Nebelschrei - Sam Baker - E-Book

Nebelschrei E-Book

Sam Baker

3,8
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach außen ist Helen eine starke Frau. Niemand ahnt, dass ihr die Erinnerungen an die Hölle, die sie erlebt hat, täglich den Atem rauben. Und dass sie nur knapp dem Tod entkommen ist. Das fast verfallene Anwesen in einer abgelegenen Gegend in Nordengland scheint das perfekte Versteck zu sein. Doch die Dorfbewohner kommen ihr näher, als ihr lieb ist. Denn niemand darf wissen, wo sie ist – vor allem nicht der Mensch, dem sie am meisten vertraut hat …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 529

Bewertungen
3,8 (18 Bewertungen)
5
8
2
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


ZUM BUCH

Nach außen ist Helen eine starke Frau. Niemand ahnt, dass ihr die Erinnerungen an die Hölle, die sie erlebt hat, täglich den Atem rauben. Und dass sie nur knapp dem Tod entkommen ist. Das fast verfallene Anwesen in einer abgelegenen Gegend in Nordengland scheint das perfekte Versteck zu sein. Doch die Dorfbewohner kommen ihr näher, als ihr lieb ist. Denn niemand darf wissen, wo sie ist – vor allem nicht der Mensch, dem sie am meisten vertraut hat …

»Schonungslos und packend!«  Jojo Moyes

»Sam Baker steigert die Spannung gnadenlos bis zur letzten Seite.«  The Guardian

»Ein atemloser Thriller!«  Sunday Times

»So fesselnd, dass man es nicht aus der Hand legen kann. Ein großartiges Buch!«  Marian Keyes

ZUR AUTORIN

Sam Baker wurde im südenglischen Hampshire geboren und studierte Politikwissenschaft in Birmingham. Sie arbeitete als Journalistin für namhafte Zeitschriften und war viele Jahre Chefredakteurin des Lifestyle-Magazins Red. Mit ihrem Mann lebt sie heute in Winchester.

SAM BAKER

NEBELSCHREI

THRILLER

Aus dem Englischen

von Evelin Sudakowa-Blasberg

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Zitatnachweis: Das Zitat [hier] stammt aus Anne Brontë, Die Herrin von Wildfell Hall, übersetzt von Sabine Kipp. © 1990 by Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Deutsche Erstausgabe 10/2016

Copyright © 2016 by Samantha Baker

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel The Woman Who Ran bei Harper, an imprint of HarperCollinsPublishers

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Johanna Cattus-Reif

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotive: © plainpicture/whatapicture

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

e-ISBN 978-3-641-17562-7V001

www.diana-verlag.de

Besuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.de

Für Jon, wie immer

PROLOG

Paris, Ende August 2012

Ich wache davon auf, dass jemand hustet. Es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, dass ich das bin. Mein Körper krümmt sich vor Husten wie bei einem Kind, das einen Fieberkrampf erleidet.

Gerade noch rechtzeitig rolle ich mich zur Seite, ehe ich mich in einem Schwall auf den Boden übergebe. Die Säure brennt in meiner Kehle, und als ich versuche, die Augen zu öffnen, muss ich sie gegen den beißenden Rauch sofort zusammenkneifen.

Es riecht verbrannt. Die Luft ist von einem dunklen, tiefen Summen erfüllt, das ich schon einmal gehört habe.

Elektrische Leitungen, die brennen und gefährlich zischen.

Ein stechender Gestank. Der unvergessliche, eindeutige Geruch nach versengtem Haar, Fleisch …

Die Erinnerung flattert am Rande meines Bewusstseins. Neckend, quälend. Ich greife danach, aber sie entgleitet mir, wird durch die Hitze ersetzt, die sich in meine Kehle krallt, in meinen Lungen brennt.

Wo bin ich?

Ich brauche ein, zwei Sekunden – zu lang –, bis es mir klar wird. Der Schock raubt mir den Atem. Ich bin in dem Zimmer, das einst mein Schlafzimmer gewesen ist. In dem Bett, das einst mein Bett gewesen ist. Nackt.

Röchelnd schnappe ich nach Luft, beginne zu würgen und versuche, die Panik zu unterdrücken, die zusammen mit der Galle in mir aufsteigt. Das ergibt alles keinen Sinn. Weder dass ich hier bin, noch der dichte, dunkle Rauch, der das Zimmer verfinstert und die hohe Decke verhüllt.

Jeder glaubt, Feuer würde von Beginn an prasseln und tosen. Eine Hollywood-Vorstellung von Feuer. Aber so ist es nicht. Nicht in diesem Stadium. Noch nicht. Feuer wie diese bevorzugen Verstohlenheit, nehmen sich alle Zeit, die sie brauchen, und wenn sie dich dann erreicht haben, wenn sie stark und bereit sind, schlagen sie zu.

Die Sekunden davor klingen wie diese.

Daher weiß ich, dass ich noch Zeit habe. Einige wenige kostbare Sekunden, vielleicht sogar etwas mehr.

Wenn ich mich nur dazu aufraffen könnte nachzudenken. Wenn ich mich nur dazu aufraffen könnte, mich zu bewegen.

Mein Verstand ist genauso von Rauch umnebelt wie das Zimmer um mich herum.

»Beweg dich!«, kreischt er. »Renn weg! Beweg dich!« Oder vielleicht bin ich es, die kreischt. Meine Stimme wird in den brennenden Sauerstoff gesaugt und absorbiert. Mit wackligen Beinen kämpfe ich mich aus dem Bett, mir ist schwindlig, und ich gerate ins Wanken, als die Hitze mich anspringt und zu Boden wirft. Aber wenigstens gibt es hier unten auf dem Boden, wo ich die heißen Wangen auf die kühlen Kacheln lege, etwas Luft.

Ein tiefer Atemzug, zwei, drei … Ich sauge so viel Luft in mich ein, wie es meine stechende Lunge zulässt, und versuche nachzudenken. Meine Kleidung … Wo ist sie? Warum habe ich sie nicht an?

Eine Hand vor die andere setzend, krieche ich blind um das Bett herum, auf die Hitze zu, denn das ist der einzige Weg nach draußen, bis meine Hand plötzlich auf Stoff trifft. Ich schnappe mir irgendetwas – ein T-Shirt, dann einen festeren Stoff, Jeans, deren Nieten an meinen Fingerspitzen brennen, als ich sie ergreife.

Beweg dich weiter.

Ich schleppe mich an der Wand entlang, bis dahin, wo Ziegel in Holz übergehen. Dann ziehe ich mich hoch, drehe fest an dem metallenen Türknauf und schreie auf, als ich mir die Handfläche an dem glühend heißen Metall verbrenne. Hitze umzingelt mich und dahinter lodern Flammen.

Ich tauche in den kränklich orangefarbenen Nebel ein; das Feuer prasselt nun. Mein Herzschlag setzt aus, als am anderen Ende des Zimmers ein unheilvolles Krachen ertönt. Ich schließe die Augen, blinzle gegen den Rauch an und stolpere nach vorn. Mich ganz auf die Tür konzentrierend, beginne ich zu zählen.

Zwinge mich, Ruhe zu bewahren.

Eins, zwei, drei …

Als ich mich vorwärtstaste, landet meine Hand auf etwas, das sich ganz und gar nicht richtig anfühlt. Es ist warm und weich, gibt unter meinem Gewicht nach. Ich keuche und höre ein Winseln, wie von einem getretenen Hundewelpen. Der Laut ist kaum hörbar, und er kommt von mir.

Während ich zurückweiche, zwinge ich mich hinzusehen. Mit meinen tränenden Augen kann ich nur verschwommen den Umriss eines Körpers erkennen, der zusammengerollt in der Ecke zwischen mir und der Tür liegt.

Trotz des Feuers ist meine Haut plötzlich eisig kalt. Die feinen Härchen auf meinen Armen stellen sich auf, und ich rieche, wie sie anzusengen beginnen. Ich kann mich nicht dazu überwinden, den Körper noch einmal anzufassen. Aber ich schaffe es auch nicht, mich abzuwenden.

Beweg dich!, drängt mein Verstand. Raus hier!

Ich werfe einen Blick zurück. Während ich das tue, schießen hinter mir Flammen hoch, schwärzen den Läufer und glühen an meinen Fersen. Endlich gehorcht mir mein Körper. Ich öffne die Tür zum dahinterliegenden Flur und stürme los.

TEIL EINS

Die Fremde

»Ich würde ein armes Mädchen nicht ohne Waffen gegen ihre Feinde in die Welt hinausschicken … noch würde ich über sie wachen und sie beschützen, bis sie, aller Selbstachtung und allen Selbstvertrauens beraubt, die Kraft und den Willen verlöre, über sich selbst zu wachen und sich selbst zu schützen.«

Anne Brontë: Die Herrin von Wildfell Hall

1

SKANDALERSCHÜTTERTEM KRANKENHAUS DROHT SCHLIESSUNG

Großbuchstaben, 124 Punkt. Unter der Überschrift das Bild eines baufälligen viktorianischen Ungetüms aus rotem Backstein, umgeben von zahlreichen Außengebäuden, alle im Verlauf der letzten fünfzig Jahre entstanden. Ein Siebziger Anbau da, ein Container dort. Abblätternde Farbe, Schilder mit fehlenden Buchstaben – ardiologie, Am ulanz –, und das alles bereits, bevor man sich der Innenausstattung zuwandte. Es ging das Gerücht – das Gerücht in Zusammenhang mit dieser letzten Krise –, dass die Familien von Langzeitpatienten gebeten wurden, ihre eigenen Mahlzeiten mitzubringen und die Schmutzwäsche zu Hause zu waschen. Unter dem Foto befand sich eine Schurkengalerie mit Abbildungen von Verwaltungsbeamten und Krankenhausmanagern, deren Nachlässigkeit und kostendämpfende Maßnahmen dazu beigetragen hatten, dem Krankenhaus einen unrühmlichen hinteren Platz im staatlichen Gesundheitswesen zu bescheren.

»Nicht schlecht.« Gil Markham trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu bewundern.

Was Titelseiten anging, so war das weiß Gott nicht seine beste, aber das Thema war in Ordnung. Es würde auf genügend Interesse stoßen. Eine reale Story mit realen Auswirkungen auf die örtliche Gemeinde. Jeder kannte irgendjemanden oder kannte jemanden, der jemanden kannte, der unter den katastrophalen Zuständen im Krankenhaus gelitten hatte. So war das hier in der Gegend. Der letzte Ort in England, wo Neuigkeiten genauso schnell über den Gartenzaun, die Haustürtreppe und die Kneipe verbreitet wurden wie über das Internet, wenn nicht sogar schneller. Doch nicht einmal dies – ein Faible für guten, altmodischen Klatsch – würde genügen, um seine geliebte Zeitung zu retten.

Gil seufzte und blickte sich dann rasch um, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn gehört hatte.

Die Schließung eines Krankenhauses war zum Ausklang nicht gerade der Schwanengesang, den er sich vorgestellt hatte, aber er konnte mit erhobenem Haupt gehen. Die Story war für Ende August keine schlechte Leistung. Genauso gut hätte er mit einer dämlichen Sommerlochgeschichte oder dem Krankenhausbesuch eines unwichtigen Mitglieds der Königsfamilie aufhören können. Davon hatte er im Lauf der Jahre genügend verfasst.

»Boss«, eine seiner Aushilfskräfte tauchte neben ihm auf, »das wird knapp. Soll ich die Story auf Seite vier rübernehmen und aufmotzen, oder soll ich einen Füller suchen?«

Gil verdrehte die Augen. »Um wie viel geht es?«

»Hundert, hundertfünfzig, so um den Dreh.«

»Verdammt viel zum Aufmotzen. Haben Sie irgendwas anderes?«

»Gerade ist was hereingekommen.« Die Aushilfskraft – ein junger Mann, der über die Zeitarbeitsfirma gekommen war und dessen Namen Gil sich nicht merken konnte – reichte ihm einen Ausdruck. »Ein Reporter, früher mal ein ziemliches Ass, wird nach einem Hausbrand vermisst.«

Gil horchte auf. »Lokaler Bezug? Gibt es Familie in der Gegend? In Leeds? Bradford?«

»Nein, das Feuer war in Paris.«

»Paris? Das bezeichne ich nicht als Lokalnachricht.«

»Steve sagt, er habe zur selben Zeit wie der Typ ein Praktikum beim Mirror gemacht.« Der Angestellte spielte auf einen erfahrenen Hasen in der Nachrichtenredaktion an. »Steve zufolge ist der Typ in der Gegend um Sheffield geboren, in der Kindheit in den Süden umgezogen …«

»Immer noch verflucht weit von West Yorkshire entfernt.«

Gil zerknüllte das DIN-A4-Blatt, zielte in Richtung des Papierkorbs und traf daneben. Beide Männer sahen zu, wie die Papierkugel über den Boden hüpfte und neben dem Drucker ausrollte.

»Motzen Sie die Titelstory auf«, sagte Gil. »Aber kein Blödsinn. Volle Namen, Altersangaben, Familienstand – streuen Sie, wenn nötig, ein paar Details des letzten MRSA-Skandals ein – solche Sachen eben.«

Während sich der Angestellte an die Arbeit machte, überflog Gil die beiden kurzen Absätze unter der Überschrift, entfernte ein Hurenkind und schrieb, mehr aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit, den Satz um. Jeder Leser, dessen Aufmerksamkeitsspanne zu kurz war, um, wie am Zeilenende vermerkt, auf Seite vier weiterzulesen, würde alles, was es an Wissenswertem gab, auf der Titelseite finden. Gil schätzte, dass diese Art von Lesern bei über neunzig Prozent lag. Damit erhob sich die Frage, ob es überhaupt der Mühe wert war, sich mit Seite vier zu befassen.

»Kann das so in den Druck?«, fragte der Angestellte, als Gil das Ende der Story las. Es war aufgebauscht, aber nicht zu aufgebauscht. Und wie gesagt, es würde sowieso kaum jemand lesen.

Gil nickte, worauf die rechte Hand des Angestellten sich leicht bewegte, sein Finger zuckte, und schon war die Seite vom Bildschirm verschwunden. Die Bewegung war kaum wahrnehmbar gewesen. All diese Arbeit und dann … Gil bemühte sich, nicht bitter zu werden. Seine letzte Titelseite in den Druck übersandt, und das soll es nun gewesen sein?

Er wusste, er hörte sich an wie ein Fossil – er war praktisch ein Relikt aus der Altsteinzeit –, doch ihm fehlte der richtige Druck. Er verlangte nicht nach heißem Metall, so ein Dinosaurier war er nun auch wieder nicht, aber damals als Lehrling in der Fleet Street, hatte er die Lynotype, die Zeilensetzmaschine, sehr gemocht. Der Geruch, der Krach, die Verpflichtung zu genauer Arbeit. Das Gefühl, dass es, wenn du einmal entschieden hattest, kein Zurück mehr gab. Das war damals eine große Entscheidung. Was du dachtest, welche Wahl du trafst, all das war wichtig.

Digital war viel zu einfach.

Es gefällt dir nicht? Verändere es. Versuch dies, verschieb das. Vergrößere die Schrift, tausche Überschrift mit Bild aus. Vorher war es besser? Stell alles wieder auf Ausgangsposition zurück. Kein Problem … Andererseits, bis diese Zeitung gedruckt sein würde, wären es alte Nachrichten, schon mehrmals durch etwas Neueres und Aufregenderes online ersetzt. Die Wahrheit war: Er war froh, fünf Jahre früher in den Ruhestand zu gehen. Niemand kaufte heutzutage noch eine Zeitung, zumindest nicht in dem Ausmaß wie früher. Noch ein paar Monate, und sie würden dieses Blatt aufgeben. Wenn sie sich überhaupt die Mühe machten, es zu drucken.

»Also, was gibt es über Gilbert Markham zu sagen?«

Wie auf Kommando wich Gil verstohlen ein paar Schritte zurück. Die Schultern nach vorne gesackt, den Kopf gesenkt, machte er sich so unsichtbar wie möglich. Nicht ganz leicht bei einer Größe von eins neunzig. Aber im Verlauf der Jahre hatte er das Schrumpfen zu einer Kunstform erhoben. Die Brille half, wie er fand. Einer der Gründe, weshalb er sich nie um Kontaktlinsen bemüht hatte. Wenn er sich nur nach hinten an die Bar verdrücken könnte, um sich zur Stärkung ein neues Bier zu genehmigen. Er brauchte dringend noch ein Bier und etwas Starkes zum Nachspülen, sonst würde er das Ganze hier nicht überstehen.

Schlechte Chancen.

»Los, Gil«, schrie einer aus der Sportredaktion. Gil versuchte, sich an den Namen des Mannes zu erinnern, und sei es nur, um sein Gedächtnis aufzufrischen, aber es wollte ihm nicht einfallen. »Das ist Ihr großer Moment, also rauf auf die Bühne!«

Nev, der Name passte. Der Typ sah aus wie ein Nev.

Zum Glück gab es nicht wirklich ein Podest. Gil war nie der Typ für die Bühne gewesen. Vor dieser Menge im Nebenzimmer des Cricketers zu stehen, war schlimm genug. Zu Nevs Gejohle gesellten sich die anfeuernden Rufe einer Aushilfskraft und der halben Nachrichtenredaktion, bis selbst Gil einsah, dass er sich nur noch lächerlicher machen würde, wenn er sich weiterhin verweigerte.

»Also«, wiederholte der Nachrichtenredakteur, »was gibt es über Gilbert zu sagen?«

»In Gottes Namen«, brummte Gil, schob sich durch die Menge zum vorderen Bereich des Raums und nahm widerwillig die gutmütigen Klapse entgegen, die seinen Weg begleiteten. »Nennen Sie mich Gil. Ich bin kein Gilbert mehr, seit ich mit sieben Jahren versehentlich die Hütte der Boy’s Brigade in Brand gesteckt habe.«

»Gil kam zur Post im Jahr …« Der Mann hielt inne und blätterte, ohne einen Hehl daraus zu machen, durch seine Spickzettel. Er war erst seit knapp einem halben Jahr hier. Er kannte Gil kaum. Wie auch, wenn er hauptsächlich damit beschäftigt war, Personal einzusparen und sich mit den sinkenden Auflagen auseinanderzusetzen, dem Einbruch der Werbeeinnahmen und dem Übergang der Zeitung von Print zu Digital?

»Im Jahr …«

»1985«, kam Gil dem Mann zu Hilfe, während er nach vorne trat und den jüngeren gedrungenen Mann sofort zu einem Zwerg schrumpfen ließ. »Wahrscheinlich um die Zeit, als Sie in die Grundschule gingen.«

Gil erinnerte sich noch so glasklar an seinen ersten Tag, als wäre es gestern gewesen – eines jener Klischees, die er bei den Aushilfen nicht durchgehen ließ. Dein Leben spult sich blitzartig vor deinem inneren Auge ab … Sollte das nicht kurz vor dem Tod passieren? An dem Punkt, an dem sich Gil nun befand, machte das keinen Unterschied. London war in jenem Sommer nass und schwül gewesen; die schlimmste Mischung. Jan, mit Karen schwanger, litt unter der Hitze, ihrer Körperfülle und ihren Sorgen. Es war keine einfache Schwangerschaft. Böse gesagt, Karen machte sich daran, diese Welt auf eine Weise zu betreten, die sie gedachte beizubehalten: stur und kompliziert.

Lyn sollte in die Grundschule kommen, die Hauspreise in Greenwich schnellten in die Höhe, und in den Trabantenstädten gärte es. Jans Mutter rief ständig an, weil sie sich Sorgen um ihre einzige Tochter und ihre Enkeltochter machte, obwohl sie nicht in der Nähe von Brixton oder in Tottenham wohnten und sich auch in Liverpool und Manchester eine ungute Stimmung zusammenbraute. In London war es offenbar anders. Gils Mutter verhielt sich jedoch nicht viel besser. Die Entscheidung, in den Norden zu ziehen, um eine Nachrichtenredaktion zu leiten, einen höheren Lebensstandard, bessere Schulen und ein doppelt so großes Haus für denselben Preis zu haben, war schließlich unumgänglich. Gil knickte ein, als Jan ihm vorwarf, es sei ihm offenbar nicht wichtig, dass seine Kinder an einem sicheren Ort aufwuchsen, in einer anständigen Ortschaft, mit anständigen Nachbarn …

Es sei nun mal so – wie auch ihre Mum meinte –, dass Gil ihr um seiner verdammten Karriere willen ein besseres Leben vorenthielte.

Die Arbeit für eine überregionale Zeitung war natürlich reizvoll, aber als das Jobangebot der Post kam, war es zu gut, um es abzulehnen. Das Problem war, dass er seitdem dort geblieben war. Aufgestiegen zum stellvertretenden Nachrichtenredakteur; für den Boss eingesprungen, wenn dieser nicht da war (Urlaub, Weihnachten); mehr Überstunden eingelegt, als, in Jans Augen, nötig gewesen wäre. Redakteure kamen und gingen, doch die Topposition blieb außer Reichweite; Zeit und Technologie gingen für ihn in zu großen Schritten voran, um mithalten zu können. Als er anfing, war das öffentliche Bild des Journalisten das eines hartgesottenen Schreiberlings mit Trenchcoat und einem Adressbuch voller inoffizieller Informanten. Jetzt wurden Zeitungen von Anzugträgern geleitet, die auf das Bildmaterial aus der Handykamera irgendeines Zwölfjährigen zurückgriffen, der zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und gern auf seine Bildrechte verzichtete.

Was für ein Klischee von einem Journalisten er früher doch gewesen war.

Was für ein Klischee er noch immer war.

»Gil, haben Sie gehört?«

Der Redakteur runzelte die Stirn. Der Rest der Truppe war in Schweigen verfallen und sah ihn auf eine Art an, die Gil Unbehagen einflößte. Der Ausdruck in den jüngeren Gesichtern ließ sich nur als tolerant bezeichnen. Als wäre er ein älterer Verwandter auf einer etwas komplizierten Beerdigung.

»Jetzt also der Ruhestand.« Gil zog eine Grimasse in Richtung der Nachrichtenredaktion. »Trifft uns alle irgendwann, Chef.«

»Zum Glück sind wir Sie jetzt los, altes Haus.«

»Geben Sie mir eine goldene Uhr, und wir machen ein Wettrennen bis zur Tür.«

»Ah, da fällt mir etwas ein: Was hat fünf Buchstaben …« Er grinste. Der Chefredakteur grinste nie. Es hätte Gil eine Warnung sein sollen. »… und endet mit E-X?«

Gil lächelte. Er wusste, dass die Zentrale ihn würdig verabschieden würde. Knauserige Mistkerle waren das heutzutage, tricksten mit Renten herum, veränderten Verträge zu ihren Gunsten, aber Gil hatte die Zeit auf seiner Seite, und das wussten sie. Der Redakteur, der am weitesten von Gil entfernt war, zog ein schwarzes Etui aus Leder oder etwas Lederähnlichem aus der Jacketttasche. Auf dem Deckel prangte in Metallfolie ein einziges Wort: Timex.

Der Raum verschwamm vor Gils Augen.

»Sie glauben, wir würden Sie nach siebenundzwanzig Jahren mit ein paar lauwarmen Bieren und einer Timex verabschieden?« Dass unter der hochgerutschten Ärmelmanschette des jüngeren Mannes eine Rolex Daydate zu sehen war, machte die Sache für Gil nicht besser. Man rechnete damit, dass er sagen würde: Nein, natürlich nicht. Sich selbst für den nächsten Schlag positionieren würde.

Der neue Stabsführer und der alte sahen sich an. In ihren Blicken lag nicht die Spur eines Lächelns. Kein gegenseitiger Respekt. Kein freundschaftliches Weiterreichen des Kommandostabs von einer Generation an die nächste. »Ja«, sagte Gil laut genug, um von allen gehört zu werden. »Das glaube ich.«

2

Mit dem soliden Gewicht der Tür zwischen ihr und der Außenwelt atmete Helen viel leichter. Jetzt war sie drinnen, die Nachwehen der gestrigen Migräne drängten sich an die Oberfläche, brachten die Erschöpfung mit sich, die so einen Abend im Dämmerzustand immer begleitete. Sie ging durch die pompöse Eingangshalle in die antike Küche – ein Schrein für Sechzigerjahre-Resopal, damals vermutlich der letzte Schrei –, füllte aus dem rostigen Hahn und unter dem lauten Hämmern der Rohre trübes Wasser in ein Glas und kramte in ihrer Tasche nach dem Aspirin.

Bei einem richtigen Migräneanfall würde sie stärkere Tabletten brauchen. Aber diese hier würden den Nachwirkungen die Spitze nehmen. Stärkere Tabletten … Helens Gefühl von Leichtigkeit schwand. Auf der Arbeitsfläche neben ihrer Handtasche lag eine aufgebrauchte Packung, deren sechzehn Tabletten leere Dellen in dem Plastikstreifen hinterlassen hatten. Helen drückte trotzdem auf jede Delle, eine nach der anderen, und mit jedem Mal wurde sie niedergeschlagener. Leer. Jede einzelne Delle leer. Mist. Sie schloss die Augen und spürte, wie der Raum wankte, während die Übelkeit der vergangenen Nacht zurückkehrte. Das hatte nichts mit Nebenwirkungen zu tun. Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie vergessen, sich ein neues Rezept zu besorgen. Und ohne …

Helen spülte zwei Aspirin hinunter, schluckte auf gut Glück noch eine dritte und lehnte sich gegen das riesige Spülbecken. Sie zählte rückwärts von zehn bis eins, versuchte sich vorzustellen, wie der nächste Migräneanfall ohne ihre Tabletten sein würde. Wenn sie Glück hatte, würde das erst in einigen Wochen geschehen.

Und wenn sie Pech hatte …

Helen nutzte den letzten Rest Tageslicht und begann mit einem Rundgang durch das Haus. Es war nicht nötig, rein vernunftmäßig wusste sie das auch, aber sie machte das schon so lange, wie ihre Erinnerung zurückreichte. Es war ein dummes Ritual. Eines von vielen, die sie im Lauf der Jahre übernommen hatte. Ob es ihrem Glück oder Schutz dienen sollte oder so etwas wie ein Opfer für eine Gottheit war, an die sie nicht glaubte, wusste sie selbst nicht zu sagen. Art hatte sie deswegen oft genug aufgezogen. »Was wirst du tun«, hatte er einmal gefragt, »wenn du unter dem Bett einen Irren entdeckst?« Sie hatte sich eine scharfe Erwiderung verkniffen und nur mit den Schultern gezuckt. Sie hatte damals keine Antwort darauf gehabt, und sie hatte auch heute keine, aber sie behielt ihre Rundgänge bei. Jeder hat seine Rituale, um Druck abzulassen.

Türen, Fenster überprüfen, unter Betten nachsehen – das waren ihre Rituale.

Erschaudernd schob sie den Gedanken an Art beiseite. Sie würde sich besser fühlen, wenn sie die Schlösser überprüft hätte, das war immer so.

Als sie an der Tür zur Speisekammer vorbeiging, vernahm sie ein Geräusch. Abrupt blieb sie stehen, spitzte die Ohren. Da war es wieder. Leise aber beharrlich, nach und nach lauter werdend … Ein Kratzen wie ein Zweig an einem Fensterbrett oder Fingernägel auf einer Tafel. Vorsichtig drückte Helen die Klinke hinunter, schob die Tür auf und machte einen Satz nach hinten. Was immer sie erwartet hatte, jedenfalls keinen räudigen schwarzen Kater, der auf dem Boden inmitten der Speisekammer saß und sie mit wütend gesträubten Nackenhaaren anfunkelte. Der Raum war feucht und roch modrig, das Ergebnis ständigen Tröpfelns durch die fehlende Raute des Bleiglasfensters, eine Öffnung, die der Kater offenbar als Ein- und Ausgang benutzte.

Frau und Kater maßen sich mit Blicken.

»Bleib, wenn du willst«, sagte Helen nach einigen Sekunden, als deutlich wurde, dass der Kater nicht vorhatte, einen Rückzieher zu machen. Ihre Stimme klang lauter, als sie es beabsichtig hatte, und sie zuckten beide zusammen.

Der Blickkontakt war unterbrochen; der Kater fauchte, zeigte gelbe Fangzähne und schoss auf das Fenster zu.

Neben der Speisekammer führte eine zweite Tür zu mehreren Nebengebäuden, wobei das am nächsten liegende auch als Hauswirtschaftsraum und Waschhaus diente. Dahinter befand sich ein Innenhof. In einer Ecke unter undichten Dachziegeln stand eine Kutsche. Vermutlich war sie einstmals ein wertvoller Besitz gewesen. Heute war sie ein Geist, bleich geworden durch Jahrzehnte an Vogelkacke von den in den Dachsparren sitzenden Tauben. Ein Bogentor im rückwärtigen Teil des Innenhofs führte zu einem ummauerten Garten mit einem überdachten Gittertor, von dem aus man auf die Dales hinausblickte. Bei dem überdachten Tor handelte es sich um ein sogenanntes Lychgate, wo früher zu Beginn der Begräbnisfeierlichkeiten der Sarg abgestellt wurde. Zumindest laut Angaben des Maklers.

Natürlich hatte Helen schon vor ihrer Ankunft Fotos von Wildfell gesehen.

Der Innenhofgarten, ein paar protzige Familienräume. Das Haus war sehr groß, was egal war, und abgelegen, was nicht egal war. Sie wollte an einem Ort sein, wo sie möglichst ungestört von Nachbarn war. Doch jetzt, da sie hier war und das Haus in all seiner verfallenen Glorie sehen konnte, kam es ihr riesig vor. Viel zu groß, um zu wissen, was sie mit dem ganzen Platz anfangen sollte. Viel heruntergekommener, als man ihr gesagt hatte. Und, gelegen an der Schwelle zum Moorland und den Dales, viel näher an der Zivilisation, als der Makler verraten hatte.

Immobilienmakler logen offenbar, und Fotos ebenfalls.

Die elisabethanische Backsteinfassade war auf einem noch älteren Gebäude errichtet worden. Dem Makler zufolge war das Anwesen in der Nachkriegszeit eine Prep School gewesen, ein Internat für Jungen bis zum Alter von dreizehn, das aus nicht bekannten Gründen geschlossen worden war. In den Achtzigern hatte man – erfolglos – versucht, ein Konferenzzentrum daraus zu machen. Anfang der Neunziger war das Zentrum wieder geschlossen worden. Obwohl der Makler es nicht aussprach, hatte Helen den Verdacht, dass das Haus seitdem ständig auf- und zugesperrt worden war. Familienstreitigkeiten, war alles, was der Makler sagte, als Helen fragte, warum das Anwesen nicht einfach an ein Bauunternehmen verkauft würde. Er schien jedenfalls auffällig daran interessiert zu sein, das Haus an eine alleinstehende Frau zu vermieten, die einen ruhigen Platz zum Arbeiten suchte.

Die Abenddämmerung senkte sich, als Helen die Tür zum Nebengebäude zusperrte und das windige Schloss dabei auf eine Art klapperte, die ihre Beklommenheit noch etwas steigerte. Dann kehrte sie auf demselben Weg in die Eingangshalle zurück. Von der Halle, die wie alles andere im Haus weiträumig und abgenutzt war, gingen mehrere Räume ab.

Ein großer Speisesaal mit einem Mahagonitisch, an dem gut und gern zwanzig Leute Platz hätten. Ein Arbeitszimmer mit Reihen von Antilopenköpfen an den Wänden. Ein Billardzimmer mit zerrissener Tischbespannung, deren grünes, verrottetes Vlies eine schwere Schieferplatte enthüllte. Eine rote Kugel lag einsam an der Seite. Im Vorbeigehen stupste Helen die Kugel in die Tasche des Billardtisches, und sie fiel durch das morsche Netz hindurch, landete mit einem Knall, der Helen zusammenzucken ließ, auf dem Marmorboden und rollte davon. Die Atmosphäre von Vernachlässigung war im Salon, wo der Kronleuchter, die beiden Sofas und die fünf Sessel mit Laken bedeckt waren, noch deutlicher wahrnehmbar. Ein großes düsteres Porträt eines gebieterisch dreinblickenden Mannes in Breeches und Kniestiefeln hing über dem Kamin. Die Härchen auf Helens Armen stellten sich auf, als wäre die Temperatur beim Betreten dieses Zimmers um ein, zwei Grad gefallen. Es war hier nicht feucht wie in der Speisekammer, eher … eisig. Sie schlang die Arme um sich und rieb sie in dem erfolglosen Versuch, sich aufzuwärmen. Dann überprüfte sie die Fenster. Alle waren geschlossen. Dennoch zog sie die Vorhänge vor, die dunkel und schwer vom Staub waren. Aber Hauptsache, sie schirmten das düstere Licht von draußen ab.

Das Haus schien endlos zu sein. Große Räume gingen in kleinere Räume über, die in Treppenhäuser mündeten, die wiederum Zugang zu der verborgenen Unterwelt aus Anrichtekammern und Vorratsschränken boten. Helen beschloss, die Schränke zu ignorieren, riegelte die Tür oben und unten zu und kehrte ins Erdgeschoss zurück. Oben befanden sich die Schlafzimmer; ihr eigenes, gestern spätabends auf gut Glück gewählt, war nicht besser oder schlechter als die anderen. Es war riesengroß, und die Decke hing so tief durch, dass Helen fürchtete, sie könne jeden Moment einstürzen. Als sie über den Boden ging, quietschten ihre Stiefel auf dem praktischen graublauen Teppichboden, der völlig im Widerspruch zur restlichen Einrichtung stand – ein Sammelsurium aus hässlichen, ausrangierten Möbeln von älteren Verwandten, die ein Nein als Antwort nicht gelten ließen.

Da es langsam dunkel wurde, drückte Helen auf den Lichtschalter, worauf eine Glühbirne, kaum verborgen von dem zu kleinen, stoffbespannten Lampenschirm, zu einem kränklichen Lichtschein aufflackerte. In dem dunklen Fenster blickte ihr ihr Spiegelbild entgegen, forderte sie zu einer Bestandsaufnahme auf: Sie sah tief liegende schwarze Augen in einem bleichen Gesicht, das in der trostlosen Düsterkeit zu schweben schien, bis Helen es mit den fadenscheinigen Vorhängen zum Verschwinden brachte. Eine alte dunkle Holzkommode stand in einer Ecke, auf der Platte zwei runde, ineinandergreifende Abdrücke von achtlos abgestellten Kaffeetassen. Ein Schrank mit einem abgeschrägten ovalen Spiegel zwischen den beiden Türen passte auf den ersten Blick zur Kommode, auf den zweiten Blick aber nicht mehr. An der hinteren Wand stand das Bett, etwas breiter als ein Einzelbett, in dem sie heute früh aufgewacht war.

Darüber hing das Porträt eines etwa sieben Jahre alten Knaben mit blonden Locken und samtenen Knickerbockers, der auf einem sturmumtosten Hochmoor stand, mit einer langen, niederen Felsnase im Hintergrund. Das Lächeln des Jungen war so strahlend, dass sich Helen unwillkürlich umblickte, um zu sehen, wen er da anstrahlte.

In der darüberliegenden Dienstbotenetage blieb Helen gerade lang genug, um sich davon zu überzeugen, dass sie leer war, sperrte dann die Tür zu, die dorthin führte, wie auch jede andere Zimmertür, die einen Riegel oder Schlüssel hatte. Je mehr Türen und Schränke sie im Haus abschließen konnte, desto weniger ängstlich fühlte sie sich.

Am Ende des Flurs blieb sie auf der Schwelle eines kleineren Salons stehen, dessen Fenster auf den Vorderhof hinausblickten. Im Vergleich zu den anderen Zimmern war der Raum winzig und nur spärlich eingerichtet mit einem durchgesessenen Armlehnsessel und einem ramponierten Sofa, das dank eines breiten indischen Überwurfs fast einladend wirkte. Ein ausgetretener türkischer Teppich verdeckte den Großteil des Bodenbelags. Über dem Kamin hing ein weiteres Porträt des Jungen, ein oder zwei Jahre älter. Er trug kniehohe Stiefel, und sein Lächeln war einer finsteren Miene gewichen. Trotz des Gemäldes hatte der Raum zwar keine wirklich gute, aber doch eine ruhige Atmosphäre. Als Helen auf den Treppenabsatz hinausging, beschloss sie, das Zimmer nicht abzuschließen.

Da das Haus nun gesichert war, kehrte Helen zufrieden in die Küche zurück und machte sich daran, ihre Einkaufstüten auszupacken. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, so viel Zeug zu kaufen? Eigentlich hatte sie nur vorgehabt, sich mit den wichtigsten Dingen einzudecken: Kaffee, Tee, Milch, Brot. Eine Flasche Wodka. Und jetzt dies. Sie hatte sogar im Sportartikelgeschäft neben dem Supermarkt eine Laufausrüstung gekauft. Das war zumindest etwas Nützliches.

Erst als sie die letzten beiden Tüten von ihrem aufgeweichten Warteplatz neben der Haustür anhob, bemerkte sie hinter der Tür den zerknitterten Brief. Sie musste beim Hereinkommen darauf getreten sein. Das hellblaue Briefpapier war von guter Qualität, die Art von Papier, die für richtige Briefe gedacht war, die man von einer wohlmeinenden Verwandten mit dazu passenden Umschlägen geschenkt bekam, zusammen mit der stummen Aufforderung, sich in der Kunst des Dankesbriefschreibens zu üben. Dieses Briefpapier war jedoch ohne Umschlag, nur einmal ordentlich zusammengefaltet. Die Aufschrift Mademoiselle Graham war kaum lesbar und in unbekannter Handschrift geschrieben. Kugelschreiber, nicht Tinte. So durchweicht, wie das Papier war, war das auch gut.

Während sie den Brief betrachtete, spürte Helen, wie sich der Knoten in ihrem Magen wieder zusammenzog. Niemand in ihrem Umfeld hatte eine derart ordentliche Handschrift. Niemand, den sie kannte, würde persönlich einen handgeschriebenen Brief überbringen, statt einfach eine E-Mail zu schicken. Und kein Mensch nannte sie Mademoiselle Wie-auch-immer. Sie schuf etwas Platz auf dem überladenen Küchentisch, strich das Papier glatt und bemühte sich, die verschwommene Schrift, die nur einen Ton dunkler als das Papier war, zu entziffern.

Liebe Mademoiselle Graham,

ich hoffe, Sie leben sich gut in unserem schönen Dorf ein. Am ersten Donnerstag jeden Monats treffen wir uns zu einer geselligen Runde im Pub The Bull. Wie ich von einem Freund im Maklerbüro gehört habe, werden Sie einige Zeit bei uns bleiben, und deshalb dachten wir, dass Sie sich nächsten Donnerstag vielleicht dazugesellen möchten, um Ihre Nachbarn kennenzulernen. Wir sind eine nette Truppe!

Sie sind herzlich ab 18:30 Uhr willkommen. The Bull liegt auf der rechten Seite, wenn Sie von Wildfell aus ins Dorf kommen. Sie können es nicht verfehlen!

Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen.

Mit herzlichen Grüßen,

Mrs. Margaret Millward

Helen knüllte den feuchten Brief zusammen und warf ihn in das Spülbecken.

Sie können es nicht verfehlen!? Und ob sie das konnte!

Es gibt immer jemanden, dachte sie, während sie Dosen und Packungen wahllos in die Regale knallte. Immer. Das ist ein Gesetz. Wo immer du in der Welt bist, was immer du tust, in jeder Stadt, jeder Ansiedlung, jedem Zeltlager gibt es einen selbst ernannten Wichtigtuer, der es als seine Aufgabe ansieht, dich auszuhorchen. Auch wenn es als »Willkommen heißen« getarnt ist.

Schlimmer noch, laut dem, was von der Adresse übrig war, führte diese Frau den örtlichen Lebensmittelladen, was bedeutete, dass es jedes Mal ein Spießrutenlauf sein würde, wenn Helen eine Tüte Milch brauchte.

Sie machte sich eine mentale Notiz, ihren Tee fortan schwarz zu trinken.

Nun widmete sie sich den beiden restlichen Sainsbury’s-Tüten, wühlte darin herum, bis sie fand, was sie gesucht hatte, und eilte dann nach oben ins Badezimmer. Hier gab es kein Resopal, nur eine gigantische schmiedeeiserne Wanne auf Löwentatzen und mit Messinghähnen, die in Paris ein Vermögen gekostet hätte, es sei denn, man würde in einem Trödelladen einen Glückstreffer landen. Über der Toilette war ein Fenster, das auf das flechtenüberzogene Schieferdach eines Nebengebäudes blickte, vermutlich eine Vorratskammer oder ein noch unentdeckter Hauswirtschaftsraum. Helen erinnerte sich nicht, das Fenster geöffnet zu haben, doch in den letzten Tagen erinnerte sie sich kaum an etwas.

Sie blickte in den von Fliegendreck gesprenkelten Spiegel und musterte prüfend ihr Gesicht so geisterhaft bleich, dass es nahezu durchscheinend wirkte, verblassende Sommersprossen, nur eine leichte Andeutung von geplatzten Äderchen entlang der Nase, dunkle Augenschatten, das Resultat endloser schlafloser Nächte, um ihre ohnehin schon dunklen Augen. Sie selbst, ihr Wesen, war irgendwo da drin. Im Moment war es schwer zu sagen, wo. Ihr langes Haar war in einem katastrophalen Zustand. Die Enden waren gesplisst und die Farbe herausgewachsen, sodass am Ansatz ihr ursprüngliches Rotbraun zu sehen war. Sie hatte Blond nie gemocht, aber Art gefiel es. Und, nein … Sie musste Art nicht länger zufriedenstellen.

Helen fuhr zusammen.

Sie riss die Packung mit Haarfarbe auf, mischte Farbe und Entwicklerflüssigkeit in dem mitgelieferten Gefäß, verteilte sie mit einem Kamm gleichmäßig im Haar, was bei den vielen Knoten darin nicht einfach war, setzte sich dann auf den Toilettendeckel und ließ die Farbe einwirken.

Als die fünfzehn Minuten vorbei waren, löste sie die Gummischlauchvorrichtung vom Wasserhahn, schlüpfte aus ihrem Pullover und hielt kurz inne, um die blauen Flecken auf ihrem Oberarm zu inspizieren. Sie verblassten nun, wurden an den Rändern gelblich, in der Mitte verschwommen orange. Der Wind wehte durch das Fenster herein, und Helen erbebte fröstelnd.

Nachdem sie die Farbe ausgespült hatte, nahm sie die Nagelschere aus ihrer Packung und begann zu schneiden, anfangs zaghaft, dann immer selbstbewusster. Nicht gerade gekonnt, aber es würde ausreichen. Als sie fertig war, waren gut fünfzehn Zentimeter ab. Ihr welliges Haar reichte jetzt bis knapp über ihre Schultern. Auf den ersten Blick sah sie fast aus wie jemand, den sie wiedererkannte.

3

Es würde dort spuken, sagte man. In dem großen Haus. Es spuke dort definitiv. Das behaupteten jedenfalls jene, die an so etwas glaubten, und selbst jene, die nichts von solchen Ammenmärchen hielten, kannten jemanden, der jemanden kannte, der in der Dämmerung an dem überdachten Gittertor etwas gesehen hatte. Vielleicht war es auch nur eine optische Täuschung oder ein, zwei Ale zu viel. Jeder im Dorf hatte dazu eine Meinung, und alle stimmten darin überein, dass man ein Außenseiter oder dumm sein oder zu viel überflüssiges Geld haben musste, um eine elisabethanische Ruine zu mieten, in der seit Jahren niemand mehr gewohnt hatte, der auf zwei Beinen ging.

Der Klatsch hatte schon begonnen, bevor das Taxi der Frau an jenem ersten Abend wegfuhr. Gil hatte das Taxi weder gesehen, noch hatte er überhaupt gewusst, dass eines hier gewesen war, bis er im Bull vorbeischaute, um sein Bier und einen Whisky zu trinken. Er hatte Besseres zu tun, als am Fenster zu stehen und seinen Vorhang zu lupfen. Außerdem gab es in diesem Dorf genügend Leute, die das für ihn machten.

Um die Wahrheit zu sagen, es ging ihm auf die Nerven. Dieses ständige Herumschnüffeln im Privatleben anderer Leute, statt sich um den eigenen Kram zu kümmern. Das nervte ihn auch jetzt … Genauer gesagt nervte ihn Margaret Millward, die ihn gerade im Gemischtwarenladen bediente. Die Times für die Nachrichten, den Mirror für Kricket (außerdem hatte Gil eine Schwäche für gut gemachte Revolverblätter), die Post aus Loyalität, die Mail, tja, einfach so … Sicher, er hätte all diese Zeitungen Stunden vorher online lesen können, aber er mochte beim Morgenkaffee dieses feierliche Gefühl, eine Zeitung aufzuschlagen, ihr Gewicht zu spüren, das Rascheln von Papier zu hören. Eine Tüte Magermilch und ein Glas Instantkaffee balancierten waghalsig auf seinem Zeitungsstapel. Er brauchte noch eine zwanziger Packung B&H aus dem Regal hinter der Ladentheke. Rein logisch betrachtet, konnte er, wenn er nur ein Päckchen kaufte, nur ein Päckchen rauchen. Angewandte Logik nannte man das.

»Vor zwei Tagen angekommen«, sagte Margaret Millward gerade, während sie die Bohnendosen und Fischstäbchen der Frau, die einen Kunden vor Gil in der Reihe stand, in die Kasse eintippte. »Ein Taxi von Keighley Radio Cars … Sie muss also mit dem Zug gekommen sein. Wird ein Auto brauchen, wenn sie länger bleiben möchte. Bei diesem ganzen Chaos mit den Bussen kommt man hier ohne eigenes Fahrzeug nicht weit.«

So sehr Gil das Getratsche auch anwiderte, er war dennoch beeindruckt von Mrs. Millwards Kunst, aus allgemeinen Angaben Schlüsse auf den Einzelfall zu ziehen. Dreißig Jahre an vorderster Front des Lokaljournalismus, und der Dorfklatsch – der bei Margaret Millward und ihrem Gatten Mike, dem der Laden gehörte, sowohl zusammenlief als auch verbreitet wurde – konnte ihn immer noch das eine oder andere lehren. Trotz der unentwegten Touristenströme gab es kaum ein Gesicht, das ihr entging.

Hat ihren Beruf verfehlt, dachte Gil müßig. Oder vielleicht auch nicht.

»Ist vielleicht eine von denen, die hier wandern gehen wollen«, sagte die Fischstäbchenkäuferin, während sie eine bekritzelte Zehnpfundnote herauskramte. »Gestern Abend konnte ich mich wegen dieser Touristen im Bull kaum rühren. Trotz Wetterwechsel fallen sie hier ein mitsamt ihren Stiefeln und Rucksäcken und diesen dämlichen Stecken.«

»Warum mietet sie dafür das große Haus?«

»Dann ist es eben eine reiche Wanderin. Mehr Geld als Verstand, so viel ist jedenfalls sicher.«

Gil kam das Gesicht der Frau bekannt vor, er konnte sie jedoch nicht einordnen. Er hatte sie im Lauf der Jahre öfter im Dorf gesehen und er wusste, dass sie zwei Töchter hatte, etwas jünger als seine Töchter. Er erinnerte sich, sie mal bei irgendeinem Eltern-Lehrer-Treffen gesehen zu haben, so ein Käse-und-Wein-Ding, zu dem Jan ihn geschleift hatte. Sehr wahrscheinlich hatten sie nie miteinander gesprochen. Nachbarn waren Jans Domäne gewesen.

»Ich wette, sie ist in einer Woche wieder weg. Die Zimmer im Bull wären jedenfalls komfortabler gewesen als dieser baufällige Kasten.«

»Sie wird bleiben«, sagte Mrs. Millward überzeugt. »Sie hat anstelle einer Kaution im Voraus bezahlt. So einen Batzen Geld schießt man nicht einfach in den Wind, oder? Gwen war am Montag dort, um das Haus rasch durchzuputzen. Sie sagte, man könnte die Feuchtigkeit bis in die Knochen spüren. Und erst der Staub … Das liegt an den Möbeln, die teilweise schon ewig lange dort stehen. Und vor allem die Atmosphäre. Eine schreckliche Stille, meinte Gwen, nur das Haus gibt Geräusche von sich, wie das diese alten Häuser so an sich haben. Mich würde man mitten in der Nacht jedenfalls nicht allein dort antreffen, vielen Dank auch.«

Sie erschauderte theatralisch.

»Das sind doch nur Ammenmärchen«, sagte die Frau und sah dabei weniger überzeugt aus als sie klang. »Es gibt keine schlechte Atmosphäre, die sich nicht durch ordentliches Lüften vertreiben ließe.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, bemerkte Margaret. »Das Haus hat etwas an sich, das auch durch etwas Lüften nicht verschwindet. Das haben schon viele versucht.«

Die Frau gab einen Laut von sich, den man als Zustimmung oder Verärgerung deuten könnte. Gil war sich da nicht sicher.

»Gwen sagte, es sei ziemlich stickig gewesen. Kein Wunder. Dass es dort feucht ist, meine ich. Hat ja jahrelang leer gestanden. Eigentlich ein schönes, großes Haus. Schade drum, wenn Sie mich fragen.«

Niemand fragte sie, aber das hielt sie nicht vom Weiterreden ab.

»Die Leute heutzutage, total verwöhnt. Wenn eine Immobilie nicht genauso viele Badezimmer wie Schlafzimmer hat, sind sie nicht interessiert. Jemand sollte das Haus entkernen, Wohnungen daraus machen. Solche Sachen eben.

»Zwei Pfund vierunddreißig, Schätzchen«, sagte sie, ohne ihren Monolog abzubrechen, um den Kunden vor Gil zu bedienen. Es bestand kein Zweifel, dass es sich bei ihm um einen Wanderer handelte. Seine für zwei Pfund vierunddreißig erstandenen Bonbons und die Wasserflasche wären schon Hinweis genug gewesen. Und falls nicht, so lieferten die Wanderschuhe, die Regenjacke in Signalorange, der grüne Rucksack und die »dämlichen« Stecken den ultimativen Beweis.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Markham?« Margaret schlug ihren freundlichsten Ton an, als hätte Gil in den letzten fünf Minuten nicht ihrer normalen Ausdrucksweise gelauscht.

»Ganz gut, danke. Und nennen Sie mich Gil«, sagte Gil wie schon so oft seit seiner Rückkehr in das Dorf, in dem er geboren worden war. Er stellte seine Einkäufe auf der Ladentheke ab, der Schranke, hinter der – tagein, tagaus – Margaret Millward Hof hielt.

»Zwanzig B&H?«, fuhr sie fort, als hätte er nichts gesagt.

»Bitte.« Er nickte.

»Streichhölzer?«

Er nickte wieder.

»Was für ein Ort«, sagte Margaret Millward, als sie ihm beides reichte. »Da wundert man sich schon, nicht wahr?«

Nein, hätte Gil gern geantwortet. Keineswegs.

Das war das Problem mit dem Dorf. Eines von vielen, wie Gil es sah. Mit jedem Tag, der verstrich, wurden es mehr. Gott allein wusste, wie Jan es hier all die Jahre ausgehalten hatte. Andererseits hatte sie es nicht ausgehalten. Sonst wäre sie ja noch hier. Erst jetzt, zwei Wochen nach Eintritt in den Ruhestand, begann Gil langsam zu begreifen, warum. Seltsam, wenn man bedenkt, wie lange er hier gelebt hatte. Obwohl »hier gelebt« eine ziemliche Übertreibung war angesichts seiner langen Arbeitsstunden und der vielen Wochen, die er in Hotels verbracht hatte, um über Konferenzen und Streiks, Zugunglücke und Naturkatastrophen zu berichten. Damals hatte er hier ein eigenes Haus besessen. Es waren zwei Cottages, die zu einem verbunden worden waren; die Umbauarbeiten waren nach ihrem Einzug von Jan überwacht worden … Gil sah das Bild vor sich, wie Jan, mit Karen schwanger, und die damals sechs oder sieben Jahre alte Lyn im Bauschutt des Wohnzimmers standen, in dessen Wand ein riesiges Loch klaffte, und ihn mit staubverschmierten Gesichtern anstrahlten …

Er schob das Bild beiseite, verbannte es.

Mehr als sein halbes Leben lang hatte er an einem Ort gewohnt, an dem er nicht wirklich gelebt hatte, war morgens im Dunkeln aus dem Haus gegangen und spätabends im Dunkeln zurückgekehrt. Da war es kaum überraschend, dass er gar nicht gemerkt hatte, wie verdammt schwierig es in diesem Dorf war, etwas zu tun, ohne dass sofort jemand wissen wollte, was und warum du das tust, und wenn du dann mit dem, was du getan hast, fertig warst, war auch das wieder ein Anlass, dich darüber auszufragen. Manche Leute mochten das liebenswert finden, sogar anheimelnd. Auf Gil traf das nicht zu. Weder jetzt noch irgendwann.

Auch Jan hatte das sicher nicht behagt.

»Geh ins Haus, zieh die Vorhänge zu, schalt das Licht aus und niese, und wenn du dann das nächste Mal in den Lebensmittelladen gehst, wird dich jemand fragen, wie es mit deiner Erkältung steht.« Als sie diese Bemerkung zum ersten Mal machte, hatte er gedacht, sie würde übertreiben. Doch sie übertrieb nicht. Sie machte ihren Standpunkt klar. Darin war sie ziemlich gut gewesen. Leider war er im Zuhören nicht so gut gewesen. Er hätte aufmerken sollen, als das Genörgel aufhörte. Hätte wissen müssen, dass dies ein Zeichen war, und zwar kein gutes. Aber er hatte es nicht gewusst. Und falls es ihm unterschwellig bewusst gewesen sein sollte, so hatte er es, wenn er nachts um elf nach einer Spätschicht nach Hause kam, einfach ignoriert. Er war froh um den Frieden gewesen. Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte er womöglich bemerkt, dass sie jemanden gefunden hatte, der ihr zuhörte. Als sie ging, nahm sie die Kinder mit. Vielmehr Karen. Lyn war bereits außer Haus gewesen. Das war jetzt gute zwölf Jahre her. Gil sah immer noch deutlich vor sich, wie Karen dunkeläugig und traurig aus dem Rückfenster geblickt hatte, als Jan eilig wegfuhr, sich kaum die Zeit nahm, in den Rückspiegel zu blicken, um zu sehen, ob die Straße frei war.

Zurück zu Hause machte Gil Wasser heiß, gab zwei gehäufte Teelöffel Nescafé in seine größte Tasse, fügte einen Schuss Magermilch und einen gehäuften Teelöffel Zucker hinzu und nahm mit den eben erstandenen Tageszeitungen am Küchentisch Platz. Nach jahrelanger Nachtredaktion hatte er an fast jedem Text etwas auszusetzen. Faul recherchiert, nur Schlagzeilen, vorhersehbar. Er wusste alles über hauseigenen Stil, aber könnte man sich nicht etwas mehr Mühe geben?

Die Lektüre der Zeitungen würde nicht lange dauern. Höchstens eine Stunde, und das war schon sehr in die Länge gezogen. Er hatte bis vor Kurzem nie erlebt, dass die Zeit dermaßen schleppend voranging. Früher hatten die Tage nie genügend Stunden gehabt; er war ständig in Eile gewesen, hatte immer versprochen, irgendwo zu sein, was er dann doch nie schaffte, war immer zu spät gekommen, hatte immer irgendjemanden enttäuscht. Jetzt nicht mehr. Er hatte versucht, die Küchenuhr von der Wand zu nehmen. Das Ticken nervte ihn wie auch die Tatsache, dass Jan die Uhr gekauft hatte, was auch für die meisten anderen Dinge im Haus galt. Doch die Uhr hatte einen staubigen, dunklen Abdruck um einen vergilbten Kreis hinterlassen, und da Gil keine Lust gehabt hatte, die Wand neu zu streichen, hatte er die Uhr wieder zurückgehängt. Der kleine Zeiger stand auf der Zehn, der große auf der Eins.

Fünf nach zehn.

Zehn Uhr fünf.

Zehn Uhr und fünf Minuten.

Jetzt sechs Minuten.

Noch eine Stunde und vierundfünfzig Minuten, bis das Bull aufmachte.

»Sie sehen richtig elegant aus, Gil – ein heißes Date?«

Gil sah pflichtschuldig an seinem Anzug hinunter, zuckte mit den Achseln, als überraschte es ihn selbst, dass er ihn trug, und presste ein Grinsen hervor. »Man kann nie wissen«, antwortete er dem Wirt. »Ich bin für alles bereit.«

»Das Übliche?« Ohne die Antwort abzuwarten, griff Ray nach einem Bierglas. Es war keine Frage. War genauso floskelhaft wie die Bemerkung über Gils Anzug. Der dunkelblaue Nadelstreifenanzug war einer von dreien, die Gil abwechselnd trug. Immer schon. Nachdem er glorios mit dieser gottverdammten Timex verabschiedet worden war, hatte er am nächsten Tag überlegt, ob er nicht zu Freizeitkleidung übergehen sollte; die Überlegung hatte ungefähr dreieinhalb Sekunden gedauert, und er fasste es immer noch nicht, dass er dafür so lang gebraucht hatte. In Jeans sah er aus wie der Dad von jemandem, und diese Chinos waren noch schlimmer. An jenem Tag hatte er beschlossen, sich in einem seiner Anzüge beerdigen zu lassen. Da er nur Anzüge besaß, könnte ihm auch niemand einen Strich durch die Rechnung machen. Sollten sie doch über ihn lachen, wenn sie sich in ihren karierten Pullovern einen hinter die Binde kippten.

Es war jeden Tag das Gleiche. Der Anzug, der Witz, das Glas Sam Smith’s.

Gil zwang sich, locker zu werden. Dies war nun sein Leben.

Vorausgesetzt, er würde sich nicht zur Feier seines Eintritts in die Alte-Knacker-Liga ein Jahr Auszeit nehmen, und das hatte er nicht vor. Auszeiten waren etwas für reiche Jugendliche, die keinen Plan hatten, für reiche Rentner, für die dasselbe galt, und für Leute, die ihre Abenteuer gern sorgfältig organisierten. Gil gehörte zu keiner dieser Gruppen. Ein großes Thema war Golf … Hätte er jedes Mal, wenn einer aus dieser Golfertruppe ihm vorgeschlagen hatte, sie am neunzehnten Loch zu treffen, einen Zehner erhalten, könnte er sich mühelos ein Jahr Auszeit leisten. Mit anderen Worten, eher würde die Hölle zu Eis gefrieren, bevor er stolzer Besitzer eines Pullovers mit V-Ausschnitt und eines Eisen fünf sein würde. Es wurde Zeit, sich daran zu gewöhnen.