Nebelspiel - Sheila Bugler - E-Book
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Sheila Bugler

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Beschreibung

London: Ein zehnjähriges Mädchen wird entführt. Es gibt keine Zeugen, keine heiße Spur. Die Polizei verfolgt einen Schatten, und die Zeit läuft stetig ab für die kleine Jodie Hudson. Allen ist der Fall Molly York noch lebhaft in Erinnerung, die vor drei Jahren auf gleiche Weise verschwand und nur noch tot gefunden werden konnte. Für Detective Inspector Ellen Kelly, Londons toughe Starermittlerin und Spezialistin für Entführungsfälle, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, der sie bis an die nebelverhangene Moorlandschaft der englischen Südostküste führt.

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Seitenzahl: 502

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Sheila Bugler

Nebelspiel

Thriller

Aus dem Englischen von Susanne Schädlich

Knaur e-books

Über dieses Buch

L

Inhaltsübersicht

PrologMontag, 14. Februar9:45 Uhr13:30 Uhr14:30 Uhr15:15 Uhr16:00 Uhr16:30 Uhr17:15 Uhr18:00 Uhr18:30 Uhr22:00 UhrDienstag, 15. Februar9:30 Uhr10:05 Uhr10:30 Uhr11:48 Uhr12:05 Uhr13:40 Uhr14:35 Uhr16:00 Uhr17:00 Uhr22:00 Uhr22:30 UhrMittwoch, 16. Februar9:15 Uhr14:30 Uhr15:00 Uhr15:10 Uhr18:04 Uhr21:06 Uhr22:15 UhrDonnerstag, 17. Februar6:00 Uhr10:00 Uhr11:00 Uhr13:15 Uhr15:45 Uhr16:15 Uhr18:30 Uhr23:50 Uhr23:59 UhrFreitag, 18. Februar9:00 Uhr10:30 Uhr10:45 Uhr14:00 Uhr20:35 UhrSonnabend, 19. Februar11:30 Uhr13:00 Uhr14:15 Uhr15:30 Uhr21:30 Uhr22:00 UhrSonntag, 20. Februar11:55 Uhr14:00 Uhr14:04 Uhr18:30 Uhr18:48 Uhr18:50 Uhr18:55 Uhr18:59 Uhr19:08 Uhr19:18 Uhr19:22 Uhr22:15 UhrMontag, 21. Februar11:30 Uhr12:05 Uhr12:40 Uhr12:45 Uhr17:00 Uhr20:00 Uhr21:30 Uhr22:10 UhrDienstag, 22. Februar9:20 Uhr11:00 Uhr13:00 Uhr14:35 Uhr15:15 Uhr16:30 Uhr18:00 Uhr21:00 Uhr22:00 UhrMittwoch, 23. Februar1:04 Uhr8:30 Uhr10:05 Uhr10:07 Uhr10:10 Uhr11:00 Uhr11:05 Uhr11:06 Uhr13:30 Uhr13:55 Uhr13:40 Uhr13:45 Uhr13:46 Uhr13:50 Uhr13:51 Uhr13:52 Uhr14:10 Uhr14:15 UhrEine Woche später
[home]

 

 

 

 

Von: [email protected]

An [email protected]

Betreff: DI Ellen Kelly

 

Ed,

anbei wie versprochen der Bericht über Ellen Kelly, also meine fachliche Einschätzung ihrer psychischen Verfassung. Ich bin der Ansicht, sie sollte den psychologischen Dienst für weitere sechs Monate in Anspruch nehmen. Ellen kann zu ihrer Arbeit zurückkehren, allerdings nicht bei voller Belastung.

Ganz inoffiziell: Es gibt etwas, worüber Du Dir im Klaren sein solltest.

Wie Du weißt, hat Ellen der Therapie nur zugestimmt, weil ihr dies von der unabhängigen Untersuchungskommission nach der Schießerei im vergangenen Jahr empfohlen wurde. Trotz des verpflichtenden Charakters dieser Sitzungen hat Ellen, so glaube ich, Gefallen an ihnen gefunden, und ich hoffe, sie haben ihr geholfen.

Sie ist eine anteilnehmende, intelligente Frau. Sie liebt ihre Kinder und trauert auch nach drei Jahren noch um ihren Mann, der auf so tragische Weise umgekommen ist. Der Umgang mit dem Tod ist nie einfach, und mit den Folgen eines Mordes fertig zu werden, kann eine unvorstellbare Belastung sein. Ich würde sagen, Ellen geht mit ihrem Verlust so gut um, wie es eben möglich ist.

Wie Du ja schon sagtest, ist sie unglaublich bescheiden. Den offiziellen Bericht der Hope-Untersuchung habe ich gelesen. Daraus geht eines eindeutig hervor: Es war Ellens Verdienst, dass Katie Hope und ihr Sohn Jake gerettet wurden. Ellens Mut allein bei der Konfrontation mit dem Mann, der die beiden entführt hatte, ist es zu verdanken, dass die beiden leben. Und doch weigert sie sich, das anzuerkennen.

Zuerst dachte ich, es läge an ihrem Schuldgefühl. William Dunston, den Entführer, zu töten, war die einzige Möglichkeit, Katie und Jake zu retten. Nach zehn Therapiesitzungen mit Ellen habe ich jedoch meine Zweifel.

Und genau das ist es, Ed, worauf ich Dich aufmerksam machen will. Ich kann bei Ellen keine Reue erkennen. Du weißt, ich habe schon des Öfteren mit Männern und Frauen gearbeitet, die in Ausübung ihrer Pflicht einen Menschen getötet haben. Ausnahmslos fällt es den Betreffenden schwer, sich mit ihrer Tat abzufinden. Einem Menschen das Leben zu nehmen hinterlässt Spuren. Es besteht offenbar auch nur ein geringer Zusammenhang zwischen »Art« des Opfers und Schwere der Schuld. Drogendealer, Kinderschänder, Mörder – viele Deiner Kollegen würden sagen, sie haben es verdient. Trotzdem … Einmal hat ein Beamter zum Beispiel in Notwehr einen Serienmörder erschossen. Er hatte danach ein so großes Schuldgefühl, dass er seine Arbeit nicht wieder aufnehmen konnte. Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, sah er den Mann vor sich, den er getötet hatte. Am Ende hat er seinen Dienst ganz quittiert.

Was also unterscheidet Ellen von anderen? Normalerweise deutet der Mangel an Reue auf eine psychopathische Persönlichkeit hin. Bei Ellen ist das absolut nicht der Fall. (Und ja, ich habe einige der üblichen Tests durchgeführt – steht alles im Bericht.)

Es gibt noch eine andere Erklärung, die wahrscheinlich nicht ganz in Deinem Sinne ist: Ellen scheint froh über das zu sein, was passiert ist. Wir wissen doch, wen sie für den Tod ihres Mannes verantwortlich macht. Darum frage ich mich wirklich, hat sie William Dunston aus Notwehr oder absichtlich getötet?

Die unabhängige Untersuchungskommission hat Ellen für unschuldig erklärt. Das weiß ich. Es gibt also keinerlei Grund, diese Entscheidung anzuzweifeln. Was ich Dir jetzt sage, ist nur so eine Ahnung, und vielleicht irre ich mich – was höchst selten ist! Ich mag Ellen. Ich kann verstehen, warum Du so große Stücke auf sie hältst. Aber irgendetwas stimmt mit ihrer Reaktion auf Dunstons Tod nicht. Du und ich, Ed, wir kennen uns nun schon eine halbe Ewigkeit, sonst würde ich es nicht erwähnen. Aber ich muss so ehrlich wie möglich sein. Das bin ich Dir schuldig. Außerdem baue ich darauf, dass Du das, was ich Dir schreibe, vertraulich behandelst.

Ich habe mein Bestes getan, aber ich möchte der Sache wirklich auf den Grund gehen. Bis dahin möchte ich Ellen dringend raten, mit ihrer Therapie fortzufahren, und Du setzt sie bis auf Weiteres nicht an vorderster Front ein.

Alles Gute,

Briony

 

Montag, 14. Februar

 

9:45 Uhr

Sie kamen näher. Brian konnte sie nicht sehen. Noch nicht. Aber hören konnte er sie. Ihre Stimmen wehten zu ihm herüber, störten die Stille der menschenleeren Straße. Daddy brüllte, und Marions kleine Stimme gab freche Antworten.

Brian war äußerst angespannt. Er wollte sie warnen, ihr sagen, sie solle keine Widerworte geben. Daddy mochte das nicht. Es brachte ihn auf die Palme, und dann passierte etwas Schreckliches.

Und das wollten wir doch nicht.

Sie bogen in die Lenham Road. Jetzt konnte er sie sehen. Er machte einen Schritt rückwärts in den Garten hinein, hielt den Atem an. Wartete. Daddy würde Marion verabschieden, wie jeden Morgen, und sie das letzte Stück bis zur Schule am anderen Ende der Straße allein laufen lassen.

Sie waren spät dran. Die anderen Kinder waren schon in der Schule. Blickte man die Lenham Road hinauf und hinunter, sah man keine Menschenseele. Abgesehen von Daddy und Marion. Und Brian, natürlich. Allerdings war er von der Straße aus nicht zu sehen. Das war auch der Sinn der Sache.

Diesen Platz hatte er nur aus einem Grund gewählt. Das große Haus hinter ihm war verfallen – die Fenster zerschlagen oder mit Brettern vernagelt, hier wohnte allem Anschein nach schon lange niemand mehr. Keine Gefahr, dass ihn jemand von drinnen beobachtete.

Daddy sah anders aus, aber das hatte Brian erwartet. Wahrscheinlich hatte er sein Äußeres absichtlich verändert. Versuchte sich zu tarnen. Tat alles, um Brian zu irritieren. Daddy war clever. Nicht wie Brian. Er kam nach seiner Mom und war ein einfältiger Trottel. Jedenfalls sagte Daddy das.

Genau genommen war Brian jedoch schlauer, als Daddy es ihm zutraute. Okay, er hatte ein paar Fehler gemacht, manches auch ganz schön vermasselt. Besonders das mit Molly. Dieses Mal würde es anders sein. Er konnte es spüren. Dieses Mal wusste er genau, was er tat.

Daddy beugte sich hinunter, um Marion einen Kuss zu geben. Brian musste sich zusammenreißen, damit er nicht aus seinem Versteck hervorsprang und Daddy anschrie, er solle seine Flossen von ihr lassen. Aber er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Marion hatte sich schon abgewandt und rannte in Richtung Schule.

Daddy rief ihr nach, doch sie hielt nicht an, verlangsamte nicht einmal das Tempo und blickte auch nicht zurück. Konnte nicht schnell genug von dem gemeinen alten Bastard wegkommen.

»Geh doch«, flüsterte Brian und wünschte ihn davon.

Marion kam näher.

»Geh schon!«

Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die Fingernägel gruben sich in seine Handflächen. Marion wurde langsamer. Rannte nicht mehr. Daddy drehte sich um und bog um die Ecke. Verschwunden. Nur Marion war noch da. Beinahe bei ihm.

Sein Herz klopfte laut, ein Wunder, dass sie es nicht hörte. Aber sie schien sowieso nur das Lied zu hören, das sie vor sich hin trällerte. Dieses blöde Lied. Jeden Morgen sang sie es. Irgendetwas über einen Mann und einen Spiegel. War sie in der Mitte angekommen, kreischte sie – ohrenbetäubend laut –, als ob ihr jemand weh täte. Er hasste dieses Lied. Ganz besonders das Gekreische. Es bohrte sich in seinen Kopf, und er dachte, er würde alles tun, damit es aufhörte. Sobald sie zusammen waren, würde sie das nicht mehr singen. Er brächte sie schon dazu, andere Lieder für ihn zu singen. Lieder wie Over the Rainbow oder Endless Love. Richtige Lieder, ohne das verdammte Gekreische.

Sein Herz spielte jetzt verrückt, schlug wie eine Trommel. Seine Hände waren feucht. Er wischte sich die Handflächen an seiner Jeans ab. Es nutzte nichts. Sie waren gleich wieder nass geschwitzt. Die Nerven. Daran lag’s.

Was, wenn sie ihn nicht wiedererkannte?

Er schüttelte den Kopf, lächelte, weil er so ein Dummkopf war. Hatte er es nicht einhundertmal durchgekaut?

Natürlich wäre sie anfangs ein wenig geschockt. Darauf war er vorbereitet. Immerhin war es eine Weile her. Darum auch hatte er beschlossen, es so zu machen.

Waren sie erst einmal zu Hause, konnte er ihr alles erklären. Dann hatten sie jede Menge Zeit.

Jetzt musste er sich auf Marion konzentrieren.

Er warf einen Blick hinter sich – zum Haus mit den bretterverschlagenen Fenstern, zum weißen Lieferwagen mit den offen stehenden Türen in einer mit Kieselsteinen bedeckten Einfahrt, abfahrbereit.

Marions Stimme. Die Worte wurden verständlicher, je näher sie kam.

I’m starting with the ma-an in the mirror …

Eins.

I’m asking him to cha-ange his ways …

Zwei.

No message could have been clearer …

Drei!

Er sprang aus seinem Versteck und packte sie, alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Er schwang sie in die Luft, setzte sie sanft auf der Ladefläche des Lieferwagens ab und hielt ihr den Mund zu, um ihre Schreie zu ersticken.

Es war ein wenig kniffelig, das Klebeband um sie zu wickeln und sie gleichzeitig festzuhalten, aber auch damit wurde er fertig. Sie hörte nicht auf zu zappeln, versuchte, ihn zu boxen. Doch am Ende hatte er sie.

Er lächelte, als er die Türen zuschlug.

Er summte leise vor sich hin, als er in den Wagen kletterte und rückwärts aus der Einfahrt setzte.

Die Lenham Road war noch immer menschenleer. Selbst wenn jemand vorbeigekommen wäre, er glaubte nicht, dass derjenige das dumpfe Pochen aus dem Inneren des Wagens hätte hören können.

Na, wer ist jetzt ein einfältiger Trottel, Daddy?

 

 

13:30 Uhr

Er nannte sie Blue. Wegen ihrer Augen, sagte er. Es seien die blauesten Augen, die er je gesehen hatte. Auch später, als sie sich schon lange kannten, nannte er sie weiter Blue.

Das gefiel ihr. Blue. Vinnys Name für sie.

Er war fort. Nur seine Stimme war noch da. In den langen Nächten voller wirrer Träume hörte sie seine Stimme in ihr Ohr flüstern. »Was geht in deinem Kopf vor, Blue?«

Sie lag da, die Augen geschlossen, schlafend. Sie warf den Kopf auf dem Kissen hin und her, versuchte der Stimme zu folgen, ihn zu sehen. Doch sie sah ihn nie. Da war nur die Stimme. So nah, dass sie seinen warmen Atem auf der Wange spüren konnte.

»Was geht in deinem Kopf vor, Blue?«

Obwohl sie ihn nicht sehen konnte, versuchte sie zu antworten. Ihm zu sagen, was in ihr vorging. Sie kämpfte sich aus dem Schlaf und nahm all ihre Kraft zusammen, um den Mund zu öffnen, die Wörter herauszubekommen.

Nur war es jedes Mal, jedes verfluchte Mal zu spät. Sobald sie wieder sprechen konnte, die Augen offen und sie wach, war er fort. Immer war er fort.

 

Vinny. Ellen musste unwillkürlich an ihn denken, als sie aus ihrem Auto stieg und die Lenham Road in Richtung Schule entlangblickte. Vielleicht lag es am schwarz-gelben Polizeiabsperrband oder den Leuten von der Spurensicherung in ihren weißen Anzügen. Sie sahen aus wie Außerirdische, suchten die Lenham Road Zentimeter für Zentimeter nach forensischen Beweisen ab.

Höchstwahrscheinlich war es das untrügliche Gefühl, dass etwas Furchtbares vorgefallen war, etwas, das die Leben derjenigen, die direkt davon betroffen waren, für immer veränderte, und zwar auf eine Art und Weise, die sie selbst niemals vorhergesehen hätten.

Ein eisiger Februarwind fegte durch South East London. Die Überschuhe, die Ellen über die Stiefel gezogen hatte, knisterten, der blaue Wintermantel schlug ihr gegen die Beine. Ihr war kalt. Doch nicht der Wind war schuld. Es war der Anblick des schwarzen Ranzens auf dem Bürgersteig, wie hingeworfen.

Ihre Kinder hatten ähnliche Taschen mit dem Logo der Schule darauf. Dieser Ranzen hier war offen. Einige Sachen lagen auf dem Boden verstreut. Auch ein schmales Taschenbuch. Ellen war zu weit weg, um den Titel lesen zu können, aber sie erkannte die Illustration. Die schattenhaften Umrisse eines Mannes und eines Jungen, über ihnen Flugzeuge. Der Junge aus London.

Waterstones in Bromley hatte das Buch vor Weihnachten als Sonderangebot gehabt. Sie hatte Pat, ihrem Ältesten, ein Exemplar gekauft.

Die Schultasche und deren Inhalt auf dem Gehweg. Das war irgendwie falsch. Die Mutter in Ellen wollte den Ranzen aufheben, alles vorsichtig einpacken und dem Mädchen, dem er gehörte, zurückgeben.

Nur war weit und breit kein Mädchen zu sehen.

»Boss!«

Eine vertraute Stimme erhob sich über das leise Seufzen des Windes. Ellen drehte sich um. Ein kleiner Mann mit kurzgeschorenem rotem Haar und einem großen Bauch stürmte auf sie zu wie ein Stier. Sie hob die Hände, wie um sich zu schützen, als er schliddernd vor ihr zum Stehen kam. Er strahlte vor Freude. Malcolm McDonald.

»Baxter sagte, er habe Sie angerufen«, sagte Malcolm. »Er war sich nicht sicher, wann Sie es schaffen. Es ist also wahr? Sie kommen zurück? Wird ja auch verflucht noch mal Zeit. War nicht dasselbe ohne Sie, Ellen.«

Ellen zog die Brauen hoch.

»Sorry«, sagte Malcolm. »Ohne Sie war es einfach nicht dasselbe, Ma’am. Das hier ist allerdings ’ne ziemlich üble Sache. Sicher, dass Sie dem schon gewachsen sind? Ich meine, ist bestimmt nicht leicht. Ein verschwundenes Kind an Ihrem ersten Arbeitstag. Ich meine, das kann ja nur Erinnerungen wachrufen, oder?«

»Haben Sie einen Kurs in Taktgefühl absolviert?«, fragte Ellen.

»Hm?«

Ellen lächelte. »Hätte mich auch gewundert. Also, legen Sie los. Was ist hier vorgefallen? Ich weiß das Wesentliche von Baxter, aber gehen Sie es für mich noch einmal durch. Von Anfang an.«

»Jodie Hudson«, begann Malcolm. »Zehn Jahre alt. Ihr Vater hat sie heute Morgen zur Schule gebracht. Wie jeden Morgen. Hat sie an der Ecke verabschiedet – hier –, sie läuft das letzte Stück allein. Die Schule ist dort. Da, sehen Sie selbst. Keine dreihundert Meter. Von den Klassenzimmern aus kann man die Straße nicht sehen. Aber vom Schultor aus. Nur ist Jodie niemals angekommen.

Als sie nicht auftauchte, haben sie die Mutter angerufen, die wiederum den Vater anrief, ihn aber nicht erreichen konnte. Sie hat sich anfangs keine großen Sorgen gemacht. Nahm an, das Mädchen sei erkrankt und der Vater habe vergessen, die Schule zu informieren. Leider war das nicht der Fall. Der Vater konnte erst zwei Minuten nach elf erreicht werden.«

Ellen unterbrach ihn. »Okay. Fragen. Erstens: Warum hat sie niemand gesehen? Wenn ich meine Kids zur Schule bringe, ist die Straße voller Eltern und Kinder, und alle sind in Eile, um nur ja vor dem Klingeln da zu sein. Zweitens: Wenn das Mädchen krank war, warum wusste die Mutter nichts davon? Leben die Eltern getrennt? Drittens: Wo zum Teufel steckte der Vater zwischen der Verabschiedung der Tochter und elf Uhr?«

»Die Straße war leer«, sagte Malcolm. »Sie hatten sich verspätet. Passiert wohl häufiger, heißt es seitens der Schule. Die Eltern des Mädchens leben nicht getrennt, aber die Mutter arbeitet in der City und verlässt das Haus sehr früh am Morgen. Sie ist die Ernährerin der Familie. Der Vater bleibt zu Hause und kümmert sich um die Kids. Zwei. Jodie und ihr älterer Bruder Finlay – vierzehn Jahre alt. Geht auf die Thomas Moore in Eltham. Katholische Familie, wie Sie wahrscheinlich schon bemerkt haben.«

Ellen nickte. St. Anne’s, Jodies Schule, war katholisch. Ihre Kinder gingen in Greenwich auf eine katholische Schule. Es gab in diesem Teil Londons jede Menge irische und polnische Einwanderer der ersten und zweiten Generation.

»Und der Vater?«, fragte sie.

Malcolm zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Behauptet, er war in Lewisham einkaufen, und sein Handy war ausgeschaltet. Wir haben keinen blassen Schimmer, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Er ist auf dem Revier und wird befragt. Die Mutter ist auch dort. Baxter nimmt sie sich vor.«

Malcolm sagte noch etwas, aber Ellen hörte nicht mehr zu. Sie wandte sich ab, blickte die Lenham Road hinunter und versuchte sich vorzustellen, was geschehen war.

Das kleine Mädchen hüpft die Straße entlang, der Vater da, wo Ellen jetzt stand. Er blickt seiner Tochter einen Augenblick lang nach, dann dreht er sich um und geht. Das Mädchen läuft weiter, der Ranzen auf den Schultern hüpft im Rhythmus ihrer Schritte. Und dann … Was dann?

Vielleicht war es gar nicht so. Vielleicht hatte die Tochter irgendetwas gesagt, was den Vater verärgert hatte. Sie entfernt sich, und er muss unablässig daran denken. Er ist wütend. Richtig wütend.

Jodies Tasche lag in einer Einfahrt. Das Haus war mit Brettern vernagelt. Sah aus, als sei es schon seit Jahren verlassen. Vielleicht war der Vater ihr gefolgt? Hatte sie eingeholt und in den Garten gezerrt.

Sie wehrt sich. Im Handgemenge verliert sie den Ranzen. Keiner der beiden nimmt Notiz davon. Sie hat zu große Angst, er zu große Wut. Plötzlich senkt sich der rote Nebel. Etwas Furchtbares geschieht, und danach hat er keine Tochter mehr.

Ellen sah Malcolm an. »Was meinten Sie?«

»Ich sagte, wir sollten unvoreingenommen sein«, wiederholte er. »Predigen Sie das nicht immer?«

»Stimmt«, sagte Ellen. »Aber ein guter Detective folgt auch seiner Intuition. Was sagt Ihnen Ihre Intuition, Malcolm?«

Malcolm strich mit der Hand über seine kurzen Haare und seufzte.

»Einerseits denke ich, es muss der Vater gewesen sein. Ich meine, das ist die naheliegende Erklärung, oder? Allerdings geht mir etwas anderes nicht aus dem Kopf.«

»Und das wäre?«, sagte Ellen.

»Irgendwas erinnert mich an Molly York«, sagte Malcolm. »Erinnern Sie sich an den Fall? Ich weiß, das hier ist anders, Molly ist drei Jahre her, und seither ist auch nichts dergleichen vorgefallen. Aber hier drinnen«, Malcolm tippte sich heftig an die Brust, »hier drinnen, ich kann mir nicht helfen, denke ich, die beiden Fälle hängen zusammen. Bei dem Gefühl wird mir übel. El… – ich meine, Ma’am. Kotzübel. Wenn derselbe Täter jetzt Jodie in seiner Gewalt hat, dann, na ja, Sie wissen schon, was das heißt.«

Ellen wusste genau, worauf er hinauswollte. Sie dachte an die Fotos von Mollys totem, verstümmeltem Körper, daran, dass sich das Ganze irgendwann wiederholen könnte.

Sie wusste noch nicht, wie Jodie aussah, hatte noch nicht mit der Familie oder Freunden gesprochen, konnte sich noch kein klares Bild von dem Mädchen machen. Doch das Buch am Boden reichte Ellen. Sie sah Jodie deutlich vor sich. Versunken in Michelle Magorians Klassiker, einer Geschichte von Krieg und Freundschaft.

Da waren noch andere Bilder. Bilder, die Ellen beiseitezuschieben versuchte. Jodie ohne ihr Buch, das Gesicht vor Angst, Grauen und Qual nicht wiederzuerkennen. Der Klang ihrer Stimme, die Schreie in Ellens Kopf, das Betteln, Ellen möge sie aus dieser unvorstellbaren Hölle retten.

Ellen blinzelte zweimal. Die Bilder verschwanden, das Einzige, was sie sah, war Malcolm. Der starrte sie an und furchte die Stirn.

»Wir werden sie finden«, sagte sie. »Auch wenn es sich um denselben kranken Mistkerl handelt. Wir werden Jodie finden und dafür sorgen, dass er für den Rest seines miesen Lebens keinem Kind mehr ein Haar krümmt. Okay?«

Malcolms Stirn glättete sich.

»Gut, dass Sie wieder da sind«, sagte er.

 

 

14:30 Uhr

Ellen stieg aus dem Wagen, verriegelte die Türen und eilte zu dem weißen Gebäude am Ende des Parkplatzes. Am Eingang hielt sie ihren Sicherheitsausweis gegen die Tür, wartete, bis das rote Licht grün wurde, drückte die Tür auf und trat ein.

Eilig und mit gesenktem Blick marschierte sie zum Fahrstuhl. Sie drückte den Knopf, die Türen schoben sich auf, und sie trat in den engen Raum. Sie drückte den Knopf für die dritte Etage, atmete erst wieder, als der Fahrstuhl hochfuhr.

Ihre Hände zitterten leicht, als hätte sie letzte Nacht getrunken. Wieder hier zu sein, in diesem Gebäude, ging ihr doch ziemlich nahe. Sie hatte gedacht, sie wäre vorbereitet. Hätte jede mögliche Situation und vorhersehbare Gefühlsregung durchgespielt. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so verdammt ängstlich sein würde. Nervenflattern, ja. Das hatte sie erwartet. Aufregung auch. Beklommenheit, natürlich. Sogar ein bisschen Unsicherheit. Aber das? Angst war etwas Neues. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.

Sie versuchte, an das Positive zu denken. Seit zwei Monaten bereitete sie sich seelisch auf diesen Moment vor, war ihn wieder und wieder durchgegangen. Die Rückkehr zum Job. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie die Vergangenheit hinter sich ließ und wieder anfing, ihr Leben zu leben. Es war gut, wieder hier zu sein. Das musste so sein. Die Alternative – dass sie dem Job nicht mehr gewachsen war – war undenkbar.

Malcolm hatte mit zurückfahren wollen, aber sie hatte ihn angewiesen, vor Ort zu bleiben. Ein Trupp Uniformierter ging von Tür zu Tür. Anwohnerbefragung. Malcolm sollte die Interviews in der Schule organisieren, Lehrer und Schüler mussten befragt werden. Sie brauchten Hinweise auf Jodies Aufenthaltsort oder den Entführer.

Der Fahrstuhl hielt, die Türen öffneten sich, Ellen trat hinaus. Der Korridor vor ihr zog sich ins Endlose. Jedenfalls kam es ihr in diesem Augenblick so vor. Die Fahrstuhltüren schlossen sich leise. Ein Teil von Ellen wollte umdrehen, weglaufen, so tun, als sei sie nie hier gewesen.

Sie musste sich in den Griff bekommen. Und zwar schnell.

Sie atmete einmal tief durch und setzte sich in Bewegung.

Ihre Schritte laut auf dem Fliesenfußboden. Sie hallten durch den Korridor, machten der Flut von Emotionen Konkurrenz. Menschen, Kriminalfälle, Geräusche, Gefühle – ein Ansturm von allem, ihr wurde fast schwindelig.

Sie stand vor Zimmer 3.03. Die Tür war verschlossen, trotzdem konnte sie Stimmengewirr hören. Alastair Dillons dunkles, schottisches Brummen; Raj Patels kräftige, klangvolle und Abby Roberts’ hohe, mädchenhafte Stimme, wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzten.

Ellen drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Lärm schlug ihr entgegen, schrill und schneidend. Dann Stille, ebenso unvermittelt. Alle im Raum drehten sich um, starrten sie an. Sie starrte zurück, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen. Sie wollte sich vorwärtsbewegen, den Moment verstreichen lassen, aber sie war wie versteinert.

Sie sah drei Kollegen. DC Raj Pastel, DC Alastair Dillon, der, seltsamer Zufall, aus derselben Gegend stammte wie Malcolm McDonald – einem kleinen Ort auf den schottischen Orkney-Inseln. Und weiter hinten, abseits von den anderen, Abby Roberts, Opferschutzbeamtin.

Ellen und Abby blickten sich kurz in die Augen, dann wandte sich Abby wieder ihrem Computer zu. Das Tippen auf der Tastatur schien extrem laut in der Stille.

Raj schob seinen Stuhl geräuschvoll zurück, stand auf und fing an zu strahlen. Noch bevor Ellen reagieren konnte, klatschte er in die Hände. Plötzlich war Alastair auf den Beinen, machte es Raj nach. Das Klatschen übertönte Abbys Tippen, die ignorierte, was hinter ihr vor sich ging.

Der Lärm und die Verlegenheit befreiten Ellen aus ihrer Starre. Sie machte einen Schritt vorwärts. Ihr Gesicht glühte. Sie befahl ihren Kollegen, sich zu benehmen. Das Klatschen hörte auf, Raj trat auf sie zu und streckte ihr seine Hand entgegen.

»Schön, dass Sie wieder da sind«, sagte er. »Hab mich gefreut wie ein Schneekönig, als ich heute Morgen reinkam und der Boss verkündete, Sie wären wieder an Bord. Unter uns, ich glaube, er steht enorm unter Druck.«

Ellen brachte so etwas wie ein Lächeln zustande. Eigentlich hätte sie lieber geheult. Mit der Reaktion ihrer Kollegen hatte sie nicht gerechnet. In den düsteren Tagen hatte sie oft an sie gedacht, sie vermisst und sich gefragt, wie es ihnen wohl gehe. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie auch an sie dachten.

Sie blickte durch die Glaswand, die den Raum teilte. Auf der anderen Seite saß eine Reihe von Uniformierten an Telefonen. Sie überprüften die Ergebnisse der Befragung von Tür zu Tür, nahmen Anrufe von den üblichen gutmeinenden Bürgern und einer beträchtlichen Zahl von Verrückten entgegen, die offenbar nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten. Ellen wusste, wenn sie die Liste der Anrufer durchginge, sähe sie eine Reihe von Namen, die ihr aus früheren Untersuchungen geläufig waren.

Ein großes Whiteboard nahm eine Seite dieses Raumes ein. In der Mitte das vergrößerte Foto von einem Mädchen mit dunklem Haar, blauen Augen und einem süßen, schiefen Lächeln.

Der Name, Jodie Hudson, war mit blauem Stift darunter geschrieben, ebenso das Datum und die Zeit ihres Verschwindens.

Ellen wandte sich wieder Raj zu, vermied aber Augenkontakt. Er hatte eine Art, Leute anzusehen, als könne er ihre Gedanken lesen. Das beunruhigte sie jedes Mal.

»Also dann«, sagte sie. »Ich will endlich loslegen, aber zuerst muss ich mit Baxter reden. Danach fassen wir zusammen, was wir wissen. Wo ist er?«

»In seinem Büro«, sagte Raj und machte eine Kopfbewegung in Richtung Tür.

Sie bedankte sich und warf Abbys Rücken einen finsteren Blick zu. Die beugte sich immer noch krampfhaft über das Keyboard und hämmerte wie wild darauf ein. Ellen verzog sich so schnell sie konnte.

Baxters Büro war zwei Türen weiter. Ungewöhnlich, seine Tür war geschlossen. Ellen klopfte, wartete auf Antwort. Sie wollte gerade ein zweites Mal anklopfen, als seine Stimme sie aufforderte hereinzukommen.

Er saß an seinem Schreibtisch, Kopf in die Hände gestützt. Er schien gar nicht gemerkt zu haben, dass sie eingetreten war. Erst als sie seinen Namen sagte, schaute er auf.

»Ah, Ellen«, sagte er. »Gut, dass du da bist. Setz dich.«

Sie nahm Platz, Erleichterung für die wackligen Knie. Obwohl es ein frostiger Tag war, war ihr heiß. Sie hatte feuchte Hände. Mehrere Male wischte sie sie an den Hosenbeinen ab.

»Schwarz, ohne Zucker, korrekt?«, sagte Ed. Er stand auf und trat zur Kaffeemaschine auf dem Regal neben seinem Schreibtisch.

Ellen nickte, dachte jedoch, ein heißes Getränk und eine Dosis Koffein konnte sie jetzt eigentlich nicht gebrauchen.

»Bitte schön.«

Er stellte den Becher vor ihr auf den Tisch, und sie sog den Duft von frischem Kaffee ein. In die Hand nahm sie den Becher jedoch nicht. Sie zitterte zu sehr.

»Alles klar?« Ed machte es sich wieder auf seinem Schreibtischstuhl bequem.

»Ich denke schon«, sagte sie. »Mir ging es gut, bis ich diese heiligen Hallen betreten habe. Es fühlt sich so an wie«, sie suchte nach dem richtigen Wort, schüttelte den Kopf. »Ich weiß gar nicht recht, wie es sich anfühlt, um ehrlich zu sein. Es ist allerdings gut, wieder hier zu sein. Das weiß ich.«

»Gut, dass du da bist«, sagte er. »Wenn auch vorerst nur Teilzeit. Dreißig Stunden, richtig?«

Ellen nickte.

Die Realität sah anders aus, das wussten sie beide nur zu gut. Das war ihr egal. Dreißig Stunden waren besser als nichts.

»Ich bin bereit«, sagte sie.

Er nickte. »Gut. Haben wir sie innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden gefunden, können wir noch mal über deine Arbeitszeiten reden. Ach ja, mit der Therapie musst du weitermachen. Noch sechs Monate.«

»Warum?«

Ed blickte sie nicht an, als er antwortete. »Das ist eine Sache zwischen ihr und dir, Ellen. Wenn sie sagt, du brauchst noch ein paar Stunden, werde ich nicht mit ihr darüber streiten.«

»Was hat sie über mich erzählt?«, fragte Ellen.

»Sie sagte, du kannst wieder anfangen«, erwiderte Ed. »Sonst wärst du ja wohl nicht hier. Okay?«

Ellen zuckte mit den Schultern. »Ist wohl so.«

In Wirklichkeit waren die Therapiestunden gar nicht so übel. Gut möglich, dass sie halfen. Ein bisschen wenigstens. Würden wahrscheinlich mehr helfen, wenn sie die kleinen Hausaufgaben erledigte, die Briony ihr am Ende jeder Sitzung aufgab. Irgendwie fand sie immer Ausflüchte, damit sie sich nicht zwanzig Minuten hinsetzen musste, um über ihre Gefühle zu schreiben. Sie war einfach nicht der Typ Mensch, und wenn sie gebeten wurde, etwas zu tun, was ihr schwerfiel, na ja, es war eben einfacher, sich darüber zu ärgern, überhaupt gebeten worden zu sein, und die Bitte zu ignorieren. Immer und immer wieder.

»Den Kindern geht es gut?«

»Großartig«, sagte sie. »Viel Arbeit. Aber schön. Perfekt, um ehrlich zu sein.«

Ed nickte. »Weißt du, Ellen, du solltest nur hier sein, wenn du das auch wirklich willst. Ich dachte immer, Arbeit wäre der Sinn des Lebens. Erst seit kurzem weiß ich, es ist nur eine Ablenkung. Nichts weiter. Familie, darauf kommt es an. Wenn du bei deinen Kindern sein willst, lass dich weder von mir noch von sonst etwas daran hindern.«

»Hey!« Sie hob eine Hand. »Du solltest mich aufmuntern, zu bleiben, nicht mich überreden, nach Hause zu gehen. Ernsthaft, es ist großartig, zurück zu sein. Die letzten Monate waren wirklich hart. Ich weiß nicht, wie andere Frauen es machen.«

»Jeder ist anders«, sagte Ed. »Meine Andrea hat keinen Tag ihres Lebens mehr in ihrem Beruf gearbeitet, nachdem Melissa auf die Welt gekommen ist. Ich glaube, sie hat es keinen Moment bereut.«

Er verstummte und starrte zur Seite. Ellen wartete, hoffte, er würde das Thema wechseln. Ihr war jetzt nicht nach einem gemütlichen Plausch über sein Privatleben zumute. Sie war einfach noch nicht so weit. Noch nicht.

Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Aber er schwieg, hing seinen Gedanken nach.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie.

»Bitte?«, sagte er. »War einen Augenblick abgelenkt. Also. Wo waren wir stehengeblieben?«

Er sah erschöpft aus. Ellen glaubte zu wissen, warum. Noch einmal etwas wie der Fall Molly York – ein entführtes Mädchen, keine Indizien oder Hinweise, Sackgassen, wo auch immer sie hinblickten. Nur hatten sie dieses Mal die Chance, es richtig zu machen. Das vermisste Mädchen zu finden, bevor es zu spät war.

»Jodie Hudson«, sagte Ellen. »Ich war in der Lenham Road. Bisher keine Zeugen, keine Anhaltspunkte. Nichts.«

Das Zittern ihrer Hände hatte aufgehört. Sie fühlte sich jetzt sicher, vom Kaffee zu probieren. Er war gut. Genauso bitter, wie er sein musste, und mit einem gewissen Kick.

»Es ist ein hochbrisanter Fall«, sagte Ed. »Offensichtlich. Darum haben wir ihn übernommen.«

Fälle von vermissten Kindern wurden normalerweise von einer Sonderkommission gegen Kindesmissbrauch untersucht. Wurde die Mordkommission eingeschaltet, bedeutete das, die Sache wurde als Entführung durch einen Unbekannten eingestuft. Oder als Mord. Das Alter des Kindes war ein erschwerender Umstand.

Ellen sah das lächelnde zehnjährige Mädchen auf dem Foto im Einsatzraum vor sich. Sie dachte an ihre eigenen Kinder, ihre unerschütterliche Liebe für sie, und sie schauderte. Dass ihnen irgendetwas zustoßen könnte, war jenseits ihres Vorstellungsvermögens.

»Was ist mit den Eltern?«, fragte sie.

»Sie sind nach Hause gegangen«, sagte Ed. »Vorerst. Roberts geht nachher zu ihnen. Sie ist die Opferschutzbeamtin in diesem Fall.«

Ellen trank den Rest ihres Kaffees. Spürte, wie sie rot wurde.

»Ist das ein Problem?«, fragte Ed. »Wenn ja, muss ich es jetzt wissen.«

Ed hatte es ihr doch versprochen, oder nicht?

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie.

Ed nickte. »Gut. Du wirst mit ihr sprechen müssen, sobald wir hier durch sind. Um genau zu sein, du wirst mit Roberts eng zusammenarbeiten. Wer weiß. Vielleicht erweist es sich als etwas Gutes. So könnt ihr Mädels eure Meinungsverschiedenheiten überwinden.«

Ellen starrte ihn an, wagte es nicht, zu sprechen. Ihr war noch immer heiß. Diesmal wusste sie auch, warum. Vor Wut. Eine Unverschämtheit, dass er die Tatsachen so verdrehte. Es handelte sich nicht um einen Disput zwischen »Mädels«.

Sie dachte an die Szene von eben im Zimmer am Ende des Korridors. Zwei Kollegen, die sie willkommen hießen. Die dritte, die bockig am Schreibtisch sitzen blieb. Wütendes Getippe auf dem Keyboard, das Ellen in keiner Weise darüber im Unklaren ließ, was Abby Roberts von ihr hielt.

Das Bild wurde durch ein anderes ersetzt. Abby Roberts und Ed Baxter. Abby auf den Knien, ihr Gesicht errötet. Abby sah Ellen an. Baxters Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, weil er begriff, dass er – buchstäblich – mit heruntergelassenen Hosen erwischt worden war. Das war zwei Tage, bevor Abbys Antrag auf Versetzung zur Mordkommission genehmigt wurde. Von niemand anderem als Ed Baxter.

Er hatte wenigstens jetzt so viel Anstand, die Augen niederzuschlagen. Er räusperte sich, blätterte in den Papieren auf seinem Tisch und vermied Blickkontakt.

»Das klang missverständlich«, sagte er. »Und herablassend. Entschuldige. Ich versuche mein Bestes, Ellen, aber es ist nicht einfach. Ich habe einen Fehler gemacht. Das habe ich schon gesagt. Können wir das nicht einfach hinter uns lassen?«

Was ist mit deiner Frau, wollte Ellen fragen. Hast du ihr je davon erzählt? Natürlich ging sie das nichts an. Nicht wirklich. Also hielt sie den Mund und wartete, dass er weitersprach.

Er seufzte. »Also gut. Ich bin der Sicherheitsoffizier und helfe, wie es mir möglich ist. Aber im Moment habe ich jede Menge um die Ohren. Ich brauche dich. Ich weiß, du bist nur verkürzt hier. Aber auch in Teilzeit schaffst du mehr als die meisten in Vollzeit.«

Das Lob tat seine Wirkung. Ihre Wut verflog. Verdammt. Er wusste immer, welche Knöpfe er drücken musste.

»Danke«, sagte sie

»Danke nicht mir«, erwiderte Ed. »Das meine ich so. Es ist verflucht gut, dass du zurück bist. Hier, willst du noch einen Schluck?«

Er hob die Kaffeekanne. Ellen schüttelte den Kopf. Das Koffein kombiniert mit dem hohen Adrenalinpegel und der Aufgabe, die vor ihr lag, waren mehr als genug.

»Welchen Eindruck machten die Eltern?«

»Kevin und Helen Hudson«, sagte Ed. »Gute Frage. Da stimmt was nicht. Ich kann es noch nicht genau benennen.«

»Kannst du ein wenig deutlicher werden?«

Ed zog die Stirn in Falten, wie er es immer tat, wenn er angestrengt nachdachte.

»Ich mag den Vater nicht«, sagte er nach einer Weile. »Aber das ist nicht alles. Ich mag viele Menschen nicht. Das macht sie noch lange nicht zu Kriminellen. Er ist vorbestraft. Vielleicht ist es das.«

»Das heißt nicht, dass er seinem Kind etwas antut«, sagte Ellen.

»Vielleicht«, meinte Ed. »Vielleicht auch nicht. Er hat für schwere Körperverletzung gesessen. Wir wissen also, er ist schon gewalttätig gewesen. Hinzu kommt, dass er nicht der Kindesvater ist. Wir sollten ihn im Auge behalten. Sie verbergen etwas. Er und seine Madame. Den Eindruck hatte ich zumindest, als wir sie befragt haben.«

»Nicht der leibliche Vater?«, fragte Ellen.

»Kevin ist der zweite Ehemann«, sagte Ed. »Der erste hat sich nach Dubai aus dem Staub gemacht, als die Ehe vor ein paar Jahren in die Brüche ging. Kevin und Helen haben geheiratet. Er hat die Kinder adoptiert und sie augenscheinlich wie seine eigenen großgezogen. Ehemann Nummer eins ist noch immer in Dubai. Wir haben das überprüft. Kein Nachweis, dass er in den letzten Jahren wieder in Blightly war. Offenbar null Kontakt zu den Kindern. Helen Hudsons Geschmack bei Männern lässt zu wünschen übrig.

Kevin arbeitet nicht. Helen ist die Ernährerin der Familie. Sie ist froh, dass sie Geld verdient, während ihr Mann herumhängt und nichts tut.«

»Er hängt wohl kaum herum, wenn er sich um die Kinder kümmert«, sagte Ellen. »Warum arbeitet er nicht? Wissen wir das?«

»Er ist ein Ex-Häftling«, sagte Ed, als sei das Erklärung genug. »Also, ich habe eine Menge zu erledigen. Ich will, dass du so schnell wie möglich zu den Hudsons gehst. Quetsch sie beide aus. Sieh zu, was du herausfinden kannst. Rede aber erst mit Roberts. Verschaff dir einen Überblick über den Stand der Dinge.«

Ellen war verabschiedet. So viel war klar. Bevor sie ging, hatte sie allerdings noch eine letzte Frage.

»Ed, du hast mit keiner Silbe Molly York erwähnt. Warum nicht?«

»Ich bin nicht überzeugt«, sagte Ed. »Dass die Kriminaldatenbank sofort was dazu ausspuckt, ist keine große Überraschung. Zwei vermisste Mädchen aus derselben Gegend. Beide im gleichen Alter; beides hübsche Mädchen aus der Mittelschicht. Das elektronische Fahndungssystem verbindet die Punkte zu einer Linie. Dazu ist es da, Ellen. Aber so einfach ist es nicht.

Drei Jahre sind seit Mollys Verschwinden vergangen. Nichts seither. Unsere Bemühungen darauf zu beschränken, einen nicht existierenden Zusammenhang zwischen den beiden Fällen zu konstruieren, wäre lächerlich. Selbstverständlich werde ich das nicht ausklammern. Dennoch werde ich dafür sorgen, dass wir sämtliche Möglichkeiten in Betracht ziehen. Jeder Spur folgen, keinen Stein auf dem anderen lassen. Du kennst das Spiel.

Wir fangen mit der Familie an. Wir konzentrieren uns auf sie, Ellen. Kevin Hudson verheimlicht uns etwas. Ich will wissen, was. Und zwar schleunigst. Die Zeit läuft uns jetzt schon davon. Ich will, dass Kevin unter die Lupe genommen wird und entweder als Verdächtiger wegfällt oder verhaftet wird. Sollte er Jodie etwas angetan haben, lass es uns so schnell wie möglich herausfinden. Sollte er unschuldig sein – was ich bezweifle –, können wir unsere Anstrengungen in eine andere Richtung lenken. Verstanden?«

 

 

15:15 Uhr

Im Einsatzraum saßen Raj und Alastair noch immer an ihren Schreibtischen. Malcolm war jetzt auch da, sprach übermäßig laut über das Spiel der Rangers letzte Nacht. Als Ellen eintrat, verstummte er.

Sie beachtete ihn nicht weiter und ging zum anderen Ende des Raums.

»Wo ist Roberts?«, fragte sie.

»Zu den Hudsons gefahren«, sagte Raj.

Zorn stieg in Ellen auf. Sie war auf Kampf aus, und jetzt war die dumme Kuh nicht da. Obwohl sie wusste – sie wusste –, dass Ellen zuerst mit ihr sprechen wollte.

»Warum zum Teufel hat sie das gemacht?«, fragte Ellen.

Raj zuckte mit den Schultern und guckte verlegen. Sie scannte die Gesichter der anderen. Keiner sah sie an. Ellen gab auf. Abbys Verhalten war nicht das Problem von ihnen; es war ihr Problem. Eine offene Aussprache war fällig, sobald ihr die verfluchte Abby Roberts unter die Augen trat.

»Egal«, sagte sie. »Wir haben wichtigere Dinge zu tun. Malcolm, wie lief es in der Schule?«

»Nichts, was weiterhilft«, sagte Malcolm. »Jodie ist ein intelligentes und beliebtes Mädchen. Hat viele Freunde. Soweit bekannt keine Probleme. Zwei beste Freundinnen …«, er blätterte in seinem Notizbuch, »… Grace Reed und Holly Osbourne. Beide sagen, sie hätten keine Ahnung, wo Jodie sein könnte. Ich glaube nicht, dass sie etwas verheimlichen. Ein paar Lehrer erwähnten, dass Jodies Vater, Kevin, etwas seltsam sei. Eltern am Schultor äußerten sich im Großen und Ganzen ähnlich. Hab allerdings nichts Konkretes herausgefunden. Hatte nur das Gefühl, dass ihn nicht besonders viele Leute mögen. Ach ja, einige Eltern sagten, er hätte Jodie häufiger mal angeschrien.

Die Schulleiterin, Celia Roth, ist nicht da. Sie hat bezahlten Sonderurlaub. Ihre Mutter ist letzte Woche gestorben. Sie ist Montag wieder zurück.«

»Was hat die Nachbarschaftsbefragung gebracht?«, wollte Ellen wissen.

Malcolm schüttelte den Kopf. »So eine alte Krähe meinte, ungefähr zur Zeit von Jodies Verschwinden einen weißen Van gesehen zu haben. Zur Marke oder Sonstigem konnte sie nichts Genaues sagen. Abgesehen davon, nichts, fürchte ich.«

Nichts.

Ellen schluckte ihren Frust hinunter, zwang sich, den Blick auf das Wesentliche zu richten. Auf die Familie. Das war Eds Anweisung. Wie sollte sie das bewerkstelligen und blind sein für das, was sie alle direkt anstarrte?

»Also gut«, sagte sie. »Wir gehen folgendermaßen vor. Malcolm, besorgen Sie die Kontaktdaten aller Familien aus Jodies Klasse. Sprechen Sie mit der Schulverwaltung, und lassen Sie sich von denen geben, was Sie brauchen. Ich will, dass Sie jede einzelne Familie besuchen und sie zu Jodie und ihrer Familie befragen. Eltern haben eine vollkommen andere Wahrnehmung als Kinder oder Lehrer.

Alastair und Raj, Sie nehmen sich die Bänder der Überwachungskameras vor. Auf der Lee High Road befinden sich eine Werkstatt und mehrere kleine Geschäfte. Wir suchen nach allem, was aus dem Rahmen fällt. Besonders nach einem weißen Van. Sie müssen die Befragungen von Tür zu Tür koordinieren. Ist schon jemand auf der Dallinger Road unterwegs?«

Raj nickte. »Vor einer halben Stunde ist ein Team ausgerückt.«

»Gut.« Ellen wandte sich an seinen Kollegen. »Alastair, erinnern Sie sich an Molly York? Gut. Sobald Sie mit den Überwachungskameras durch sind, graben Sie alles zu dem Fall aus, was Sie finden können. Machen Sie eine Liste der Übereinstimmungen zwischen den beiden Fällen. Notieren Sie jedes kleinste Detail. Klar?«

Alastair machte große Augen. »Sie glauben an eine Verbindung?«

»Keine Ahnung«, sagte Ellen. »Ich weiß nur, wir sollten das nicht außer Acht lassen. Sicher ist sicher. Erinnern Sie sich an Katie Hope? Wir haben Katie und ihren Sohn nur gefunden, weil wir ganz tief in ihrer Vergangenheit gegraben haben und Hinweisen gefolgt sind, die zu dem Zeitpunkt sinnlos erschienen. Wir haben Katie gefunden, und wir werden Jodie finden. Wir müssen bloß an die Arbeit gehen.«

»Und Sie?«, fragte Alastair. »Wo können wir Sie erreichen?«

»Ich fahre jetzt zu den Hudsons«, sagte sie. »Ich muss so schnell wie möglich mit ihnen sprechen. Außerdem hab ich ein Wörtchen mit Roberts zu reden. Ich bin mobil erreichbar. Bis später.«

Sie verabschiedete sich von ihren Kollegen und überließ sie sich selbst.

Angst umklammerte sie, kroch in ihr hoch, verknotete ihr den Magen; erdrückte sie. Die Angst, dass sie es nicht schaffte, versagte, und das kleine Mädchen sein Leben verlor. Angst war gut. Das wusste Ellen. Angst trieb sie an, sie würde einen klaren Blick behalten. Die Angst half ihr, Jodie zu finden. Bevor es zu spät war.

 

 

16:00 Uhr

Lee, South East London. Ein ausgedehnter Vorort am Rande von Lewisham und Blackheath. Ellens alter Tummelplatz. Das war schon lange her. Nicht die aufregendste Gegend der Welt. Jede Menge Grünflächen, gute Schulen und ein starkes Gemeinwesen. Es gab schlechtere Orte, an denen man seine Kinder großziehen konnte. Es sei denn, man war zufällig Kevin und Helen Hudson.

Die Hudsons wohnten in der Dallinger Road, einer ruhigen Straße mit Einzel- und Doppelhäusern im Stil der dreißiger Jahre, mitten im Herzen dieses friedlichen und wohlhabenden Londoner Stadtteiles. Ihr Haus war am Ende der Straße. Ellen stieg aus dem Auto. Ein eisiger Wind versprach Schnee.

Bisher kein Mensch von der Presse zu sehen. Das würde sich bald ändern. In diesem Moment saß Ed mit Jamala Nnamani zusammen, Lewishams Pressesprecherin, um die Strategie endgültig festzulegen. Morgen um diese Zeit würde es hier von Reportern nur so wimmeln.

Ellen rannte durch die eisige Kälte zum Haus und klingelte. Während sie wartete, suchte sie mit den Augen die Straße nach Abbys Auto ab. Dann erinnerte sie sich, dass sie gar nicht wusste, was Abby für einen Wagen fuhr.

Die Wut von vorhin brodelte wieder in ihr hoch. Abby war gut in dem, was sie tat, auch wenn Ellen das nur sehr ungern zugab. Darum hatte sie auch vorhin schon mit der Opferschutzbeamtin über die Hudsons reden wollen. Nicht erst jetzt, wenn sie die Eltern zum ersten Mal sah. Aber daran konnte Ellen jetzt nichts mehr ändern.

Sie hörte Schritte. Die Tür schwang auf. Ellen stand Abby von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

»Oh«, sagte Abby. »Sie. Mir hat keiner gesagt, dass Sie kommen. Ich hätte Helen und Kevin vorwarnen können.«

Abby hatte die perfekte Unschuldsmiene aufgesetzt. Ellen fragte sich, ob die Opferschutzbeamtin ihre Lüge selber glaubte. Dann riss sie sich zusammen. Abby manipulierte jeden, jeden außer Ellen, die nur zu genau wusste, wie weit Abby ging, um das zu bekommen, was sie wollte.

»Sie warnen?«, fragte Ellen sinnloserweise.

Abby wurde rot. Manchen Leuten stand es nicht, rot zu werden. Abby Roberts gehörte nicht dazu.

»Sie wissen schon, was ich meine«, sagte Abby.

Ellen drängte sich ohne eine Antwort an ihr vorbei ins Haus. Es herrschte eine unnatürliche Stille. Eine, die Ellen bekannt vorkam. In Zeiten eines schweren Traumas verhielten sich Menschen gedämpft, sprachen miteinander nur halblaut, bewegten sich langsam wie unter Drogen.

Der Flur war hell und geräumig, sparsam dekoriert im skandinavischen Stil; abgeschliffene Dielen, weiße Wände und wenig Klimbim.

»Hier entlang.« Abby führte Ellen durch den Flur in die Küche. Die war ebenso modern und minimalistisch eingerichtet. Durch einen Durchbruch zwischen Küche und Wohnzimmer war ein geräumiger und offener Wohnbereich entstanden.

Ein Mann, eine Frau und ein Junge saßen auf roten Stühlen an einem weißen Esstisch. Die Frau war klein und schlank, hatte volles, dunkles Haar und große braune Augen. Als sie Ellen erblickte, sprang sie auf.

»Helen.« Abby ging auf sie zu und legte ihre Hand auf den Arm der Frau. »Das ist DI Kelly, CID Lewisham.«

Für einen kurzen Augenblick erhellte sich Helens Gesicht, verdüsterte sich jedoch sogleich wieder. Sie umklammerte die Lehne des Stuhls, als müsse sie sich daran festhalten.

»Haben Sie sie …?« Ihre Stimme erstarb. Sie schien Mühe zu haben, zu atmen.

»Nein«, sagte Ellen. »Leider nein. Ich bin nur hier, weil ich Ihnen ein paar Fragen stellen muss. Ihnen und dem Rest der Familie.«

Sie sah den Mann und den Jungen an. Kevin Hudson war groß und hatte schütteres aschblondes Haar. Sein Sohn – Stiefsohn – saß neben ihm und hielt die Hand seines Vaters. Der Junge sah keinem von beiden ähnlich. Er kam wohl nach seinem leiblichen Vater. Ein gutaussehender Junge, langes schwarzes Haar, das ihm in sein blasses Gesicht fiel. Auffallend grüne Augen und lange, dichte Wimpern. Der Junge hatte genau denselben verstörten Gesichtsausdruck wie die Mutter und der Vater; denselben, den Ellen schon so oft gesehen hatte. Auch in ihrem eigenen Gesicht, in der Nacht, in der Vinny getötet worden war, als es sie aus dem Spiegel im Badezimmer angestarrt hatte.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns setzen?«, fragte Ellen. »Abby macht uns sicherlich gerne einen Tee.« Sie schenkte Abby ihr freundlichstes Lächeln. »Oder?«

Ellen wartete, bis Helen saß, zog dann einen der roten Stühle zurück und setzte sich ebenfalls. Der Stuhl war nicht nur hässlich, er war auch unbequem. Sie fragte sich, warum die Hudsons ausgerechnet diese ausgesucht hatten.

»Haben Sie schon eine Ahnung, wo sie ist?«, fragte Helen. »Wir brauchen das nicht. Nicht noch mehr Fragen. Wir haben Ihren Leuten schon alles gesagt. Und was ist mit ihr?« Helen machte eine Kopfbewegung in Richtung Abby. »Warum brauchen wir zwei von Ihnen? Sie sollen Jodie suchen und nicht herumsitzen und verdammten Tee trinken.«

»DS Roberts ist Opferschutzbeamtin«, sagte Ellen. »Sie ist das Bindeglied zwischen Ihnen und uns. Das ist ihre Aufgabe. Meine Aufgabe ist es, Jodie zu finden. Darum bin ich hier.«

»Ich kenne Ihren Namen«, sagte Kevin. »Ellen Kelly. Sie haben vor ein paar Monaten die vermisste Frau gefunden. Sie und ihr Kind. Das waren Sie.«

»Das stimmt«, sagte Ellen.

»Und jetzt werden Sie Jodie finden«, sagte Kevin, als zweifle er nicht im Geringsten.

Abby brachte den Tee, verteilte Becher. Als Kevin den Becher hob, sah Ellen, dass seine Hand zitterte.

»Sie haben ihn erschossen«, fuhr er fort. »Den Typen, der hinter ihr her war. Wie war noch sein Name – Billy irgendwas.«

Die Explosion. Warmes Blut spritzte auf Ellens Wangen. Dunstons Gesicht verschwand. Er fiel mit seinem ganzen Gewicht auf sie. Sie hielt die Waffe an seinen zerschmetterten Schädel und drückte ab. Noch einmal. Und noch einmal.

»Es war Notwehr«, sagte Ellen, wiederholte die alte Lüge, an die sie sich seit jenem Tag festklammerte.

Kevin stellte den Becher ab und starrte sie an. »Behaupten wir das nicht alle?«

Ellen wollte ihren Blick senken, aber sie wartete. Schließlich wandte er sich ab.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie durchmachen«, sagte Ellen. Sie sah den Jungen an, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Oder du, Finlay. Du musst dir doch Sorgen machen.«

Er wollte etwas sagen, aber seine Mutter schnitt ihm das Wort ab.

»Das kann niemand«, sagte Helen. »Sie sind keine Hilfe. Sie verschwenden Ihre Zeit mit Fragen und könnten sie doch längst gefunden haben.«

»Wir tun, was wir können«, sagte Ellen. »Das verspreche ich Ihnen.«

»Nein«, sagte Helen. »Das ist nicht wahr. Sie richten Ihre ganze Aufmerksamkeit auf Kevin. Tun Sie nicht so, als ob es nicht so wäre. Darum sind Sie jetzt auch hier, oder? Um herauszufinden, ob Sie ihm nicht irgendwas anhängen können. Währenddessen hat irgendein … irgendein Irrer meine Tochter. Statt nach ihr zu suchen, statt diese Bestie ausfindig zu machen und ihn zu kastrieren, stellen Sie uns diese blöden Fragen. Sie sollten da draußen sein und mein kleines Mädchen finden!«

»Helen.« Abby legte ihre Hände auf die Schultern der Frau. »Beruhigen Sie sich. Sie stehen schon unter einem enormen Druck. So ist es gut. Atmen Sie tief ein, denken Sie daran?«

Hätte Abby sie angerührt, Ellen hätte sie durch den Raum gestoßen. Helen Hudson jedoch schien für die Einmischung der Opferschutzbeamtin dankbar zu sein.

»Lassen wir uns die Sache hinter uns bringen«, sagte Kevin und warf Helen einen kurzen Blick zu. »Meine Frau kann das nicht sehr viel länger ertragen.«

»Erzählen Sie mir von heute Morgen«, sagte Ellen.

Auf dem Tisch waren noch die Spuren vom letzten Essen zu sehen; ein blasser brauner Kreis von einer Flasche Rotwein; Abdrücke von Kinderfingern.

Ellen sah eine glückliche Familie, die gemeinsam am Tisch saß.

Helen stöhnte, das Bild verblasste.

Kevin streckte seine Hand aus und drückte die seiner Frau.

»Es war meine Schuld«, sagte er. »Helen geht früh zur Arbeit. Ich versorge die Kinder und bringe Jodie zur Schule. Finlay kann schon alleine gehen. Er steigt an der Ecke in den Bus. Sie gehen immer in einer Gruppe. Ich bringe ihn vor die Tür und laufe dann mit Jodie zur St. Anne’s. Wir gehen kurz nach halb neun los, damit wir vor neun da sind. Sie will immer alleine gehen, doch mir ist nie wohl dabei. Sie ist jetzt in der fünften Klasse. Manche ihrer Freundinnen gehen schon alleine. Wir haben ihr gesagt, dass sie das erst ab der sechsten darf.«

»Aber sie geht ein Stück alleine, korrekt?«, fragte Ellen.

Kevin nickte.

»Wir haben einen Kompromiss geschlossen. St. Anne’s kreuzt die Lenham Road. An der Ecke verabschieden wir uns, und sie geht den Rest alleine. Das gefällt ihr. Sie liebt die Unabhängigkeit, wissen Sie. Es ist nicht viel, ich weiß. Aber so ist das eben in London, nicht wahr?«

Helen schniefte. »Unabhängigkeit? Das hat doch nichts mit Unabhängigkeit zu tun. Du wolltest sie nur so schnell wie möglich los sein, damit du …«

»Damit er was?«, fragte Ellen.

»In den Park gehen kann«, murmelte sie. »Er trinkt gern seinen Kaffee im Manor Park, nachdem er Jodie an der Schule abgesetzt hat. Kann meistens gar nicht schnell genug gehen.«

Kevin vergrub das Gesicht in seinen Händen, doch seine Frau, die jetzt in Fahrt war, ließ nicht locker. »Wenn du bei ihr geblieben wärst, wäre das alles nie geschehen.«

»Ich brauche Fakten«, sagte Ellen. »Es ist sinnlos, sich über das Was-wäre-gewesen-Wenn den Kopf zu zermartern. Sie zerfleischen sich damit nur. Kevin, wo war Jodie auf der Lenham Road, als Sie gegangen sind?«

Er blickte auf. »Weiß ich nicht. Ich denke immerzu darüber nach. Ich glaube, sie war schon fast bei der Schule.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«, wollte Ellen wissen.

Er schüttelte den Kopf.

»Niemand hat auch nur irgendetwas gesehen«, sagte Helen. »Wie ist das möglich? Wie kann sich ein kleines Mädchen einfach so in Luft auflösen?«

Sie packte Ellens Handgelenk. »Irgendjemand muss doch was gesehen haben. Die Polizei sagt, sie habe mit allen Bewohnern der Lenham Road gesprochen. Ich glaube ihnen nicht. Sie müssen uns helfen. Jemand, irgendjemand hat mein kleines Mädchen. Ich will sie wiederhaben. Ich brauche sie. Und ich muss immerzu an die arme Molly York denken. Jede Mutter hier erinnert sich an sie. Was, wenn derselbe Mann Jodie entführt hat? Oh Gott. Ich ertrage es nicht. Bitte, DI Kelly. Sie müssen sie finden. Sie sind unsere einzige Hoffnung.«

 

 

16:30 Uhr

Es war ein typisches Mädchenzimmer. Hellgelbe Wände voller Poster und Zeichnungen. Die meisten Poster waren von einer Boygroup. Ellen kannte sie von Videos, die ihre eigenen Kinder auf YouTube anschauten. Die Bilder, offenbar von einem Kind gezeichnet, waren gut. Sie nahm sich vor, herauszufinden, ob es in der Schule einen Kunstclub gab. Wenn eine Lehrkraft Jodies Talent erkannt und Interesse gezeigt hatte, konnte er oder sie etwas über das Kind sagen, was ihnen bisher entgangen war.

Es gab ein Hochbett, wie Pat eines besaß. Unter dem Bett stand ein Schreibtisch. Ellen setzte sich auf den dazugehörigen, viel zu kleinen Stuhl und betrachtete die Materialien auf dem Tisch. Ein weißes DIN-A3-Blatt, drei Stifte parallel neben dem Papier. Auf dem Blatt eine angefangene Zeichnung. Ein alter Mann mit einem Bart und ein kleiner Junge. Der Mann hielt eine Papiertüte in der Hand und zog ein Buch mit der Aufschrift BIBEL heraus.

Es war eine Schlüsselszene am Anfang des Buches Der Junge aus London, in der Mister Tom und Willie sich zum ersten Mal begegnen. Ellens Kinder malten oft Bilder von den Geschichten, die sie gerade lasen. Der Unterschied war, dass die Zeichnungen ihrer Kinder nicht annähernd so vollkommen waren. Jodie war es gelungen, die Bestürzung in Mister Toms Gesicht über den Inhalt der Tüte zu zeigen.

Ellen schob den Stuhl zurück und stand auf. Der Frust nagte an ihr. Sie ging in dem kleinen Zimmer auf und ab und warf einen Blick in den Schrank, zog Schubladen auf und suchte – vergeblich – nach irgendetwas, das einen Hinweis darauf versprach, wo Jodie jetzt war: der Brief eines Brieffreundes, die Kopie einer Mail von jemandem, den sie im Internet kennengelernt hatte, ein Foto, ein Zugfahrplan, irgendetwas Hilfreiches. Sie fand nichts.

In diesem Zimmer zu sein und Jodie um sich zu spüren verstärkte das Gefühl der Dringlichkeit. Jodie war jetzt in ihrem Kopf. Nicht das Bild, das sie sich von ihr gemacht hatte. Jetzt war sie eine echte Person.

An der Wand stand ein weißes Ikea-Regal. Ellens Kinder hatten dieselben Regale mit ähnlichem Kinderkram darin. Sie besah sich ein paar Fotos, Bücher, Spiele und anderes Zeug.

Noch mehr Malutensilien: Klebstoff, Scheren, Stifte, Pinsel und ein teuer aussehender Ölfarbkasten. Gerahmte Fotos auf dem Regal. Aufnahmen von Jodie grinsten sie an. Jodie in einem Schafskostüm mit vielleicht fünf oder sechs Jahren, auf einer Bühne mit anderen Kindern im gleichen Alter; Jodie mit zwei anderen Mädchen am Strand, alle drei im Badeanzug und breit und fröhlich lachend; Jodie mit ihrem Bruder irgendwo auf einem windigen Hügel, das dunkle Haar wehte vor ihre blauen Augen; Jodie auf einem Esel oben in Blackheath, wo Ellen auch oft mit ihren Kindern gewesen war, als sie noch kleiner waren. Jodie, Jodie, Jodie, wo auch immer sie hinsah.

Ellen starrte die Fotos an, bis sie sich sicher war, dass sich jedes Bild in ihr Hirn eingebrannt hatte. Dann verließ sie das Zimmer.

Auf dem Treppenabsatz stieß sie beinahe mit Finlay zusammen, der vor der Tür gestanden hatte. Es war ganz offensichtlich, dass der Junge auf sie gewartet hatte.

»Hey«, sagte Ellen. »Ich habe mir ein paar Zeichnungen deiner Schwester angesehen. Sie hat eine Menge Talent.«

Er nickte. »Sie liebt malen. Letztes Jahr gab es so einen Wettbewerb in der Lewisham-Bücherei. Man sollte ein Bild malen, wie es ist, in Lewisham zu wohnen. Das Bild des Siegers wurde in der Zeitung abgedruckt. Jodie hat gewonnen.«

»Was hat sie denn gemalt?«, sagte Ellen.

Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er schüttelte den Kopf. »Ich habe gehört, was Mom gesagt hat«, flüsterte er. »In der Küche. Glauben Sie, dass mein Dad etwas damit zu tun hat? Nur weil er mal im Gefängnis war? Aber so ist er nicht. Er ist nicht so ein Perverser oder schlecht. Er ist nur im Gefängnis gewesen, weil er versucht hat, das Mädchen zu beschützen. Sie werden ihn doch nicht verhaften, oder?«

Ellen wünschte, er wäre jünger, dann könnte sie ihn in den Arm nehmen. Aber seiner Körpersprache nach zu urteilen, so angespannt und angriffslustig, wäre das wohl der größte Fehler.

»Finlay«, sagte sie. »Ich verspreche dir, ich werde niemanden für etwas verhaften, was er nicht getan hat. Ich möchte Jodie finden und ihren Entführer. Vorausgesetzt, sie wurde entführt. Weißt du, es ist auch gut möglich, dass sie weggelaufen ist. Oder es gibt eine andere einfache Erklärung. Es ist noch zu früh, sich Gedanken über Dinge zu machen, die vielleicht nie eintreten werden.«

Zum ersten Mal sah sie in seinem Gesicht wieder so etwas wie Leben.

»Glauben Sie das wirklich?«, fragte er. »Dass sie vielleicht weggelaufen ist? Das könnte sein, wissen Sie. Sie hatte heute Morgen einen Streit mit Dad. Ich habe sie gehört, bevor ich gegangen bin.«

Langsam, dachte Ellen. Nichts überstürzen. Lass ihn nicht merken, dass das wichtig ist, oder er macht sich wieder zu.

»Ich streite mich mit meinen Kindern andauernd«, sagte sie. »Besonders mit meinem Sohn. Das gehört zum Familienleben dazu. Worüber haben sie sich denn gestritten?«

»Sie hat neue Turnschuhe«, sagte Finlay. »Sie wollte sie unbedingt anziehen, aber Dad hat es nicht erlaubt. Und manchmal, wenn sie nicht aufhört zu quengeln, gibt er nach und lässt sie machen, was sie will. Das macht Mom ganz verrückt.«

Ellen lächelte. »Das kenne ich. Manchmal ist es einfacher, als sich das Herumgenöle anhören zu müssen. Dein Dad war wohl heute Morgen nicht so leicht herumzukriegen, was?«

Finlay schüttelte den Kopf, doch bevor er noch etwas sagen konnte, tauchte sein Vater unten an der Treppe auf.

»Alles in Ordnung da oben?«, rief er hoch.

»Alles bestens«, antwortete Ellen. »Wir haben nur ein wenig geplaudert, das ist alles.«

Der Moment war vorüber. Der Junge hatte sich umgedreht und rannte schon die Stufen, immer zwei auf einmal, zu seinem Vater hinunter.

Als habe er Angst. was sein Vater tun könnte, wenn er Finlay mit ihr reden sah, dachte Ellen.

 

 

17:15 Uhr

Ellen traf die beiden Eltern mit Abby in der Küche an. Keine Spur von Finlay.

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Kevin.

»Jodies Foto ist an alle Polizeidienststellen im Land geschickt worden«, sagte Abby. »Die Beamten werden die ganze Nacht hindurch arbeiten und alles tun, um sie zu finden.«

»Die Presse ist ebenfalls eingeschaltet«, sagte Ellen. »DCI Baxter hat heute Nachmittag mit unserem Presseteam eine Strategie ausgearbeitet.«

»Also werden Journalisten ihre Nasen in unsere Angelegenheit stecken?«, fragte Kevin.

»Das ist nicht zu vermeiden, fürchte ich«, sagte Ellen und dachte, wäre es ihr Kind, würde sie sich über neugierige Journalisten keine Gedanken machen. Nicht, wenn sie halfen, ihre Tochter zu finden. Sie nickte Abby zu.

»DS Roberts wird bei Ihnen bleiben. Sie kümmert sich um Presseanfragen.«

»Unbedingt«, warf Abby ein. Offenbar war es ihr egal, dass Ellen noch nicht ausgeredet hatte. »Kevin und Helen, hören Sie zu. Es ist durchaus möglich, dass wir Jodie ganz schnell finden. In dem Fall brauchen Sie gar keine Bedenken zu haben.«

»Und wenn nicht?« Helens Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Wir werden sie finden«, sagte Ellen und meinte es auch so. Sie sah Jodies lächelndes Gesicht vor sich. Sie blieben so lange dran, bis das Mädchen wieder in Sicherheit und zu Hause war.

Bevor Ellen wenig später das Haus verließ, wies sie Abby an, sie telefonisch über Neuigkeiten zu informieren.

»Begleiten Sie mich noch zum Auto«, bat sie. »Ich muss unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«

Abby wollte protestieren, hielt aber klugerweise den Mund und folgte Ellen nach draußen. Ellen entriegelte erst die Türen ihres Autos, dann wandte sie sich der Opferschutzbeamtin zu.

»Hören Sie«, sagte sie. »Wir müssen zusammenarbeiten, Abby. Unsere Meinungsverschiedenheiten sollten wir vorerst beiseitelegen und uns auf den Fall konzentrieren. Was meinen Sie?«

Abby wurde rot. »Sie haben herumerzählt, dass ich mit dem Boss geschlafen habe. Ein bisschen schwierig, das einfach zu vergessen und so zu tun, als sei nichts geschehen. Wissen Sie überhaupt, was für eine schwere Zeit ich deswegen durchgemacht habe, als ich beim CID anfing?«