Nebel über dem Bayerwald - Tessy Haslauer - E-Book

Nebel über dem Bayerwald E-Book

Tessy Haslauer

4,8

Beschreibung

Ein Totenkopf im Wald, eine Leiche am Donauufer: Der Straubinger Kommissar Mike Zinnari kann sich über Arbeitsmangel nicht beklagen. Dazu soll er in einem bereits dreißig Jahre alten Mordfall ermitteln, denn es gibt Hinweise darauf, dass die beiden Todesfälle zusammenhängen. Schon bald muss Zinnari erkennen, dass ein Mord seinen Anfang nicht mit dem Tod nimmt, sondern schon lange Zeit zuvor . . .

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Tessy Haslauer, 1970 in Niederbayern geboren und aufgewachsen, lebt und arbeitet als Projekt- und Kundenbetreuerin in Neustadt an der Donau. Ihre ersten Abenteuergeschichten schrieb sie bereits mit zwölf. Mit »Bruthitze« gelang ihr 2012 die erste Veröffentlichung eines Kriminalromans. Eine Verbundenheit zu Straubing und zum Bayerischen Wald begleitet sie seit ihrer Kindheit, in der sie zusammen mit ihren Eltern viel in dieser Gegend unterwegs war.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: © age fotostock/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Christine Derrer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-577-8 Originalausgabe

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Sag deine Meinung grad und schlicht,

bleib bei der Wahrheit, lüge nicht,

und zeige nimmer dich aus List

anders, als dir ums Herze ist.

Albrecht Dürer

Prolog

Vierzig Jahre früher

Es war brütend heiß, so wie es sich für den Sommer und für den Beginn der Ferien gehörte. Die Luft flirrte, ließ in der Ferne und über dem Baggersee alles wabernd verschwimmen. Einfach herrlich war das.

Hanni lag als Einzige noch am Ufer. Bäuchlings, das Gesicht in die aufgestützten Hände gelegt, beobachtete sie ihre Freunde und Freundinnen, die sich in Ufernähe eine lautstarke Wasserschlacht lieferten.

Sie freute sich auf die bevorstehenden Ferien, aber ein klein wenig mulmig war ihr trotzdem zumute. Erst seit zwei Monaten lebte sie hier in Steinsham, einem kleinen Dorf in der Nähe von Plattling, bei einer sehr netten Bauernfamilie. Sie, das kleine Waisenmädchen, hatte endlich das Glück gehabt, eine Pflegefamilie zu finden. Und damit begannen die Probleme. Würde sie ihnen alles recht machen können? Würde sie den Vorstellungen des kinderlosen Ehepaares auf Dauer entsprechen? Was war, wenn nicht?

Keinesfalls würde sie sich wieder ins Heim abschieben lassen. Das würde sie nicht zulassen, nie und nimmer. Nichts konnte schlimmer sein, als zurückgeschickt zu werden. Unbewusst runzelte sie die Stirn, verdrängte gewaltsam die dunklen Gedanken, die sich in ihrem Kopf ausgebreitet hatten …

Platschend kam ein anderes Mädchen an Land, schüttelte ihre nassen Haare vor ihr aus und grinste. »He, Hanni, warum hockst du da so einsam rum? Komm doch mit rein ins Wasser.«

Die langbeinige, sehr schlanke Hanni setzte sich auf. Eigentlich hatte sie ihre Ruhe haben wollen, andererseits war es bestimmt nicht gut, sich von ihren neuen Freunden auszuschließen. Seufzend stand sie auf. »Von mir aus, dann komm ich halt mit. He, machen wir ein Wettschwimmen – hinüber bis zum anderen Ufer?«

Die stämmige Karin tippte sich an die Stirn. »Spinnst du? Des is viel zu weit!«

Hannis Gesicht verfinsterte sich. Karin konnte noch nicht wissen, dass Hanni es absolut nicht mochte, wenn man ihr widersprach. »Ist es net«, erwiderte Hanni heftig. »Hallo, Jungs«, schrie sie plötzlich in Richtung des Sees, »hat jemand Lust, um die Wette zu schwimmen? Bis ganz hinüber?«

Zustimmendes Gejohle war die Antwort. Befriedigt drehte sich Hanni wieder zu ihrer Freundin um. »Schau, die anderen finden meine Idee gut. Geh zu, mach halt mit.«

»Na, ganz bestimmt net, des is mir viel zu weit«, wiederholte Karin nachdrücklich. »Du weißt, dass ich net guat im Schwimmen bin. Und du solltest wohl a besser dableiben, Hanni, sollen die depperten Buam allein über den See schwimmen.«

»Hast Schiss?« Hanni grinste spöttisch. »Jetzt stell dich net so an, wir können ja jederzeit umkehren. Ist doch net schlimm, oder? Komm, jetzt mach halt mit.« Hanni zog Karin erbarmungslos am Unterarm. »Sei kein Spielverderber. Bei so vielen Leut, was soll denn da passieren? Jetzt geh, komm mit!«

Nach einigem Hin und Her ließ sich Karin schließlich überreden, und als sie hinter Hanni ins Wasser gestiegen war, das fröhliche Gejauchze und Gejohle um sich herum hörte, machte es ihr plötzlich Spaß. Was soll’s, dachte Karin, schwimmen wir halt los, vielleicht bin ich sogar schneller als einer der vorlauten Jungs, das wäre wohl die Schau.

Als der verbale Startschuss erklang, ausgestoßen von einem schmächtigen kleinen Buben, der am Ufer hocken geblieben war, warf sich Hanni todesmutig nach vorn, begann zu kraulen und konnte aus den Augenwinkeln gerade noch Karin neben sich entdecken, die in Froschmanier lospaddelte.

»Mach nur, ich komm schon nach!«, schrie Karin ihr zu.

Hanni legte sich ins Zeug. Im Schwimmen war sie gut, das wusste sie, und ihre Chancen standen eigentlich nicht schlecht. Trotzdem, irgendwie hatte Karin recht, bis zum anderen Ufer war es furchtbar weit, so weit war sie noch nie geschwommen …

Neben ihr wühlten ihre Kameraden das Wasser auf, Karin war zurückgefallen, aber als Hanni sich kurz zu ihr umdrehte, da winkte sie ihr zu und machte eine aufmunternde Geste. Also stürzte sie sich erneut nach vorne. Als sie sich das nächste Mal umwandte, sah sie Karins dunklen Haarschopf bereits ziemlich weit hinter sich.

Nach der Hälfte der Strecke verlangsamte sich das Tempo, auch die Jungen konnten kaum noch mithalten und paddelten gemächlich dahin.

Von Neuem drehte sich Hanni um, doch sosehr sie ihre Augen anstrengte, sie konnte die Freundin nicht mehr entdecken.

Karins Kopf war verschwunden …

1

Montag, 27.August

»So, jetzt geht’s los, Kinder.« Jürgen Losig lächelte aufmunternd in die Runde, schnürte seinen Rucksack auf den Rücken und marschierte los.

Im Gefolge hatte der schlaksige junge Mann eine Schar von zwanzig Mädchen und Jungen. Keines der Kinder war älter als zwölf Jahre, sie waren bepackt mit kleinen Rucksäcken, in festen Wanderschuhen steckend und aufgeregt zitternd in der Erwartung eines großen Abenteuers.

Jürgen warf kurz einen Blick über die Schulter und vergewisserte sich, dass Anja Schuhmann, seine einzige erwachsene Begleitung, den Aufbruch bemerkt hatte. Anja ging am Ende der Kindergruppe und war dafür verantwortlich, dass keines der Kinder abhandenkam und sie den Anschluss zur Spitze nicht verloren.

Die beiden Studenten hatten sich die Route über die Höllbachschwelle zum Großen Falkenstein ausgesucht, weil sie wussten, wie die Urwaldszenerie die Kinder beeindrucken würde. Das sogenannte Höllbachg’spreng war einer der urtümlichsten und wildesten Bachläufe des Bayerischen Waldes. Mehrmals schon hatten sie im Rahmen des Ferienprogramms der Bürgerstiftung Straubing diese Wanderung mit Kindern gemacht, und es war jedes Mal ein voller Erfolg gewesen.

Zunächst, wohl dem frühen Morgen geschuldet, wanderte die Gruppe noch einigermaßen schweigsam die schmale geteerte Straße entlang. Nach einer kleinen Brücke, die sich über einen Bach spannte, begann der Forstweg, der zusehends anstieg und steiniger wurde. Erst später, bei der Höllbachschwelle, würde der eigentliche Aufstieg kommen, mit kargen großen Felsbrocken, die überklettert werden mussten, und umgestürzten Bäumen, die als einziger Weg über den steil herabstürzenden Höllbach führten und bei den Kindern vermutlich spontanes Entzücken hervorrufen würden. Beschwerlich würde es werden, abenteuerlich, mit ein wenig Umsicht würde es für die Kinder allerdings ohne Gefahr zu bewältigen sein.

Vereinzelt fielen Tropfen von den Blättern und befeuchteten Gesicht und Kleidung. Kühler Wind rauschte leise durch die Bäume, seichte Nebelschwaden zogen wie Waldgeister über den Boden, als die Gruppe sich langsam bergwärts bewegte.

Jürgen hatte ein gemächliches Tempo angeschlagen, es war leicht, ihm zu folgen. Es würde ein recht angenehmer, lustiger Tag werden, dachte Anja. Bald hatten sich eine kleine Gruppe Mädchen und auch einige Jungen um sie geschart, die sie, nachdem die Schüchternheit abgelegt war, neugierig ausfragten. Die Wandergruppe war inzwischen etwas auseinandergezogen, ein paar der Kinder liefen mit Jürgen vorneweg, dazwischen waren einige, die sich miteinander unterhielten, und schließlich, in kurzem Abstand, ihre kleine Gruppe vorwitziger Zwerge, die alles Mögliche von ihr wissen wollten.

»Nein, Jürgen ist nicht mein Freund, nur ein guter Kamerad«, gab sie lachend auf die Frage einer vorlauten Zwölfjährigen Antwort.

Ein anderes Mädchen stupste die Kleine von der Seite an. »Hast dich wohl verknallt, Amelie?«

Amelie lief puterrot an und schob sich schmollend eine blonde Strähne hinters Ohr. »So ein Quatsch. Hat mich halt einfach interessiert«, gab sie zurück. Fünf Minuten später sah man sie bei der Gruppe vorne neben Jürgen laufen.

Anja lächelte. Sie kannte das, solche Schwärmereien kamen immer wieder vor, meistens bei Mädchen und gerade in diesem Alter. Anja zog nun das Tempo etwas an, um an die Kinder vor ihnen aufzuschließen. »Hopp, hopp, Galopp, ihr werdet doch nicht schon müde sein?«, spornte sie die Kids an.

Alle stapften begeistert vorwärts. Inmitten der lustigen Kinderschar befand sich auch der zehnjährige Lukas Zinnari, der sich zusammen mit seinem besten Freund Karli Angerer zu dieser Tour angemeldet hatte. Nebeneinander marschierten sie dahin und schienen den anstrengenden Aufstieg gar nicht zu bemerken, denn sie unterhielten sich lebhaft und lachten.

Anja hatte sie eingeholt und ging nun neben den beiden Buben her. »Na, könnt ihr noch? Ihr habt es ja sehr lustig zusammen.«

Lukas nickte. »Wir haben uns ja lange nimmer g’sehen, da müssen wir doch viel reden, oder?«, gab er altklug zurück.

Anja lächelte. »Klar. Aber passt auf, dass euch bei all dem Geplapper nicht die Puste zum Wandern ausgeht.«

Die beiden kicherten. »Nö, wir sind topfit, gell, Karli?«, tönte Lukas. »Komm, wir zeigen es der Anja, wie schnell wir sein können.« Und schon spurtete Lukas mit hüpfendem Rucksack los, gefolgt von Karli.

Als wäre es der Startschuss gewesen, rannten plötzlich alle Kinder um Anja davon und stürmten den recht steilen Waldweg hinauf zu Jürgen. Kopfschüttelnd folgte sie den Kindern etwas langsamer.

Jürgen hatte das Gejohle hinter sich gehört, war stehen geblieben und wartete auf die heranstampfende Herde.

Die blonde Amelie war dicht an seiner Seite geblieben. »Alter, die benehmen sich wie im Kindergarten«, kommentierte sie überheblich.

Jürgen wusste, dass sich das »Alter« nicht auf ihn bezog, das war zurzeit einfach allgemeine Jugendsprache, eine Sprache, die er allerdings nicht unbedingt befürwortete.

Der jüngere Lukas Zinnari hatte ihre abfälligen Worte ebenfalls hören können. »Selber Kindergarten«, konterte er schlagfertig.

Jürgen feixte.

Amelie sah es, drehte sich beleidigt um und schlurfte ein paar Meter weiter zum Wegrand. Da lagen dicke, teils einen halben Meter hohe Felsbrocken, umringt von kleineren Steinen. Angesäuert kickte sie mit ihrem für heute eigens gekauften, teuren Wanderschuh einen Brocken und sah ihm nach, wie er weiter die Böschung hinab in das Farnkraut im Unterholz kullerte.

Plötzlich gellte ein heller Schrei durch den Wald, der sofort alle Gespräche entsetzt verstummen ließ.

Jürgen fuhr herum und war mit einem Satz bei der Kleinen. »Amelie, hast du dir wehgetan?«

Das Mädchen schrie noch einmal, streckte einen zitternden Arm aus. »Da!« Mehr brachte sie nicht heraus, sie schluchzte auf.

Jürgens Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm, und er erkannte, was sie so aus der Fassung gebracht hatte. Er wurde blass, zog das Mädchen heran und drückte ihren Kopf an seine Brust. Mit heiserer Stimme sagte er zu Anja: »Komm mit den Kindern nicht näher.«

Natürlich war die Bande kaum zu halten, dicht aneinandergedrückt schob sie sich neugierig zum Wegrand. Jürgen packte Lukas, der ihm am nächsten stand, am Oberarm. »Geht zurück, Kinder, bitte, seid vernünftig.«

Lukas sah das käsige Gesicht seines Betreuers – und begriff sofort. Nicht umsonst war er der Sohn eines Polizisten, sogar eines Kommissars der Kriminalpolizei. Er drehte sich um, schob Karli vor sich her und drängte die anderen Kinder mit Anjas Hilfe zurück.

Trotz aller beruhigenden Worte entstand Hektik, einige hatten gesehen, was Amelie so erschreckt hatte, und posaunten es lautstark heraus. »Da liegt ein Totenkopf! Ehrlich, ich hab’s genau gesehen! Igitt, der Kopf von einem Menschen«, klang es durcheinander.

Anja hatte Mühe, die ganze Gesellschaft ein paar Meter weiter wegzubugsieren. Sie wies die Kinder an, sich auf einer moosbewachsenen Felsensteingruppe niederzusetzen, und bat ein paar der älteren, darauf zu achten, dass niemand weglief. Dann ging sie zurück zu Jürgen, der Amelie auf sie zuschob.

»Wartet hier, ich schau mir das mal genauer an.«

Anja nickte und nahm das noch immer weinende Mädchen tröstend in die Arme.

Jürgens Herz pumperte ihm bis zum Hals, als er vorsichtig den Weg verließ und sich einen Pfad nach unten durch das lichte Unterholz bahnte. Der weiche Waldboden federte unter seinen Schritten, das feuchte alte Laub war rutschig und verströmte einen modrigen Geruch.

Knapp drei Meter unterhalb vom Wanderweg lag tatsächlich ein Schädel, eingebettet in braune Blätter und Erde, Jürgen konnte deutlich die leeren Augenhöhlen und die auseinanderklaffenden braun-weißen Zahnreihen erkennen. Als würde ihm der Kopf entgegengrinsen. Ein Büschel Farnkraut ragte an der Schädeldecke empor, es sah aus, als würden sich ihm die Haare zu Berge stellen. Gruselig war das, Jürgen bekam Gänsehaut und schüttelte sich.

Langsam beugte er sich darüber. Ihm grauste, dennoch musste es wohl sein. Mit Erleichterung stellte er fest, dass keine weiteren Knochen zu sehen waren. Es war kein ganzes Skelett, hier lag nur dieser Kopf, ein bleicher Totenschädel, wie man ihn oft als Halloween-Dekoration in den Geschäften kaufen konnte. Dieser war echt, daran zweifelte Jürgen keine Sekunde. Mit Schaudern wandte er sich ab und suchte die nähere Umgebung ab. Der Farn stand hier nicht allzu dicht, dazwischen waren nadel- und blätterbestreuter Waldboden und vereinzelt niedriges Gestrüpp, doch sosehr Jürgen sich auch umsah, er fand keine weiteren menschlichen Überreste. Schließlich trat er behutsam wieder zurück auf den Weg.

Anja sah ihm beunruhigt entgegen. »Und?«

Er hob hilflos die Hände. »Tja, da liegt ein Kopf, aber mehr konnte ich jetzt nicht sehen. Wir müssen das melden, Anja. Da muss die Polizei her.« Mit allen zehn Fingern fuhr sich Jürgen durch das dichte schwarze Haar und sah hinüber zu der ihm anvertrauten Kinderschar. »Scheiße. Was machen wir jetzt mit der ganzen Bande?«

Plötzlich zupfte ihn jemand am Ärmel. Es war Lukas, der zu ihm mit ernstem Gesicht aufsah. »Mein Papa muss kommen. Ich kann dir die Telefonnummer sagen.«

Verwundert blickte Jürgen auf den Knirps hinunter. »Dein Papa? Warum?«

Lukas streckte die Brust heraus, als versuchte er, ganz groß und erwachsen zu wirken. »Mein Papa ist Kommissar. Bei der Kripo. In Straubing. Der macht das schon.«

Fast musste Jürgen lächeln über den zuversichtlichen und stolzen Ton in der kindlichen Stimme. »Okay. Wie heißt denn dein Papa?«

»Michael Zinnari. Und seine Handynummer weiß ich auswendig.« Er sagte sie ihm an, und Jürgen tippte sie in sein Handy.

Gleich darauf hatte er den Kommissar tatsächlich erreicht und schilderte ihm, welch grausiger Fund ihnen buchstäblich vor den Füßen lag. Erleichtert legte er ein paar Minuten später auf. »Sie kommen. Danke, Lukas, bist ein feiner Kerl. Hilfst du mir, die anderen zu beruhigen?«

»Logisch. Bin doch kein kleines Kind mehr. Das schaffen wir schon.«

Trotz der angespannten Situation wechselten Anja und Jürgen einen belustigten Blick.

2

Kriminalhauptkommissar Mike Zinnari hatte vor sich auf dem Schreibtisch eine Wanderkarte ausgebreitet. Das Deckenlicht brannte, denn das düstere Licht von draußen erhellte das Büro nur unzureichend, und um die Karte gut auszuleuchten, knipste er jetzt zusätzlich die Lampe am Tisch an. Zusammen mit seiner Kollegin Jutta Heinze, die sich neben seinen Drehstuhl gestellt hatte, beugte er sich darüber.

»Mal sehen«, murmelte er, »die Kinder sind von Scheuereck aus losgegangen, hinauf zur Höllbachschwelle, das ist dieser Weg hier.« Mit dem Zeigefinger verfolgte er die dünne schwarze Linie. Mike hob den Kopf. »Ich weiß gar nicht, ob wir mit dem Auto bis dahinauf können, wo sie den Schädel gefunden haben. Das sind Wanderwege, sehr schmal und nicht gut befahrbar.«

Jutta zuckte gelassen die Schultern und richtete sich auf. »Wenn nicht, dann legen wir eben einen Wandertag ein. Oder bist du nicht gut zu Fuß?«, stichelte sie und grinste.

Darauf ging Mike nicht ein, zum Spaßen war ihm im Augenblick überhaupt nicht zumute. Der Anruf von Jürgen Losig hatte ihn zugegebenermaßen sehr erschreckt. Irgendwo da draußen im dichten Wald saß nun sein Sohn, zusammen mit einer Gruppe vielleicht hysterischer Kinder und zwei sehr jungen Betreuern, bei denen er sich absolut nicht sicher war, ob sie alles im Griff haben würden.

»Und die Ausrüstung ziehen wir mit dem Leiterwagen hinterher, oder was?«, knurrte er ungehalten. »Nein, sag Richard bitte Bescheid, er soll sich mit der Forstverwaltung in Verbindung setzen. Wir treffen uns am Parkplatz in Scheuereck, die sollen mit ihren Geländewagen dort auf uns warten.«

»Ist gut.« Jutta stöckelte hinaus.

Mike sah ihr nach und überlegte kurz, ob er sie darauf hinweisen sollte, andere Schuhe anzuziehen. Wenn sie selbst nicht darauf kam, sollte sie doch mit ihren eleganten Pumps durch den Wald stelzen, schließlich tat sie sonst auch immer so gescheit …

Mike faltete die Karte zusammen, dann rief er Paul Heise vom Erkennungsdienst an und informierte ihn. »Zieh dir feste Schuhe an, Pauli, ich weiß net, wie gut der Weg ist«, fügte er vorsorglich hinzu.

Pauli lachte. »Keine Sorge, Mike, ich kenn den Weg gut. Ich bin da schon öfters gewandert, der Urwald vom Höllbachg’spreng ist unwahrscheinlich sehenswert und allemal eine Wanderung wert.«

»Das ist ja prima, wenn du dich da auskennst. Also bis gleich«, verabschiedete sich Mike und sprang hastig auf. Seine braune Lederjacke hing über dem Stuhl, er nahm sie mit und verließ das Büro.

Es war zwar immer noch August, aber das Wetter hatte momentan nicht viel Sommerliches zu bieten. Lukas, der üblicherweise nur an jedem zweiten Wochenende kam, war jetzt während der Sommerferien für zwei volle Wochen bei ihm. Ansonsten lebte er bei seiner Mutter in Deggendorf. Marion und Mike hatten sich vor einigen Monaten getrennt, die sechzehnjährige Babs war bei ihrem Vater geblieben, Lukas hatte Marion verständlicherweise mitgenommen.

Das kühle Wetter schien die Badesaison beendet zu haben. Damit dem kleinen Kerl nun nicht langweilig wurde, hatte Mike ihm erlaubt, zusammen mit seinem Freund diese Wanderung zu machen. Zeitig am Morgen hatte Mike seinen Sohn und dessen Freund Karli zum Treffpunkt Am Hagen gefahren, von wo aus der Ferienbus die Wandergruppe nach Scheuereck gebracht hatte.

Und jetzt, bereits ein paar Stunden darauf, sollte er seinen Sohn wiedersehen, viel früher als ursprünglich geplant. Wie seltsam der Zufall doch oft spielte. Musste es ausgerechnet die Kindergesellschaft von Lukas sein, die diesen ungewöhnlichen Fund machte? Mike unterdrückte das flaue Gefühl, das sich in seiner Magengegend ausgebreitet hatte.

Unten im Hof der Dienststelle traf er mit seinen Kollegen zusammen. Der junge Kommissar Richard Bacher kam geschäftig auf ihn zu. Er trug Jeans und ein Hemd, aber keine Jacke.

»Das Forstrevier Frauenau kümmert sich darum, dass euch jemand zur Fundstelle fährt«, informierte ihn Richard.

»Gut, danke. Kommst du nicht mit?«

Richard druckste herum. »Chef, wenn es nicht unbedingt sein muss, wäre es mir lieber, ich könnte im Büro bleiben«, sagte er schließlich. »Da sind von letzter Woche noch einige Sachen zu erledigen, ich hätte das gern alles abgeschlossen.«

Von seiner imposanten Größe von über einem Meter neunzig sah Mike auf den jungen Kollegen hinunter und musterte ihn aufmerksam. Es war sehr ungewöhnlich, dass Richard freiwillig auf einen Außeneinsatz verzichtete, meistens hatte er eher Angst, etwas zu verpassen.

Richard wich Mikes argwöhnischem Blick aus, sein rundes Gesicht mit den vielen Sommersprossen wirkte blass. »Willi kann ja mitfahren, und Jutta ist auch dabei, da braucht ihr mich sicher gar nicht«, murmelte er.

»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass Willi freiwillig einen Berg hochrennt? Nein, der bleibt besser da«, gab Mike indigniert zurück, womit er auf Willi Schretzlmeiers beträchtliche Leibesfülle anspielte.

Richards Lächeln wirkte gequält. »Hast recht. Muss ich jetzt mitfahren?«

Mike antwortete nicht gleich. Irgendwas stimmte nicht, Richard erschien ihm verunsichert, zögernd, nicht so energisch wie sonst. War er vielleicht krank? Da der junge Kommissar fast fünfzehn Jahre jünger war als er, fühlte Mike sich irgendwie väterlich besorgt, selbst wenn er es nicht offen zeigen wollte.

»Geht’s dir nicht gut?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Doch, doch, alles okay. Aber die Arbeit …«, Richard zuckte die Schultern, »ich will einfach endlich damit fertig werden.«

Mike gab nach, selbst wenn ihm diese Erklärung unglaubwürdig vorkam. »Gut, bleib halt da. Wir sind eh genug Leute. Also bis später, Richard.«

Richard nickte erleichtert. »Ja, bis dann.« Er wandte sich um und flüchtete schnell zurück ins Gebäude.

Verwundert sah Mike ihm nach. An Jutta gewandt fragte er: »Hast du eine Ahnung, was mit dem los ist? So kenne ich Richard gar nicht, sonst will er immer bei allem dabei sein.«

Jutta schüttelte den Kopf, eine Strähne ihres sorgfältig toupierten dunklen Haares löste sich, und sie strich sie ungeduldig hinters Ohr. Eine Geste, die so typisch für sie war, dass Mike sie schon gar nicht mehr bemerkte. »Keine Ahnung«, gab sie desinteressiert zurück. »Vielleicht will er einfach nicht mit auf den Berg. Ein Flachlandtiroler halt.«

Dieser Ausdruck kam ausgerechnet von Jutta, die aus Bielefeld stammte und selbst von Bergen so viel Ahnung hatte wie eine Kuh vom Sockenstricken.

Mike musste jetzt lachen. »Wenn du das sagst. Also los, fahren wir.« Mit Genugtuung registrierte er, dass unter Juttas schwarzer Bundfaltenhose, die sie immer zu einfarbigen Blusen trug, die Pumps mit den hohen dünnen Absätzen hervorlugten. Flachlandtiroler, haha …

* * *

Peter Zinnari, Mikes Vater, stand auf einen Spaten gestützt in seinem Garten und sah sich um. Recht zufrieden war er mit seiner Arbeit, der Rasen war gemäht, die verblühten Rosenknospen abgeschnitten. Auf Bitte seiner Frau Maria hatte er einen kleinen Erdhaufen zurechtgeschaufelt, der im Herbst reichlich Kürbisse hervorbringen sollte. Leider keine essbaren, lediglich Zierkürbisse, die dekorativ waren und sich später im Jahr gut verkaufen ließen.

Der ehemalige Lokführer genoss seinen Ruhestand in vollen Zügen – er gab dieses Wortspiel oft selbst schmunzelnd zum Besten – und noch mehr, seit er mit Maria verheiratet war. Andererseits, er bemerkte sehr wohl, dass Mike zu seiner Stiefmutter ein recht distanziertes Verhältnis hatte. Als »Öko-Tante« hatte er sie einmal bezeichnet, nicht boshaft, aber treffend. Denn Maria war tatsächlich mehr der alternativen Couleur zugewandt, was sich mitunter in recht seltsamen Anwandlungen zeigte. So trug sie vorwiegend Baumwollkleidung und bevorzugte vegetarische Kost. Sehr zu Peters Leidwesen, der einem reschen Schweinsbraten noch nie abgeneigt war. Er bekam ihn trotzdem, allerdings selten genug.

Peter Zinnari räumte seine Gartengeräte auf und wusch sich in der Waschküche im Keller die Hände. Anschließend ging er nach oben und rief nach seiner Frau. »Bin fertig! Gibt’s was Kühles zum Trinken?« Er fand Maria in der Küche, sie war beim Bohnenschnippeln.

Maria hob den Kopf. »Fein. Im Kühlschrank stehen Limo und Radler, nimm dir einfach was.«

Peter trat hinter sie und legte beide Hände auf ihre Schultern. In Marias dunklen Haaren, mit immer noch beneidenswert wenig grauen Strähnen, stach eine besonders hervor, sie war lila eingefärbt und schlängelte sich kokett über ihre Stirn bis hinter das rechte Ohr. Das war eine ihrer »g’spinnerten« Seiten, wie sein Sohn Mike es nannte. Ständig hatte sie irgendetwas Neues, das ihre Persönlichkeit zum Ausdruck bringen sollte. So war sie halt, seine Maria, und er ließ ihr gern diese Freiheiten. Dafür wusste er, dass sie ihn liebte, ihm treu und überhaupt so lieb und warmherzig war, dass man sie einfach gernhaben musste.

Peter drückte einen Kuss auf die lilafarbene Strähne und ging zum Kühlschrank.

»Heute Nachmittag kommt Rita zum Kaffee«, sagte Maria nebenbei. »Sie hat vorhin angerufen. Ich hab gesagt, das ist in Ordnung. Es ist dir schon recht, oder?«

Peter hatte eine Flasche Limonade geöffnet und trank in hastigen Zügen. Er setzte ab und wischte mit dem Handrücken über die Lippen. »Rita?«, fragte er wenig begeistert nach. »Na ja, ihr könnt ja euer Kaffeekränzchen ohne mich abhalten.«

Maria sah ihn an, ungewohnt ernst, ohne die üblichen lächelnden Mundwinkel. »Sie hat extra gefragt, ob du da bist. Sie möchte eigentlich mehr mit dir reden als mit mir.«

Verdutzt erwiderte Peter ihren Blick. »Warum denn das? Hab ich was ausgefressen? Ich bin mir keiner Schuld bewusst.« Er grinste, doch Maria zuckte nur die Schultern.

»Ich weiß es nicht. Sie hat mir nichts Näheres gesagt. Aber sie klang irgendwie besorgt, aufgeregt. Ich weiß net. Bitte sei so gut und sprich heute Nachmittag mit ihr. Sonst kann ich mir wieder dauernd ihr Gejammer anhören.«

Peter nickte ergeben. »Ja, gut, wenn’s sein muss.«

Rita Müller war Marias beste Freundin, eigentlich eine patente Frau, wenn sie nicht gerade ihre »Plapperphase« hatte. Manchmal redete sie ohne Punkt und Komma, und dann war es schwierig, ihren Ausführungen zu folgen oder ein einziges eigenes Wort anzubringen. Ansonsten war sie herzensgut, immer zur Stelle, wenn sie gebraucht wurde, ein Mensch, der einem sein letztes Hemd schenken würde, wie man so schön sagte.

Was konnte denn derart wichtig sein, dass sie ihn unbedingt sprechen musste? Vermutlich ging es um den OGV, den örtlichen Obst- und Gartenbauverein, bei dem sie beide Mitglied waren. Peter hegte die Befürchtung, dass ihm Aufgaben angetragen werden würden, die sonst keiner gern tat. Na ja, einfach mal abwarten, aufregen konnte er sich immer noch, wenn er wusste, um was es ging.

* * *

Der Weiler Scheuereck lag am Rande des Nationalparks Bayerischer Wald, besaß ein eigenes Hirschgehege und war Ausgangspunkt zahlreicher Wanderwege. Zwei graue Geländewagen der Forstverwaltung standen bereits auf dem Parkplatz hinter dem Waldgasthaus, als Mike und Jutta mit einem Streifenwagen dort eintrafen. Sie waren gerade ausgestiegen, als Paul Heises BMW heranschoss und neben ihnen knirschend zum Stehen kam. Der kleine bebrillte Mann vom Erkennungsdienst sprang voller Elan aus dem Wagen und holte seine Ausrüstung aus dem Kofferraum. Ein weiterer Kollege der Spurensicherung kletterte aus der Beifahrerseite.

»Ja, servus beieinand, dann wollen wir mal, oder?«, begrüßte Pauli zeitsparend alle Anwesenden auf einmal.

So kannte ihn Mike. Und irgendwie fand er Paulis Anwesenheit beruhigend. Ein erfahrener Mann, immer akribisch genau, zugleich auch gelassen und zuverlässig wie der Glockenschlag vom Big Ben.

Jutta und Mike begrüßten die Kollegen und stellten sich den wartenden Forstleuten vor. Sie verteilten sich auf die beiden Geländeautos und ließen sich den Weg hinaufkutschieren. Die allradbetriebenen Wagen konnten den holprigen Forstweg ohne Mühe bewältigen. Sie befanden sich jetzt inmitten des Bayerischen Waldes, symptomatisch konnte Mike deshalb beim Blick aus dem Fenster außer Baumstämmen nichts anderes sehen. Es war düster um sie herum, der Weg stieg schräg an, und der Geländewagen schlingerte zeitweise wie ein Frachter in der rauen Nordsee. Mikes Magen wurde mangels eines guten Frühstücks schwer wie Blei. Hätten sie mehr Zeit gehabt, wäre er lieber zu Fuß hochgelaufen.

Bald darauf hatten sie die Kindergruppe erreicht, die noch immer die Felsblöcke bevölkerte, jetzt sichtlich gelangweilt. Die Ankunft der Polizei bot eine willkommene Abwechslung, und sie sprangen aufgeregt hoch. Sofort nach dem Aussteigen bat Pauli die beiden uniformierten Beamten, die Kinder vom Wegrand fernzuhalten, bis er die Stelle abgesperrt hatte.

Kommissarin Jutta Heinze hatte schon bei den ersten Schritten feststellen müssen, dass ihre Schuhe hier gänzlich fehl am Platz waren. Immer wieder sank sie mit den Absätzen im feuchten Waldboden ein und musste mehrmals mit dem Gleichgewicht kämpfen, bevor sie den nächsten Schritt machen konnte.

So kam es, dass Mike deutlich vor ihr an der betreffenden Stelle ankam, sich zu ihr umdrehte und sich eine boshafte Bemerkung nicht verkneifen konnte. »Was ist jetzt, wo bleibst du denn? Bist du nicht gut zu Fuß?«, fragte er süffisant.

Jutta warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Es war ihr völlig klar, dass sie sich diese Situation selbst zuzuschreiben hatte. Um das Beste daraus zu machen, erwiderte sie schnell: »Ich nehme die Personalien auf, okay?«

Mike nickte nur. Unter der Kindergruppe hatte er Lukas entdeckt, der ihm zuwinkte. Ein warmes Gefühl durchflutete ihn, am liebsten wäre er zu ihm hingelaufen, hätte seinen Sohn in den Arm genommen und sich vergewissert, dass es ihm gut ging. Aber Mike beherrschte sich. Er winkte lediglich schwach zurück und lächelte ihm aufmunternd zu. Lukas grinste und streckte einen Daumen nach oben. Der liebe Junge.

Beruhigter drehte Mike sich zu Pauli um, der inzwischen längst die Böschung hinuntergeklettert war und nun in der Hocke verharrte. Sein Kollege zog ein Absperrband von einem Baum zum anderen, sodass Mike über die Absperrung hinuntersehen musste. »Wie schaut’s aus, Pauli?«, rief er halblaut.

Pauli winkte, ohne sich umzudrehen. »Komm runter, sieh es dir selbst an«, gab er zurück.

Verblüfft zögerte Mike. Normalerweise mussten vorher im sogenannten »ersten Angriff« alle Spuren gesichert werden, in diesem Fall gehörten auch das Gebüsch und der Weg dazu. Pauli war sehr penibel, doch wenn er nun Mike aufforderte, sich ohne einen gesicherten Pfad zu nähern, würde er bestimmt wissen, warum. Mike schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und stieg vorsichtig die wenigen Meter hinab. Bei Pauli angelangt, blieb er stehen und beugte sich nach vorn.

Da lag es, das Corpus Delicti, der Schädel, der ihn bleich aus leeren Augenhöhlen anstarrte. Pauli hatte bereits Fotos gemacht, jetzt legte er die Kamera beiseite und nahm ihn vorsichtig mit seinen behandschuhten Händen hoch.

»Der ist echt, keine Frage, aber net frisch«, sagte er.

»Was heißt das, net frisch?«, fragte Mike zurück.

»Ja, ich mein halt, dass der Kopf wohl zu einem Menschen g’hört, der sicher net erst kürzlich verstorben ist. Keine frische Leich’ halt. Keine Spuren mehr von Verwesung. Der da ist schon älter, aber hier herumliegen tut er erst seit Kurzem.«

In der gebückten Haltung verspürte Mike wieder einmal einen Stich im unteren Rücken, er richtete sich langsam auf, die Hände in das schmerzende Kreuz gestützt. »Aha. Und woran siehst du das?«

Pauli sah den Schädel in seinen Händen fast verliebt an. »Keine Anzeichen von Verwitterung, keine Bemoosung, fast kein Schmutz. Er sieht aus wie frisch aus der Reinigung. Und das mein ich wörtlich. Der Schädel wurde anscheinend professionell gereinigt und präpariert, weißt, so wie man es oft mit Skeletten macht, die dann zur Anschauung dienen, in Arztpraxen zum Beispiel oder auf der Uni.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle an der Seite. »Da ist es deutlich zu sehen, hier ist der Unterkiefer mit kleinen Splinten am Jochbein festgemacht worden.«

»Aha. Und was macht der Kopf hier im Wald? Freiluftunterricht?«

»Herrschaft, du bist der Kriminaler, oder?«, brummte Pauli. »Das musst du freilich selbst herausfinden. Und vielleicht kannst du gleich noch nach dem Rest suchen, denn hier in der Nähe liegt definitiv nix Menschliches mehr herum.«

Mike blickte um sich. Sie würden die weitere Umgebung absuchen lassen, das war klar, obwohl es nicht logisch war, weshalb der Kopf getrennt von den restlichen Knochen herumliegen sollte. Außer irgendein Viech – Verzeihung, ein Tier – hätte ihn hierher verschleppt. Er fragte Pauli nach dieser Möglichkeit.

»Nein, das glaube ich net«, sagte der kleine Erkennungsdienstler kopfschüttelnd. »Ich kann keine Biss- oder Kratzspuren sehen. Freilich müssen wir den Schädel im Labor noch genau untersuchen, aber wenn er durch ein Tier, einen Fuchs zum Beispiel, herumgetragen worden wäre, hätte sich wohl der Unterkiefer gelöst und wäre abgefallen. So fest sind die Verschraubungen nun doch nicht. Der Kopf ist absolut intakt. Vollkommen, wirklich eine Schönheit.«

Mike konnte über diese Wortwahl und Paulis morbide Einschätzung nur den Kopf schütteln. »Also, dann pack deinen Mister oder deine Miss Germany ein, ich werde veranlassen, dass die Gegend abgesucht wird.«

Pauli hielt den Schädel zärtlich in beiden Händen und trug ihn vorsichtig die Böschung hinauf. Die gute, teure Digitalkamera, die neben dem Fund auf dem Waldboden lag, hatte er vergessen. Mike nahm sie mit und stieg hinter ihm her. Oben angekommen drückte er die Kamera Paulis Kollegen in die Hand und ging zu Jutta, die sich mit den beiden Studenten unterhielt.

Als sie seine Schritte hörte, drehte sie sich um. »Herr Losig möchte wissen, ob sie die Wanderung fortsetzen sollen?«

Jürgen nickte. »Genau, was machen wir denn jetzt mit den Kids?«

Mike blickte in die gespannten, erregt geröteten Gesichter der Kinder. Es schien keines dabei zu sein, das hysterisch oder verschreckt wirkte, alle Augen glänzten erwartungsvoll, sogar die der blonden Amelie, die sich enorm wichtig vorkam, weil die Kommissarin ihren Namen notiert hatte.

Eigentlich sprach nichts dagegen, die Wanderung fortzusetzen. So kamen sie überein, das Programm wie geplant durchzuführen.

»Und bis ihr beim Absteigen wieder hierherkommt, müsste alles erledigt sein, und keine Kollegen werden hier mehr herumwuseln«, fügte Mike noch hinzu.

Das überzeugte sogar Jürgen. »Gut. Dann gehen wir jetzt.«

Anja und er sammelten die Kinder um sich und redeten auf sie ein. Nur Lukas stahl sich davon und lief zu seinem Vater.

Mike drückte ihn kurz an sich. »Na, Sohn, alles klar?«

Lukas blitzte seinen Vater schelmisch an. »Logo. War doch bloß ein Kopf. Und noch dazu ohne Gesicht. Ist doch langweilig.«

Bei dieser Antwort wusste Mike nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er machte sich Sorgen um die Psyche seines Sohnes, dabei waren die Kinder heutzutage wohl durch Internet und Fernsehen ganz andere Dinge gewohnt. Mike lächelte gezwungen und strich seinem Filius über den Kopf. »Na, dann lauf. Wir sehen uns um sechs, wenn ich euch abhole.«

Und schon war Lukas fort, bei Karli und den anderen, um gleich darauf abermals eifrig den Berg zu erklimmen.

Mike holte sein Handy heraus und veranlasste das Absuchen der Umgebung, bevor er zu Pauli ging, der am Kofferraum eines der Geländefahrzeuge stand und in seiner Tasche wühlte. »Also, das wär’s so weit«, sprach er ihn leise an, »wir fahren zurück. Gib Bescheid, wenn du Näheres weißt.«

Pauli blinzelte über den Rand seiner Brille zu ihm hoch. »Klar. Ich werde mich gleich persönlich darum kümmern, sobald wir hier fertig sind. Bis später.«

Mike sah sich nach Jutta um, die vorsichtig, wie ein Kranich stelzend, auf ihn zukam. Und dann passierte es – Mike verfolgte es wie in Zeitlupe –, Jutta knickte mit dem rechten Fuß um, schrie auf, krümmte sich nach vorn und fiel auf die Knie. Mit einem Satz war Mike bei ihr. »Mensch, Jutta, pass doch auf. Komm, ich helf dir hoch.«

Seine Kollegin, die sich zur Seite gedreht hatte und nun auf dem Hinterteil saß, griff sich mit beiden Händen an den Knöchel. »Lass mich, verdammt, aua, tut das weh!«

Erschrocken beugte sich Mike zu ihr hinunter. Jutta war schlagartig kalkweiß geworden. Als er hilfsbereit nach ihrem Arm griff, schlug sie ihm einmal so kräftig auf die Finger, dass er seine Hand sofort wieder zurückzog.

»Hör auf, ich kann nicht aufstehen, verdammt.« Sie hob die Hände ein Stück. Das Hosenbein war nach oben gerutscht, Mike konnte sehen, dass der Fußknöchel sich bläulich verfärbte und nahezu den doppelten Umfang angenommen hatte.

Es sah bedenklich nach einem Bruch aus. So ein Mist, hätte er nur darauf bestanden, dass sie sich andere Schuhe anzog! Doch sein schlechtes Gewissen änderte nichts an der Sachlage; so wie es aussah, konnte er seine Kollegin für die nächsten Wochen abschreiben …

3

Kriminaloberkommissar Richard Bacher, von den Kollegen oft spöttisch als Kobold bezeichnet, was er seinen kupferroten Haaren zu verdanken hatte, saß am Schreibtisch und genoss die Ruhe um ihn herum.

Gut, dass Mike und Jutta ohne ihn gefahren waren, so war keiner da, der ständig etwas von ihm wollte oder läppische Aufträge an ihn delegierte. Richard legte die fertiggestellten Akten zur Seite und atmete entspannt auf.

Überhaupt ging es derzeit sehr ruhig zu, anscheinend hatten alle Verbrecher beschlossen, Sommerurlaub zu machen. So hatte er genügend Muße, über seine augenblickliche Lebenslage nachzudenken.

Die Bruthitze der letzten Wochen war in den vergangenen Tagen einer feuchten Kühle gewichen, die schon den näher rückenden Herbst andeutete. Das war Richard bedeutend lieber, als zweimal täglich das Hemd wechseln zu müssen, da es ihm verschwitzt am Leib klebte, so wie es noch vor ein paar Wochen der Fall gewesen war. Klar, Sommer und Hitze waren wunderbar, aber auch der Herbst war angenehm. Vor allem dachte Richard dabei an seine fränkische Heimat, wo bald die Weintraubenlese beginnen würde. Wie gern würde er dabei sein …

Stattdessen saß er hier, in der niederbayerischen Provinz, in der wunderschönen Stadt Straubing, die leider nur gelegentlich richtige Schurken, Verbrecher und Mörder hervorbrachte. Zu wenig für ihn – und viel zu wenig für seine Beförderung zum Kriminalhauptkommissar.

Richard seufzte. Natürlich hätte er jetzt beim Außeneinsatz in Scheuereck dabei sein sollen, vielleicht wäre das sogar eine Gelegenheit für ihn gewesen, wichtige Punkte zu sammeln. Stattdessen hatte er Mike Zinnari darum gebeten, im Präsidium bleiben zu dürfen. Sicher, er hatte zu tun, so dringend war es trotzdem nicht gewesen. Die Wahrheit war einfach, dass er nicht gern in die Berge fuhr, noch weniger gern hinaufstieg – und noch viel weniger von oben hinabsah.

Richard hatte Höhenangst.

Lange war es noch nicht her, dass er zum ersten Mal die Anzeichen gespürt hatte. Vor ein paar Wochen hatte es plötzlich begonnen, dieses Zittern, die Schweißausbrüche, die Übelkeit, sobald er von irgendwo hinuntersehen musste. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um einen hohen Berg oder um eine einfache Treppe zum ersten Stock eines Hauses handelte. So schlimm war es inzwischen geworden.

Bisher hatte er noch nicht den Mut gefunden, es seinem Vorgesetzten zu melden. Lieber vermied er Situationen, in denen es hätte auffallen können. So wie heute, als er den Namen »Großer Falkenstein« vernommen hatte. Allein davon hatte sein Magen schon rebelliert.

Gegen Mittag kam sein Chef zurück. Ohne Jutta.

Kurz angebunden schilderte Mike, was vorgefallen war und dass er Jutta im Klinikum abgeliefert hatte. Rasch verzog er sich in sein Büro. Richard blieb am Schreibtisch sitzen und dachte nach. Es tat ihm leid um Jutta, keine Frage. Wenn sie längere Zeit ausfiel, würde er sich nicht mehr mit liegen gebliebener Arbeit herausreden können, sobald es in die Höhe ging.

Schließlich folgte er seinem Vorgesetzten in dessen Büro und fand Mike hinter dem Schreibtisch sitzend, in Gedanken versunken aus dem Fenster starrend.

Richard räusperte sich. »Entschuldige, ich habe geklopft …« Ein gequälter Blick aus Mikes Augen ließ ihn verstummen. Richard bekam plötzlich weiche Knie, fand den leeren Stuhl vor dem Schreibtisch und ließ sich darauf niedersinken. »Chef, was ist denn?«, fragte er verdattert.

Mit beiden Händen fuhr sich Mike über die stoppelkurzen graublonden Haare und seufzte tief. »Herrje, Richard, im Moment bezweifle ich, dass ich die Anrede ›Chef‹ überhaupt verdient habe. Ich hab einen Fehler gemacht, der mir nicht hätte passieren dürfen.«

»Ja, was – was ist denn los?«, wiederholte Richard, es musste so ängstlich geklungen haben, dass Mike trotz allem lächeln musste.

Er zuckte die Schultern. »Ich bin schuld an Juttas Unfall, das ist los. Ich Riesenrindvieh, ich hab noch drüber nachgedacht«, fügte er, eine Nuance lauter, noch hinzu. Auf Richards erneute Nachfrage hin erzählte Mike ihm von seiner Unterlassungssünde.

Trotz der bedauerlichen Lage begann Richard plötzlich zu lachen. »Allmächd, Mike, das war doch nicht deine Schuld. Entschuldige, Jutta lebt lang genug hier, um zu wissen, dass man in den Bergen nicht mit Stöckelschuhen rumläuft, auch wenn unsere eine Nummer kleiner sind als die Alpen oder Dolomiten. Nö, den Schuh muss sie sich schon selber anziehen, du bist schließlich nicht unsere Mutter.«

»Findest du? Würdest du genauso darüber denken, wenn du jetzt im Krankenhaus liegen würdest?«

Richard lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mal ganz abgesehen davon«, gab er sarkastisch zurück, »dass ich nicht mit Stöckelschuhen herumlaufe, denke ich, dass jeder auf sich selbst aufpassen muss. Besonders wir, die wir im Außeneinsatz immer gefährdet sein können.«

Eine Sekunde dachte Richard daran zurück, wie er während ihres letzten Mordfalls bei einer Festnahme versehentlich ohne Dienstwaffe ausgerückt war. Ein Fehler, den er dienststrafrechtlich streng hätte büßen müssen. Mike hatte sich damals für ihn eingesetzt, um den Schaden zu begrenzen, was Richard ihm hoch anrechnete. Außerdem sprach er wirklich nur das aus, was er tatsächlich dachte.

Mike erinnerte sich bei seinen Worten anscheinend ebenfalls an diesen Vorfall und grinste anzüglich. »Soso.«

Richard lief rot an. »Ja, stimmt’s nicht? Wir müssen immer und jederzeit auf Gefahren vorbereitet sein. Und für seine Fehler muss schließlich jeder selbst einstehen«, ereiferte er sich mit glühenden Ohren.

Mit einer Handbewegung bremste ihn Mike. »Ist ja gut, Richard, ich hab dich verstanden. Trotzdem, wir sind schließlich nicht hier, um uns gegenseitig zu bespaßen. Blödsinn und Streiche haben im Dienst nix zu suchen. In Zukunft muss ich einfach besser darauf achtgeben.« Das klang sehr ernst und bestimmt.

Schade, dachte Richard, nickte jedoch schweigend. Gerade die Frotzeleien unter den Kollegen machten den Alltag erst wirklich erträglich. Na ja, irgendwann würde sich Mikes guter Vorsatz in Luft auflösen, hoffte er insgeheim, dann würde es auch wieder lustiger werden.

Um seinen Chef auf andere Gedanken zu bringen, fragte er nach dem gefundenen Schädel.

»Dabei wird’s wohl bleiben«, meinte Mike. »Ich glaube nicht, dass wir den Rest des Skeletts noch finden werden. Egal, woher dieses Ding gekommen ist, ein Mord wird vermutlich nicht dahinterstecken.«

Innerlich atmete Richard auf, blieb ihm so wenigstens der Tatort auf dem Berg erspart. Sicherheitshalber legte er Bedauern in die Stimme. »Also nichts für uns? Schade. Ach ja, da kann man halt nichts machen.«

»Mhmhh. Pauli wird sich melden, wenn er was weiß. Auf jedem Fall sollten wir es an die Pressestelle weitergeben. Vielleicht hat jemand was gesehen, oder es meldet sich derjenige, dem sein Kopf abhandengekommen ist«, sagte Mike.

Richard musste grinsen. »Kopflose Gestalten gibt es genug, das steht außer Frage.«

»Du meinst wohl eher ›hirnlos‹, Richard. Da stimme ich dir voll zu. Ich bin dafür das beste Beispiel.«

Richard wurde jetzt ernsthaft sauer. »Jetzt hör doch endlich damit auf, Mike. Menschen machen Fehler, wer keine Fehler macht, tut auch sonst nix!«

Mike schien Richards tröstende Absicht hinter diesen Worten gutzutun. Trotzdem schüttelte er den Kopf. »Du musst mich net gleich so anplärren, Richard.«

Mühsam riss sich Richard zusammen. »Entschuldige … nein, schon gut, ich sag nichts mehr. Also, ich gebe die Meldung raus, sobald wir Paulis Bericht vorliegen haben. Bis später.« Er stand auf und ging hinaus.

Mike sah hinüber zu Juttas verwaistem Arbeitsplatz. Irgendwie ging es ihm jetzt besser, das Magendrücken war verschwunden. Vielleicht hatte Richard ja recht, und er musste sich gar keine Vorwürfe machen. Zumindest nicht so große …

Kurz vor Feierabend läutete sein Telefon, Jutta war dran. Sie klang bedeutend fröhlicher als am Vormittag. »Hallo, Mike, ich bin jetzt zu Hause.«

Mike freute sich, ihre Stimme zu hören. »He, Jutta! Was, du bist zu Hause? Wie geht’s dir überhaupt?«

»Ganz gut eigentlich. Nichts gebrochen, Gott sei Dank. Eine Sehne ist gerissen und einiges gezerrt. Die haben mir einen Gips verpasst, aber es ist alles nicht weiter wild.«

Mike fiel ein ganzes Gebirge vom Herzen. »Das klingt ja sehr gut. Wie lange wird’s denn dauern?«

»Vermisst du mich etwa?«, lachte Jutta. »Ein paar Wochen wirst du dich wohl gedulden müssen. Du hast ja Richard, der mich hoffentlich würdig vertreten wird.«

»Dann hoff mal schön«, gab Mike trocken zurück. »Nein, Schmarrn, mach dir mal keine Gedanken. Eine Zeit lang werden wir es natürlich ohne dich aushalten. Liegt ja eh nix Großes an im Moment.«

»Ja, ich würde dir wünschen, dass das so bleibt. Was ist bei der Sache heute Morgen noch herausgekommen?«

»Von Pauli weiß ich noch nichts. Vermutlich nur ein Blödsinn von einem, der es lustig findet, Knochen in der Gegend zu verteilen. Zumindest handelt es sich nicht um einen Mordfall, außer der Täter wäre ein verhinderter Anthropologe, der seine Opfer spaßeshalber präpariert. Nein, ich glaube, an dem Ganzen ist nix dran.«

»Gut. Es wäre trotzdem nett, wenn du mich auf dem Laufenden halten würdest, Mike. Sonst wird es mir stinklangweilig daheim.«

Mike konnte wieder lachen. »Ach, dem kann ich abhelfen. Ich bringe dir meine Socken zum Flicken vorbei.«

»Kauf dir neue«, war Juttas schnelle Antwort, »davon verstehe ich nichts. Mike, sag allen einen schönen Gruß und melde dich mal bei mir.«

»Sicher. Erhol dich, gute Besserung, Jutta. Wir hören uns.«

Mike legte auf, grinste und war plötzlich bester Laune. Nichts wurde so heiß gegessen, wie es gekocht wurde, am Ende war alles gar nicht so tragisch. Und in einer halben Stunde würde er Lukas abholen und einen schönen Abend mit seinen beiden Kindern verbringen. Worüber sich also Sorgen machen?

4

Rita Müller war klein und von molliger Statur, ihr Gesicht mit den vollen roten Wangen und den leuchtend hellen Augen ließ sie meist fröhlich und gut gelaunt wirken. Heute jedoch lächelte sie nicht, als ihr Maria Zinnari die Haustür öffnete. Ganz im Gegenteil. Rita war genau wie Maria achtundfünfzig Jahre alt, was man ihr jetzt auch deutlich ansehen konnte.

Maria erschrak, als sie die Freundin begrüßte. »Rita, bitte, komm herein. Sag mal, was ist denn los? Du schaust zum Davonlaufen aus.«

»Oh, danke, du warst schon immer sehr direkt.« Noch nicht einmal die neckend gemeinten Worte ihrer Freundin brachten sie zum Lächeln. Stockend fuhr sie fort: »Dein Mann ist daheim, ja? Stör ich ihn auch net?« Nervös trat sie von einem Bein auf das andere, bis Maria sie schließlich weiter in die Küche schob und sie zum Sitzen nötigte.

So aufgelöst hatte sie Rita noch nie erlebt, nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit ihrer vierzigjährigen Freundschaft. Dunkle Ringe unter den Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht, ihre Hände umschlossen zitternd die Kaffeetasse. Fassungslos hörten Maria und Peter ihr zu, während Rita sich ihren Kummer von der Seele sprach.

»Ich hab die ganze Nacht nicht schlafen können, ich – ich hab gestern etwas erfahren, womit ich allein net zurechtkomm. Es betrifft meine frühere Nachbarin, Maria, du kennst sie net, aber ich kenn sie, seit ich ein Kind war, und hab sie sehr gern gemocht.«

»Du hast sie gemocht?«, wiederholte Maria.

Rita nickte. »Sie ist gestern Abend gestorben. Magenkrebs. Seit vier Wochen lag sie im Krankenhaus, zum Schluss haben sie ihr nur noch Morphium gegeben, damit sie die Schmerzen einigermaßen aushalten konnte.« Langsam erzählte sie weiter. »Ich hab sie gut gekannt, wisst ihr, früher, als ich klein war, da war ich viel bei ihr zu Hause. Wir hatten sogar jetzt noch die ganze Zeit Kontakt, vielleicht nimmer so viel wie früher. Als sie krank wurde, da hab ich sie ein paarmal besucht.«

Peter fiel auf, dass Rita es vermied, ihre Nachbarin beim Namen zu nennen. »Das tut mir leid, dass sie gestorben ist«, meinte er schließlich, als Rita eine Pause machte.

»Ja – ja, das tut mir auch leid. Sie war über achtzig, da muss man halt mit so was rechnen. Was viel schlimmer ist, sie … sie …«, Rita stammelte, »sie hat mir gestern, als ich sie ein letztes Mal im Krankenhaus besucht hab, einen Mord gestanden, den sie zusammen mit ihrer Tochter begangen haben will!«

Was Rita nicht erzählte, war ihr Erschrecken, als ihr beim Verlassen des Krankenzimmers die besagte Tochter über den Weg gelaufen war. Hatte Hanni mitbekommen, was ihre Mutter Rita soeben offenbart hatte? Aus Hannis knappem, unfreundlichem Zunicken, als sie an ihr verbeiging, konnte Rita jedenfalls nichts herauslesen. Trotzdem hatte sie unmittelbar schreckliche Angst bekommen. Rita hatte mit zitternden Knien das Krankenhaus verlassen und die ganze Zeit gegrübelt. Was sollte sie tun? Sie konnte doch jetzt nicht einfach mit ihrem Wissen zur Polizei gehen – was wäre, wenn Hanni das mitbekäme? In ihrer Not hatte sie sich daran erinnert, dass Peters Sohn Kommissar war, und ihn wollte sie nun um Hilfe bitten.

Nachdem das Wort ›Mord‹ gefallen war, verschloss sich Rita wie eine Auster. Sie hatte Peter das Versprechen abgenommen, seinen Sohn herzubeordern, dem gegenüber sie weitere Einzelheiten offenbaren würde. Aber nur ihm gegenüber. Ausdrücklich.

Maria und Peter Zinnari saßen noch lange in ihrer Küche, nachdem Rita Müller längst gegangen war. Was sie ihnen eben erzählt hatte, musste erst einmal verdaut werden.

Maria schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. »Ach je, ich versteh’s net. Die Rita …« Mindestens fünf Mal hatte sie diesen Satz jetzt schon wiederholt, nachdenklich, fassungslos.

Peter war langsam genervt. »Mensch, Maria, jetzt lass mal gut sein. Die Rita wird Michael sicher alles sagen, was wichtig ist. Wenn sie meint, uns gegenüber so sparsam sein zu müssen, ist das ihr gutes Recht, oder?«

»Ja, schon, nur – ist das nicht komisch? Diese Nachbarin – glaubst du, die hat mit ihren achtzig Lenzen noch einen Mord begangen? Und wenn ja, welch erlösender Zufall, dass sie bald darauf verstirbt. Sag selbst, ist das nicht seltsam?«

Peter war Pragmatiker, über Dinge, die er nicht in der Hand hatte, verlor er selten mehr als einen Gedanken. Er stand entschlossen auf und zog auch seine Frau vom Stuhl hoch. »Pass auf, heut Abend ruf ich Michael an und erkläre ihm das Ganze. Er wird uns sagen, was zu tun ist. Und wenn Rita absolut der Meinung ist, dass allein er alle Einzelheiten erfahren darf, dann ist das halt so, basta, damit haben wir uns abzufinden. Und jetzt lass uns rübergehen ins Wohnzimmer und fernsehen, das wird uns ablenken. Auf geht’s.«

Und Maria ließ sich überreden, obwohl ihr Kopf voll war mit abstrusen Gedanken und ihr Herz voller Sorge um ihre Freundin Rita.

* * *

Wie vereinbart holte Mike seinen Sohn und Karli abends vom Busparkplatz ab. Die beiden jungen Betreuer hatten glaubhaft versichert, dass keines der Kinder traumatisiert wirkte, der Vorfall war wohl nicht einmal mehr erwähnt worden, als sie beim Abstieg die Fundstelle passiert hatten.

Trotzdem, als Mike Karli zu Hause ablieferte, fühlte er sich verpflichtet, dessen Eltern darüber zu informieren. Die beiden waren vernünftige Menschen und maßen dem Ganzen Gott sei Dank nicht zu viel Bedeutung bei.

Endlich ließ Mike den Renault SUV vor seiner Garage ausrollen. Erleichtert schnallte er sich ab und wandte sich hinüber zu Lukas, der seinen Rucksack aus dem Fußraum hochzerrte. »So, Lukas, da sind wir. Warte mal kurz, ich will noch schnell mit dir reden.«

Sein Sohn, die Hand am Türgriff, zog sie jetzt wieder zurück. »Warum?« Lukas hatte Hunger, er war müde, seine Beine taten ihm weh. Ungeduldig sah er seinen Vater an. »Warum?«, wiederholte er, als Mike nicht gleich antwortete.