrer Tasche nach Geld und freute sich auf ihre süße Leckerei.

Sie öffnete gerade ihre Lippen, als jemand vor ihr seine Bestellung abgab. Es handelte sich um einen Mann in dunkler Jacke, mit schwarzem Skihelm und verspiegeltem Visier. Seltsam, dass er den hier im Laden nicht abnahm, man konnte sein Gesicht nicht erkennen. Er stand ungefähr einen Meter links von Nele und musste tatsächlich schon vor ihr da gewesen sein – entweder das, oder er drängelte sich vor. Sie war sich nicht sicher, in ihrer Wut war sie mit düsterem Tunnelblick auf die Theke zugestürzt und hatte nichts um sich herum bemerkt. »Ich hätte gern das da.« Er zeigte mit dem behandschuhten Finger auf ihr Stück Kuchen. Vielleicht war er ja entstellt, mit Verbrennungen im Gesicht oder so was, überlegte sie, während ihr klar wurde, dass er gerade im Begriff war, Nele das letzte Stück vor der Nase wegzuschnappen. Nele schnappte entsetzt nach Luft. Nein! Auf gar keinen Fall. Das würde sie nicht zulassen. Nicht auch noch das.

»Stopp!«, rief sie und riss die Hand in die Höhe. Sie sprang vor den Mann mit dem Skihelm und brachte sich so zwischen die Verkäuferin und ihn. »Das ist mein Marillen-Rahm. Ich war zuerst da.« Sie wusste, dass es womöglich nicht stimmte, aber für ihren Lieblingskuchen lohnte es sich zu lügen. Niemand würde sich wegen eines Gebäcks in die Haare bekommen. Oder?

Die Verkäuferin zögerte, dann guckte sie den vermummten Typen an. Nele ging zur Seite und schaute zu ihm auf.

Er wirkte ungerührt, soweit Nele das ausmachen konnte. Mit dem Helm auf dem Kopf war schwerlich überhaupt etwas von ihm zu erkennen. Er zeigte keine Regung, ging nicht auf Neles Einwände ein – ganz so, als wäre sie Luft – und orderte noch eine heiße Schokolade mit Sahne dazu. Dann warf der Mann einen Zwanziger auf den Tresen und verschwand ins Nebenzimmer, wo sich Tische für Kunden befanden. Dort setzte er sich, um auf seine Bestellung zu warten.

Nele starrte ihm sprachlos hinterher, dann sah sie der Verkäuferin dabei zu, wie sie ihren Kuchen auf einem Teller arrangierte.

Was für ein komischer Kauz – ein Kuchendieb. Nele verzog ihre Lippen und rührte sich nicht, während sie ihn ausgiebig betrachtete. Den Helm würde der Typ zum Essen ja wohl abnehmen. Sie war gespannt, was für eine Art Mensch sich darunter verbarg.

Die Verkäuferin schickte sich an, dem Herrn die Bestellung an den Tisch zu bringen.

Das musste verhindert werden!

Nele handelte kopflos, ihr war völlig klar, dass man sie für verrückt halten musste. Aber die vorausgegangenen Ereignisse des Tages hatten dazu geführt, dass es mit ihrem Nervenkostüm nicht gerade zum Besten bestellt war. Und hungrig war sie auch. Keine gute Kombination. Aber sie wollte dieses Stück Kuchen unbedingt, nicht, um ihren Hunger zu stillen, sie brauchte es als Seelentröster.

Die Chancen standen sehr gut, dass sie diesem Mann nie wieder begegnen würde, also tat sie etwas, was sie sonst nie machen würde, sie lief ihm nach: »Entschuldigung, dieses Stück Kuchen wollte ich gern kaufen.« Sie räusperte sich und machte vor ihm auf und ab hüpfend auf sich aufmerksam. Das verspiegelte Visier verdeckte noch immer die Hälfte seines Gesichts. Ansonsten konnte sie einen dunklen Dreitagebart auf kantigen Wangen und eine gerade Nase erkennen. Die Lippen des Herrn waren schön geschwungen und öffneten sich jetzt.

»Was wollen Sie?« Seine Irritation war ihm deutlich anzumerken. Der Dialekt klang dem hiesigen ähnlich, der Tonfall war tief und kehlig. Nele bekam eine Gänsehaut. Er musste auf jeden Fall Österreicher sein, schlussfolgerte sie mit rasendem Puls.

Die Körperhaltung des Kuchendiebes war abweisend, dazu musste er nicht einmal sprechen. Er strahlte mit jeder Pore aus, dass er sich von ihr belästigt fühlte. Natürlich wollte er allein sein, Nele konnte ihm das nicht verübeln. Sie wusste selbst, wie verrückt sie wirken musste. Nele kam sich dämlich vor, aber wo sie nun schon mal hier war, konnte sie auch sagen, was sie auf dem Herzen hatte. »Könnten Sie mir nicht diesen Kuchen überlassen? Es ist sozusagen ein Notfall, ich bitte Sie!«

Die Mundwinkel des Kerls kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln. »Sie meinen diesen herrlichen Marillen-Rahmkuchen?«

Himmel. Diese Stimme!

Es war peinlich, aber sie bettelte ja förmlich darum. Nele wurde zunehmend nervös, auch weil sie das, was sie von dem Mann erkennen konnte, wirklich attraktiv fand. Nele nickte ganz langsam, ihre Wangen brannten. Sie wusste, dass sie vermutlich feuerrot angelaufen waren. Er musste sie für durchgeknallt halten. »Ähm. Ja?«, erwiderte sie wenig geistreich.

Der Mann lehnte sich im Stuhl zurück und zuckte die Schultern. »Na schön. Setzen Sie sich. Nehmen Sie auch meine heiße Schokolade, Sie sehen aus, als könnten Sie die gebrauchen.«

Nele blinzelte, dann kramte sie in ihrem Rucksack nach Geld. Er stand langsam auf, dann legte er ihr eine Hand auf den Oberarm. »Lassen Sie es gut sein.« Seine samtige Stimme in Kombination mit der federleichten Berührung löste ein seltsames Kribbeln in ihrer Magengrube aus.

Ehe sie etwas sagen konnte, verließ er die Bäckerei mit langen Schritten, ohne sich auch nur noch einmal umzusehen.

Nele guckte ihm konsterniert hinterher, dann ließ sie sich auf den Stuhl sinken und atmete zittrig aus. Erst jetzt bemerkte sie die Verkäuferin, die mit Tasse und Teller etwa einen Meter entfernt stand und sie anglotzte, als hätte Nele soeben einen Mordanschlag auf einen der Gäste verübt.

Nele kam sich auch so schon reichlich dämlich vor, sie brauchte nicht noch das abwertende Starren der Frau. »Nun geben Sie schon her, es ist wirklich ein Notfall«, knurrte Nele und schaute weg.

»Na, wenn Sie das sagen!« Die Bedienung sprach mit sächsischem Akzent. Dann murmelte sie irgendwas Kryptisches von wegen »So was macht man doch nicht, schon gar nicht bei so einem prominenten Kunden« und trollte sich zurück hinter ihren Verkaufstresen.

Nele konnte sich keinen Reim darauf machen, also dachte sie nicht weiter darüber nach. Sie verspeiste den Kuchen im Rekordtempo und trank ihren Kakao dazu. Danach fühlte sie sich etwas besser. Ihr Gewissen plagte sie zwar noch immer, aber nun war es ohnehin zu spät, und so verärgert hatte der Mann am Ende auch nicht gewirkt. Eher ein bisschen wie auf der Flucht. Was dazu passen würde, dass er ein Promi war, der nicht erkannt werden wollte. Sie ging im Geiste alle bekannten Österreicher durch, aber ihr fiel niemand im Speziellen ein, den sie unter einem verspiegelten Skihelm vermuten würde. Wenn sie sich für Klatsch interessieren würde, könnte sie es vielleicht wissen, aber sie scherte sich wenig darum. Gerade bereute sie das ein bisschen.

Es war jedoch kein Wunder, dass er so einen flotten Abgang aufs Parkett gelegt hatte, wenn er unerkannt bleiben wollte. Wahrscheinlich tat er alles dafür, um nicht extra Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Nele schloss kurz die Augen und hoffte, dass sie ihm nicht noch mal begegnete. Gleichzeitig war sie fast ein bisschen traurig darüber, denn obwohl sie nur die Hälfte seines Gesichts gesehen hatte, fand sie, dass er eine faszinierende Ausstrahlung gehabt hatte. Irgendwie geheimnisvoll und sexy. Selbst unter dem Anorak hatte sie breite Schultern ausmachen können. Sportlich war er also in jedem Fall. Sie seufzte leise. Was für ein Tag!

Nele schob ihren leeren Teller von sich und stand auf, es war an der Zeit, zur Gondel zu laufen, damit sie pünktlich nach Oberlech kam und nicht noch ihr Vorstellungsgespräch vermasselte. Heute war auch so schon der Wurm drin …

2

Christoph tippte die Zahlenkombination auf dem elektronischen Schloss ein, damit öffnete er die Tür zum Skikeller mit einem leisen Klick. Aufgebaut auf einem fünfhundert Jahre alten Fundament hatte er das Chalet in den letzten achtzehn Monaten komplett umbauen und modernisieren lassen. Nicht nur das, es war auch ein Anbau errichtet worden. Das Anwesen hatte damit einen zweiten Flügel erhalten. Den brauchte er für sich und seine Kinder, denn in seinem Fall ließ sich Berufs- und Privatleben nicht strikt trennen. Zum Glück, ihm kam es sehr gelegen, dass er alles miteinander verbinden konnte.

Das Licht ging automatisch über einen Bewegungssensor an. Christoph schob das Visier seines Helmes nach oben. Danach stellte er seine Skier in die Abtropfrinne und hängte die Skistöcke darüber. Er tapste über die Gummimatte zur Sitzbank und ließ sich mit einem Ächzen darauf nieder. Während er die Verschlüsse seiner Stiefel öffnete, spürte er jeden Knochen. Obwohl er super in Form war, war es doch etwas völlig anderes, wieder über österreichische Pisten zu brettern, als in seinem Studio zu trainieren. Er fühlte sich wundervoll erschöpft und gleichzeitig erfrischt. Zu Hause zu sein hatte was, definitiv.

Christoph war noch nicht ganz aus den Skistiefeln heraus, als sich die Tür zum Flur öffnete und Simon mit grimmiger Miene eintrat. Sein Bodyguard hatte die Augenbrauen zusammengezogen, seine Lippen waren schmal. »Mensch, Boss«, knurrte der Deutsch-Amerikaner und stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen in den Raum. Simon war breit gebaut und groß gewachsen. Er war eine imposante Erscheinung, was ihm in dem Job auch zuträglich war. Aus praktischen Gründen hielt Simon sein dunkelblondes Haar sehr kurz. Er trug ein enges T-Shirt, das seinen muskulösen Oberkörper betonte. Christoph wusste, dass hier keine künstlich aufgepumpten Muskeln zur Schau gestellt wurden, an seinem Bodyguard war alles echt. Als ehemaliger Elitesoldat war Simon auch heute noch topfit.

»Simon«, erwiderte Christoph mit einem schuldbewussten Lächeln. Er wusste genau, warum sein Mitarbeiter schlecht gelaunt war, aber er ging nicht darauf ein.

»Das können Sie doch nicht machen! Wozu bezahlen Sie mich?«, murrte sein Beschützer, der sich mal wieder darüber aufregte, dass Christoph auf eigene Faust losgezogen war.

Christoph kümmerte sich weiter um seine Füße und ignorierte Simons Frage, während er sich mit einem Ächzen aus dem linken Skistiefel stemmte. »Keine Sorge, niemand hat mich erkannt. Ich habe aufgepasst, außerdem sind kaum Leute auf der Piste gewesen. Im Lift war ich immer allein«, erklärte er schließlich in versöhnlichem Tonfall, irgendwie konnte er seinen Bodyguard ja verstehen, aber Skifahren zu gehen, war wirklich absolut ungefährlich.

Simon wirkte trotzdem noch unglücklich über die Tatsache, dass sein Chef – mal wieder – ohne ihn aus dem Haus gegangen war. Verschlafenes Skiörtchen hin oder her. Christoph konnte es ihm nicht weiter verübeln, aber manchmal brauchte er einfach Zeit für sich allein. Wo, wenn nicht hier auf der Piste, sollte das möglich sein?

»Beim nächsten Mal sage ich Bescheid«, beteuerte Christoph jetzt, und beide wussten, dass er es nicht tun würde. Hauptsächlich hatte er Simon im Haus, damit er für Amys und Skys Wohlergehen sorgte. Seine Töchter waren das Wichtigste auf der Welt. Was die Sicherheit der beiden anging, war Christoph streng, deutlich strenger als wegen der Schutzmaßnahmen, die ihn selbst betrafen.

Christoph hängte seine Skistiefel auf die Heizungsstäbe und klopfte Simon väterlich auf die Schulter. »Ich muss duschen, habe gleich noch einen Termin. Du holst die Mädchen um sechs bei meinen Eltern ab, falls ich nicht fertig sein sollte?«

»Natürlich, Boss.«

»Gut, danke.« Simon guckte ihn direkt an, Christoph merkte sofort, dass sein Bodyguard ihm noch etwas mitteilen wollte, aber unschlüssig war, ob er es wirklich aussprechen sollte.

»Was ist?« Christoph ermutigte ihn mit einem aufmunternden Nicken.

Simon trat von einem Fuß auf den anderen, dann blickte er seinen Arbeitgeber direkt an. »Mir ist bewusst, dass Sie Ihre Freiheit lieben, aber … Ihnen ist auch klar, dass Ihnen laut Vertrag verboten wurde, Ski zu fahren?«

Christoph atmete geräuschvoll aus. Natürlich wusste er das, aber er wollte sich nicht alles, was Spaß machte, verbieten lassen. »Was die Produktionsfirma nicht weiß, macht sie nicht heiß.« Er grinste und ging leise vor sich hin pfeifend aus dem Skikeller in den Flur. Seine Oberschenkel brannten, er würde morgen Muskelkater bekommen. Und er hatte Hunger. Das hatte Gründe, mit einer heißen Schokolade und Kuchen im Bauch würde ihm der Magen nicht bis in die Kniekehlen hängen, aber seinen süßen Imbiss hatte er an diese seltsame Frau abgetreten. Christoph dachte an die Begegnung in der Bäckerei zurück. Zuerst hatte er gedacht, dass sie ihn erkannt hätte und ihn mit Selfies und dem ganzen Quatsch belästigen wollte, bis er begriffen hatte, dass sie es wirklich nur, geradezu verzweifelt, auf sein Stück Kuchen abgesehen hatte.

Witzig irgendwie. Gleichzeitig dachte er an ihr hübsches Gesicht und die ausdrucksstarken graublauen Augen. Ihre vollen Lippen hatten gebebt, während sie ihn angebettelt hatte. Schon lange hatte keine Frau mehr sein Interesse geweckt, was ihn faszinierte und gleichermaßen erschreckte. Daraufhin hatte Christoph ihr den Kuchen überlassen und war aus der Bäckerei geflüchtet. Mehr oder weniger. Anders konnte er seinen Abgang nicht bezeichnen. Was für eine skurrile Situation, so was hatte er bisher nicht erlebt, und das wollte was heißen.

Seine Reaktion sah ihm gar nicht ähnlich, schließlich war er kein Teenager mehr. Es lag nicht daran, dass er keine Angebote hatte. Im Gegenteil, die Damenwelt lag ihm weltweit zu Füßen, auch wenn er es nicht herausforderte. Seine Libido lag nach dem ganzen Stress mit Summer jedoch unter einer meterdicken Eisschicht. Das hatte Christoph zumindest geglaubt, bis heute Mittag.

Egal, sagte er sich. Er würde die Frau bestimmt nie wiedersehen, und selbst wenn, würde sich daraus nichts ergeben. Nichts lag ihm ferner als Verwicklungen in eine Liebschaft. Die einzigen weiblichen Wesen, die ihm derzeit wichtig waren, lebten mit ihm unter einem Dach, und das waren seine Töchter. Ihr Wohl war alles, was zählte. Und wenn die beiden eines nicht brauchten, dann einen Vater, der sich mit fremden Frauen zwischen den Laken wälzte.

Christoph wollte nicht an die Scheidung denken, tat es aber doch. Solange die Tinte nicht trocken war, konnte er sich auch gar keinen Fehltritt erlauben. Er schüttelte den Kopf über seine wirren Gedanken und setzte seinen Weg fort. Mit einer heißen Dusche würden sicher auch diese seltsamen Anwandlungen fortgespült.

Nele war froh, dass sie eine Mütze auf dem Kopf hatte. Es war wirklich eisig an diesem späten Nachmittag. Nach einer kleinen Odyssee erreichte Nele den Haupteingang des Chalets, atmete erleichtert aus und sortierte sich kurz, ehe sie nach der Klingel suchte.

Bis sie, nachdem sie aus der Gondel ausgestiegen war, hier angelangt war, hatte sie es wie üblich über die Tunnelanlage, die unter dem Dorf angelegt worden war, versucht. In Oberlech gab es im Winter keine Autos, die verschneiten Wege standen ganz den Skifahrern und Fußgängern zur Verfügung. Der komplette Verkehr zu den Wohnhäusern und Hotels fand unterirdisch statt. Durch den Tunnel war sie zu einem Tor gelangt, das man nur mit einer Fernbedienung oder einem Code öffnen konnte. Das hatte ihren Zeitplan ein wenig durcheinandergewirbelt, denn beides stand ihr nicht zur Verfügung. Tja. Deshalb hatte sie umkehren und es oberirdisch versuchen müssen, weswegen Nele jetzt heftig schnaufte. Sie war die letzten Meter über den verschneiten Weg gerannt, um nicht zu spät zu kommen. Es war wichtig, dass man als Nanny zuverlässig war, dazu gehörte selbstverständlich auch Pünktlichkeit – vor allem beim ersten Treffen.

Nele schob sich eine Strähne aus dem Gesicht, die unter der Mütze hervorgequollen war. Ihr Hals war von der eisigen Luft rau. Das Thermometer an der Gondel hatte bei der Ankunft vor ein paar Minuten schon minus zehn Grad angezeigt. Das war nicht ungewöhnlich für diese Jahreszeit, aber sie musste sich erst wieder daran gewöhnen.

Nele straffte sich und betätigte den Klingelknopf. Nach wenigen Sekunden nahm sie das Surren einer Kamera wahr, dann klickte es, und eine weibliche Stimme ertönte. »Ja, bitte?«

»Guten Abend, ich bin Nele Storm von der Nanny-Agentur.«

»In Ordnung, einen kleinen Augenblick bitte.« Es klickte erneut.

Nele trat einen Schritt zurück. Obwohl sie schon vielen stinkreichen, einflussreichen und auch berühmten Leuten begegnet war, beeindruckte sie dieses Haus über die Maße. Die Fassade war mit Holz verkleidet, die Fenster bestanden aus einem verspiegelten Glas, man konnte nicht hineinblicken. Vermutlich irgendein Sicherheitsglas. Es wurde schon von außen klar, dass jemand richtig viel investiert hatte, um aus einem bestehenden Gebäude ein noch größeres, imposanteres herzurichten, das Altes mit Neuem verband. Sie war gespannt auf diese Familie.

Das Dach war, wie alle anderen in der Umgebung, mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Es gab eine Sonnenterrasse, von der aus man auf die Piste gucken konnte, während sie von unten aus nicht erreichbar war, weil sie zu hoch lag. Daraus schloss Nele, dass die Besitzer Wert auf gewissen Abstand legten, was auch die Tatsache mit der fehlenden Klingel im Tunnel erklärte.

Sie hatte auch nicht den vollen Einblick, da ein Teil der Terrasse durch einen Sichtschutz verdeckt war, es dampfte daraus hervor, daher schlussfolgerte Nele, dass es eine Art Whirlpool oder Außenschwimmbecken geben musste.

Weiter kam sie nicht mit ihrer Bestandsaufnahme, denn die Eingangstür wurde geöffnet. Eine rundliche Frau mit roten Pausbacken, grauem Haar und einer Schürze tauchte auf. »Grüß’ Sie«, wandte sie sich im örtlichen Dialekt an Nele und winkte sie herein. »Kommen’s rein.«

»Guten Abend, ich bin Nele Storm, das Kindermädchen. Also vielleicht …« Nele lächelte verlegen und merkte, wie nervös sie auf einmal war. Das konnte nur daran liegen, dass ihr eine Art Bewerbungsgespräch bevorstand. Ein Prozedere, dem sie in Lech sonst nicht ausgesetzt war. Nele trat ein, und die Frau schloss die Tür hinter ihr.

Der Eingangsbereich wurde von dunklem Marmor dominiert. Eine indirekte Beleuchtung schaffte eine angenehme Atmosphäre, nicht zu hell, aber auch nicht düster. Dicke Kerzen flackerten in Glaszylindern. Es duftete nach Zirbenholz und Bergamotte.

»Bitte, legen Sie doch ab«, forderte die Frau sie jetzt auf und streckte ihre Hände aus, um Neles Jacke in Empfang zu nehmen.

Nele schlüpfte aus dem Anorak und reichte ihn ihr. »Danke.«

»Ich bin übrigens Theresia, Haushälterin und guter Geist im Haus.« Theresia öffnete eine Tür, die zu einem Garderobenzimmer führte. Dort waren Schuhe, Jacken und Skihosen fein säuberlich untergebracht.

»Freut mich, Theresia. Soll ich die Stiefel ausziehen?« Nele bemerkte einen Übergang, der weiter ins Haus führte, wo Marmor zu einem edlen Holzboden wechselte. Den wollte sie nicht mit ihren nassen Sohlen besudeln.

»Ja, gern. Wir haben auch Hausschuhe für Besucher. Moment.« Die nette Frau hängte ihre Jacke auf und zauberte sodann Filzpantoffeln hervor, die sie vor Neles Füße platzierte, bevor sie sich lächelnd wieder aufrichtete.

»Danke.« Nele war befangen, es war ganz und gar nicht üblich, dass man sie bediente. Es fühlte sich seltsam an.

»Gern, nun kommen’s mal mit. Er erwartet Sie schon.« Obwohl Theresia sehr nett und offen wirkte, war klar, dass hier alle nach einer Pfeife tanzten. Theresia hatte voller Ehrfurcht von ihrem Arbeitgeber gesprochen: Er. Wie er wohl sein mochte? Nele bekam eine Gänsehaut.

Ihre Nervosität nahm zu. Dem Haus nach zu urteilen, waren die Besitzer in jedem Fall stinkreich, aber das hatte sie auch schon vorher gewusst. Vom Alter könnten sie vielleicht Ende vierzig sein, man musste schon einiges erreicht haben, ehe man so viel Kohle zusammenhatte, aber noch nicht zu alt für kleine Kinder. Ihre Aufregung wuchs mit jedem Schritt, den sie weiter ins Haus machte. Die Deckenhöhe war nicht außergewöhnlich hoch, die Wände hatte man im Zuge der von Tammy angesprochenen Renovierung grau verputzt. Hie und da hing ein abstraktes Gemälde. Es gab keine Fotografien, keine Familienbilder, nichts Persönliches. Das war ungewöhnlich, vor allem bei zwei kleinen Kindern.

Nele trottete Theresia hinterher und schaute sich dabei verstohlen um; links ging es zum Wohnzimmer, wo große Fensterfronten dominierten, rechts konnte Nele einen langen Esstisch ausmachen und einen Kinderhochstuhl. Nele vermutete die Küche ganz in der Nähe, wahrscheinlich um die Ecke, was auch den langen Mittelgang erklären würde, den sie gerade hinter sich gelassen hatten. Sie erreichten eine Flügeltür, die Theresia für sie aufhielt, von dort kamen sie ins Treppenhaus, das gleichzeitig eine Art Verbindung zum zweiten Gebäudeteil darstellte. Links und rechts führte je eine Treppe nach oben und unten. Die Stufen waren offen und aus Holz, das Geländer wirkte futuristisch, aber kindersicher durch geschlossene Seiten. In den Wänden waren bei jeder zweiten Stufe quadratische LEDs eingelassen, die ein angenehmes Licht verbreiteten und jeden Tritt sicherer machten.

»Das hier ist die Verbindung zum neuen Flügel«, erklärte Theresia und bestätigte damit Neles Vermutung. »Die linke Treppe gehört zum alten Teil, die rechte zum neuen. Oben gibt es aber auch eine Verbindung der Gebäudeteile über einen Flur.«

Abgefahren, dachte Nele. Nicht nur, dass alles außer den Grundmauern anscheinend komplett modernisiert worden war, es war auch irrsinnig gut durchdacht. Nele lugte am Treppengeländer nach unten, weil sie ein Plätschern hörte. Was sie dann sah, ließ sie offen staunen. Die Treppe schlängelte sich um die Felsen des Berges, daraus entsprang eine Quelle, es gab ein kleines Becken, in dem sich das Wasser sammelte. Verrückt.

»Schön, nicht? Der Brunnen ist knapp fünfhundert Jahre alt, ich liebe die Verbindung zur Natur.«

»Wahnsinn«, murmelte Nele.

»Kommen Sie«, drängte Theresia. »Er wartet nicht gern.«

Ja, das konnte sich Nele lebhaft vorstellen. Es handelte sich bei ihm bestimmt um einen kompromisslosen Geschäftsmann, der nebenbei mehrere Bildschirme mit Aktienindizes laufen hatte. Ein Banker vielleicht oder ein Private Equity Fonds Manager, jedenfalls jemand, der Kohle im Überfluss hatte.

Nele machte es nichts aus, wenn andere mehr hatten als sie. Sie hatte, was ihren eigenen sozialen Status betraf, keine Minderwertigkeitskomplexe. Dennoch durchlief ihren Körper ein merkwürdiges Kribbeln, als sie den Übergang passierten und den Anbau erreichten. Ordentlich sortierte Bücherregale teilten den Raum, rechts von ihr befand sich eine Glaswand, dahinter ein voll ausgestatteter Fitnessraum. Laufband, Gewichte, Crosstrainer, Sprossenwand, Übungsmatte, Ringe, Spinning-Fahrrad und eine Massage-Liege konnte sie im Vorbeigehen erkennen, ehe Theresia sie mit einer Geste nach links bat. Bibliothek und Arbeitszimmer schienen sich zu vereinen, es roch auch hier angenehm nach Zirbenholz, Bergamotte und einem offenen Kaminfeuer.

»Nele Storm ist hier«, erklärte die Dame ihrem Chef und zog sich dann zurück, dabei schenkte sie Nele ein aufmunterndes Lächeln. Nele blieb mitten im Raum stehen und sah sich nach ihrem Gesprächspartner um, entdeckte ihn jedoch nicht sofort.

Es gab eine cremefarbene Sitzgruppe mit einem Sofa auf der einen Seite, auf der anderen befand sich der Arbeitsbereich. Da es dunkel war, konnte sie durch die großen Fenster nicht viel sehen, sie erkannte nur ihr eigenes Spiegelbild, aber sie wusste, dass man hier sonst einen atemberaubenden Ausblick über die nahe gelegene Piste, Tannen und die Berge hatte. Neles Augen blickten ihr groß aus dem Fenster entgegen, sie sah blass und unsicher aus. Genau so fühlte sie sich auch. Sie atmete einmal durch und richtete sich gerade auf.

Als Nächstes fiel ihr das flackernde Feuer im Kamin auf. Auf dem Sims standen eine Vase und noch mehr Kerzen in Windlichtern. Der Schreibtisch wirkte ordentlich aufgeräumt, sie konnte ein Notebook ausmachen. Die Person im dunklen Ledersessel hatte ihr den Rücken zugedreht und verstaute gerade einige Papiere oder Unterlagen in einem geöffneten Wandschrank. Langsam drehte der Mann sich um und stand auf. Er war groß, breitschultrig und sah mit seinem schwarzen Pullover zur dunklen Jeans irgendwie sexy aus. Definitiv noch keine vierzig, schoss es ihr durch den Kopf.

»Guten Tag, ich bin Nele Storm, ich komme von der …«, begann Nele mit ihrer Vorstellung. Weiter kam sie nicht, weil ihr Mund aufklappte. Sie starrte den gut aussehenden Mann entgeistert an, der jetzt auf sie zukam. »… Nannyagentur«, schaffte sie es doch noch, ihren Satz zu beenden. Nele glaubte zu träumen, sie blinzelte hektisch. Die Erkenntnis, einem Superstar gegenüberzustehen, brachte sie aus dem Konzept.

»Guten Abend.« Der Klang seiner Stimme jagte kleine Schauer an ihrer Wirbelsäule entlang.

Christoph Maier, wie sich Nele an den Namen, den Tammy ihr genannt hatte, erinnerte, war groß, breitschultrig und dunkelhaarig. Er hatte einen durchdringenden, offenen Blick. Seine grünen Augen funkelten amüsiert, während sich seine sinnlichen Lippen zu einem wissenden Lächeln verzogen.

Oh. Mein. Gott.

Christoph Maier war schon aus der Ferne attraktiv, aber aus der Nähe fand sie ihn gefährlich sexy. Er wirkte souverän und gleichzeitig lässig. Und er hatte jeden Grund dazu, denn schließlich war er Österreichs heißester Hollywood-Export. Allerdings lautete sein Künstlername nicht Christoph Maier, sondern Chris May.

Heilige Mutter Gottes. Er war es wirklich. In Person. Live und in Farbe.

Vor ihr stand der Sexiest Man Alive. Gleich zweimal, 2020 und 2021 hatte eine Jury ihn dazu gewählt – aus gutem Grund. Ihm in Fleisch und Blut gegenüberzustehen, gab Nele den Rest. Sie wurde geradezu überflutet von seiner maskulinen Energie, die den ganzen Raum ausfüllte. Er sah in echt und in Farbe noch viel besser aus als auf der Mattscheibe.

Sie wollte etwas sagen, aber ihr Kopf war wie leergefegt.

---ENDE DER LESEPROBE---