Narrenschicksal - Ava Lennart - E-Book

Narrenschicksal E-Book

Ava Lennart

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Beschreibung

"Ein Narr, der das Schicksal für Zufall hält"?!  Eine verzauberte Nacht im Kölner Karneval. Die als Stern verkleidete Stella erlebt eine prickelnde Nacht mit dem geheimnisvollen Zorro. Schwer verliebt wartet sie vergeblich darauf, dass er sich wieder meldet. Doch der Held ist ein Womanizer. Stellas Welt gerät aus den Fugen, als sich ausgerechnet ihre Schwester in ihn verliebt.  Sie schafft es kaum, die Intensität ihrer noch vorhandenen Gefühle zu verbergen. Umso lästiger, dass sich Zorro ausgerechnet jetzt beharrlich an ihre Fersen heftet ... Lies die 1a-schnulzige Herzschmerzgeschichte aus der sexy Weltstadt Köln mit einer Prise Kitsch, etwas Erotik und einigen unterhaltsamen Schicksalswendungen!

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Seitenzahl: 449

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Inhalt

„Stella“ Marie Stern

Steven Berghoff

Stern

Zorro

Stern und Zorro

Sternenhimmel

Nur ein Flirt im Karneval

Verzaubert

Love is in the air

Anfängerfehler

Sehnsucht

Fata Morgana

One-Night-Stand?

Zurück

One-Night-Stella!

Missverständnis

Ernüchterung

Frauengespräche

Elena und Mister X

Schock

The Show must go on

Entschluss

Alte Freundschaft

Endlich

Blickkontakt

Aftershow

Herzstolpern

Prince Charming

Geständnis

Held

Erkenntnisse

Unbekannter Anrufer

Date

Erklärungen

Hitze

Der Kreis schließt sich

Familienbande

Überraschung

Alpha-Männchen

Anfang

Playlist

Über die Autorin

Narrenschicksal

Küsse im Karneval

Ava Lennart

Copyright © 2015 by

Zoch/Kapfhamer, Ava Lennart GbR

Liesl-Karlstadt-Str. 19

82152 Planegg

[email protected]

www.avalennart.com

www.facebook.com/AvaLennart

Coverdesign:

AGENTSY, Sylvia Togni

unter Verwendung eines Fotos von fmbackx bei iStockphoto.com

Lektorat/Korrektorat: Kornelia Schwaben-Beicht, ABC-Lektorat

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für André und Daniel

„Ein Narr, der das Schicksal für Zufall hält!“

angeblich Shakespeare,

aber auf jeden Fall Fred Astaire zu Ginger Rogers

„Stella“ Marie Stern

Sie starrte auf das hellrosa Gebilde, das sich am Seifenspender quälend langsam zu einem schweren Tropfen entwickelte.

„Komm, komm, tropf schon!“, beschwor sie ihn eindringlich.

Als ob das irgendetwas nutzen würde!

Aber Marie Stern, genannt Stella, hatte mit dem Seifentropfen eine Wette abgeschlossen: Tropfte es, bevor die zehn Minuten um waren, die sie auf das Testergebnis warten musste, würde alles gut werden.

Gut? Was das in diesem Moment genau bedeutete, darüber wollte Stella gar nicht erst nachdenken.

Sie schnaubte ungläubig, als sie sich bewusst wurde, wie sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis auf dem Klo saß und auf die Linien wartete. Keine gewöhnlichen Linien. Genau genommen wusste sie nicht einmal, ob sie überhaupt von Linien im Plural reden sollte. Denn eigentlich wäre eine Linie genug. Dann wäre nämlich der Test negativ – das wiederum würde heißen, dass sie nicht schwanger wäre ...

Der zähe Seifentropfen löste sich endlich wie in Zeitlupe und platschte lautlos auf den Waschbeckenrand, wo ihn bereits seine Kumpel der letzten zehn Minuten erwarteten.

Na also, geht doch!, dachte Stella.

Sie atmete tief durch und hielt, pragmatisch wie eine Oberschwester ein Fieberthermometer, das Plastikstäbchen des Schwangerschaftstests vor ihre Augen. Sie starrte eine Weile stirnrunzelnd auf die kleinen Sichtfenster. Als die eindeutige Meldung endlich ihr Gehirn erreicht hatte, rupfte Stella energisch zwei Papierhandtücher aus dem Spender und rubbelte den Seifenfleck weg. Noch zwei Tücher, damit auch wirklich nichts von ihm übrigblieb.

„Verräter!“, murmelte Stella.

Dann erst wagte sie es, sich ihrem Spiegelbild zu stellen. Zu ihrem Erstaunen sah sie immer noch aus wie Stella Stern, obwohl unter ihren blauen, leicht schräg stehenden Augen heute recht dunkle Schatten lagen und ihr auffallend großer Mund einen müden Zug aufwies. Um diesen zu vertreiben, zog Stella bewusst eine Schnute und setzte dann ein übertriebenes Showmaster-Lächeln auf, als ob sie sich selbst den gerade geknackten Jackpot überreichen würde.

„Na, herzlichen Glückwunsch, liebe Mama Stella! So hattest du dir das eigentlich nicht vorgestellt.“

Sechs Wochen zuvor:

„Das ist nicht dein Ernst, Stella!“ Bernds Mund stand vor Empörung leicht offen. „Du kannst doch am nächsten Tag im Flieger schlafen. Es sagt ja auch keiner, dass du versacken musst. Aber so gar nicht Karneval feiern ... Jetzt hör aber auf! Wozu hast du dir denn sonst während der Zeit Urlaub genommen?“

Stella betrachtete nachdenklich ihren besten Freund. Bernd Richter war ihr persönliches Goldstück, ihr Sandkastenfreund und Praxiskollege.

„Man kann ja wohl einmal Karneval nicht feiern. Das wird mir sonst zu viel. Ich muss packen, und außerdem habe ich sowieso kein Kostüm.“

„Wer bist du, und was hast du mit meiner Stella gemacht? Die Stella, die ich kenne, tanzt immer als Erste an Weiberfastnacht auf den Tischen. ‚Zu viel’ – du bist doch noch keine neunzig? Und was das Kostüm angeht, lass das mal meine Sorge sein.“

Bernd wusste, wie er Stellas wunden Punkt, das langsame Älterwerden, am besten triezte. Und Bernd hatte recht.

Als Urkölnerin mochte Stella das wilde Treiben während des Karnevals und freute sich jedes Jahr mit einem unruhigen Kribbeln auf den „Wieverfastelovend“, die Weiberfastnacht am Donnerstag. In ihrer Jugend und der Studienzeit hatte sie wirklich wilde Partys in den Kölner Kneipen erlebt. Als gefragte Psychologin war ihr Alltag mittlerweile bis ins kleinste Detail durchgeplant. Und daher genoss Stella es insgeheim, sich beim Tanzen und Mitsingen wenigstens einmal im Jahr gehen zu lassen und Teil einer gutmütigen, wogenden Menge zu werden.

„Muss ich mir das vor meiner Reise wirklich antun?“

„Stella, ausruhen kannst du dich doch im Urlaub. Wozu macht man schließlich Wellness? Es kann doch nicht sein, dass du dich vor deinem zweiwöchigen Urlaub auf Elba noch ausruhen musst!“

Bernd schüttelte gespielt fassungslos den Kopf.

Stella rollte die Augen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Trotzdem wandte sie ein: „Aber mein Flieger geht so früh! Und dann sind Julia und ich erst einmal eine Nacht in Zürich. Ich kann doch nicht vollkommen fertig dort ankommen. Ich habe Julia ewig nicht gesehen und möchte einfach jede Sekunde mit ihr auskosten. Da wäre es blöd, wenn ich erst mal zwei Tage meinen Rausch ausschlafen muss.“

Stellas Freundin Julia war vor zwei Jahren der Liebe wegen in die Schweiz gegangen und dort geblieben. Seitdem vermisste Stella schmerzlich die schwesternhafte Vertrautheit und die spontanen Treffen. Sie freute sich wahnsinnig auf die Freundinnenzeit auf der Mittelmeerinsel.

Julia Sandhagen war es auch gewesen, die ihr den Spitznamen „Stella“ verpasst hatte. Julia befand sich damals in ihrer „italienischen Phase“, wie sie es selbst bezeichnete. Was hauptsächlich bedeutete, dass sie nach ihrer Rückkehr aus dem Familiensommerurlaub in Italien unsterblich in Angelo, den Sohn der Pensionsbesitzerin, verknallt war. Dabei war es Julia völlig gleich gewesen, dass Angelo schon achtzehn war, sie im ganzen Urlaub mit Angelo gerade mal drei Sätze wechselte und sie ihn niemals wiedersehen würde. Jedenfalls hatte Julia damals schnell herausgefunden, dass Maries Nachname Stern dem italienischen „oberromantischen“ Wort „Stella“ entsprach.

Die damals zwölfjährige Marie fand Julias Tick zuerst nervig, insbesondere, weil Julia bei der Nennung von „Stella“ in den ersten Tagen immer in Seufzen ausbrach. Aber mit Wegfall von Julias Seufzer fand Marie den Namen gar nicht so schlecht. Sie genoss es sogar, dass die anderen Klassenkameraden sie auch mehr und mehr Stella riefen. Bald war sie selbst dazu übergegangen, sich nur noch Stella und nicht mehr Marie zu nennen.

Die Einzigen, die bei dem Spiel nicht mitmachten, waren ihre Familienmitglieder. Zu Hause beharrten ihre Mutter Katja und ihre Schwester Elena darauf, sie bei ihrem Taufnamen Marie zu rufen.

Bernd lachte ungläubig auf.

„Ich glaube, du spinnst. Schließlich reden wir über Julia. Wenn sich jemand mit Party auskennt, dann sie. Die liebt dich auch mit Kater. Außerdem musst du unbedingt Rory kennenlernen. Du hast schon letztes Mal abgesagt. Er zumindest kann es auch kaum noch erwarten, meine beste Freundin zu treffen“, feuerte Bernd seine letzte Kugel ab.

Stella war schon fast überstimmt. Bernd war seit zwei Wochen „unsterblich“ in Rory verliebt, und Stella bemerkte in diesem Augenblick amüsiert, wie er darauf brannte, ihr endlich seine neueste Flamme vorzustellen.

Bernd war „furchtbar schwul, und das ist auch gut so!“, wie er selbst freimütig lächelnd von sich sagte. Er zelebrierte sein Tuntendasein manchmal so, dass es Stella schon fast zu viel wurde.

Insgeheim war sie aber auch neidisch. Bernd schien sich gefunden zu haben und voll und ganz zu sich zu stehen. Bei allem, was ihm widerfuhr, dachte er positiv und vertraute insbesondere in Liebesdingen voll darauf, dass das Leben es gut mit ihm meinte. Und ging es doch einmal anders aus als erwartet, zuckte er nur lächelnd mit den Schultern. Stella hingegen nutzte ihren durch und durch organisierten Arbeitsalltag gerne als Ausrede, um nicht über ihr mageres Liebesleben nachdenken zu müssen.

Bevor Stella es sich wieder anders überlegen konnte, schlug ihr Bernd schon grinsend auf die Schulter.

„Abgemacht! Ich werde heute Abend bei dir vorbeikommen, und wir durchforsten gemeinsam deinen Kleiderschrank nach einem tollen Outfit. Ich habe da auch schon eine Idee.“

Stella verdrehte die Augen und hob resigniert die Arme.

„Oh Mann! Wehe, das wird ein langweiliger Abend.“

„Langweilig?“ Bernd zeigte seine zum Schwur erhobene Hand und winkte der schief lächelnden Stella damit keck zu. „Süße, das wird der beste Abend deines Lebens! Das verspreche ich dir.“

Steven Berghoff

„Bin ich nicht langsam zu alt für solche Kostümierungen?“, murmelte Steven Berghoff und betrachtete skeptisch das enge Oberteil aus Trikotstoff und den glänzenden Umhang in seiner Hand: Teile seines Outfits für die heutige Partynacht. Die Frage war rein rhetorisch. Er wusste selbst, dass das Alter bei der Wahl des Karnevalskostüms die letzte Rolle spielte. Schließlich lebte er schon immer in dieser Stadt.

Das hab ich nun von meinem Versuch, mich vor dem Karneval zu drücken, dachte Steven, während er sich in die enge Hose zwängte.

„Aber was tut man nicht alles für seinen besten Freund“, seufzte er.

„Was ist dein Problem?“, hatte Gregor ihn gefragt, nachdem Steven eher zögerlich auf die Aussicht reagiert hatte, auf die coole Karnevalsparty seines Freundes im Kölner Alter Wartesaal zu kommen.

Steven zuckte nur die Achseln. „Mir ist einfach nicht nach feiern. Ich hab in zwei Wochen Abgabetermin für den kanadischen Wettbewerb und bin noch lange nicht mit dem Prototyp des Möbelstücks fertig, dessen Entwurf ich einreichen will.“

Als er Gregors verständnislose Miene sah, seufzte Steven. „Na, der Designwettbewerb. Die Gartenliege? Mensch, Gregor, interessierst du dich gar nicht für meine Projekte?“

Gregor grinste. „Verrat mir mal, wie ich mir merken soll, wann bei dir die Gartenliege oder der Toaster dran ist? Das wechselt doch monatlich. Ich hab genug mit meinen eigenen Events zu tun. Du kannst dir sicher auch nicht jede Veranstaltung merken, die ich organisiere!“

Steven lachte. „Das ist aber auch nicht vergleichbar. Du hast ja fast drei Veranstaltungen wöchentlich, während ich monatelang an einem einzigen Projekt feile.“

An der Liege fehlte noch der letzte Schliff, und wenn Steven im kreativen Rausch war, igelte er sich gerne ein.

„Ist doch auch egal. Du kommst gefälligst, und damit basta! Einen Abend wirst du dich ja wohl freimachen können. Ist auch besser für deine Kreativität. Du wirst den Alten Wartesaal nicht wiedererkennen, nach dem, was ich daraus gemacht habe. Saturday Night Fever trifft Tausendundeine Nacht. Du wirst schon sehen.“

Gregor blickte verträumt, und Steven erkannte, wie stolz sein Freund auf dieses Event war, das eines der Top-Ereignisse dieser Karnevalssaison in Köln sein sollte. Er konnte seinen Freund nicht enttäuschen.

„Schade eigentlich, dass ihr Eventmanager keine Wettbewerbe habt!“

„Du sagst es, Alter. Was ist nun? Ja oder ja? Ich garantiere dir die atemberaubendste Erfahrung deines Lebens! Den Abend wirst du sicher nicht so schnell vergessen.“

Steven schaute nur skeptisch, nickte dann aber.

„Bis Donnerstagabend dann, ich zähle auf dich!“, hatte Gregor sich verabschiedet und sich königlich über Stevens genervte Miene amüsiert.

Sein Vater Gerion hatte ebenfalls kein Verständnis für ihn gehabt, als er ihm vor gut einer halben Stunde von seinem Dilemma berichtet hatte.

„Ich habe überhaupt kein Kostüm.“ Steven suchte nach dem letzten plausiblen Grund, um weiter an seiner Liege basteln zu können.

„Warte, ich hab da eins für dich.“ Sein Vater drückte ihm mit blitzenden Augen das Zorro-Kostüm in die Hand.

„Hatte ich letztes Jahr selbst an. Du kannst mir glauben, die Frauen stehen auf so etwas. Dieses Jahr geh ich als Poseidon.“ Gerion hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.

Steven kapitulierte seufzend und zwängte sich in das knappe Trikot. Seine breiten Schultern verhinderten, dass er die vorgesehene Verschnürung über der Brust auch nur ansatzweise schließen konnte. Auch die schwarze Kniebundhose saß durch seine Muskeln arg stramm über seinem Hintern.

„Na, siehst du! Passt doch wie angegossen!“, rief sein Vater amüsiert, während er Stevens Ächzen registrierte. „Fast so gut wie bei mir!“

Mit seinen fünfundsechzig Jahren stand der sportliche und wohlhabende Gerion Berghoff immer noch „gut im Saft“. Er leitete in dritter Generation erfolgreich das exklusive Kölner Möbelhaus „Berghoff“. Steven vermutete schon lange, dass die Affären mit oftmals wesentlich jüngeren Frauen seinen Vater fit hielten.

„Corinna und ich sind dann mal weg. Dir viel Spaß!“, hatte Gerion ihm recht erheitert in Gestalt des Meeresgottes zugerufen und dabei mit seinem Dreizack gewunken.

Seit dem Tod seiner Frau Claudia vor über drei Jahrzehnten, die bei einem Rheinspaziergang völlig unerwartet einer Hirnblutung erlegen war, ließ sein Vater keine Frau ernsthaft an sich ran. Was nicht hieß, dass er enthaltsam lebte. Im Gegenteil: Die als schillernde Meerjungfrau verkleidete sexy Corinna, die mehr Haut als Kostüm zeigte, genoss derzeit seine Aufmerksamkeit.

Steven hatte von seinem Wohntrakt aus beobachtet, wie die beiden in ein Großtaxi stiegen, in dem bereits seine Tante Ricarda und ihr Mann sowie weitere Freunde seines Vaters warteten.

Stirnrunzelnd wandte sich Steven wieder seinem Spiegelbild zu und komplettierte sein Outfit mit einem schwarzen Filzhut und einer Zorro-Maske, die ihm wenigstens ein wenig Inkognito-Feeling gab. Sofort blickte ihm der wahre Zorro aus seinem Badezimmerspiegel entgegen. Gar nicht so schlecht! So langsam regte sich auch bei Steven Vorfreude auf den heutigen Abend. Für seinen Geschmack sah er allerdings zu gewollt heiß aus.

„So, wie ich aussehe, kann ich Corinna gar keinen Vorwurf machen, dass sie zu viel Haut zeigt.“

Beim Rausgehen warf er einen letzten sehnsuchtsvollen Blick auf die unfertige Gartenliege und zog die Haustür hinter sich ins Schloss. Vielleicht würde es ja doch ein netter Abend werden.

Stern

Der Wagen hielt vor der Südstadtkneipe Spielplatz. Zum Glück hatte sich Stella dafür entschieden, mit einem Taxi zu fahren. Obwohl es noch nicht schneite, war der Wind eisig. Als sie ausstieg, fuhr er ihr glitzerbestrumpftes Bein entlang bis unter das strassbesetzte Minikleid. Dazu trug Stella – seit Langem wieder einmal – mörderisch hohe Schuhe. Es gab einfach sonst nichts, was ihr Kostüm als Stern so perfekt ergänzt hätte wie die goldenen Pumps, die ihre Schwester Elena ihr mit einem verschmitzten Grinsen vor drei Jahren zu ihrem dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte.

Ihre deutlich jüngere Schwester arbeitete, seit sie sechzehn Jahre alt war, als Model und war in puncto Mode absolut stilsicher. Die Schuhe hatte sie Stella mit den Worten überreicht: „Zeig, was du hast, jetzt erst recht!“ So einen Spruch konnten wirklich nur achtzehnjährige Models von sich geben, und Stella hatte er eher an den Achtzigerjahrefilm „Stirb langsam, jetzt erst recht“ denken lassen.

Ein von Stella noch am Vorabend zusammen mit Bernd selbst angefertigter Haarreif, mit Sternen aus glänzendem Goldtüll beklebt, sowie auffällige Goldglitterstreifen, die sich von den Augen zu ihren Schläfen zogen, komplettierten ihre Maskierung.

Bernd hatte recht behalten. Bereits die vergnügten, maskierten Gruppen, die sie auf der Fahrt hierher passiert hatte, ließen ihre Vorfreude auf einen ausgelassenen Partyabend steigen. Ihr Freund hatte sie mal wieder sehr geschickt aus ihrem selbst erwählten Kokon herausgelockt.

Bernd war für Stella die perfekte Schulter zum Ausheulen und ein Party-Animal in einer Person. Seit Jahren behielt er Stellas holpriges Liebesleben seufzend im Blick: mehrere längere, aber ziemlich belanglose Beziehungen während des Studiums, die nach dem Uniabschluss mehr oder weniger im Sande verlaufen waren, und nichts Nennenswertes, was danach passierte. Es hatte sie, ehrlich gesagt, auch noch nie einer so richtig „vom Hocker gefetzt“.

Durch den Aufbau ihrer Praxis war Stella wenig Zeit für Männer geblieben. Stella wusste, dass Bernd ihre leichte Fixierung auf ihn als männlichen Begleiter schon lange erkannt hatte. Schließlich war er Psychologe. Er versuchte ab und zu, sich zurückzuziehen, oder aber er startete fruchtlose Kuppelversuche. Andererseits hatte Bernd ein zu großes Herz, um Stella stehen zu lassen, wenn diese einen männlichen Begleiter suchte.

Den anerkennenden Blicken von drei vor dem Eingang rauchenden, sehr jungen Männern nach zu urteilen, sah Stella in ihrem zusammengewürfelten Sternenoutfit gar nicht so übel aus. Ihre Partylaune regte sich. Sie rückte den leicht verrutschten Haarreif zurecht, und mit einem Lächeln öffnete sie die Tür zu dem bereits rammelvollen Laden. Fast wäre sie wieder hinauskatapultiert worden, denn ihr scholl das kollektiv rhythmische Klatschen der grölenden Gästemenge zu einer der kölschen Karnevalshymnen, „Superjeilezick“ von Brings, entgegen.

Nachdem Stella sich aus dem einen Windfang bildenden schweren Vorhang geschält hatte, schlugen ihr saunamäßige Temperaturen entgegen. Der Atem der Feiernden kondensierte an den kalten Fenstern. Auffordernd auf die beschlagenen Fenster geschriebene Telefonnummern zerflossen langsam. Stella war froh über die viele freie Haut, die sie in dem trägerlosen Funkelkleid zeigte, denn die Temperatur in der Bar war fast dreißig Grad wärmer als draußen.

Zusammen mit der dröhnenden Musik und dem Gesumme der Stimmen, die diese übertönen musste, herrschte ein unglaublicher Lärm. Stella benötigte einen Augenblick, um anzukommen. Sie blieb kurz stehen und scannte die Menge nach einem bekannten Gesicht.

In diesem Moment kam auch schon Bernd, der Stella sofort geortet hatte, strahlend auf sie zu und tänzelte leicht euphorisiert um sie herum, wobei er kleine Pfiffe über ihr Aussehen von sich gab und vielsagende Blicke in Richtung Fenstertisch warf.

Stella konnte bei den Nebengeräuschen seine flüsternde Begrüßung kaum verstehen, folgte aber brav Bernds Blickrichtung. Sie wunderte sich, warum Bernd, der zwar nicht gerade hochgewachsen und eine klassische Schönheit, aber doch recht ansehnlich war, sich ausgerechnet in den dicklichen Rothaarigen verguckt hatte, der ihr gerade mit einem breiten Grinsen zuwinkte. Aber, wo die Liebe hinfällt!

Bernd umfasste ihre Taille und zog sie mit sich.

„Komm, ich stell dir den Mann mit dem unglaublichsten Lächeln der Welt vor.“ Bernd neigte zu solch blumigen Schwärmereien.

Stella hatte längst aufgegeben, seine himmelhochjauchzende Verherrlichung seiner neuen Errungenschaften dämpfen zu wollen. Wozu auch? „Das Leben ist zu kurz, um sich zu mäßigen!“, hatte Bernd ihr bisher immer entgegnet, und sie beneidete ihn insgeheim um diese naive Lebenslust.

„Hey, ich bin Marie!“, rief sie laut in Rorys Ohr. Der schaute sie verwirrt an.

„Marie? Ich dachte, Stella?“ Rory war Ire, und Stella bemerkte seinen charmanten Akzent.

Bernd grinste verliebt.

Stella neigte sich wieder vor und erklärte: „Ja, auch. Stella ist mein Spitzname seit der sechsten Klasse.“

Nach ein paar weiteren Sätzen, die sie mit Rory wechselte, korrigierte Stella ihren ersten Eindruck von ihm ganz schnell. Trotz des gebrochenen Deutschs schaffte es Rory, durch seinen Witz und seine vor Charme sprühende Ausstrahlung innerhalb kürzester Zeit, Stella so zu verzaubern, dass auch sie Rory richtig sexy fand. Nachdem die Unterhaltung ins Englische gewechselt war, hatte Stella keinen Zweifel mehr daran, wie toll Rory war. Stella freute sich aufrichtig für Bernd und zeigte diesem bei der nächsten Gelegenheit dezent hinter dem Rücken beide Daumen hoch, was Bernd stolz zu einem verliebten Strahlen brachte.

„Dein Kostüm ist umwerfend!“ Rory betrachtete sie beifällig.

Stella mochte das Kompliment und blickte Bernd dankbar an. So sexy hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Sie übertrieb es in letzter Zeit wirklich mit ihrem Arbeitspensum und dem abendlichen Einigeln auf ihrem Sofa. Aber gerade in diesem Moment fühlte sie sich in ihrer Haut so richtig wohl. Eine Woge des „Selbst-Bewusstseins“ durchflutete sie, und sie war froh, dass sie Bernd nachgegeben hatte. Kurz, der Abend konnte richtig losgehen! Und wie ginge das besser als mit einem kühlen Gin Tonic?

Ohne auch nur einmal getanzt zu haben, löste die hohe Luftfeuchtigkeit im Raum bereits ein kitzelndes Rinnsal unter ihrem recht schweren Strasskleid aus.

„Ich besorg mir mal was zu trinken!“, rief sie den Turtelnden mit einem leichten Nicken Richtung Bar zu und bahnte sich ihren Weg durch die ausgelassenen Narren.

Zorro

Zorro, der Rächer der Armen, betrat das Lokal Spielplatz, das ihm noch aus Partyzeiten seiner Jugend bekannt war. Dort war er zum „Vorglühen“ mit einigen Freunden verabredet.

Er schlängelte sich bei stampfenden Musikrhythmen durch die tanzende Menge und wollte gerade Michi in seinem Cowboydress begrüßen, als er belustigt feststellte, dass selbst seine engsten Freunde ihn hinter seiner Zorro-Maske kaum erkannt hatten. Die Gruppe, zu der noch Hannes mit seiner Freundin Babs gehörte, versorgte ihn direkt mit einer Stange Kölsch. Steven prostete den anderen zu.

„Mensch, Steven! Du siehst ja cool aus! Wir waren uns nicht sicher, ob du nicht doch noch kneifst. Und dann so stilecht! Wow!“ Hannes trat einen Schritt zurück, soweit das im Gedränge möglich war, und begutachtete das Kostüm.

„Ganz schön knapp, das Höschen“, brüllte Michi in diesem Moment in Richtung Steven und kniff ihm bekräftigend in die Pobacken.

Steven verdrehte die Augen.

„Ja, ist von meinem Vater. Seid froh, dass er’s mir geliehen hat, sonst wäre ich nicht gekommen.“

„Ach, red doch keinen Stuss! Das hättest du Gregor nicht antun können“, traf Hannes ins Schwarze.

„Sag mal, Alter: Muss ich mir Gedanken machen, wie

häuslich du wirst, wenn du noch länger mit deinem Vater zusammenwohnst?“

„Ich wohne nicht mit ihm zusammen“, betonte Steven, obwohl er wusste, dass Michi ihn nur aufzog. „Du weißt doch, dass wir das Haus so gestaltet haben, dass es sich um zwei völlig getrennte Wohnbereiche handelt.“

„Ja, die Hütte ist echt cool!“ Hannes nickte begeistert. „Vor allem die Idee mit dem gemeinsamen Patio zwischen euren Wohnungen gefällt mir.“

Michi blickte immer noch skeptisch.

„Ich sag dir was. Du könntest ja wieder mal ne Party machen. Dann überprüf ich das Ganze noch mal.“

Steven grinste. „Vielleicht zu meinem Geburtstag. Vorher schaff ich es nicht. Bei mir ist gerade zeitlich die Hölle los. Ich hab dir doch von dem kanadischen Wettbewerb erzählt. Sobald die Präsentation war, hab ich wieder ein wenig mehr Luft. “

„Das glaub ich erst, wenn es so weit ist.“ Michi prostete mit seinem Kölschglas Steven zu. „Ich kenn dich doch. Die letzten Jahre rotierst du zwischen Familienbetrieb und Wettbewerben. Und hast du nicht letztens noch überlegt, auch noch den Job an der Wuppertaler Uni anzunehmen?“ Michi schüttelte bei dem Gedanken ungläubig den Kopf. „Steven, du bist zwar einer meiner besten Freunde. Aber du bist eindeutig ein Streber. Kein Wunder, dass Anna irgendwann Reißaus genommen hat.“

Steven verschluckte sich fast an seinem Kölsch. Oh Mann, was war denn heute mit Michi los? Der war doch sonst nur auf Spaß aus. Steven runzelte die Stirn und überlegte, ob er verstimmt sein sollte. Das mit Anna war doch schon ewig her. War was dran an Michis Vorwurf? War er ein Streber?

Steven hatte nach seinem Abitur als jüngster Spross der „Berghoffs“ das Geschäft von der Pike auf gelernt, und die Kombination aus Geschmack und Verkaufstalent war ihm zweifellos in die Wiege gelegt worden. Nach ein paar Jahren war das für Steven zu wenig gewesen. Er wollte selbst kreativ sein. Einer Schreinerlehre folgte das Studium zum Industriedesigner. Sein Vater unterstützte nach anfänglicher Skepsis stolz den – für einen Berghoff – eigensinnigen Lebensweg Stevens. Und siehe da: Stevens innovative und außergewöhnlich ästhetische Entwürfe von Modulmöbeln brachten dem mit der Zeit eingeschlafenen Ruf des Möbelhauses internationale Anerkennung ein.

Aber war das nicht normal? Dass man sich in dem Beruf, den man liebte, überdurchschnittlich engagierte? Wem, außer Michi, blieb mit immerhin fast vierzig noch Zeit, nur „Fun“ zu haben?

Steven entschied sich, Michis Bemerkung zu übergehen, klopfte ihm nur kumpelhaft auf die Schulter und nutzte die Gelegenheit, noch einmal anzustoßen. Sie blödelten noch ein wenig rum, und Steven fing an, sich zu entspannen. Er taxierte die ausgelassen Feiernden und registrierte ein paar sehr lustige Outfits. Ein Glamrocker auf halsbrecherisch hohen Plateausohlen tanzte gerade an ihm vorbei. Auch Michi hatte ihn entdeckt und wechselte ein belustigtes Grinsen mit Steven.

Hannes stöhnte. „Mann ist mir heiß!“ Hannes hatte sich ein dickes Kissen unter einem weißen Betttuch um den Bauch geschnallt und ging als sonnenbebrillter Scheich.

Steven nickte. Ja, es war megalaut hier und extrem heiß. Von den beschlagenen Fensterscheiben triefte Kondenswasser.

„Babs geht übrigens als Computernerd“, fügte Hannes grinsend hinzu und deutete auf seine Freundin, die eigentlich aussah wie immer. Steven betrachtete sie.

„Ich wusste gar nicht, dass Computernerds rote High Heels tragen. Sexy!“ Babs zog eine Grimasse und schlug spielerisch nach ihm.

Stern und Zorro

Stella genoss das ihr wohlbekannte Treiben, und so war sie bis zu ihrem Ziel in mindestens drei Geplänkel über lustige Kostümierungen verwickelt und absolvierte ein sirtakiartiges Kurztänzchen mit drei als Handys verkleideten Japanern.

Sie lachte fröhlich und rückte nochmals das Sternenhaarband zurecht, während sie sich der Bar näherte. Hm, da war einiges los. Gut, dass sie in ihren High Heels recht gut über die Köpfe der Menschentraube spähen konnte, die sich für eine Erfrischung angestellt hatten.

Obwohl oder gerade weil fünf Barkeeper im Einsatz waren, ging es her wie an der New Yorker Börse. Um Stella herum bestellten zuckende Finger mit geheimen Handzeichen Richtung Bar einen Drink nach dem anderen. Stella schob sich ein wenig nach vorne und fixierte den ihr am nächsten stehenden Barkeeper.

Als Steven wieder den Blick von Babs’ Schuhen hob, sah er sie. Ein engelhaftes Wesen in einem luftigen, funkelnden Kleid entwand sich gerade lachend aus der Sirtaki-Umarmung einer Gruppe als Handys verkleideter Japaner. Stevens Kehle wurde schlagartig trocken, und er konnte nur wie gebannt auf die Frau starren. Es ließ sich nicht logisch erklären, was ihn so fesselte.

Sie war jünger als er. Steven schätzte sie auf Anfang dreißig. Blonde Locken, auf denen ein entzückender Sternenreif saß, umrahmten ein hübsches Gesicht. Er sah sehr ansehnliche Beine, die durch halsbrecherisch hohe, goldene Pumps vorteilhaft gestreckt wurden. Das war es allerdings nicht, was Stevens Blick so bannte. Vielmehr war es die unbändige Lebensfreude und Souveränität, die diese außergewöhnliche Frau ausstrahlte.

„Stern!“, wisperte es unvermittelt in seinem Kopf. Sein Herz fing wild zu hämmern an. Er schaute rasch auf das Kölschglas. Nein, am Bier konnte es nicht liegen, das war sogar noch halbvoll. Steven versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Gut erkannt, Steven, sie ist eindeutig als Stern kostümiert, zog er sich selbst auf. Gleichwohl konnte er seinen Blick nicht von ihr abwenden.

Die Sternenfrau strich sich in einer unbeschwerten, sehr weiblichen Geste ihr Haar zurecht, bemerkte dabei, wie ihr Haarreif mit den goldenen Tüllsternen verrutscht war, und richtete diesen mit einem entzückenden kleinen Seufzer wieder zurecht. Letzteren konnte Steven zwar im Toben der Menge nicht hören, jedoch an ihrem lächelnd gespitzten Mund und dem kurzen Rollen ihrer unbeschreiblich blauen Augen erahnen.

Diese kleine Geste weitete sein Herz, und schlagartig fühlte er ein unbändiges Verlangen, diese Frau zu halten, zu beschützen, zu riechen und zu schmecken. Wie in Trance fühlte er sich von ihr angezogen.

„Einen Gin Tonic, bitte.“ Stella brüllte, hatte ihre Hände sogar trichterförmig vor dem Mund zusammengefasst, um ihre Stimme zu verstärken.

Der Mann hinter der Bar war zwar mit seinem eindeutig regelmäßig trainierten Body, den das eng anliegende Muscle-Shirt betonte und dabei ein recht eindrucksvolles Drachen-Tattoo offenbarte, ohne Zweifel ein attraktiver Mann. Sein mürrischer Gesichtsausdruck, der sich umso härter von denen der karnevalsseligen Gäste abhob, führte aber zu einem Abzug in der B-Note.

Wie erwartet, reagierte er nicht auf Stellas Bestellung. Stella taufte den Typen insgeheim „Fred“.

„Fred“ und „Toni“ waren Stellas Lieblingsnamen für Menschen, die ihr das Leben schwer machten. Diesen lustige Namen zu verpassen, besonders Namen von knubbeligen Comicfiguren, dämpfte im Regelfall Stellas Adrenalinspiegel. Diese Methode der Wutbekämpfung gab Stella auch gerne an ihre Klienten weiter. Leider klappte sie nicht richtig beim Streit mit Familienmitgliedern, allen voran mit Rolf, ihrem Vater. Aber zurück zu Fred.

„Hey, wer zuerst lächelt, hat verloren!“

Die gut gelaunte Stella konnte sich diesen Spruch nicht verkneifen, bereute dies aber bitter, als der mürrische Typ sie fast mit seinem Blick getötet hätte und sich wortlos an einen anderen Teil der Bar begab.

„Dann eben nicht.“ Sie zuckte die Achseln und peilte die nächste Bedienung, diesmal weiblich, an, die Stella jedoch ebenso stur ignorierte wie Fred zuvor.

„Hätte ich die Fortbildung in Hypnosetherapie doch gebucht, dann könnte ich diese Trulla jetzt dazu bringen, mich anzuschauen“, sinnierte Stella. Sie versuchte es trotzdem und skandierte innerlich mit OM-Stimme: „Schau mich an, schau mich a-han-n!“ Doch die Frau bewegte nicht einmal ihren Kopf in Stellas Richtung.

Die Sternenfrau stand mittlerweile mit dem Profil zu ihm an der Bar und versuchte – offensichtlich erfolglos – bei einem mürrisch dreinblickenden, tätowierten Kerl einen Drink zu bestellen. Steven konnte, wie durch ein Mikroskop vergrößert, sehen, wie sich die zarten Sommersprossen ihrer Nase leicht kräuselten, als der Barkeeper sich von ihr

abwandte. Sie versuchte ihr Glück nun bei einer Barfrau.

Magnetisch angezogen, trat Steven hinter die Frau, sodass er ganz dicht bei ihr stand. Er fühlte ihre Wärme und konnte einzelne leicht verschwitzte Locken in ihrem Nacken ausmachen, die dem Sternenhaarreif entkommen waren. Steven musste sich gewaltsam zusammenreißen, sein Gesicht nicht in das wirre Sternenhaar zu pressen und diese blonden Löckchen zwischen seinen Lippen zu spüren.

Stella hatte keine Gelegenheit, genervt zu reagieren. Denn genau in diesem Moment scherte der DJ aus den üblichen Karnevalsliedchen aus und spielte doch tatsächlich „Cantaloop“, eines von Stellas absoluten Lieblings-Tanzliedern und sicherlich „das Lied“ von Bernd und ihr, auf das sie beide bereits zu Studienzeiten abgegroovt hatten. Freudestrahlend wandte sich Stella beim ersten Refrain von „Funky, Funky“ Richtung Rory und Bernd, um wenigstens einen kurzen, verständnisinnigen Blickkontakt mit Bernd herzustellen.

Aber anstatt einen freien Blick auf die Kneipe zu haben, trafen Stellas Augen auf einen dunklen Trikotstoff mit geschnürtem Ausschnitt, aus dem schwarzer Brustflaum blitzte, der eindeutig zu einem großen männlichen Wesen gehörte.

Unerwartet drehte sie sich zu ihm um. Nur wenige Zentimeter trennten sie. Auf ihrem Gesicht lag ein begeistertes Strahlen. Sie wollte augenscheinlich jemand anderem im Raum etwas mitteilen. Abrupt hielt sie inne und fixierte seine Brust. Die Sternenfrau hob leicht verblüfft den Kopf und starrte nun auf seinen Mund, während sich ihre Nasenflügel zart blähten, als würde sie schnuppern.

Steven hatte nun direkten Blick auf ihr Gesicht. Gott, wie konnten diese süßen, vollen Lippen eine solch überirdische Anziehungskraft haben? Der Drang, endlich in ihre Augen zu schauen, wurde übermächtig. Doch die Frau schien ihren Blick nicht von seinem Mund lösen zu können, was sein Herz in törichter Hoffnung aufflackern ließ. Er lächelte unwillkürlich, und sein Gehirn suchte fieberhaft nach etwas, das er ihr sagen konnte. Aber in diesem Moment fiel ihm absolut nichts ein. Er war definitiv aus der Übung.

Stella hob langsam den Blick. Die definierten, hingegen nicht aufgepumpten Muskeln, die sich unter dem Trikotstoff abzeichneten und ihr sehr nah waren, irritierten sie leicht. Während sie in einem vagen Reflex noch darüber nachgrübelte, ob die Muskeln in das Kostüm eingenäht oder echt waren, war sich Stella schlagartig ihrer hellwachen Sinne, ihres Herzschlags und ihrer Atmung bewusst. Absurderweise schienen sämtliche Laute, außer dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren, gleichzeitig gedämpft zu sein.

Hatte irgendjemand den Ton leiser gedreht? Ihr Gehirn war aber nicht in der Lage, darüber nachzusinnen, wohin der Trubel so schnell hatte verschwinden können. Trotz des Tropenklimas überzog eine Gänsehaut ihren Körper. Sie löste schwerfällig den Blick von der männlichen Brust und starrte eine gefühlte Ewigkeit auf ein markantes Kinn und einen sehr sinnlich wirkenden Mund.

„Zorro“, konnte sie nur tumb denken, denn außer dem Kinn waren unter einem breitkrempigen schwarzen Filzhut nur ein paar dunkle Haare auszumachen. Der Rest des Gesichts des Unbekannten war von einer schwarzen Maske verdeckt.

„Es ist der Duft“, registrierte Stella in der hintersten noch funktionierenden Ecke ihres anscheinend ausgesetzten Gehirns. Und tatsächlich. Obwohl die jeden Geruch übertünchenden Eindrücke des wilden Gemischs aus tanzenden Leibern und verschüttetem Bier es eigentlich unmöglich machten, nahm sie einen unglaublich intensiven, erotischen Geruch nach Mann wahr, der nur von ihrem Gegenüber kommen konnte und ihre sämtlichen Hormone sofort verrücktspielen ließ.

Der sinnliche Mund, den sie unverwandt anstarrte, verzog sich erst zu einem charmanten Lächeln und formte dann ein paar Wörter. Sie nahm das so erstaunt wahr, wie ein Kind ein begehrenswertes Spielzeug angaffte, das sich plötzlich und unerwartet bewegte. Sie konnte ihren Blick nicht von diesen Lippen lösen.

Bevor Steven es selbst steuern konnte, verließen die spontanen Worte „Schön, dass du da bist!“ seinen Mund.

Er erschrak kurz über seinen Mut, den sie wahrscheinlich als plumpe Anmache abtun würde, und so grinste er schief in Erwartung einer brüsken Reaktion. Doch sie schien ihn nicht gehört oder verstanden zu haben. Erleichterung über die zweite Chance durchflutete ihn. Er hob zwei Finger unter ihr Kinn. Es wirkte so hell und zart in seiner großen Hand, und doch war ihr Gesicht bei näherem Hinsehen mit den zarten, reifen Linien einer erfahrenen und charakterstarken Frau gesegnet.

Die leichte Berührung reichte aus, einen wohligen Schauer in ihm auszulösen. Wie gerne wollten seine Hände ihr Gesicht umschließen und sie an sich reißen. Das durfte doch nicht wahr sein! Er fühlte sich wie ein hormongefluteter Fünfzehnjähriger!

Der Mund schmunzelte wieder. Diesmal leicht schief, gekräuselt nannte man das wohl. Etwa belustigt? Auf einmal fühlte Stella, wie ihr Kinn von zwei Fingern federzart von unten angehoben wurde, sodass ihr Blick auf die Augen des Maskierten fiel.

Endlich sah ihm die Sternenfrau in die Augen. Er sah in den ihren leichtes Erstaunen, das sich auch in seinen spiegeln musste. Da entsann er sich: Sie konnte seine Augen wegen der Maskierung wahrscheinlich kaum erkennen, denn er war ja „el Zorro“. Diese Erkenntnis gab Steven den Mut, endlich seinem inneren Drängen nachzugeben. Er beugte sich vor und wagte es, seine Wange an den zarten Flaum ihres Gesichts zu schmiegen.

Obwohl Zorros Finger sie kaum berührten, schienen kleine elektrische Schwingungen von ihnen auszugehen, die sich langsam Stellas Hals hinabbegaben.

Der Fremde neigte sich, ohne die Finger von ihrem Kinn zu nehmen, zu ihr hin und brachte damit einen weiteren Schwall dieses unglaublichen Duftes näher. Ein Hauch von Sandelholz? Nein, Vetiver! Das musste es sein und noch etwas Ursprüngliches, unzweifelhaft sein eigener Duft. Dieser Duft löste in Stella in unerwarteter Weise das Gefühl von Frieden und stillem Glück aus. Fast so, als würden zwei Dinge nach langer Zeit endlich zusammengefügt werden.

Stella hatte seine Annäherung wie in Zeitlupe wahrgenommen. Seine Lippen befanden sich ganz nah an ihrem Ohr und sagten weitere Worte. Sein Flüstern neckte sämtliche Härchen in ihrer Ohrmuschel. Ihr Mund wurde trocken, und ein lang vermisstes Ziehen im Unterleib verbreitete seine Hitze. Stella fühlte seine weiche Haut an ihrer Wange, und ihre Knie wurden fast zu schwach, um sie in den goldenen High Heels noch länger zu tragen.

Er war ihr so nahe, dass er den Duft ihrer Haare in sich aufnahm. Ihre rechte Brust wölbte sich zart gegen den Trikotstoff an seinem Oberkörper. Seine Worte an ihrem Ohr erregten sie anscheinend, denn ihre Brustwarze reckte sich auf einmal deutlich erhärtet gegen seine Seite.

Wieder überkam Steven dieses animalische Begehren. Ein Gefühl, das er schon viel zu lange – wenn überhaupt jemals in dieser ursprünglichen Form – nicht mehr bei einer anderen Person gefühlt hatte. Was war nur los heute Abend? Was war anders an dieser Frau?

Er richtete sich rasch auf, damit sie seine eigene körperliche Reaktion auf sie nicht allzu offensichtlich an ihrer Hüfte spürte. Verfluchtes eng anliegendes Trikot!

Sie stützte sich mit ihrer rechten Hand auf seiner Brust ab. Er schloss kurz die Augen, weil die Wärme ihrer Hand auf seiner Brust seine Atmung beschleunigte und fiebrige Impulse in seine Lenden sandte. Dann konnte er ihr ansehen, dass sie seine Worte vernommen hatte und offensichtlich deren Bedeutung verarbeitete.

Stella atmete keuchend aus und griff Halt suchend an den Brustkorb des Fremden. Während sie dabei noch registrierte, dass die Muskeln nur echt sein konnten, setzte ihr Bewusstsein endlich Stück für Stück die Worte Zorros zu einem Satz zusammen.

„Hallo, schöner Stern. Darf ich dir zu Diensten sein?“

Die Hitze, die Stella in diesem Moment durchflutete, spiegelte sich in ihren geröteten Wangen. Mehr als ein krächzendes „Hä?“ brachte sie nicht zustande. Der Mund des schwarz gekleideten Fremden lächelte wieder zuckersüß.

Mein Gott, Stella! Reiß dich zusammen, du bist erwachsen, du bist erfolgreiche Psychotherapeutin, das ist Köln und kein Kitschfilm!!, ermahnte sie sich innerlich und lockerte ihre Schultern.

„Wie bitte?“, wiederholte sie gesitteter.

„Also … du hast Probleme, einen Drink zu bestellen? Soll ich es mal versuchen?“

Stella nickte baff und holte tief Luft. Langsam erwachte sie aus ihrer Trance, nahm wieder die Musik und die anderen Menschen in der Bar wahr, obwohl sie sich immer noch seltsam benommen fühlte. Was geschah hier gerade? Unglaublich, dass immer noch dasselbe Lied lief. Sie hätte schwören können, es wären mindestens zehn Minuten seit dem Beginn von „Cantaloop“ vergangen.

„Was trinken Sterne denn so? Bier?“

Stella lachte. „Ach so! Ähm. Nein. Ich wollte eigentlich einen Gin Tonic.“

„Wird sofort geliefert“, verneigte sich Zorro kurz in Stellas Richtung. Bevor er sich jedoch dem Tresen zuwandte, hielt er kurz inne und fixierte Stella mit seinen maskierten Augen. „Darf ich den Namen des schönen Sterns erfahren?“

Stella strahlte unwillkürlich. „Ganz einfach: Nenn mich Stella.“

„Stella?! So, so“, wiederholte er leicht schmunzelnd und gab dann, eine Hand über dem Herzen und seinen Arm in einer ausladenden Verbeugung schwenkend, zurück: „Gestatten, Zorro, der Rächer der Armen!“

Während sich Zorro um ihren Drink kümmerte, konnte Stella sich etwas erholen. Was war das denn?, fragte sie sich. Sie versuchte, ihn nicht zu sehr anzustarren, während sie beobachtete, wie er auf Anhieb von der Trulla bedient wurde, die ihm natürlich ein strahlendes Lächeln schenkte. War ja klar.

Macht der jede Frau so an?, dachte Stella und spürte einen albernen Anflug von Enttäuschung.

Aber selbst mit Abstand konnte sie sich der Anziehungskraft seines eindrucksvollen Körpers nicht entziehen. Verstohlen schielte sie in seine Richtung: breite Schultern, dunkles, volles Haar, das zwischen Umhangkragen und Hut hervorblitzte. Als sie den Blick senkte, musste sie scharf einatmen, denn nun konnte sie die muskulösen Beine und vor allem den wohlgeformten Hintern in dem eng anliegenden Kostüm bewundern. Ihre Hände erinnerten sich sofort an das Gefühl seiner harten Brust und gierten danach, auch andere Stellen seines Körpers zu erkunden. Das konnte doch nur ein Traum sein?

Wie oft war sie mit ihrer Freundin Julia aufgebrezelt um die Häuser gezogen, um das Angebot auf dem männlichen Markt zu sondieren, und war einem Flirt oder sogar mehr nicht abgeneigt gewesen. Aber alles, was sie und Julia an solchen Abenden „anfuppte“, waren mickrige Exemplare ohne Body und Esprit.

„Fuppen“ nannten Julia und sie – angelehnt an das saugende Geräusch, das man dann meinte zu hören – das Phänomen, wenn Männer sich innerhalb von Minuten um eine allein in einer Bar sitzende Frau mit dem „gewissen Extra“ scharten. Nicht gerade selten hatten sich Julia und Stella daraufhin, lachend aber auch enttäuscht, fluchtartig aus einer Bar laviert. Wenn Stella sich dann am Ende des Abends aus ihrer Spitzenunterwäsche pellte, die sich leider nicht amortisiert hatte, hatte sie einen frustrierten Seufzer über die öde Männerwelt nicht unterdrücken können.

Und jetzt so etwas! Und dann noch in der passenden Verkleidung, die sämtliche körperlichen Vorzüge definierte. Und dabei hatte sie noch nicht einmal nach einem Mann gesucht. Hatte sie nicht heute Nachmittag noch zu sich gesagt, dass sie mit ihrem gemütlich dahinfließenden Leben sehr zufrieden sei?

Stella schüttelte ungläubig den Kopf.

„Magst du doch keinen Gin, Stella?“

Zorro reichte ihr amüsiert lächelnd ein Longdrinkglas. Ertappt, weil sie immer noch seine Hüfte fixierte, schaute Stella ihn an und nahm das kühle Glas entgegen. Reflexartig hielt sie sich das Gefäß an ihre erhitzte rechte Wange und lächelte ihn dankbar an.

„Wie hast du das denn so schnell geschafft?“

„Zorro hat eben seine Tricks – Berufsgeheimnis.“ Bedeutsam neigte er den Kopf.

Stella hätte ihm zu gerne die Zorro-Maske abgenommen, um endlich sein ganzes Gesicht, vor allem aber seine Augen zu sehen. Nervös und auf einmal unbeschreiblich durstig, sog Stella am Strohhalm. Der Drink war gut, wenn die Trulla es auch mit dem Alkoholanteil ein wenig zu gut gemeint hatte. Bereits nach dem ersten tiefen Zug, als sie den wacholdrigen Geschmack auf ihrer Zunge schmeckte, fühlte sich Stella beschwipst. Ihr ganzer Körper vibrierte, und ihr sonst so analytisches Denken fühlte sich leicht wattiert an.

Zorro stand wieder verteufelt dicht vor ihr. Er hatte sich ein Glas Bier besorgt, und Stella wurde gewahr, dass er wohl mit ihr anstoßen wollte.

„Oh, entschuldige, bitte!“

Sie stieß ihr Glas sachte an seines und musterte ihn. Er wirkte auf einmal sehr ernst und, obwohl er diesmal die Stimme nicht hob, hörte Stella genau, was er sagte.

„Auf Sternschnuppen und Weltverbesserer!“

Stellas Knie wurden weich. War das wirklich so poetisch, wie es sich anhörte, oder war sie total neben der Spur?

„Ja, genau!“, war alles, was sie mit ihrem aufgeweichten Hirn von sich geben konnte.

Rasch zog sie ein zweites Mal an ihrem Strohhalm und war froh, sich an dem Glas festhalten zu können. Genau diesen Moment wählte der überwiegende Teil der Barbesucher, um einstimmig auf den Refrain des Toy Doll Songs „Nellie the Elephant“ krähend eine Pogo-Polonaise abzuhalten. Stella wurde samt Glas gegen Zorros breite Brust gedrückt und verschüttete es halb in den Ausschnitt seines geschnürten Trikots. Er fing sie auf und zog sie, während er ihre Gläser rasch auf einem Tisch loswurde, lachend in seiner Umarmung Richtung Ausgang.

Sternenhimmel

Ehe sie sich versah, stand Stella, immer noch in den Armen ihres Kavaliers, in der eisigen Kälte auf dem kleinen Platz, den die Straßenecke vor der Bar bildete. Die Musik war durch die geschlossene Tür nur noch gedämpft und vornehmlich als Bass zu hören. Eng in den Schatten der Hauswand geschmiegt, knutschte, unterbrochen von leisem Gekicher, eine Biene Maja mit einem japanischen Handy.

Das Licht des angestrahlten Lokalschilds warf einen langen Hutschatten über Zorros Gesicht. Sein Duft hier draußen an der frischen Luft war jetzt intensiver als vorher. Stella schlug ihr Herz schon wieder bis zum Hals, und ihre Handflächen wurden vor Aufregung ganz feucht.

Wenn das so weiterging, falle ich noch irgendwann in Ohnmacht, dachte sie. Eine verhaltene Stimme in ihrem Hinterkopf warnte: „Du kennst den Typen doch gar nicht. Der ist doch viel zu schön. Das gibt nur Probleme.“

Stella hatte Männer, die sie schön fand, bisher möglichst vermieden. Unvermittelt befangen löste sich Stella abrupt aus seiner Umarmung, vermisste aber sogleich die Wärme, die seine Nähe ihr gegeben hatte. Sie rieb sich unbewusst die nackten Arme. Zorros Mund zuckte leicht bedauernd. Dann besann er sich, knotete seinen schwarzen Umhang auf und legte ihn um Stellas fröstelnde Schultern.

„Hier!“ Nur zögerlich löste er seine Hände wieder von ihr.

Stella war leicht überrumpelt von dieser achtsamen Geste, spürte aber doch, dass ihr verräterisches Herz ihm umso mehr zuflog. Wie der wahre Zorro schien auch dieser Mann ein rarer Gentleman zu sein.

„Greif zu, Stella!“, hörte sie eine drängende Stimme in ihrem Kopf. „Es ist Karneval und überhaupt: Wo findet man heute noch einen solch aufmerksamen und dazu noch so attraktiven Mann? Und noch dazu ungebunden.“

Da mischte sich eine andere Stimme ein: „Moment mal, ob er ungebunden ist, steht doch noch gar nicht fest!“

„Stopp, nicht so viel denken, genießen!“, übertönte die erste Stimme die zweite.

„Bist du Schauspieler und beherrschst Method Acting, Zorro?“, fragte Stella betont cool, als sie auf die Schauspielmethode anspielte, bei der die Rolle konsequent verkörpert wird.

Zorro stutzte, warf den Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Ein sehr schönes Lachen, wie Stella fand. Tief, kehlig und ehrlich. Stella schaute fasziniert auf seinen wohlgeformten Hals und die jetzt vorgereckte, leicht vibrierende Kuhle am Halsansatz. Diese Stelle fand sie ohnehin eine der anziehendsten am männlichen Körper. Unweigerlich dachte sie an eine andere Lieblingsstelle und fragte sich im Bruchteil einer Sekunde, ob seine Leistengegend zwischen Oberschenkel und Hüfte wohl ebenso muskulös und dabei glatt und seidig war wie diese Vertiefung zwischen Brust- und Halsmuskeln.

Stella konnte sich selbst nicht erklären, wie dieser Fremde es geschafft hatte, ihren jahrelang sorgsam hochgezogenen inneren Damm anzukratzen. Weshalb nur war sie so erotisiert? Stella seufzte, nein, stöhnte schwach.

Zorro verharrte und schaute weiterhin nach oben, dann reagierte er auf ihren Laut und atmete hörbar tief ein. Wie in Zeitlupe legte er erneut seine Hand unter ihr Kinn, was fast schon eine vertraute Geste zu sein schien, und schob ihren Kopf nach hinten, sodass sie in den Kölner Nachthimmel blickte.

„Umgeben von so vielen Sternen muss ich gar nicht spielen, wo doch der schönste Stern bei mir strahlt. Schau dir deine Geschwister an, Stella!“

Soweit Stella das gegen das schummrige Straßenlicht ausmachen konnte, war der Himmel über Köln diese Nacht tatsächlich sternenklar. Während sie sich noch fasste und ihr Verstand abzuwägen versuchte, ob das nun Kitsch oder Romantik war, neigte sich Zorro vor, und sein Mund näherte sich bedachtsam dem ihren. Stella blickte in das schattige Gesicht des Fremden. Alle ihre Sinne spannten sich an. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Trotz des Umhangs zog sich eine Gänsehaut ihren Unterarm hinauf. Sie sah alles überdeutlich scharf und fühlte sich gleichzeitig seltsam entrückt. Sein Duft – sie schien süchtig danach. Dabei kannte sie ihn doch erst seit knapp fünf Minuten ...

Ihr Verstand, der „Verrückt, verrückt!“ hämmerte, hatte jedoch keine Chance mehr. Zorro würde sie tatsächlich gleich küssen. Und sie war mehr als bereit, dies zu erwidern. Stella leckte leicht ihre Lippen und reckte sich ihm sacht entgegen. In diesem Moment öffnete sich die Tür des Lokals, und eine Gruppe lachender Menschen strömte heraus.

„Alter, hier bist du, du Schwerenöter! Wir suchen dich überall“, rief einer von ihnen.

Der Zauber verflog.

Zorro wandte sich dem Sprecher zu und sagte mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme: „Mensch, Michi, dein Timing war schon immer grottig.“

Stella erblickte einen blonden, schlaksigen Cowboy sowie einen neugierig blickenden Scheich, der eine sympathische schwarzhaarige Frau, deren Verkleidung Stella unter dem Mantel nicht erkennen konnte, im Arm hielt. Der Cowboy hob fragend die Augenbrauen und machte eine wenig dezente Kopfbewegung in Stellas Richtung. Zorro seufzte, und Stella vermisste schmerzlich die intime Zweisamkeit, die soeben noch so präsent gewesen war.

„Darf ich vorstellen: Stella! Stella, das sind meine lästigen Freunde Michi, Hannes und Babs.“

Stella blickte einem nach dem anderen in die Augen und nickte leicht. Der Cowboy klopfte Zorro grinsend auf die Schulter, wobei er Stella anerkennend ansah.

„Du, wir gehen jetzt zu Gregor. Wie sieht’s mit dir aus?“, fragte Hannes.

Zorro blies die Luft durch die Lippen und lächelte schief zurück.

„Tja, um ehrlich zu sein, hab ich hier noch eine Mission. Ich komm später nach.“

Vielsagend schaute Hannes ihn an. „Okay. Aber mach nicht zu lange. Du weißt doch, wie wichtig es Gregor ist.“

Die drei winkten Stella und Zorro zu und überquerten lachend den Ubierring.

„Eine Mission also?“ Stella schaute fragend auf Zorro.

Nicht im Geringsten beschämt, strahlte er sie an. „Ja, ich muss dich noch davon überzeugen, dass du mit mir mitgehst.“

Stella glaubte, sie würde nicht richtig hören, und runzelte leicht die Stirn.

„Nein!“, stellte er sogleich klar. „Doch nicht so, wobei ...“ Eine eindrucksvolle Kunstpause lang musterte er sie interessiert. „Ein guter Freund von mir, Gregor, organisiert Events und veranstaltet heute im Alten Wartesaal eine Megaparty. Das wird bestimmt toll. Aber, um ehrlich zu sein, kann ich mir gerade nicht vorstellen, irgendetwas anderes könnte das hier toppen.“

Er grinste sie wieder so zauberhaft schief an, dass ein sanftes Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern hinablief.

„Auf jeden Fall nähme es mir Gregor sehr übel, wenn ich seine Party schwänzen würde. Und für dieses Dilemma gibt es nur eine Lösung: Du musst mit mir mitkommen.“ Er sah sie erwartungsvoll an.

Der Satz hing in der Luft, und Stella war so überrumpelt, dass sie erst einmal nichts sagen konnte.

„Ich weiß, wir kennen uns nicht ...“ Er zögerte, schien über etwas nachzudenken und blickte ihr geradewegs in die Augen. „Vielleicht kennen wir uns doch ...?“ Er schüttelte leicht den Kopf, hob wie zur Bekräftigung seiner Worte seine Hand und legte sie auf ihren Unterarm. „Wie dem auch sei: Ich würde mich sehr, sehr freuen, wenn du mitkämst.“

Stellas Verstand hatte während seiner Worte zuerst bei dem „wobei ...“ eingehakt. Das Nachgrübeln darüber ließ sie dann rasch links liegen, als Zorro zu der Stelle mit dem „Vielleicht kennen wir uns doch?“ gekommen war. Noch ehe ihr Intellekt diese Information einordnen konnte, spürte sie nur noch die Wärme seiner Hand auf ihrem Arm, und zugleich rief ihr Mund, getrieben von ihrem verräterischen Herzen und etwas zu atemlos: „Ja, gerne!“

Als sich Stella dieser mutigen Ungeheuerlichkeit bewusst wurde, stahl sich ein unsicheres Lächeln in ihre Züge. Sie war sonst nicht so spontan. Eigentlich hatte sie es ganz gerne, wenn das Leben vorhersehbar verlief. So hatte sie es die letzten Jahre gehalten, und es war gut so. Sie fühlte sich einfach sicherer. Auch wenn einige ihrer Freunde, allen voran Bernd und Julia, sie deswegen gerne als „Spießerin“ bezeichneten, ließ Stella sich nicht darin beirren. Ihren Freund Bernd stehen zu lassen und mit einem völlig Fremden – zugegeben einem sehr anziehenden, charmanten Fremden – mitzugehen, gehörte definitiv nicht zu diesem Lebensplan. Hinzu kam: Was sollte dieser Mann nur von ihr denken? Dass sie sehr leicht zu haben war? Es vielleicht sogar nötig hatte? Oh weh!

Zorros offensichtlicher Freude über ihre Antwort nach brauchte sie sich aber nicht weiter zu grämen. Kurz wirkte es sogar so, als wollte er sie vor Überschwang mit beiden Händen an der Hüfte fassen und hochheben. Dann schien er sich zu besinnen und nickte mehrmals hintereinander.

„Gut, das ist sehr gut!“

Stella löste seinen Umhang von ihren Schultern und gab ihn zurück. Mit der rasch gemurmelten Erklärung „kurz meinen Mantel holen“ und „Bescheid sagen“ wandte sie sich fast flüchtend ab und betrat wieder die Bar.

Nur ein Flirt im Karneval

Steven blickte ihr durch die Glastür nach. Als sie in der tanzenden Menschenmenge verschwand und der Vorhang des Windfangs sich schloss, fehlte sie ihm sofort schmerzlich, und er musste tief einatmen, um es zu ertragen. Nun fröstelte auch er leicht. Er schaute sich um. Das knutschende Paar war verschwunden, und an deren Stelle flachste jetzt eine Gruppe Raucher vergnügt miteinander.

Er legte wieder den Kopf in den Nacken und schaute seinem dampfenden Atem Richtung Sternenhimmel nach.

„Stern, was tust du mit mir? Was willst du von mir? Vor allem: Warum jetzt?“, fragte er sich still.

Die letzten Wochen hatte er sich voll auf den Designwettbewerb konzentriert. Im kommenden Monat sollte die Präsentation der Entwürfe in Toronto stattfinden. Er hatte schlicht überhaupt keine Zeit für „so etwas“. Was also sollte dieses übermächtige Gefühl, das ihn erfüllte? Er wagte kaum, den Schritt weiter zu denken und sich einzugestehen, was es sein könnte.

Dennoch stand ihm mit einem Mal das Bild seines Vaters vor Augen, wie dieser leidenschaftlich versucht hatte, Steven klarzumachen: „Man weiß einfach, wenn es die Richtige ist!“

Aber das war doch Unsinn. Er kannte diese Frau doch überhaupt nicht, wusste noch nicht einmal ihren richtigen Namen. Wenn es hochkam, hatten sie zehn Sätze miteinander gewechselt. Was, wenn sie unbeschreiblich dumm war? Warum war sie ohne Mann hier? Da musste doch was faul sein? Oder hatte sie etwa einen? Vielleicht sah sie ihn nur als Karnevalsflirt – was er im Übrigen auch tun sollte! Vielleicht war es das jetzt auch gewesen, und sie ließ ihn hier einfach stehen.

Steven konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, seit die Sternenfrau ihn verlassen hatte. Mit einem Anflug leichter Unruhe schaute er auf die Eingangstür. Die Raucher befanden sich noch an Ort und Stelle, und der Musikrhythmus hämmerte weiter. Eine unangenehme Windböe zerrte an seinem Umhang.

Stella hastete in das warme, stickige Lokal und fühlte sich wie ein fremdes Wesen inmitten der ausgelassen feiernden Menschen. Während sie sich durch die Menge schob, um zu Bernd zu gelangen, hielt sie zum ersten Mal inne und ermahnte sich dazu, das Geschehene logisch zu erfassen und zu systematisieren, wie sie es immer bei den Anliegen ihrer Klienten tat.

Unzweifelhaft fühlte sie sich von diesem gut aussehenden Unbekannten sexuell angezogen. Das war ja bloß Chemie. Pheromone, auf die ihre Hormone reagierten, konnten aber doch nicht erklären, weshalb es sie so unfassbar stark zu ihm hinzog. Schließlich war sie kein Teenager mehr und hatte bereits einige Beziehungen hinter sich. Aber noch nie, nein, wirklich niemals, war ihr jemand auf Anhieb so vertraut gewesen, fühlte sie sich einem Mann so zugehörig. Sie ließ bei ihm alle Errungenschaften der modernen, emanzipierten Frau sausen und wollte nur von ihm beschützt und gehalten werden. Und dabei pumpte ihr gieriges Herz Unmengen von Hitze in ihren Unterleib, sodass Stella an sich halten musste, ihn nicht anzuspringen, mit ihren Beinen zu umschlingen, sich an seinem engen Trikot zu reiben und ihren Mund keuchend auf seinen Hals zu pressen.

Stella wankte leicht, entsetzt über diesen Gedanken. Das kannte sie, die allzeit Beherrschte, von sich nicht. Wie gut, dass eines der japanischen Handys sie rasch stützte. Bevor der Typ sie wieder in ein Tänzchen verwickeln konnte, entklettete sie sich schnell und erreichte schwer atmend den Tisch von Bernd und Rory.

„Darling“, rief Rory sofort, „Was ist denn mit dir passiert?“

Bernd umrundete umgehend den Tisch und nahm sie besorgt in den Arm, während er sie fragend musterte.

„Das wüsste ich ehrlich gesagt auch gerne“, murmelte Stella. Sie straffte sich, vermied Bernds Blick und versuchte, in möglichst nüchternem Ton zu sagen: „Hört zu! Ich habe jemanden kennengelernt und werde mit ihm noch auf eine andere Party gehen.“

Bernd verschluckte sich fast an seinem Drink und schaute sie merkwürdig an. Dann zeichnete sich langsam ein sattes Grinsen auf seinem Gesicht ab.

„Ach, nee!? Du hast jemanden kennengelernt?“, wobei er das Wort „kennengelernt“ mit kurzen Finger-Gänsefüßchen markierte. „Das ging aber flott. Deinem hormongefluteten Gesichtsausdruck nach ist er der Mann deiner Träume. Darf ich den Guten mal sehen?“

Stella seufzte. War ja klar, sie konnte Bernd nichts vormachen.

„Kannst du nicht. Es ist Zorro, und er ist schon vorgegangen und wartet auf mich“, fiel ihr auf die Schnelle ein. „Deshalb muss ich auch schnell los“. Sie griff ihren Mantel und ihre Goldclutch, die sie auf der Fensterbank beim Tisch der beiden deponiert hatte.

„Ach, Schätzelein!“, strahlte Bernd und nahm sie fest in die Arme. „Ich wünsch dir einen superschönen Abend! Ruf mich bloß morgen an, bevor du in die Schweiz düst. Und grüß Julia ganz herzlich von mir.“

Stella tat die Umarmung gerade jetzt sehr gut, und sie drückte Bernd ebenso innig zurück. Sie fühlte sich auf einmal schwach und gleichzeitig sehr stark und voll Zärtlichkeit.

„Mach ich. Dir auch noch viel Spaß. Und danke, dass du mich überredet hast, zu kommen. Rory ist übrigens toll.“

Bernd blickte Stella prüfend in die Augen. „Mannomann, dich hat es aber erwischt. Gib auf dich Acht, Mädchen!“ Und als Stella schon drei Meter entfernt war, rief er ihr zur Belustigung der Umstehenden lautstark hinterher: „Benutz aber ein Kondom, ja!“