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Durch ein traumatisches Erlebnis verliert Hannah sämtliche Erinnerungen an ihre Kindheit. Ein Mord ruft sie zurück in ihre Heimat im hohen Norden, denn man glaubt, den Ausweis ihres verschwundenen Vaters gefunden zu haben. Zusammen mit Kommissar Raik Vogelsang versucht sie, die Spur aus der Vergangenheit zu verfolgen und ihre Erinnerungen zurück zu erlangen. In ihrem alten Heimatdorf trifft sie allerdings auf eine Mauer des Schweigens, der Nährboden für weitere Morde. Wird Hannah die Wahrheit im Nebel aus dem Moor finden können?
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Seitenzahl: 451
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Schweigend sah sich die kleine Gruppe an, sie alle beluden sich an diesem Tag mit einer Schuld, die sie nie wieder von sich waschen konnten. "Wir müssen ihn verschwinden lassen", knurrte einer von ihnen dunkel, nur aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie eine der Frauen weinend davonlief. Es war nicht ihre Schuld! Er hatte ihnen doch gar keine andere Wahl gelassen!
Einer seiner Begleiter, mit dunklen Augen und einer Seemannsmütze tief ins Gesicht gezogen, fuhr sich über die Hosenbeine, um das Blut abzuwischen. "Was haben wir denn für eine Wahl?", murrte er leise und sein Blick wirkte eiskalt, als er zu den Männern hochsah, die um ihn herumstanden. "Einer von euch holt seinen verdammten Trecker und dann bringen wir ihn ins Moor! Dort wird sich mit Sicherheit die Natur um ihn kümmern."
Damit schien für ihn die Sache erledigt zu sein und ohne ein weiteres Wort zu sagen, teilte sich die kleine Gruppe auf. Einige verschwanden nach Hause, andere holten Putzmittel, ein dritter warf seinen Trecker an, um danach mit den anderen zusammen den leblosen Körper auf den Anhänger zu werfen. Die Natur würde sich schon um alles kümmern. Nur einer von ihnen stand ruhig da, stemmte seine gegerbten Hände in die Hüften und aus der alten Pfeife zogen bläuliche Schwaden nach oben in den Himmel.
Das würden sie alle bitter bereuen, da war er sich jetzt schon sicher. Doch solange keiner von ihnen sprach, erfuhr auch niemand etwas davon.
Nur das Mädchen erregte sein Mitleid ... nur sie allein.
Der Wind zerzauste die langen, dunkelbraunen Haare und zerrte an der dicken Jacke, in die sich die zierliche Person enger wickelte. Wie lange hatte sie nicht mehr hier gestanden? Es schienen ihr deutlich mehr als nur 20 Jahre. Der Winteranfang legte sich über das Land hoch im Norden, die Nächte zogen sich in die Länge, die See war unruhig und von den letzten Resten der Herbststürme aufgewühlt. Ein Zittern ergriff ihre Glieder und sie drehte sich auf dem Deich um, den Blick bis eben auf die Weiten der Nordsee gerichtet.
Es war kein glückliches "Nach Hause kommen" sondern eher ein Zwang. Geborgen fühlte sie sich schon lange nicht mehr an diesem Ort, so faszinierend die raue Natur auch war und egal wie viele glückliche Stunden sie als Kind hier verbracht haben mochte. Erschauernd steckte die 29-jährige ihre fast erfrorenen Hände tiefer in ihre Manteltaschen. "Ich hatte fast vergessen wie kalt es hier wird, wenn der Wind richtig steht", murmelte sie mehr zu sich selbst und sah auf, als sich ein Wagen dem Deich näherte.
Schon als Kind hatte man immer genau sagen können, wer zu Besuch kam und wer nicht. Das alte Haus, direkt hinterm Deich versteckt, war in ihrer Jugend immer ihr Zuhause. Der Hund zu ihren Füßen genoss die freie Natur, die kühle Luft und die unzähligen Gerüche in der Nase. Seine flauschigen Ohren wehten im Wind und manchmal stemmte sich die zierliche Cockerspaniel-Hündin mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Natur. Aus dem Wagen stieg ein Mann, Mitte 30 mit dunklen Augen und in dem unmöglichsten Anzug, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Die Hose war zu kurz und das Hemd spannte über dem deutlichen Wohlstandsbauch des Herren. "Sie müssen Hannah Reimann sein! Ich freue mich, dass sie hergefunden haben!", rief er gegen den Wind den Deich hoch.
Einen Moment lang sah sich Hannah den Mann nur an, dann trat sie sicher in den aufgeweichten Deich und ignorierte dabei, wie ihre edlen Schuhe darunter litten. "Ja, die bin ich. Freut mich auch, Herr...?", fragte sie und sah dem Mann tief in die Augen. Der kam hektisch auf sie zu, um ihr seine Hand zu reichen. "Siems! Christian Siems!", rief er ihr zu und obwohl sich alles in ihr sträube, griff Hannah nach der angebotenen Hand.
"Freut mich", murmelte sie, machte aber keinen Hehl daraus, dass ihre Worte nicht der Wahrheit entsprachen.
Der Immobilienmakler griff nach ihrer Hand und half ihr die letzten Schritte unsicher zitternd vom Deich herunter. "Ich hoffe Sie fühlen sich hier schon wohl. Etwas einsam, aber das Haus ist wirklich ein Schmuckstück", versuchte er, die in den letzten Jahren deutlich heruntergekommene Immobilie anzupreisen. Hannah kannte so ein Verhalten genau und ein charmantes Lächeln legte sich auf ihre Lippen. "Ja, finde ich auch. Immerhin habe ich neun Jahre hier gelebt."
Sofort entgleisten dem Mann sämtliche Gesichtszüge, was Hannah das erste, ehrliche Lächeln auf die blassen Lippen zauberte. "Oh, entschuldigen Sie, davon wusste ich nichts", murmelte er leise, fing sich aber sofort wieder und lächelte, so charmant er es hinbekam. "Nun, jedenfalls freut es mich sehr, dass Sie den Weg wieder in die Heimat zurückgefunden haben. Bestimmt haben Sie sich hier sehr wohl gefühlt, nicht wahr?" Zustimmend nickte Hannah. Das hier war immer ihr zu Hause gewesen und als sie von heute auf morgen die Gegend verließ, war das für sie alles andere als leicht. Doch jetzt war sie wieder hier, wenn auch aus eher unerfreulichen Gründen. "Also gut, ich denke Sie brauchen mich nicht herumführen", meinte sie lächelnd. "Immerhin kenne ich das Haus noch sehr gut, auch wenn sich viel verändert haben wird. Den Preis hatten wir besprochen, müssen Sie sonst noch etwas wissen?"
Erstaunt sah der Makler sie an, kramte in seinen Unterlagen und hielt ihr einen Stift hin. "Nun, wenn Sie mit allem einverstanden sind, brauche ich hier nur noch Ihre Unterschrift. Genau dort unten auf der Linie, dann gehört das Haus wieder Ihnen." Eigentlich hatte Hanna lange nicht mehr darüber nachgedacht zurück nach Hause zu kommen, doch dann bekam sie den Anruf eines Kommissars hier aus dem Revier. Einem Mann, der mit ihr sprechen musste und sie darum bat, herzukommen. Warum wusste Hannah nicht genau, aber sie war sich sicher, es herauszufinden.
Der Mann in den Hochwasserhosen gab ihr einen Schlüssel und strahlte die junge Frau an. "Nun, ich freue mich Sie hier wieder begrüßen zu dürfen! Hoffentlich fühlen Sie sich hier bald wieder zu Hause. Wenn irgendwas sein sollte, rufen Sie mich ruhig an." Schmunzelnd sah Hannah ihm nach, wie er mit seinen schwarzen Lederschuhen schnell durch die Pfützen zurück zu seinem Wagen watschelte wie eine verunglückte Ente. Mit dem Schlüssel in der Hand kniete sich die junge Frau hin und streichelte durch das weiche Fell der Hündin. "Bin ich froh, dass du hier bist, Lina... lass uns reingehen. Ich bin wirklich sehr gespannt, wie sehr sich alles verändert hat."
Doch wenn sie ehrlich war, zitterten ihr die Hände. Hier schien es genauso wie früher, als sie ein Kind war. Nur Details waren der Natur zum Opfer gefallen. Der Teich, den ihr Vater so sehr liebte, war zugewuchert mit Gestrüpp. Die Sträucher und das kleine Ackerland waren komplett mit Unkraut überzogen und aus der Form geraten. Trotzdem erkannte man etwas von dem alten Glanz, den dieses Stück Land einmal besessen hatte. Sofort kamen in Hannah alte Gefühle hoch, die sie sonst verdrängte und versteckte, damit keiner an die alten Wunden kam, die zu tief saßen. Dieses Dorf ... dieses kleine Dorf am Ende der Welt war einmal ihre Heimat, doch jetzt kamen die alten Schatten zurück, die nach ihrem Körper griffen, um sie zu zerstören.
Sie schienen nur auf ihre Rückkehr gewartet zu haben, um sich wieder auf Hannah stürzen zu können, und im ersten Moment schnürte es der jungen Frau die Luft ab.
Nein, egal was sie hier erlitt, jetzt durfte sie auf keinen Fall den Kopf verlieren! In der Hand hielt sie ihr Handy, für einige Sekunden spielte sie sogar mit dem Gedanken jemanden anzurufen, doch Hannah wusste, jetzt war sie auf sich allein gestellt. "Gut, gehen wir rein", murmelte sie sich selbst Mut zu, ihren Hund ignorierte sie, der aufmerksam zu ihr hochsah und mit den Ohren zuckte. Dieses Haus, es war wie verflucht und Hannah war sich sicher, dass alles würde sich auf sie weiterhin auswirken.
Es durfte sie nicht mehr berühren!
Sie war kein Kind mehr und die Zeit war gekommen, in der man sich von allem löste und weiter voranging. Entschlossen, dies in die Tat umzusetzen und sich ihrer Vergangenheit zu stellen, griff Hannah nach der Türklinke und öffnete die Eingangstür. Sofort schlug ihr ein muffiger Geruch entgegen und im ersten Moment würgte sie. Es stank hier, als würde jemand in einer Ecke liegen und verwesen, doch sie hoffte sehr, dass der Immobilienmakler sichergegangen war, niemanden in den Ecken hausen zu lassen! Dennoch, mit dem Gestank kamen ebenfalls die alten Erinnerungen in ihr hoch und aus einem Reflex heraus, verließ sie das Haus wieder.
Die kühle Luft war angenehm und mehrfach atmete Hannah tief ein und aus. Wie sollte denn da jemand leben? Allerdings ... es war ihr zu Hause und sie fühlte sich vom ersten Moment an mit diesem Ort mehr als verbunden.
Seufzend kniete sie sich auf den Boden und kraulte die Hündin an den Ohren, die es ebenfalls vorzog, draußen frische Luft zu schnappen. "Lassen wir einfach einen Moment die Eingangstür offen und dann versuchen wir es noch einmal. Ich denke das wird helfen", flüsterte sie leise und ließ ihren Blick zum Deich wandern. Es war beruhigend ihn wiederzusehen und zu wissen, dass alles beim Alten war.
Erst das Geräusch eines näherkommenden Wagens ließ sie wieder aufblicken und mühselig erhob sich Hannah vom Boden, auf dem sie es sich gemütlich machte, damit frische Luft durch ihr Haus strömen konnte. Aus dem Audi stieg ein Mann, kaum älter als sie selbst und lief mit sicherem Schritt auf sie zu. "Hannah Reimann?", meinte er lächelnd und reichte ihr seine große Hand. "Wir haben telefoniert, freut mich Sie kennen zu lernen. Ich bin Kommissar Raik Vogelsang."
Schnell wischte sich Hannah die Hand an ihrer Jeans ab und ergriff die angebotene Hand. "Freut mich auch. Woher wussten Sie, dass ich schon hier bin?", wollte sie wissen, obwohl die junge Frau es sich vorstellen konnte. Das Verhalten mancher Menschen änderte sich nicht und schon gar nicht auf dem Dorf. Sein Blick wanderte zu ihrem silbernen Cabrio. "Nun, eine junge Frau mit teurem Auto auf dem Weg zum einsamsten Haus der Gegend? Entschuldigen Sie, aber Sie ahnen vermutlich nicht einmal, wie sehr die Dorfbewohner sich schon über Sie unterhalten." Doch, Hannahs Phantasie reichte aus, um es sich vorzustellen, und schmunzelnd schüttelte sie den Kopf. "Da dachte ich, nach den vielen Jahren, in denen ich nicht hier war, hätte sich was verändert, aber... offenbar bleiben die Menschen so, wie sie sind."
Zustimmend nickte der Kommissar, der schnell seine Dienstmarke aus der alten Lederjacke hervorkramte und ihr diese unter die Nase hielt. "Hier und mein Dienstausweis", stellte er die Dinge klar. Er musterte die junge Frau aufmerksam und schmunzelte, denn nicht nur ihr Auto würde hier auffallen. Eine große Frau, keine dieser Hungerhaken, sondern mit einer gesunden Figur, vollen Lippen und den dunkelsten Augen, die Raik je gesehen hatte.
Die langen Beine steckten in einer engen Jeans und damit bewies Hannah nur, dass sie sich für ihren Körper nicht schämte. Ihre Oberweite blieb allerdings ein Phantasiekonstrukt des Kommissars, denn die versteckte sie hinter der weiten Daunenjacke, die bei diesen Temperaturen bestimmt wärmer hielt, als seine verschlissene Lederjacke. "Wollen Sie noch nicht reingehen?", fragte er nach und deutete auf die offene Tür. Ein Schmunzeln huschte über die vollen Lippen und Hannah linste in den dunklen Flur. "Ich würde schon gerne reingehen und mich umsehen, aber... da drinnen stinkt es wie auf einer Mülldeponie. Ich wollte erst einmal frische Luft reinlassen."
"Da war ja auch seit 20 Jahren keiner mehr drin", stellte Raik trocken fest, zog sich die Lederjacke ein wenig zurecht und betrat das alte Haus. "Hm... langsam geht es, ich werde mal sehen, ob das Licht noch geht." Besorgt sah Hannah ihm nach und räusperte sich leise. "Der Sicherungskasten ist hinten in der Waschküche, direkt neben der Klappe zum Keller! Stoßen Sie sich nicht den..."
"AUA!"
"...Kopf", murmelte sie leise und ehe sie doch lachte. "Sie hätten mich gehen lassen müssen... Immerhin habe ich hier neun Jahre gelebt, ich weiß, wo hier was steht, und ich behaupte einfach mal, dass ich mich auskenne."
Leidend hielt sich der junge Kommissar den Kopf, den er sich an der niedrigen Decke stieß. "Das hätten Sie auch etwas früher sagen können", murmelte er beleidigt, ehe er die alten Sicherungen austauschte, gegen Neuere, die er extra mitgenommen hatte. "Ich dachte mir schon, dass ich die hier noch gebrauchen kann", erklärte er die Sicherungen und drehte diese geschickt wieder rein. Kurz darauf schaltete er das Licht in der alten Waschküche ein. In dem Moment, in dem alles aufleuchtete, wünschte sich Hannah, dass jemand das Licht schnell wieder ausstellte.
"Ach, du liebes bisschen", murmelte Raik leise und räusperte sich. "Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht doch lieber mit Ihrem Hund in eine Pension möchten? Ich kann da was für sie arrangieren." Doch Hannah schüttelte stur den Kopf. "Nein... gut, es ist erschreckend, wie der Schimmel hier gesprossen ist, aber ich werde hierbleiben. Die Waschküche war schon immer feucht... im Bad dort drüben wird es wohl genauso aussehen, aber wenigstens die Zimmer oben sollten in Ordnung sein. Ich denke, da kann ich schlafen. Sind Sie nur hergekommen, um mich zu begrüßen?"
Der junge Kommissar schüttelte den Kopf und kramte in seiner Lederjacke herum, ehe er ihr einen Ausweis hinhielt. "Hier... den haben wir bei einem Mordopfer gefunden, leider kann man die Schrift kaum noch erkennen und ich wollte sichergehen, ob das tatsächlich der Ihres Vaters ist." Zitternd nahm Hannah den vergilbten Ausweis entgegen und Tränen schossen ihr in die Augen. "Ja", flüsterte sie leise. "Das ist mein Vater…"
Seufzend ließ sich Raik auf den Stuhl am Küchentisch sinken. "Sie hat mich nicht einmal erkannt...", gab er frustriert von sich und lächelnd stellte ihm eine schlanke, hoch gewachsene Blondine das Essen vor die Nase. Sanft legte sie ihre Hände auf seine Schultern und hauchte ihm einen Kuss auf die dunklen, strubbeligen Haare. "Das wundert dich? Hannah ist 20 Jahre lang nicht mehr hier gewesen. Du siehst nicht mehr aus wie mit 12 Jahren."
Erneut kam ein Seufzen über seine Lippen und er rührte in dem Eintopf herum, lehnte sich zurück und nickte. "Ich weiß, du hast Recht. Trotzdem war ich enttäuscht. Albern, oder?" Seine Frau musterte ihn einen Moment, nickte allerdings zustimmend. "Ja, das ist albern. Du solltest wissen, dass es unmöglich ist sich nach zwei Jahrzehnten noch an jemanden zu erinnern, den man mit 9 Jahren mal gekannt hat. Vielleicht kommt das noch, wenn du mehr Zeit mit ihr verbringst. Aber du solltest daran denken, warum sie damals das Dorf verlassen hat." Konzentriert sah Raik auf den Teller vor sich, atmete dann durch und nickte. "Ja...", gab er widerstrebend zu. Warum hatte er angefangen mit seiner Frau darüber zu reden?
Sie durfte sich gar nicht so in die Ermittlungen einmischen, doch sowas wie diesen Fall gab es in ihrer Gegend nicht! Ein Mord ... selbstverständlich wurde man in der Polizeischule darauf vorbereitet. Doch es war etwas anderes, wenn man das erste Mal einen toten Menschen vor sich sah! Die bleiche Haut, weit aufgerissene Augen, die einen anstarrten…
Dieser leere Blick, abwesend und stumpf, hatte sich in Raiks Gedächtnis gebrannt und verfolgte ihn seither, wenn er schlief. Seine Frau streichelte sanft über Raiks Kopf. "Niemand hätte das an einem Ort wie diesem erwartet", meinte sie leise und setzte sich an den Tisch, um selbst zu essen. An jedem Abend das gleiche, manchmal ärgerte sich Raik darüber. Diese alltägliche Routine, die sich in ihr Leben schlich und sich nicht mehr vertreiben ließ. Jeden Abend kam er nach Hause, in das kleine Haus am Ende der Straße, mit der langen Auffahrt und dem gepflegten Garten. Mit der Schaukel, die kein Kind benutzt, und mit einer Frau, die den ganzen Tag damit verbrachte, auf ihn zu warten, um ihn mit neuestem Klatsch zu empfangen und das Abendessen zu servieren.
Als Raik sie mit 21 heiratete, war er sich sicher, die perfekte Frau gefunden zu haben. Schon in der Schulzeit waren sie ein Paar und keiner wunderte sich darüber, dass er ihr einen Antrag machte und Christine seine Frau wurde. Mit gerade einmal 32 Jahren fühlte sich Raik, als wäre sein Leben schon zu Ende. Dieser Mord rüttelte ihn regelrecht wach, denn es riss ihn aus der Routine, die er mit erschreckender Selbstverständlichkeit hinnahm. "Wie war es sonst?", erkundigte sich seine Frau, die lächelnd zu ihm hochsah, und manchmal fragte sich Raik, ob sich Christine mit ihm wohlfühlte. Liebte sie ihn noch?
Benommen schüttelte er den Kopf, darüber sollte er sich in diesem Moment keine Gedanken machen. Sein Leben war in Ordnung, so wie es war, mehr hatte er nie erwartet. "Nun, du kannst dir vorstellen, was in unserer kleinen Wache los ist. So einen Mord gab es bei uns noch nie. Morgen soll ein Kriminalinspektor aus Hamburg kommen, um uns zu unterstützen." Schmunzelnd sah seine Frau ihm in die Augen. "Lass mich raten, du bist nicht sonderlich begeistert, was? Immerhin wird man dir in deine Arbeit reinreden. Etwas, das du gar nicht leiden kannst." Raik ließ sich in Ruhe den Eintopf schmecken, lehnte sich dann aber zurück und seufzte, nachdem er die Worte seiner Frau durchdachte. "Nun... ich denke, Freunde werden wir nicht, aber er ist mein Arbeitskollege. Ratschläge werde ich schon von ihm hinnehmen müssen, auch wenn ich mit diesen Anzugträgern nicht umgehen kann." In seiner Phantasie erschuf Raik von dem Mann schon ein klares Bild.
Ein gut geschnittener Anzug, weißes Hemd und schwarze Krawatte, die Haare ordentlich gekämmt, mit perfekten Schuhen auf Hochglanz poliert. Am besten noch eine eckige Brille und einen Aktenkoffer unter dem Arm. Christine musterte ihren Mann und schmunzelte. "Du malst ihn dir mit Sicherheit aus, wie diese FBI-Agenten in schlechten Filmen, nicht wahr? Raik, ich bitte dich. Es geht hier immerhin um einen Mord, da wirst du Hilfe brauchen. Sowas ist hier noch nie passiert! Die Menschen haben Angst, kannst du dir das vorstellen? Wir haben alle Angst, selbst ich traue mich in der Nacht nicht mehr vor die Tür. So kann das doch nicht weitergehen!"
Das wusste er doch selbst und ihm war klar, welcher Druck auf ihm lastete. Die einzigen Leichen, die er bisher kannte, waren die von gerissenen Hühnern, vielleicht mal ein Schaf, doch Menschen waren in diesem Dorf nie unnatürlich zu Tode gekommen, schon gar nicht auf so grausige Art und Weise. Höchstens mal durch einen Unfall, aber nie durch Verbrechen.
Müde rieb sich Raik über die blauen Augen und erhob sich. "Ich gehe raus und rauche noch eine. Du kannst dich schlafen legen, ich muss mir noch ein paar alte Akten ansehen." Warum fand man den Ausweis eines Mannes, der doch angeblich vor vielen Jahren das Dorf verlassen hatte, um an einem anderen Ort unterzutauchen? Nur die Tochter blieb, nachdem die Mutter schon wenige Wochen vorher an einer Krankheit gestorben war.
Eine Leiche, im Wohnzimmer im Sessel sitzend, erstickt an Moor, welches aus dem geöffneten Mund quoll. Dieser Anblick ...
Raik erschauerte und wickelte sich enger in die Jacke, während er in der Hosentasche nach seinen Zigaretten griff und sich eine anzündete. Der brennende Rauch in den Lungen beruhigte ihn, ehe er ihn in Richtung der funkelnden Sterne ausstieß. "Hallo Nachbar", hörte er vom Gartenzaun und obwohl Raik lächelte, rollte er innerlich mit den Augen. "Hallo! Schön dich zu sehen, Klaas. Wie geht´s dir?" Dadurch das er an der Garage seines kleinen Eigenheimes mit Reetdach stehenblieb, zeigte der Kommissar deutlich, wie wenig ihm an einem Gespräch mit dem Mann aus dem Nachbarhaus gelegen war. Doch dieser ignorierte solche zwischenmenschlichen Hinweise. "Mensch, da ist was los im Dorf. Stimmt es denn? Also dass die Lüdde Reimann wieder da ist?"
Eine "Lüdde" war sie zwar bestimmt nicht mehr, doch Raik nickte bestätigend, zog an seiner Zigarette und trat doch auf den geschwätzigen Mann Mitte 50 zu, der sich an den alten Jägerzaun lehnte. Es war ein kleines Wunder, dass er mitsamt seinem Bierbauch nicht den Zaun wegdrückte, der mehr als morsch war, doch Raik ließ sich weiterhin nichts anmerken. "Ja, ist sie wirklich. Lass sie aber erst einmal ankommen und bombardiere sie nicht morgen gleich mit deinen Fragen. Ich glaube es ist ihr schon schwer genug gefallen, wieder herzukommen." Dieser Ort weckte in der hübschen Frau mit Sicherheit keine sonderlich angenehmen Erinnerungen.
Christin öffnete die Tür in den Garten und wickelte sich enger in den Morgenmantel, der jedoch ihre schlanken Beine nicht verhüllte. "Raik? Ich werde mich wirklich hinlegen, ich bin müde. Morgen fahre ich in die Stadt, wenn du noch was brauchst, dann schreib es mir auf einen Zettel, ja?" Damit huschte die zierliche Blondine wieder ins Haus, denn ihr war nicht nur die Kälte unter den Morgenmantel gekrochen. Leise räusperte sich Raik, um die Aufmerksamkeit seines Nachbarn wieder auf sich zu ziehen, dem beinahe die lüsternen Augen aus dem Kopf fielen. "Jedenfalls denke ich, dass sie es schwer genug hat. Sie wird schon von sich aus auf uns zukommen, wenn sie reden möchte."
Als er grinste, offenbarte der ältere Herr seine gelblichen Zähne, vom Rauchen und Kaffee unübersehbar verfärbt. "Mach dir um mich keine Sorgen, aber der olle Siems hat ganz schön von ihr geschwärmt", meinte er amüsiert und winkte ab. "Na, den wollte hier ja auch keine haben, eitler Fatzke ist das geworden. Hätte ich nie erwartet, wenn sein Vater das miterleben würde!" Zum wiederholten Mal rief sich Raik zur Ruhe und er spielte mit dem Gedanken eine weitere Zigarette zu rauchen, doch der Anblick dieser gelblichen Stumpen im Mund des in die Jahre gekommenen Seemannes hielten ihn dann doch davon ab.
Er hatte Mitleid mit dem alten Mann, der in der kleinen Seemannshütte neben ihnen wohnte. Seine Frau war mit einem Mann aus der Stadt durchgebrannt, als er auf See war. Er kam zurück und das Haus war leer. Seither waren Jack und Jim seine besten Freunde, was dazu führte, dass er sein Kapitänspatent verlor.
Der alte Klaas Tietje hatte ein lockeres Mundwerk und je öfter seine Freunde zu Besuch kamen, umso freizügiger wurde es, trotzdem war Raik ihm nicht einmal böse. Natürlich gefiel es ihm nicht, wenn seine Frau so angesehen wurde, aber was richtete man gegen so einen armen Mann aus? Er war doch mit seinem eigenen Leben schon überfordert, was nicht nur der verlotterte Garten zeigte. Auch das heruntergekommene Aussehen des Mannes offenbarte, wie sehr das Leben ihm schon übel mitgespielt hatte. "Du solltest wieder rein gehen", meinte der Kommissar darum wohlwollend. "Es wird langsam kälter und ich habe keine Lust, noch mehr Leichen zu finden."
Lachend winkte der Mann mit der Seemannsmütze ab. "Keine Sorge, Kommissar. Morgen will mich der Doc sehen, bei dem tauche ich schon auf. Bestimmt schimpft er wieder mit mir, weil meine Leber nicht mehr so richtig möchte, aber was will ich denn schon noch vom Leben?" Mit diesen Worten schlurfte er in seinen alten Pantoffeln durch den Garten und verschwand in der kleinen Hütte. Ein paar Sekunden sah Raik ihm hinterher, dann entschloss er sich ebenfalls dazu wieder zurück ins Haus zu gehen, da sich die Kälte langsam auch bei ihm bemerkbar machte.
Was will ich denn schon vom Leben?
Dieser Satz wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf und in Gedanken verloren verzog sich Raik ins Büro, wo er sich auf den knarrenden, alten Ledersessel fallen ließ. Vor ihm lagen die Akten, die ihm die grausamen Bilder des Tatortes wieder vor Augen hielten. An sich nichts Schlimmes, kein Blut, es war alles ordentlich und aufgeräumt. Kein Zeichen deutete auf einen Einbruch hin, die Türen waren nicht aufgebrochen und die Fenster alle verschlossen. Nur der Mann, der in seinem Sessel saß, mit aufgerissenen Augen und vollgeschmiert mit Moor ...
Raik konzentrierte sich, um nicht zu würgen, darum ließ er das Foto schnell wieder in der Akte verschwinden. Einen Moment lauschte er, ob in dem alten Haus tatsächlich Ruhe herrschte, doch nur der Wind in den Bäumen vor dem Haus heulte leise.
Darum erhob er sich wieder, schlurfte an ein Regal, in welchem er seine Bücher verstaute und zog eines davon heraus. Ein altes, in Leder gebundenes Buch mit vergilbten Seiten und einem Einband, auf dem nicht einmal mehr lesbar war, wer es einst geschrieben hatte. Schmunzelnd schüttelte er den Kopf, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und lehnte sich zurück.
Als er es aufklappte, fiel ihm der leicht muffige Geruch auf, doch der störte ihn nicht. Sein Blick war warm, als er nach dem alten Foto griff, welches zwischen den Seiten versteckt war. Ein Foto, auf dem er selbst zu sehen war, als Kind mit 11 Jahren. Seinen Arm hatte er um ein verweint aussehendes Mädchen mit langen, brünetten Zöpfen gelegt, die sich über das Knie rieb. Das Lächeln des Kommissars wurde warm und mitfühlend, wie bitterlich hatte sie damals geweint ... und jetzt erinnerte sie sich nicht einmal mehr an ihn, obwohl er sich mit Namen vorgestellt hatte. Wie sehr hatte sie das Leben in diesem Dorf verdrängt?
Mit dem Daumen glitt er über die Wange des Mädchens und seufzte tief auf. Erst als Christine ihn ansprach, bemerkte er seine Frau. Vor Schreck wäre ihm das Foto mit dem Buch fast aus der Hand gefallen, doch er fing es auf und räusperte sich leise. "Kannst du nicht schlafen?", gab er ruppiger von sich als geplant und er bemerkte wie ihr Blick auf das Foto fiel, doch ob sie etwas empfand bei dem Anblick, ließ sich seine Angetraute nicht anmerken. "Nein... mir ist kalt ohne dich und ich wollte fragen, ob du noch irgendwas brauchst. Soll ich dir einen Tee machen?", flüsterte sie leise und Christine war ruhig wie immer.
War sie denn gar nicht wütend auf ihn? Er hatte sich ein altes Kinderfoto angesehen, kein Grund sich über irgendwas aufzuregen, oder? Über seine eigenen Gedanken schüttelte Raik den Kopf. "Nein, ich denke, ich komme heute sowieso nicht mehr weiter. Ich werde mit dir kommen und mich schlafen legen, wenn ich keinen Schlaf finde, löst sich der Fall auch nicht und mit meinem neuen Arbeitskollegen morgen werde ich alle Kraft brauchen, die ich kriegen kann." Schon lächelte seine Frau wieder und sie nickte sanft. "Gut, ich warte auf dich. Lass dich von diesem Oberinspektor nicht ärgern, der hat genauso gelernt wie du."
Zustimmend nickte Raik. "Natürlich, aber er hat deutlich mehr Erfahrungen, besonders im Umgang mit den Hinterbliebenen, wie ich hoffe. Weißt du, wie schwer das für mich war, seine Tochter in der Stadt anzurufen? Die Ärmste war vollkommen durch den Wind. Ach ja, die wollte morgen ja auch noch herkommen", erinnerte er sich und fuhr sich durch die Haare.
Warum fiel sowas immer aufeinander? Im Schlafzimmer zog er sich langsam aus, schnappte sich den besten gestreiften Pyjama im Kleiderschrank und krabbelte ins Ehebett. Seine Frau musterte ihn etwas und lächelte dabei. "Du bist alt geworden, habe ich dir das schon mal erzählt?" Empört sah Raik sie an, ehe er doch schmunzelte. "Ich wünschte, das könnte ich von dir auch behaupten, aber du wolltest mich ja haben, da musst du damit rechnen, dass ich alt werde an deiner Seite." Diese Momente in denen sie so miteinander umgingen, waren viel zu selten. Zu oft stritten sie sich, doch mit diesen Streitereien lebte Raik zufrieden.
Diese Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete, wenn sie im Bett lagen und jeder sich auf seiner Seite des Bettes in die Kissen kuschelte, wenn sie sich den Rücken zudrehten und kein liebes Wort mehr ihre Lippen verließ, fand er grausamer ...
Als Hannah am nächsten Morgen aufwachte, schmerzte jeder Knochen in ihrem Leib. Am Ende hatte sie es doch nicht geschafft, in ihrem alten Kinderzimmer zu übernachten, weswegen sie eine Nacht in ihrem Cabrio vorzog. Es war eiskalt in den letzten Stunden, ihre Finger fühlten sich an, als wären sie abgestorben, und hätte ihre Hündin nicht auf ihren Füßen geschlafen, wäre es diesen ähnlich ergangen.
Der Wind pfiff um das alte Haus und jedes Geräusch hatte Hannah aufschrecken lassen. Sie wusste zu genau, wie weit entfernt die Häuser der Nachbarn waren, und hätte sie geschrien, würde es niemanden geben, der sie hörte.
Verschlafen streckte sich die Frau mit den braunen Haaren, sie wickelte sich enger in ihre Jacke und vertrat sich die steifen Beine. Die ersten Schritte taten regelrecht weh, aber was für eine Wahl blieb ihr? Natürlich hätte sie in der kleinen Pension schlafen können, doch Hannah vermied mit aller Macht das Gerede und die unangenehmen Fragen. "Na komm, Kleine. Die Tür war die ganze Nacht offen und oben habe ich noch alle Fenster aufgerissen, ich denke wir sollten uns dort in Ruhe umsehen können. Musst du noch mal?" Die Hündin zu ihren Füßen streckte sich, machte dabei einen Katzenbuckel und riss das kleine Schnäuzchen weit auf.
Sanft kniete sich Hannah hin und kraulte Lina durch das Fell. Sie war der einzige Halt, den sie noch hatte, sonst war niemand hier bei ihr. Ausgerechnet jetzt nicht, wo die Schatten aus der Vergangenheit langsam auf sie zu krochen, um sie zu verschlingen. Die junge Frau spürte, wie sie eine heftige Gänsehaut bekam und ein paar Sekunden dauerte es, bis sie ihr Herz so weit beruhigte, um die ersten Schritte in das alte Haus zu machen.
Jetzt wo die Sonne schien und es Morgen war, wirkte es jedenfalls nicht mehr so gruselig, was Hannah aufatmen ließ. Als Kind spielte sie oft im Garten, war in den alten Apfelbäumen herum geklettert, von denen jetzt nur dürre Gerippe standen. Offenbar hatte eine Krankheit das alte Holz befallen, worum sich aber niemand kümmerte. Lächelnd schüttelte Hannah über sich selbst etwas den Kopf, denn sie versuchte mal wieder, sich abzulenken und vor dem zu bewahren, was da drinnen auf sie wartete.
Der erste Schritt gestern Abend war wie vergessen, den hatte sie nicht alleine getan. Doch in diesem Moment war sie auf sich gestellt und Lina nahm ihr die Entscheidung plötzlich ab, indem sie voran lief und ihr Frauchen sich gezwungen sah, ihr zu folgen. Noch immer roch die Luft muffig und modrig, in Hannahs Augen kein Wunder, immerhin war der ganze Schimmel an den Wänden noch da. Erst jetzt im Licht war sie in der Lage zu erkennen, wie weit der Pilz tatsächlich an den Wänden entlang gewachsen war. Die Waschküche war fast vollkommen befallen, selbst die alten Fliesen im Bad hatten einen pelzigen Überzug bekommen.
Wo früher einmal eine Tiefkühltruhe stand, war ebenfalls Schimmel zu erkennen und die Ecke in der Küche, die schon damals braune Flecken aufwies, schien jetzt ebenfalls Pelz bekommen zu haben. Es waren die Stellen, die ihr schon als Kind aufgefallen waren. Den Geruch bekam man nicht so leicht wieder aus den alten Wänden raus.
Schon der schmierige Makler riet ihr, alles abzureißen, obwohl es ihr das Herz brach. In der ganzen Zeit, in der sie nicht hier lebte, hatte sie nicht einen Tag an dieses alte Haus gedacht. Jetzt wo sie hier stand, wo sie alles wiedersah und die Erinnerungen zurückkamen, spürte sie, wie schwer es werden würde, diese Wände aufzugeben und abzureißen.
Seufzend verschränkte sie die Arme vor der Brust und schloss einen Moment die Augen. Es war, als könnte sie die Stimmen der damaligen Zeit hören, als würde sie wahrnehmen, wie die Schatten der Vergangenheit an ihr vorbei huschten. Kinderlachen, ihr Vater, der nach ihr rief ... diese Stimmen waren tief in ihrer Seele eingeschlossen und Hannah genoss es, nur zuzuhören und zu träumen.
Erst als Lina ihr in die Hose biss, öffnete die junge Frau die Augen wieder. "Was ist denn los?", erkundigte sie sich mit einem warmen Lächeln. "Wusstest du, dass ich früher auch schon einen Hund hatte? Wenn ich dich hier so herum wuseln sehe, dann fühlt es sich an wie damals. Also gut, dann gehen wir mal hoch, was?" Dabei legte sie eine Hand unter den warmen Bauch des Hundes, um ihn so auf den Arm zu nehmen, denn die alte Holztreppe nach oben in den oberen Stock war ziemlich steil und die oft benutzten Stufen rutschig. Die kleine Hündin würde sich am Ende nur die Pfötchen brechen und Hannah gestand sich ein, Lina war das einzige Wesen, das sie je wieder an sich herangelassen hatte, nachdem ihr Vater verschwand.
In dem Moment, in dem Hannah den ersten Fuß auf die Treppe setzte, da bemerkte sie einen Wagen, der auf dem Kiesweg hielt. "Offenbar komme ich nicht mehr dazu, dort oben nachzusehen", murmelte sie leise und hauchte Lina einen Kuss auf den Kopf, ehe sie den Hund wieder auf den Boden ließ. Diese flitzte sofort los, um sich den unerwünschten Besucher näher anzusehen, während sich ihr Frauchen schon vorstellte, mit wem sie das Vergnügen haben würde.
Sie verließ das Haus wieder und lehnte sich an den Türrahmen. "Irgendwie ahnte ich, dass Sie es sind. Was kann ich heute für Sie tun?", meinte sie schmunzelnd und sah zu dem Kommissar, der mit der kleinen Hündin beschäftigt war und ihr durchs Fell wuschelte. "Nun, ich wollte sehen, wie Sie die erste Nacht hier verbracht haben und wie es Ihnen geht. Ich meine... es ist ja schon alles fremd, nicht wahr?" Tatsächlich suchte Raik nur nach einem Grund nach Hannah zu sehen, doch in diesem Fall fand er, schon eine perfekte Ausrede gefunden zu haben.
Einen Moment sah sich Hannah um, dann deutete sie auf ihren Wagen. "Wenn ich ehrlich bin, ich wusste nicht wie ungemütlich eine Nacht in einem Cabrio sein kann, besonders im Winter. Jetzt habe ich endlich wieder Gefühl in meinen Fingern." Ob gewollt oder nicht, Raik musste lachen und er fuhr sich mit den langen Fingern durch die unordentlichen Haare. "Ich habe Ihnen doch die Adresse von der Pension gegeben! Sie hätten sich dort ein Zimmer nehmen können, vermutlich wäre die Nacht dort deutlich angenehmer gewesen."
Da war sich Hannah ja selbst sicher, dennoch wollte sie der alten Klatschtante nicht unter die Augen treten. "Es war mir unangenehm", gestand sie leise und senkte etwas den Blick. "Ich muss es ja zugeben, ich kenne die Gerüchte, die hier über mich kursieren... Immerhin bin ich das arme Mädchen des Mannes, der sie von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Das Getuschel konnte ich damals schon nicht ertragen, auch wenn es 20 Jahre her ist, hat sich daran nichts verändert." Darum vermied sie den Kontakt zu den Bewohnern des Dorfes, wenn es möglich war.
Erstaunt sah Raik sie an und zündete sich eine Zigarette an. "Und dann wollen Sie hier wieder leben? Ich meine, damals ist wirklich viel passiert, ich könnte Sie vollkommen verstehen, wenn Sie nicht hierbleiben wollen. Warum kaufen sie dann das Haus?" Genau erklären konnte sich Hannah das nicht, vermutlich war es Sentimentalität.
Der Gedanke, ihr Elternhaus hier verrotten zu lassen und nichts daran zu ändern, war für sie nicht zu ertragen. "Ich weiß es auch nicht... ich wollte nicht, dass irgendwann jemand anders hier lebt. Die ganzen Jahre, in denen ich nicht hier war, konnte ich es verdrängen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie es hier weitergeht oder was in diesem Dorf geschieht. Für mich war alles... in Ordnung, bis Ihr Anruf kam."
Peinlich berührt sah Raik sie an, sowas hatte er mit dem Telefonat nicht bezweckt, aber er war froh, Hannah wieder hier zu haben. "Nun, dafür entschuldige ich mich. Es war nicht meine Absicht, irgendwas Negatives in Ihr Leben zurückzuholen... Wir mussten mit Ihnen in Kontakt treten, wir mussten sichergehen, ob es der Ausweis Ihres Vaters war." Und genau da lag ja das Problem. Warum legte jemand der Leiche eines Mannes, der an Moor erstickte, den Ausweis eines anderen Mannes auf den Bauch, der seit 20 Jahren verschwunden war? Wo lag der Sinn dahinter? Bisher hatte Raik keine Lösung gefunden, aber er gab sich Mühe, ihn zu finden. "Was kann ich denn jetzt für Sie tun?", holte Hannah ihn aus seinen Gedanken zurück und der Kommissar schreckte hoch. "Was? Ach so, ich muss Sie noch einmal mit ins Revier nehmen. Wir haben Besuch von einem leitenden Kommissar aus Hamburg bekommen. Wir haben hier leider nicht sehr viel Erfahrungen mit solchen Morden und ich wollte Sie dazu holen. Er möchte bestimmt früher oder später mit Ihnen sprechen, da wäre es besser, wenn Sie von Anfang an dabei sind." Wenn er ehrlich war, tat er alles, um jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, damit er Hannah sehen konnte. Sie war alleine, einer hatte die Verantwortung, sich um sie zu kümmern, und ab und an in dieser Einöde nach der jungen Frau zu sehen. Das redete sich Raik erfolgreich ein.
Im Dorf waren alle neugierig und es hätte ihn nicht gewundert, wenn einer von denen schon hier auf dem Hof herumschnüffelte. "Also gut", murmelte Hannah leise und nahm den Hund auf den Arm. Skeptisch musterte Raik den kleinen Fellball, der freudig mit dem Schwanz wedelte. Offenbar war es ihm nicht möglich, Hannah ohne ihren kleinen Begleiter zu bekommen, aber das war gar nicht so tragisch. Der Kommissar verstand sich mit Hunden, aber sie brauchten schon eine vernünftige Größe. Zu Hannah jedoch passte der kleine Hund. Charmant öffnete er die Tür seines alten, roten Audis und schmunzelte. "Wenn ich die beiden Damen dann bitten dürfte?", scherzte Raik und er war erleichtert, als er Hannah damit endlich wieder ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Dieses Mädchen war so unfassbar ernst, dabei war ihr Lachen damals so bezaubernd.
Im Polizeirevier des Dorfes wartete bereits jemand auf Raik, saß an einem der Schreibtische und spielte mit einem Kugelschreiber. Diesen drehte er immer wieder zwischen seinen Fingern, sah dann aber hoch, als endlich jemand kam, um sich um ihn zu kümmern. "Ach, sind Sie dieser Vogelsang?", murrte er leise und Raik hob eine Augenbraue an. „Sie müssen der Kollege aus Hamburg sein“, stellte er sachlich, aber distanziert fest. Kühle, graue Augen musterten ihn, wie erwartet trug der hochgewachsene, schlanke Mann einen dunkelblauen Anzug. Er schob sich die Brille auf der Nase hoch und streckte sein Kinn missbilligend vor. "Sie wussten doch, dass ich heute herkommen würde, oder? Wo waren Sie?"
Schon nach den ersten fünf Minuten, hatte Raik die Nase voll. Überheblich und arrogant, so wie er sich diesen Kriminalinspektor aus Hamburg gestern schon vorgestellt hatte. "Ich musste mich noch mit Frau Reimann treffen. Da wir den Ausweis Ihres Vaters bei dem Opfer fanden, finde ich es wichtig, Sie in alles mit einzubeziehen." Obwohl Hannah bereits mit im Raum stand, ignorierte der Hamburger sie total. "Wollen Sie mich veralbern?! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Sie kann auch die Täterin sein!"
Auf was für Ideen kam der Mann denn? Raik mochte seine kleine Wache. Er war mit zwei anderen Kollegen hier alleine, es gab nur zwei Streifenwagen und drei Schreibtische, mehr war nicht nötig. Zwei standen in einem kleinen Raum mit Tresen, wo der Durchgangsverkehr abgefertigt wurde, einer befand sich in einem Büro, in dem man die Befragungen durchführte. Allerdings wurde das Büro meist genutzt, um private Unterhaltungen zu führen, hier auf dem Land geschah nichts Bedrohliches oder Gefährliches. "Ich denke nicht, dass jemand, der nach der Tat über drei Stunden Zugfahrt von hier entfernt ist, wirklich auch nur den Hauch einer Chance hat, hier jemanden zu ermorden!" Was bildete sich dieser eitle Fatzke ein? So naiv war Raik nicht, selbst wenn er nur ein kleiner Kommissar mit einer ebenso kleinen Wache und einem mindestens genauso kleinen Bezirk war! Er hatte seinen Stolz und er musste die Polizeischule genauso absolvieren wie jeder andere!
Dieser Mann stellte sich ja nicht einmal vor! Doch Raik gab sich Mühe, friedlich zu bleiben. Er schob sich an dem Mann im Anzug vorbei, versuchte seine Überheblichkeit dabei zu ignorieren, und griff nach der Akte, die auf einem der Schreibtische herumlag. "Hier... Sie wollen doch bestimmt die Akte haben, oder nicht?", murrte er leise. "Und... können Sie sich bitte mal vorstellen? Ich meine, kann doch nicht so schwer sein, Sie wissen ja offenbar genau, mit wem Sie es zu tun haben!"
Es fiel Raik schwer, seine Missgunst zu unterdrücken. Höflich Bleiben, erinnerte er sich an die Worte von Christin, die sie ihm heute Morgen noch leise ins Ohr geflüstert hatte, bevor er das Haus verließ. Das betete Raik jetzt vor sich hin und der Typ aus Hamburg hob sein Kinn etwas mehr an. Scheinbar passte es ihm nicht, dass der kleine Dorfpolizist es nicht einmal für nötig hielt, sich seinen Namen zu merken!
Stand der Name überhaupt in diesem Wisch drin? Raik erinnerte sich nicht genau daran, doch der Blick des Mannes mit den streng kurzgeschnittenen Haaren, zeigte das in diesem Moment deutlich.
Es war Hannah, die sich einmischte und versuchte, zwischen den beiden Männern zu vermitteln. Mit einem so charmanten Lächeln wie möglich, trat sie auf den fremden Mann zu und reichte ihm ihre Hand. "Mein Name ist Hannah Reimann, freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich hoffe doch sehr, dass ich Ihnen nicht im Weg stehe." Zwei freundliche Augenaufschläge später war der Mann aus der Stadt ihr erlegen und mit festem Griff nahm er die zarte Hand in seine. "Freut mich sehr, junge Frau. Ich bin Kriminalinspektor Rehmsen. Manuel Rehmsen."
Lächelnd hielt Hannah seine Hand in ihrer, auch wenn sie sich fühlte, als wolle er ihr alle Knochen mit einem festen Händedruck brechen. "Sehr schön, wie gesagt, ich möchte Ihnen nicht im Weg stehen, aber Sie müssen mich auch verstehen... mein Vater verschwand vor 20 Jahren spurlos und jetzt taucht aus dem Nichts sein Ausweis wieder auf. Das ist für mich schon sehr emotional." Damit hatte sie den schicken Herren aus der Stadt erfolgreich um den Finger gewickelt, was Raik staunend von seinem Schreibtisch aus beobachtete. Hannah hatte es ja faustdick hinter den Ohren!
Es war frustrierend für Raik sich mit diesem Mann zu unterhalten, darum strich er am Abend die Segel und verließ die Wache früher als sonst. Nicht nur, dass dieser Rehmsen so tat, als ob er alles besser wüsste, bei jedem zweiten Satz etwas anmerkte und der Meinung war, Raik würde nur Fehler machen, nein - er flirtete auch noch die ganze Zeit über mit Hannah und am Abend lud er die junge Frau zum Essen ein.
Etwas, das Raik leider nicht tun konnte, was ihn nur noch mehr frustrierte und mit einem schlechten Gefühl im Magen ließ er Hannah mit dem Kriminalinspektor davon rauschen. Wenigstens nahm er sie mit dem Auto mit in die nächste Stadt. Hier in der kleinen Kneipe hätte sie sich vermutlich nicht wohl gefühlt.
Was machte er sich überhaupt für Gedanken? Er war ein verheirateter Mann mit einer sanften und liebevollen Frau zu Hause, die sich auf ihn verließ und vermutlich erstaunt sein würde, wenn er heute früher zu ihr zurückkam. Doch es gab auf der Wache nichts mehr zu erledigen, Rehmsen war mit Hannah weg und ihm rauchte der Kopf. Es gab keine Fortschritte! Es gab nicht mal Fingerabdrücke, die Mordwaffe war mehr als ungewöhnlich und auch sonst war nicht eine Faser an dem Mann gefunden worden, die nicht zu ihm gehörte. Sie hatten keine andere Wahl, als ihn einmal komplett von oben bis unten zu durchleuchten.
Es gab einen Grund, warum jemand einen unbescholtenen Bürger überfiel und ihn mit Moor fütterte! Raik verstand nicht, wie ein Mensch auf so einen Gedanken kam. Was für eine Fantasie entwickelten menschliche Wesen, um jemanden zu töten, und dann auf so grausame Art und Weise? Im Autopsiebericht stand, man fand in Luftröhre und Speiseröhre Moor. Also war es wahrscheinlich, dass man den Mann dazu zwang, das Zeug zu schlucken und das bei klarem Bewusstsein! Wie fühlte sich so etwas an? Nein, wenn Raik ehrlich war, stellte er es sich lieber nicht vor. Allein beim Gedanken daran übergab er sich fast.
Wie hatte man bei dem Opfer diesen Würgereflex ausgeschaltet? Wie bekam man so etwas hin? Es waren aber keine Substanzen in seinem Blut nachweisbar ... er stand nicht unter Drogen! Was für eine Angst hatte man, um scheinbar ohne Gegenwehr Moor zu schlucken?! Raik schüttelte sich etwas, ehe er sich in den Wagen setzte und sich auf den Weg nach Hause machte. Ob Christine überhaupt schon wieder da war? Wenn sie in die Stadt fuhr, wurde es manchmal spät, daher empfing ihn mit Sicherheit eine leere Wohnung und aus dem Grund entschloss sich Raik, einen eher seltenen Umweg zu machen.
Ein Ort, an dem sich der Kommissar sehr ungern befand, war der Friedhof. Langsam stieg er aus dem alten Wagen und betrat den Kiesweg, der durch die einzelnen Grabreihen führte. Dort waren keine schweren Gusseisengitter, die den Friedhof einzäunten. Er lag mitten im Dorf, neben dem Dorfgemeinschaftshaus.
Da dem Dorf irgendwann der Platz ausging, verlegte man den Friedhof und ein zweiter wurde zusammen mit einer kleinen Kapelle in der Nähe vom Deich, nicht weit entfernt von Hannahs Haus, errichtet. Selbst der war mittlerweile stark belegt, denn auch wenn das Dorf nicht groß war, starben noch immer mehr Personen, als Kinder das Licht der Welt erblickten.
Und diejenigen die langsam erwachsen wurden, die verließen die Gegend. Damit war es kein großes Wunder, dass auf den Friedhöfen mehr Leute vertreten waren, als im ganzen Dorf selbst. In keinem der Häuser gab es jemanden, der nicht mindestens zwei Verwandte hier liegen hatte.
Um die Gräber und die Büsche vor Rehen zu schützen, hatte man einen einfachen Wildzaun errichtet, der nicht dekorativ aussah, aber wenigstens erfüllte, was man von ihm erwartete.
Seine Schritte waren schwer, der junge Kommissar fühlte sich, als hätte man ihm Steine an die Füße gebunden. Wie lange war er nicht mehr hier gewesen? Raik war bewusst, er sollte sich schuldig fühlen, aber er tat es nicht. Es ging nicht, auch wenn er Empfindungen haben sollte, schließlich war es das Grab seines eigenen Kindes!
Fabian, so hatten sie ihren Sohn genannt, war schon im Bauch seiner Mutter gestorben. Seither war Christine nicht mehr die Frau, die sie früher einmal war. Ihr Lachen war verstummt, sie sprach kaum und zog sich vor ihm und ihren Freundinnen immer mehr zurück. Raik vermisste die Frau, die er damals heiratete, doch er wusste auch, dass es sinnlos war, sie mit aller Macht zurückzuverlangen. Ein Teil von Christine war mit ihrem Kind gestorben, denn sie trug drei Monate lang einen toten Embryo in sich. Ein Kind, von dem die Ärzte schon wussten, dass sein Herz nicht mehr schlug und doch trug Christine es komplett aus, alles andere war nicht möglich. Ihr Kreislauf war so schwach zu der Zeit, sie hätte eine Operation nicht überstanden.
Als sie wieder kräftig genug war, leitete man die Wehen ein und Christine war gezwungen das Kind unter Schmerzen zur Welt zu bringen, wissend dass es sie danach nie ansehen würde. Schon zu dieser Zeit hatte sich Christine total vor ihm verschlossen.
Sie sprach nicht mehr mit ihm, ließ ihn nicht an ihrer Trauer teilhaben und nach der Beerdigung war es, als lebten sie in zwei Welten. Er war nicht mehr in der Lage sie zu erreichen und wenn Christine mit ihm sprach, ihn ansah und sanft zu ihm war, schien es für Raik, als wäre ihre Seele ganz wo anders. Fabian war tot, auch für ihn war das ein Schock, auch er trauerte bis heute, doch seine Frau ließ das nicht zu. Wenn Raik es sich durch den Kopf gehen ließ, war er sich nicht einmal sicher, ob sie je um ihr Kind weinte.
Tränen sah er nie bei seiner Frau, bis heute nicht ... hatte sie je im Leben geweint? Raik war sich sicher, irgendwo tief in sich, da trauerte sie um Fabian, aber auf ihre eigene Art und der junge Kommissar war sich nicht sicher, ob er vermochte damit umzugehen. Sie waren damals so jung, Anfang 20. Erst war es ein Unfall, doch mit jedem Monat in dem der Bauch mehr wuchs und man spürte, wie sich Leben entwickelte, genoss Raik den Gedanken intensiver, Vater zu werden. Es war mit Abstand die schönste Zeit seines Lebens. Doch sie wurde zu einem Drama, eines mit dem er nicht klarkam.
Tief atmete Raik durch, ehe er sich hinkniete, und anfing die verblühten Blumen rauszureißen.
Es war das Gefühl, irgendwas für seinen Sohn tun zu müssen, auch wenn es sinnlos war. Alles, was er tat, war Blumen zu rupfen, die genauso leblos waren wie der Körper, den man dort unten begraben musste. Ein Gärtner kümmerte sich um Fabians Grabstelle, Christine war nicht einen Tag hergekommen und Raik selbst mied diesen Ort, wie der Teufel das Weihwasser. Er wollte nicht jeden Tag mit Nachdruck an das furchtbarste Ereignis in seinem Leben erinnert werden, denn obwohl schon viele Jahre vergangen waren, diese Wunden schmerzten noch immer, als wären sie ganz frisch. Mittlerweile war sich Raik sicher, es gab Wunden, die niemals heilten, sie brannten jeden Tag aufs Neue, man gewöhnte sich nur irgendwann an den Schmerz.
Peinlich berührt zuckte der Kommissar zusammen, als sein Handy losging. Erstaunlich, wie laut das Ding war, obwohl er es sonst meist nicht hörte. Doch an einem Ort wie einem Friedhof gab es nichts, was unpassender war, als ein klingelndes Handy. Zum Glück war er allein, dadurch gab es keine missbilligenden Blicke. Er schämte sich ja selbst schon dafür, dass er vergessen musste, es auszuschalten, bevor er den Friedhof betrat. Schnell beendete er den nervenden Ton und räusperte sich leise. "Ja?", flüsterte er ins Handy, als ob das jemanden stören könnte. Es war niemand hier, trotzdem fühlte er sich, als würde in den Büschen eine Person stehen, die ihn beobachtete; und wenn es nur jemand von denen war, die hier lagen. Man fühlte sich wie ein Störfaktor, darum versuchte Raik so leise wie möglich zu sein.
Doch bei dem, was er hörte, blieb er nicht lange still. "Bitte was?!", entkam es ihm und er hielt sich sogleich schuldbewusst eine Hand auf den Mund. Fassungslos sah er auf, bemerkte aus dem Augenwinkel, wie die Sonne unterging, und atmete durch. "Gut, wo bist du?", murmelte er leise, legte nach wenigen Sätzen seines Gesprächspartners wieder auf und atmete durch. Ein weiteres Opfer. Sie hatten es eben erst gefunden, offenbar war es aber schon länger tot. Das durfte doch nicht wahr sein! Alles, was positiv daran war, war die Tatsache, dass er diesen Rehmsen in seinem romantischen Abendessen störte und dass mit einer außerordentlich guten Begründung!
Einen besseren Zeitpunkt hätte das Handy nicht finden können, jedenfalls empfand es Hannah so. Der Kerl hielt ihre Hand und flirtete auf unverschämt offene Art mit ihr, dass sie schon fürchtete, er würde sie in sein Hotel einladen. In ihrem Haus kam sie kaum voran, dabei gab es dort so viel zu regeln und die junge Frau sah sich schon eine weitere Nacht im Wagen übernachten. "Das kann ja nicht wahr sein", echauffierte sich Rehmsen und legte kurz darauf wieder auf. "Es tut mir sehr leid, ich fand den Abend bisher wirklich wunderschön, aber ich fürchte ich muss Sie jetzt verlassen. Wir haben wieder eine Leiche gefunden."
Als Hannah versuchte, etwas dazu sagen, schnitt er ihr mit einer Handbewegung die Worte ab, offenbar wollte er gar nicht weiter darüber reden. "Keine Sorge, ich werde natürlich die Rechnung für dieses erstaunlich gute Essen bezahlen, leider kann ich Sie nicht mit nach Hause nehmen." Jetzt saß Hannah hier fest? Es war ein gemütliches, kleines Fischrestaurant mit wenigen Plätzen und einer gemütlichen Atmosphäre, dazu mit Blick auf den Hafen der niedlichen Hansestadt. Das Essen war vorzüglich und Hannah war froh, hier speisen zu dürfen, aber sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn ihre Begleitung eine andere gewesen wäre. Und jetzt ließ dieser Manuel sie hier noch alleine sitzen! Musste sie sich ein Taxi nehmen? Was für eine Wahl hatte sie denn sonst?
Wenigstens hatte sie Lina dabei, was ihre Situation zum Glück ein wenig rettete. Manuel rauschte davon, nachdem er bei dem Kellner das Essen bezahlte und mit einem scheuen Lächeln sah Hannah ihm nach. Die junge Kellnerin kam an ihren Tisch und lächelte. "Kann ich Ihnen sonst noch etwas bringen?", wollte sie wissen, doch die junge Frau schüttelte den Kopf. "Nein, außer vielleicht die Nummer eines Taxiunternehmens aus der Gegend." Eine andere Möglichkeit, um nach Hause zu kommen, gab es ja in diesem Moment nicht mehr, obwohl Hannah nicht gerne mit Taxen unterwegs war. Die Fahrer waren immer unheimlich, in ihren Augen und mit fremden Menschen in einem Auto eingesperrt zu sein, war nicht ihre schönste Vorstellung.
Die junge Frau huschte davon und kam kurz darauf mit einer Visitenkarte wieder. "Wir können es Ihnen auch herrufen, wenn Sie möchten." Doch Hannah schüttelte den Kopf. "Nein, ich möchte mir lieber den Hafen noch einmal ansehen. Am Abend mit dem schönen Licht sieht es bestimmt ganz besonders gut aus." Zustimmend nickte die junge Frau mit den rötlichbraunen Haaren, die sie zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden trug. "Das lohnt sich wirklich, sind Sie als Touristin hergekommen?" Einen Moment sah Hannah aus dem Fenster und eine seltsame Trauer befiel sie. "Ich glaube, in den Jahren in denen ich nicht mehr hier war, bin ich das geworden", war ihre geflüsterte Antwort.
Ohne weiter auf die Kellnerin zu achten, nahm sie Linas Leine und wickelte sich in ihre dicke Winterjacke. "Das Essen war hervorragend", meinte sie lächelnd, ehe sich Hannah verabschiedete und das warme Restaurant verließ. Kühle Luft schlug ihr entgegen, so schneidend, dass es für ein paar Atemzüge regelrecht in den Lungen schmerzte und doch genoss sie das Gefühl.
Ein Abendspaziergang würde ihr guttun, etwas am Hafen entlanggehen und die Lichter genießen. Die Geschäfte richteten sich bereits auf Weihnachten ein, die ersten Arbeiter waren damit beschäftigt, die Weihnachtsbeleuchtung der Stadt zu installieren und jeder der an ihr vorbeieilte, war in dicke Kleidung gehüllt. Das Pflaster war gewöhnungsbedürftig und Hannah war froh, keine von diesen Frauen zu sein, die ständig mit High Heels herumliefen, denn die wären hier verloren und hätten sich vermutlich nach den ersten fünf Schritten jeden Knochen im Leib gebrochen.