Neil Young - Walter Erhart - E-Book

Neil Young E-Book

Walter Erhart

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Neil Young ist mit seinem näselnden Gesang und seiner brachialen Gitarrentechnik neben Bob Dylan der vielleicht einflussreichste Rock-Musiker aller Zeiten, sei es mit seinen sagenumwobenen Bands "Crazy Horse" oder "Stray Gators" oder alleine mit Gitarre und Mundharmonika. Von den Jungen wird der Kanadier verehrt wie kein Zweiter. Und immer engagiert er sich, zum Beispiel für die von ihm selbst gegründete Farm Aid oder gegen George W. Bush. Sein Leben spiegelt von Woodstock bis in die Gegenwart sowohl die musikalische als auch die gesellschaftliche Entwicklung Nordamerikas beispielhaft wieder. Walter Erharts Buch zeichnet diese Linien ebenso kompetent wie begeistert nach.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 280

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Walter Erhart

Neil Young

Mit 12 Abbildungen

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart

Coverabbildung: Neil Young 2012 – © Imago / UPI Photo

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2015

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-960830-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011049-2

www.reclam.de

Inhalt

Die unwahrscheinliche Geschichte des Neil Young

»Eine Stadt in Nord-Ontario« – Kindheit und Jugend in Kanada (1945–1965)

Gebrannte Kinder, panische Büffel (1966–1968)

Goldrausch, Erntedank und der Nerv der Zeit (1969–1972)

Die Zurücknahme: Worte zum Film (1972)

Reisen ans Ende der Nacht (1973–1975)

Zeitreisen, flussaufwärts (1975–1979)

Maskeraden, Dekonstruktion (1980–1988)

Politik, Wiederholung und die Essenz der Rockmusik (1989–1992)

Das Ende der Postmoderne: Mit Engeln schlafen (1993–1994)

Flussabwärts. Leidenschaft (1995–2002)

Eine Stadt am Meer (2003–2004)

Kindheit, Krieg, Umwelt. Auf der Suche nach Musik (2005–2011)

Die wiedergefundene Zeit (2012 ff.)

Literaturverzeichnis

Diskographie

Filmographie

Abbildungsverzeichnis

Register

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die unwahrscheinliche Geschichte des Neil Young

Am Anfang war keine Stimme. Die erste veröffentlichte Schallplatte von Neil Young: instrumentals ohne Gesang. Es spielten »The Squires«, eine Schülerband, die sich Anfang der 1960er Jahre in Winnipeg, Kanada, zusammengefunden hatte; 1963 durften sie im Tonstudio eines Radiosenders eine Platte aufnehmen, eine Single mit zwei von Neil Young geschriebenen Songs: »The Sultan« und »Aurora«. Nur wenige Jahre später war Young mit der Band Buffalo Springfield bereits in den amerikanischen Hitparaden, gleich neben den Beatles und Bob Dylan, den Rolling Stones und den Beach Boys. Und doch war er noch kein Sänger: Die erste Single der Band war ein von ihm geschriebener, jedoch nicht von ihm, sondern von Richie Furay gesungener Song (»Nowadays Clancy Can’t Even Sing«). Auf der B-Seite war der zweite Songschreiber und der zweite Sänger der Band zu hören, Stephen Stills mit »Go And Say Good-Bye«. 1968 erschien Neil Youngs erstes Soloalbum, und auch hier, am Anfang, in Erwartung der ersten Plattenseite, ein Lied ohne Sänger, ein instrumental: »The Emperor Of Wyoming«. Und nach dem Umlegen der Vinyl-Platte dasselbe Spiel, man hört einen eigentümlichen Country-Song – ohne Stimme: »String Quartet From Whiskey Boot Hill«.

All dies waren keine Zufälle. Der Sänger Young kam aus dem Verborgenen. Obwohl seine Stimme zu einem eigenen Markenzeichen in der Geschichte der Pop- und Rockmusik wurde, war sie anfangs nichts wert. Und obwohl sie nicht wenig zur Bedeutung dieses neben Bob Dylan vermutlich einflussreichsten Rockmusikers beitragen konnte, hat er sie zunächst versteckt. »Seine Stimme war seltsam, zittrig«, erinnerte sich einer seiner ersten Produzenten, Ahmet Ertugan vom Plattenlabel Atlantic. »Er hatte nicht viel Zutrauen zu seiner Stimme«, gab sein zweiter Produzent Jack Nitzsche zu Protokoll. Er »hasste seine Stimme«, so erzählte es der Produzent seines ersten Soloalbums, Elliot Roberts, in den späten 1970er Jahren.

Kein Wunder, dass diese Beobachtungen auch das Bild des Sängers von sich selbst beeinflusst haben. Bereits nach den zweiten Plattenaufnahmen in einem kanadischen Radiosender soll ihn der Toningenieur beiseitegenommen haben: »Du bist ein guter Gitarrenspieler, aber du wirst es nie zu einem Sänger bringen.« Wenig später, bei Buffalo Springfield, als es immer wieder darum ging, welche Songs der Gruppe für die entscheidenden (und dann doch mäßig erfolgreichen) Singles ausgewählt werden sollten und wer auf den Alben wie oft mit eigenen Kompositionen vertreten sein durfte, habe sich kein Geringerer als der enge Freund Stephen Stills darüber beschwert, wie quietschend und piepsig (»squeaky«) Neils Stimme nun mal klingen würde.

Anders als Bob Dylan, dessen herber Gesang schon immer das ganze Selbstbewusstsein dieses Sängers verkörperte und der dieses Organ von Anfang an virtuos und für alle seine musikalischen Zwecke und Strategien einzusetzen wusste, begann der Sänger Young als Außenseiter, seiner selbst nicht sicher, von Kollegen und Kritikern beargwöhnt. »Neil hatte panische Angst vor dem Mikrophon«, und darüber habe sich auch niemand wundern können, so noch einmal Jack Nitzsche: »Diese ganze seltsame Sache mit seiner Stimme – all dies Zittern und Schütteln, man könnte meinen, der Kerl hat gerade einen Nervenzusammenbruch.« Heute markiert seine Stimme sowohl die Innigkeit von Folkballaden als auch die Vehemenz und Aggressivität der ganz großen, mit den elektrischen Gitarren wetteifernden Rock-’n’-Roll-Stimmen. Kurz: Er konnte nicht singen, und trotzdem wurde sein Gesang berühmt. Vielleicht ist deshalb der Weg dieses Sängers geradezu typisch für die Rockmusik selbst: für ihre Herkunft aus einer zunächst abseitigen und verborgenen Gegenkultur, für eine anfangs befremdliche Klangwelt, die in kurzer Zeit ihren Siegeszug über die ganze Welt angetreten hat.

Es gehört zu den Rätseln dieser an Rätseln nicht gerade armen Geschichte der Pop- und Rockmusik, warum Young also nicht trotz, sondern gerade wegen seines Gesangs zu einem Klassiker und einer großen Figur dieser Geschichte werden konnte. Man muss dabei gar nicht – wie Rockkritiker es natürlich getan haben – zu einem berühmten Vertreter der postmodernen Theorie, zu Roland Barthes’ Ausführungen über die »Körnung der Stimme« (»le grain de la voix«) greifen, nach der es nicht das Melodiöse, das technisch Brillante und Gekonnte einer Stimme ist, aufgrund dessen sie geliebt und bewundert wird. Es gehe vielmehr um ihre mit dem Körper geheimnisvoll verbundene, sich den Zuhörerinnen und Zuhörern mitteilende, nur schwer in Worte zu fassende Fleischlichkeit, eine stimmliche und jeweils regellos und einzigartig geformte Einheit von Leib und Seele. Youngs Gesang ist beileibe kein Liebhaberobjekt, vielmehr konnte seine Stimme die Bedeutung dieses Künstlers genau deshalb so genau repräsentieren, weil sie den Weg von der Peripherie ins Zen-trum, den Wechsel von Befremdung und überraschender Souveränität immer wieder neu vorführt. Ihr fast »außerirdischer« Klang habe sie paradoxerweise stark und intensiv gemacht, aber auch Neil Youngs Außenseitertum begründet, so hat es der Rock-Historiker Bob Hoskyns in seinem Buch über die kalifornische Musikszene der späten 1960er Jahre beschrieben.

Diese Stimme, sie gibt in der Tat Rätsel auf und lässt seltsam aufhorchen, »eigensinnig und zerbrechlich«, wie sie der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in einem Essay zu umschreiben versucht hat:

»Sie kommt von weit her, aus den Tiefen der Seele. Sie gibt nicht auf. Es ist keine sehr männliche Stimme. Sie klingt ein wenig wie die einer Frau, eines Greises oder eines Kindes.«

Diese Stimme gehört »dem bis heute wohl schwächsten unter den schwachen Sängern«, so hat es Diedrich Diederichsen in seinem Standardwerk Über Popmusik (2014) noch einmal harsch hervorgehoben (und zugleich die Erfolgsgeschichte solch schwacher Stimmen nachgezeichnet).

»Neils Stimme ist eine Stimme und ist keine Stimme«, so formulierte es Bruce Palmer, der frühe Weggefährte und Bassist von Buffalo Springfield: »Sie ist ein Geheimnis, aber sie muss irgendeinen zelebralen Punkt in unserem Unbewussten treffen.« Und Young selbst? »Meine Stimme ist ein verdammtes Mysterium für mich. Ich habe verschiedene Stimmen in mir.« Handfester und praktischer wusste es Navid Kermani in seinem Buch Das Buch der von Neil Young Getöteten (2002) zu berichten: Die Darmkoliken seiner neugeborenen Tochter konnten überraschenderweise nur durch die Stimme von Neil Young gelindert werden, noch dazu am besten mit einem seiner stimmlich fragilsten, most squeaky Lieder: »The Last Trip To Tulsa« (1968). Die beruhigende Wirkung, so sinniert auch Kermani, könnte von dem intra-uterinären, vorgeburtlichen Klang ausgelöst worden sein, einem ätherischen, von anderswo und von weit her kommenden Laut. »It’s a voice and it isn’t a voice.«

Der unerwartete Erfolg dieser Stimme, der verhaltene Seiteneinstieg des zunächst nur Gitarre spielenden Sängers und die alsbald unbestrittene Stärke und Bedeutung des von Neil Young verkörperten Gesangs: Etwas Ähnliches scheint sich bei dem Gitarristen Neil Young zu wiederholen. Technik und Bandbreite seines Gitarrenspiels, zumal im Vergleich mit seinen Zeitgenossen Eric Clapton, Jimi Hendrix oder Jimmy Page, seien durchaus begrenzt, so war und ist es häufig zu lesen. Und doch steht gerade dieser Sound – mit der akustischen und der elektrischen Gitarre – für eine eigentümliche Virtuosität und hat wie wenig andere über ein halbes Jahrhundert lang die Rockmusik geprägt: mit Riffs, Melodien und ohrenbetäubenden Gitarrensolos, mit kreischenden Rückkoppelungen und Pinch Harmonics (bei denen kurz mit dem Fleisch die Saite angeschlagen wird und ein quiekender oder pfeifender hoher Ton entsteht). Die dabei entstandenen Songs, Alben und Live-Konzerte wurden vor allem im symbiotischen Zusammenspiel mit seiner Band Crazy Horse einzigartig und unverwechselbar: »Southern Man«, »Like A Hurricane«, »Cortez The Killer«, Rust Never Sleeps oder »Rockin’ In The Free World«.

Die Stimme, das Gitarrenspiel, die beschwerlichen Anfänge in der kanadischen Provinz, aber auch das oftmals Skurrile von Neil Young, das nur bedingt Medientaugliche und so wenig Medienwirksame seiner Person – all dies macht seinen Erfolg als ein Zentralgestirn der Pop- und Populärkultur immer auch unwahrscheinlich und überraschend. Und genauso oft, wie er sich als ebenso berühmter wie historisch bedeutsamer Rockmusikkünstler hervorgetan hat, ist er auch immer wieder im Abseits des Musikbusiness gelandet. Nicht seine Stimme, auch die ihn treibende, oftmals als ›stur‹ bezeichnete egomanische Leidenschaft für zuweilen abseitige Musikrichtungen, für eigentümliche Filmproduktionen, kostspielige Hobbys (Young kaufte irgendwann die darniederliegende amerikanische Spielzeugeisenbahnindustrie im Alleingang auf), aber auch für technologische Großprojekte (eines konzentrierte sich auf umweltfreundliche Elektroautos, das andere auf ein gegen die gesamte Musikindustrie gerichtetes neues Aufnahmeverfahren namens Pono), die Regelmäßigkeit, mit der er seine Fans und Kritiker vor den Kopf stieß und deren Erwartungen enttäuschte – all das deutet nicht gerade auf einen umjubelten Rockstar, sondern eher auf einen eigenbrötlerischen Tüftler und Besessenen, einen Außenseiter und Hobbykünstler, der es vielleicht nur durch Zufall zu einiger Bekanntheit gebracht haben mag.

Pop- und Rockmusik feierte das Außergewöhnliche und das Rebellische, ist counterculture und doch schnell wieder mainstream. Genauso gehörte es zu den Merkmalen ihrer Vertreter und ihrer Helden, dass diese schnell Kultstatus bekommen und kommerzielle Erfolge feiern können und sich trotzdem immer noch als Außenseiter, Abweichler und Rebellen inszenieren.

Young scheint diese Pendelbewegung zwischen Randständigkeit und Mittelpunkt auf charakteristische und doch auf ganz eigene Weise zu verkörpern. In den 1960er Jahren prägte er mit Buffalo Springfield in Kalifornien den Westcoast-Sound – obwohl er nur ein einfaches und dabei eigentlich stimmloses Mitglied dieser Band war. Mit einer der ersten sogenannten supergroups, mit Crosby, Stills, Nash & Young, spielte er 1969 auf dem sagenumwobenen Woodstock-Festival (ist aber – auf eigenen Wunsch – im berühmten Film nicht zu sehen), wurde in den 1970er Jahren als Gitarrist und Sänger zu einer Ikone der Rockmusik und taucht seither immer dann auf, wenn es die noch tätigen bzw. noch lebenden Großmeister des Rock ’n’ Roll zu feiern gilt.

Gleichzeitig aber war Young nie auszurechnen, sorgte immer wieder für Überraschungen und hat verlässlich und in regelmäßigen Abständen seine eben erst neugewonnenen Fans vergrault und die Kritiker düpiert: Nach seinem erfolgreichsten Album mit seinem einzigen Billboard-Number-One-Song (Harvest mit »Heart Of Gold«) hat er stilistisch genau entgegengesetzte Platten veröffentlicht. Und nachdem er in den späten 1970er Jahren (mit Rust Never Sleeps und Live Rust sowie dem Best-of-Dreifachalbum Decade) seinen fast schon musealen Kultstatus (zurück)gewonnen hatte, produzierte er in den 1980er Jahren nahezu unverkäufliche Schallplatten – und dürfte der einzige Musiker in der Rockgeschichte gewesen sein, der von seiner neuen Plattenfirma Geffen Records verklagt wurde, weil er entgegen vermeintlicher Absprachen und kommerzieller Hoffnungen ›nicht-repräsentative‹ Musik produziert hatte.

»Zerstörung« sei das Wesen seiner Musik, hat Young einmal gesagt – und damit nicht nur das Geheimnis seiner wandlungsfähigen Produktivität und mancher Klangmuster seines E-Gitarren-Spiels benannt, sondern auch einen wesentlichen Impuls der gesamten rockmusikalischen Kultur. Zu seinem Werk gehören bis heute Filme, mit denen er sein Fanpublikum und die Filmkritiker zutiefst verstörte, schräge, fast unerträgliche Schallplatten (wie die Kakophonie-Ansammlung Arc) sowie rätselhafte Kehrtwendungen. Als man sich in den 1990er Jahren darauf eingestellt hatte, von ihm nur noch Wiederholungen zu hören und eine abschließende Werkschau besichtigen zu können (die lange angekündigten und erst 2008 erschienenen Archives Volume One), legte er 2003 ein bis heute kolossal unterschätztes Konzeptalbum über eine amerikanische Kleinstadt im 21. Jahrhundert vor (Greendale), wenig später eine voluminöse Autobiographie (Waging Heavy Peace, 2012), und davon sogar eine Fortsetzung, mit eigens gemalten Aquarellen des Autors, nämlich Special Deluxe. A Memoir of Life & Cars (2014). William Echard hat in seinem Buch Neil Young and the Poetics of Energy 2005 einige dieser Neil-Young-Bewegungen quer durch die Rockgeschichte und die musikalischen Stile nachverfolgt. Zu nennen sind Folk, Rock ’n’ Roll, Rockabilly, Country, Blues und auch Punk. Young hat diese musikalischen Stile immer wieder kombiniert, integriert, miteinander verschmolzen, sie gleichzeitig jedoch in ihrer Vereinzelung bis ins verstörende Extrem getrieben: Das Country-Album Old Ways aus dem Jahr 1985 zum Beispiel wollte niemand richtig hören; die meisten Liebhaber des Folkmusikers Young wiederum konnten mit den lärmigen E-Gitarren-Klanggewittern der Crazy-Horse-Konzerte wenig anfangen.

Neil Young: ein verlässliches ›Urgestein‹ der Rockmusik und gleichzeitig ein Chamäleon, dem niemand auf seiner Spur folgen kann, der immer wieder in neuen Verwandlungen auftaucht und in immer neue Richtungen geht. Auch dies verbindet sich mit einer klassisch gewordenen Geschichte der Rockmusik, die vom Aufstieg, dem Fall und dem Überleben ihrer Helden erzählt. Nie hat Neil Young solche Drogen- und Alkoholexzesse durchgemacht wie Eric Clapton, David Crosby, Joe Cocker oder Keith Richards – und doch gilt auch er als einer der Überlebenden, einer jener Helden, die mehr oder weniger gezeichnet durch die Rock-Ära hindurchmarschiert und erstaunlicherweise immer noch da sind. Bereits 1972 hat Young über die Gefährdung der Musik durch ihre Drogenopfer einen Song geschrieben (»The Needle And The Damage Done«); sein düsterstes Album Tonight’s The Night von 1975 war Trauerarbeit nach dem Tod seiner Freunde Danny Whitten und Bruce Berry; mit Sleeps With Angels (von 1994) setzte er einen denkwürdigen Grabstein für Kurt Cobain (und eine ganze Epoche). Zur Mythologie der Rockmusik gehört es auch, dass schon immer ihr eigener Tod ausgerufen wurde – ihre Erstarrung im mainstream, das Ableben ihrer besten Musiker und Sänger, die Erschöpfung einstmals ungebändigter Energien. »The day the music had died«, heißt die berühmte Songzeile bereits 1971 in Don McLeans »American Pie« (gemeint war damals der Tod von Buddy Holly im Jahr 1959). »Hey hey, my my, Rock and Roll can never die«, lautet die entsprechende Songzeile in einer schon selbst zum mainstream-Zitat gewordenen Hymne von Young auf seinem Album Rust Never Sleeps von 1979.

Young hat an diesem Mythos der sterbenden und doch immer überlebenden Rockmusik mitgeschrieben, zugleich ist er selbst einer ihrer mythischen Repräsentanten geworden. Eindringlich ist sein eigenes Muster von Wiederkehr und Verwandlung gerade deshalb, weil es mit einer charakteristischen Geste verbunden ist, die ein weiteres großes Thema der Rockgeschichte variiert: Einsamkeit und Liebeskummer, Schmerz und Trauer, die Klage um den Verlust sowie der mit jedem Aufbruch verknüpfte Wehmut des Abschieds. Der 24jährige Folksänger imaginierte sich bereits in den späten 1960er Jahren als »old man«, er betrauerte den Auszug aus der nie überwundenen Kindheit (»Sugar Mountain«, »I Am A Child«), dann das ­düstere Ende der Hippie-Jahre und der Flower-Power-Träume (»Tonight’s The Night«, »Hippie Dream«), er beschrieb die Eroberung des unberührten lateinamerikanischen Kontinents durch »Cortez The Killer« und klagte über die Niederlagen der amerikanischen Ureinwohner, aber auch über die vergebliche Suche der Siedler nach ihrem nie gesehenen homeland (»Broken Arrow«, »Pocahontas«), er wetterte gegen die Zerstörung der Erde durch Menschenhand (»After The Gold Rush«, »Mother Earth«, »Natural Beauty«, »Be The Rain«) und sah in dem schon lange zurückliegenden Verfall Amerikas (»Are There Any More Real Cowboys?«) den Auszug aus einem imaginären Paradies, mehr noch: die verlorene Unschuld einer vielleicht einmal heil gewesenen Welt.

Auch dies ist zuallererst mit seiner Stimme verbunden gewesen. Ein »präadoleszentes Jaulen und Jammern« hörte 1970 ein Kritiker auf dem Album After The Gold Rush, seine Stimme sei durchgängig klagend und leidend, »perpetually mournful«, kommentierte der Rolling Stone sein zweites Soloalbum Everybody Knows This Is Nowhere von 1969. Über die Jahrzehnte hinweg ist Young eine Art Schmerzensmann der Folk- und Rockmusik geblieben. Dabei war den meisten wohl gar nicht bewusst, dass der vermeintlich schwermütige Kanadier manche Schmerz- und Verlusterfahrungen auch der eigenen Biographie verdankte. Als er 14 war, ließen sich seine Eltern scheiden; in einigen Folksongs des über 50jährigen wurde die Versöhnung zwischen Vater und Mutter, zu der es nie gekommen war, in der Phantasie nachgeholt (»Red Sun«, »Daddy Went Walk-ing«, 2000).

Seine Biographie trägt jedoch auch in anderer, viel konkreterer Hinsicht Züge einer Leidens- und einer Krankengeschichte: eine lebensbedrohliche Kinderlähmung in der Kindheit, ein daraus resultierendes muskuläres Ungleichgewicht der linken Körperhälfte, epileptische Anfälle, schwere Bandscheibenvorfälle in den frühen 1970er Jahren, eine Kehlkopfoperation, zuletzt während der Aufnahmen zu Prairie Wind 2005 ein Gehirnaneurysma mit komplizierter Operation. Zwei seiner drei Kinder, der erste Sohn Zeke (aus der Beziehung mit der Schauspielerin Carrie Snodgress) und der zweite Sohn Ben aus der Ehe mit Pegi Young, wurden mit einer Behinderung (Zerebralparese) geboren; mit dem schwerstbehinderten Ben organisierte das Ehepaar Young über Jahre hinweg aufwendige Therapie-Programme. Manche seiner Alben, etwa Tonight’s The Night (1975), Sleeps With Angels (1994), Broken Arrow (1996) und Le Noise (2010), sind Trauer- und Grabgesänge für die gestorbenen Freunde und Kollegen, auch die Autobiographie Waging Heavy Peace von 2012 besteht aus einer Reihe von Gedenkreden und Nekrologen für die zahlreichen, inzwischen gestorbenen Weggefährten.

In vielerlei Hinsicht hat immer auch das Private die Musik von Young beeinflusst, anders als etwa bei Bob Dylan sind die Lieder und Verse, auch die Entwicklung der Werkphasen zutiefst (auto-)biographisch geprägt. »Für mich ist jede meiner Schallplatten eine fortgesetzte Autobiographie«, gab er bereits 1975 in einem Interview zu Protokoll. Mit all den privat motivierten Erfahrungen ist er jedoch nicht im Rahmen der eigenen Biographie verblieben. Sowohl Wandel als auch Kontinuität dieses Musikers erzählen nicht nur von ihm selbst, sondern in sehr viel größerem Maße von etwas anderem, von einer Person, die ihr Eigenes immer auch als etwas Allgemeines und Zeittypisches präsentiert hat. Der melancholische Gestus seiner Songs und seiner Stimme, jene von Neil Young besungene Welt, in der alles mit Trauer unterlegt scheint, intoniert nicht nur eine typische Erzählung der Rockmusikgeschichte, sondern ist mit einer viel größeren (Verlust-)Geschichte verbunden, die bald keine historischen und geographischen Grenzen mehr kennen sollte.

Nicht ohne Grund verbindet sich die Klage über das Ende der Rockmusik mit einer Bilderwelt, die bei Neil Young immer wieder die Anfänge Amerikas, die indianische Urbevölkerung und den ›Wilden Westen‹ des späten 19. Jahrhunderts beschwört, in vielen Songs und Zitaten, aber auch in der Choreographie der Konzerte und den Emblemen öffentlicher Auftritte: der zerbrochene Pfeil, der einem frühen Lied und Youngs Ranch »Broken Arrow«, unweit von San Francisco, den Namen gegeben hat, auf der Bühne platzierte indianische Totempfähle, Bilder von Indianern, Westernstädten und Teepees auf den Plattencovern. Einer klugen Beobachtung des Popjournalisten Simon Reynolds zufolge befindet sich Youngs Musik im Windschatten zweier traumatischer amerikanischer Desillusionen: der Schließung der westernfrontier am Ende des 19. Jahrhunderts (man war in Kalifornien angekommen, der Pazifik beendete durch seine bloße Präsenz die immer wieder neue Auswanderung nach Westen und die Erweiterung des gelobten Landes) sowie der Schließung einer psychologischen und existentiellen Grenze, die in den 1960er Jahren aufgebrochen war und den Subjekten eine utopische Freiheit und Erlösung versprochen hatte. Auf diese Weise haben Neil Youngs Lieder die Mythologien des amerikanischen Kontinents noch einmal bevölkert, ein imaginäres Amerika, das Young nicht müde wird zu besingen.

Dabei ist er beileibe kein nostalgischer Geschichtsschreiber geblieben, stattdessen hat er mit seinen Songs eine aus all diesen Vergangenheiten stets neu entstehende poetische und musikalische Bilderwelt geformt, die sich immer auch für die Gegenwart öffnet. Fast ein halbes Jahrhundert lang hat Neil Young auf historisch-politische Ereignisse reagiert: vom Vietnam-Krieg bis zum 11. September 2001, von Woodstock bis zu den ökonomischen Krisen der Jahrtausendwende, von den Kriegen in Nahost bis zu drängenden Fragen der Umweltzerstörung und des Klimawandels im 21. Jahrhundert. Dabei wurden seine Alben und Lieder immer auch konkret: in der Anklage amerikanischer Politik (»Ohio«, 1970; Living With War, 2006), im Eintreten für die Wehrhaftigkeit Amerikas (»Hawks And Doves«, 1980; »Let’s Roll«, 2002), aber auch mit einem Appell zur Absetzung des Präsidenten (»Let’s Impeach The President«, 2006). Er protestierte gegen die Kommerzialisierung der Rockmusik (»This Note’s For You«, 1988) und gegen die Digitalisierung ihrer Tonträger (»Driftin’ Back«, 2014), er warnte vor den Übergriffen von Free TV und Medienindustrie (Greendale, 2003), attackierte die Ölindustrie (»Who’s Gonna Stand Up«, 2014) und machte zuletzt ein Engagement für erneuerbare Energien zu einem neuen Leitmotiv seiner Musik.

Zweifellos gehört er zu den Vertretern und den Erben jener in den 1960er Jahren entstandenen Folk- und Protestbewegung, die sich die Kritik der ›Gesellschaft‹ auf ihre Fahnen geschrieben hat; anders als Bob Dylan aber hat er dieses Engagement immer fortgesetzt, nicht als Intellektueller und nicht als politischer Kommentator, sondern mit Musik und mit Songtexten, nie überlegt oder mit langem Atem beim selben Thema verbleibend, sondern eher eruptiv und emotional, auch hier kaum berechenbar und in immer neuen Verwandlungen.

Romantik und Rebellion, Nostalgie und Kritik gehen bei Young eine für die Rockmusik vielleicht nicht untypische Allianz ein. Und an dieser Stelle kommt seine einzigartige Stimme wieder ins Spiel: Sehnsüchtig und klagend besingt er die verschwundenen Welten amerikanischer Landschaften und paradiesischer Unschuld, laut, aggressiv und böse hingegen klingen Ton und Sprache, wenn er die Welt gegen die ihren Untergang betreibenden Kräfte verteidigt. Anders als manche frühen Rebellen und Revolutionäre des Rock ’n’ Roll ist gerade der sich mit traurigen Liebesliedern hervortuende Kanadier zu einem Wortführer eines anderen Amerikas und zu einem Chronisten amerikanischer Zeitgeschichte geworden – auch dies gehört zu der eigentümlichen Geschichte seiner Biographie.

Mit der Beschwörung amerikanischer Träume und der Klage über ihre regelmäßige Zerstörung ist er immer erzkonservativ und kritisch zugleich, zuweilen auch eher schlicht und naiv. Seine ›Politik‹ spiegelt die seismographische Macht der Rockmusik, sich zu äußern, Stellung zu nehmen, eine Gegenkultur zu etablieren, sich mit der Politik und der offiziellen Kultur immer wieder zu berühren oder anzulegen, zugleich aber verfehlt sie häufig auch die Komplexität ihrer Gegenstände und beschreibt auf diese Weise ebenfalls eine aufschlussreiche, vielleicht wiederum typische Geschichte der Rockmusik selbst: ihr zutiefst gespaltenes und emotionales Verhältnis zu Politik und Zeitgeschehen, eine seit Rock ’n’ Roll und Folk-Bewegung spürbare Widersprüchlichkeit zwischen Parteinahme und Unabhängigkeit, Kritik und Ignoranz.

Gerade dieses musikalische Werk provoziert deshalb eine ganz allgemeine Frage: Wie reagiert Pop- und Rockmusik auf Gesellschaft? Darüber ist viel, vermutlich viel zu viel geschrieben worden, und doch stellt sich diese Frage im Hinblick auf diesen Musiker immer wieder neu. Dabei kommt es keineswegs auf die einzelnen politischen Statements an, mit denen Neil Young das Weltgeschehen begleitet, vielmehr auf welche Weise die gesellschaftlichen und historischen Ereignisse jeweils in die Form und die Verwandlungen seiner Musik und seiner Texte eingegangen sind. Gerade dieses Werk entstand nicht ruhend aus sich heraus, blieb nicht unverändert, indem es – wie heute zum Beispiel bei den Rolling Stones – die ewig heroische Zeit der Rockmusikgeschichte einfach zu konservieren versuchte. Insbesondere der für Young charakteristische Gestus der rückwärtsgewandten Diagnose war immer von neuem darauf eingestellt, sich dem historischen Wandel und der gesellschaftlichen Gegenwart zu öffnen. Vom musikalischen und gesellschaftlichen Aufbruch der 1960er bis zur Desorientierung der 1970er Jahre, von der rätselhaften (post)modernen Vielfältigkeit der 1980er Jahre bis zu den globalen, politischen, ökonomischen und ökologischen Erschütterungen der Jahrtausendwende ist seine das Zeitgeschehen begleitende Musik inzwischen selbst zu einer rockmusikalischen (Kultur-)Geschichte Amerikas geworden.

Und ein letztes Paradox dieses höchst unwahrscheinlichen Musikers gilt es zumindest anzudeuten: Obwohl Neil Young – »perpetually mournful« – allzu oft das Ende aller Hoffnungen und Illusionen besungen hat, ist er wie kein zweiter Poet und Rocksänger doch auch eine immer wieder sich erneuernde Kraft- und Energiequelle der Rockmusik geblieben. Er hat den frühen Ausdruck des Leidens, den Schmerz seiner Stimme, seines Lebens und seiner Musik verwandelt und im Laufe der Jahre kontinuierlich in etwas anderes übersetzt: ins Positive und Produktive, in Therapie, Kunst, Anteilnahme, Zorn, Erinnerung – und in schiere musikalische Energie. Wieder scheint damit ein Nerv dieser gesamten Musik getroffen: die Entfernung von ihren Ursprüngen durch steten Wechsel einerseits, die Ursprünglichkeit einer gleichbleibenden, nie erlöschenden und die Jugendlichkeit bewahrenden Impulsivität andererseits. »People my age / They don’t do the things I do«, beteuert der 50jährige in dem mit Pearl Jam eingespielten Song »I’m The Ocean« auf Mirror Ball 1995. Während Bob Dylan stets als der große nobelpreiswürdige Künstler verehrt und interpretiert wurde, als ein ›sentimentalischer‹ Dichter, der kunstvoll die Einfachheit herzustellen versucht, galt Neil Young immer als der große ›Naive‹ (um ein häufig benutztes Begriffspaar Friedrich Schillers aufzunehmen), als direkt und ungekünstelt, als ehrliche Haut und als ungeschliffener Diamant, weniger anspruchsvoll, dafür aber vital und leidenschaftlich, forever young und – von Ausnahmen und Abwegen abgesehen – immer er selbst.

Daran ist einiges richtig, aber auch einiges falsch und allzu einfach gedacht. Gerade an diesem Musiker ist der »Authentizitätsmythos« des Rock-’n’-Roll-Zeitalters, wie ihn zuletzt Roger Beebe, Denise Fulbrook und Ben Saunders kritisch beschrieben haben, nur allzu häufig durchgespielt worden: dass die Rockmusik einen Ursprung und einen Kern besitze, die stets in Gefahr stünden, verunreinigt und verschüttet, kommerzialisiert und verdorben zu werden. Young hat diesen Mythos gleichzeitig genährt und immer wieder zerstört. Statt Authentizität zu verkörpern, hat er gerade deren Verlust be-sungen und betrauert; von Anfang an hat er Grabgesänge auf die Illusionen und Träume der Unschuld angestimmt und sie zugleich als mythische Vorgaben der gesamten amerikanischen Geschichte beschworen. In diesem Sinne ist seine Kunst naiv, also unreflektiert, spontan, von irgendwoher kommend (so hat er selbst es häufig umschrieben) und doch zugleich sentimentalisch, also berechnet und rhetorisch-kunstvoll: der Versuch, zu einer Naivität vorzudringen, die doch schon immer verloren war, das Bemühen, an die Naivität mit den Mitteln der Musik zu erinnern und doch gleich wieder auf sie zu verzichten. Als Folksänger singt er sich mit innigen Balladen und Liebesliedern die Unschuld und das Paradies herbei, mit Crazy Horse zelebriert er brachialen unverfälschten Garagenrock; zugleich aber neigte er immer auch dazu, sich technologischen Experimenten, der Künstlichkeit von Tonstudios und allerlei technischen Kontrollen zu verschreiben. Auch in der Frage von Authentizität und Künstlichkeit – ein weiteres großes Thema der Rockmusik – war auf ihn niemals Verlass, war er genau so wenig auszurechnen wie in seiner Parteinahme für gesellschaftliche Phänomene.

»Neil ist sehr ehrlich«, fasste Dylan 2008 in einem Interview mit dem Rolling Stone seinen eigenen Eindruck zusammen; zugleich findet er für die charakteristischen Widersprüche seines kanadischen Kollegen ein rätselhaftes Bild: Dieser könne sich in die Niederungen des Geschmacks begeben und gehe dann doch mit grandiosen und erhebenden Melodien wieder daraus hervor (»He could be at his most thrashy, but it’s still going to be elevated by some melody«). Youngs Stimme kam aus der Unsicherheit und dem Verborgenen – und hat sich auf immer noch rätselhafte Weise als eine der großen Gesangsstimmen des 20. und 21. Jahrhunderts etabliert. Sein musikalischer Stil – ob mit Akustikgitarre, mit Mundharmonika, am Piano oder mit E-Gitarre und Verstärker – ist eher schlicht, gehört inzwischen jedoch zu den stets ›erhebenden‹ und grundlegenden Wesenszügen der amerikanischen (Rock-)Musik. Neil – so Bob Dylan weiter – sei der einzige, der so etwas tue, es gäbe keinen in seiner Kategorie (»Neil’s the only one who does that. There is nobody in his category«). Wie es dazu kam und um welche Kategorie es hier geht, von der unwahrscheinlichen Geschichte des Neil Young, soll im folgenden erzählt werden.

»Eine Stadt in Nord-Ontario« – Kindheit und Jugend in Kanada (1945–1965)

»There is a town in North Ontario« – so beginnt »Helpless«, einer der berühmtesten Songs von Neil Young. Und anders als der Titel es nahelegt, ist von etwas Schönem die Rede, von einer Idylle, die ein Leben lang anhält (»with dreams, memory, comfort to spare«). Die Kleinstadt und die von diesem Ort ausgehenden Träume, die Erinnerung und das damit verbundene gute Gefühl – all dies trägt den Namen Omemee. Obwohl Young dort, in einer ländlichen Gegend nördlich von Toronto, nur fünf Jahre seiner Kindheit verbracht hatte, blieb es für ihn lebenslang ein sagenumwobener Erinnerungsort, der die gesamte Kindheit und Jugend verdichtete und aufbewahrte. Um diesem Ort nachzuspüren, fuhr Young mit dem Filmemacher Jonathan Demme für ein 2012 fertiggestelltes filmisches Porträt mit dem Titel Journeys nach Omemee zurück. »Born In Ontario« heißt ein Song auf dem gleichzeitig veröffentlichten Album Psychedelic Pill von 2012, mit dem sich der Sänger auch musikalisch auf eine Erinnerungsreise begab und über die entscheidenden, ihn damals prägenden Lebenserfahrungen singt:

»I was born in Ontario

Where the black fly bites

And the green grass grows

That’s where I learned most of what I know

Cause you don’t learn much

When you start to get old.«

Young wurde am 18. November 1945 in Toronto, Kanada, geboren und verbrachte die ersten 20 Jahre seines Lebens fast ausschließlich in Kanada. Schon früh ist darüber spekuliert worden, was das besonders Kanadische am Musiker Neil Young sein könnte. In einem Gespräch mit der nur ein Jahr jüngeren Patti Smith auf einer Buchmesse im Jahr 2012 (beide hatten zu dieser Zeit gerade Autobiographien veröffentlicht) kam die Rede auf die exakt gleichen musikalischen Einflüsse: Bob Dylan, die Animals, die Rolling Stones und die Beatles. Im weiteren Gespräch aber entdeckte Neil Young angesichts der eben erst von ihm gelesenen Autobiographie Just Kids von Patti Smith zugleich die entscheidenden Unterschiede in beider Leben und beider Musik: die früh prägenden Landschaften, die maßgeblichen Eindrücke, die atmosphärisch wirkenden Räume. Patti Smith, die als Teenager von Philadelphia nach New York zog, schreibe und singe immer noch Großstadtlieder, die vom Rhythmus der Straßenkreuzungen, der städtischen Parks, von Brücken und City Lights erzählen. Seine eigene Musik hingegen sei von gänzlich anderen Bil-derwelten geprägt: von Prärien, Highways, weiten Landschaften, offenen Horizonten.

Als Kind hat er die Weiten Kanadas erlebt. Seine Eltern stammen aus der Provinz Minetoba in der Mitte des riesigen Landes; das Leben der Familie mit zwei Söhnen war von ständigen Umzügen geprägt. Besonders eingeprägt hat sich ihm aber jene Kleinstadt Omemee, wo die Familie von 1949 bis 1954, mit einer kurzen Unterbrechung in Florida, in ländlicher Abgeschiedenheit lebte. Irgendwann nach seinem zehnten Geburtstag bekam er sein erstes Instrument, eine Ukulele, geschenkt. Sein Vater und sein Onkel brachten ihm das Spielen bei; auf dem Album Prairie Wind von 2005 taucht »Uncle Bob« in dem Song »Far From Home« wieder auf: Der Vater spielt auf der Gitarre das Lied »Bury Me On The Lone Prairie«, Onkel Bob sitzt am Klavier, die Cousinen singen im Chor – »those were the good old family days«, wieder eine Idylle, wieder eine Verklärung. Er habe die ganze Zeit gar nicht gewusst, dass er zur Country-Musik zurückkehren werde, aber »es sind immer meine Wurzeln gewesen« – so Young später, als er 2011 mit A Treasure ein Album mit Aufnahmen einer Mitte der 1980er Jahre erfolgten Country- und Western-Tour veröffentlichte und kommentierte. Die Ansammlung bekannter kanadischer Folksänger/innen in den 1960er und 1970er Jahren – Leonard Cohen, Joni Mitchell, Gordon Lightfoot, Neil Young – war kein Zufall; anders als in den USA gab es in Kanada einen fließenden regionalen Übergang zwischen der alten, weit in die 1940er und 1950er zurückreichenden Volks- und Country-Musik und der später einsetzenden, dort auch viel weniger politisch orientierten Folk-Bewegung.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts war Kanada ein Land zwischen ganz alter und ganz neuer Zeit: zutiefst ländlich geprägt und insbesondere außerhalb der wenigen Großstädte noch tief in der Welt des 19. Jahrhunderts verankert. Neils Vater, Scott Young, war ein Sportreporter, Journalist und Romancier (1940 hatte er in Toronto Edna »Rassy« Ragland geheiratet), und so erschienen die ersten öffentlichen Fotos und Berichte von und über Neil schon damals in lokalen Zeitungen: ein vierjähriger Junge, der einen riesigen Fisch gefangen, ein Elfjähriger, der ein chicken business eröffnet und Hühnereier an die Nachbarn verkauft hat.

Prärie und Kleinstadt, Landleben und Volksmusik – das Familienleben der Youngs aber war keine Idylle. Schon während der Jahre in Omemee gab es die ersten Ehekrisen, am Ende blieb der Vater längere Zeit von zu Hause weg, hatte Affären, später kam es zu Trennungen auf Zeit, zu kurzzeitigen Versöhnungen, schließlich zur endgültigen Trennung: 1960 zog Rassy Young mit ihren Söhnen in die Heimat ihrer Eltern, nach Winnipeg. Der ältere Sohn Bob kehrte bald wieder nach Toronto zurück, Young blieb über 2000 Kilometer von seinem Vater entfernt. Gelegentliche Treffen verliefen frostig und steif, die Eltern haben sich seitdem nur einmal kurz gesehen und nie miteinander versöhnt.

Das Auseinanderbrechen der Familie, die vaterlosen Jugendjahre und die häufigen Ortswechsel haben Young tief geprägt, umso stärker war der nostalgische Bezug auf die scheinbar idyllischen Jahre in Omemee, umso empfindlicher der diesen Bezug ebenso prägende Schmerz des Verlusts. Damals waren Trennung und Scheidung von Eltern nicht selbstverständlich; in Winnipeg begann das Schüler-Leben des 14jährigen mit der Ausgrenzung dieses seltsam schüchternen Jungen aus einer zerrütteten und vaterlosen Familie. Die kanadische Schriftstellerin Alice Munro, berühmt durch den ihr im Jahr 2013 verliehenen Literaturnobelpreis, hat das Kanada jener Jahre, in denen Neil Young aufwuchs, in ihren zumeist in Ontario spielenden Erzählungen eindrucksvoll dargestellt. Es sind genau jene ländlichen Idyllen, in denen immer schon die Katastrophen lauern: Außenseiter und Ausgegrenzte, Ehebruch und seelische Grausamkeiten, Tradition und Moderne, enge Provinz und weit entfernte moderne Großstädte. Eine Welt ähnlicher Spannungen mag Youngs kanadische Jahre bestimmt haben, zumindest jene Kombination aus Idylle und sich bereits ankündigender Gefährdung, sogar in Omemee, dem Ort seiner glücklichen Kindheit, ein vorzeitliches und fast paradiesisches Stück Kanada – und doch bereits ein Ort des Unheils.

Der Sechsjährige erkrankte an Kinderlähmung, Folge einer im ganzen Land ausgebrochenen Epidemie, die in kurzer Zeit sogar Todesopfer forderte. Die Poliomyelitis oder Hirnhautentzündung gehörte noch zu den schicksalshaft hereinbrechenden Krankheiten, gegen die sich die Menschen vergeblich zu schützen suchten. Auch hier war das 19. Jahrhundert noch lebendig, und zur Schicksalsmacht einer fast mittelalterlich wirkenden Seuche – so Scott Young in seinem Buch Neil and Me 1984 – gehörte auch, dass die Opfer meist Kinder waren, mit zunächst undefinierbaren Schmerzen in Rücken und Rachen, die innerhalb einer Nacht zum Tod führen konnten. Der sechsjährige Neil erwachte mit diesen Schmerzen in einer Septembernacht des Jahres 1951, am nächsten Tag wurde er ins Krankenhaus nach Toronto gebracht und für sechs Tage isoliert. Heute würde man zweifellos von einem traumatisierenden Erlebnis sprechen. Der Junge überlebte, aber es war der Beginn seiner nicht enden wollenden Krankheitsgeschichte: Eine ganze Körperseite blieb schwächer als die andere, die späteren epileptischen Anfälle und Bandscheibenvorfälle sind vermutlich Spätfolgen der damals in Mitleidenschaft gezogenen physischen Konstitution.