Neongrüne Angst - Klaus-Peter Wolf - E-Book

Neongrüne Angst E-Book

Klaus-Peter Wolf

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Du hättest zur Brücke kommen sollen heute Nacht, Johanna. Dann wäre das alles nicht passiert. All diese unschuldigen Opfer – ein Jammer! Aber wir können es ja noch einmal versuchen….Johanna!" Superspannend und topaktuell! Der neue Jugendthriller von Klaus-Peter Wolf mit den Protagonisten Leon und Johanna handelt von einem anonymen Anrufer, der Johanna zu einer Marionette seines Willens machen will. Der mysteriöse Anrufer hatte Schlimmes angekündigt, für den Fall, dass Johanna seinen Forderungen nicht nachkäme. Da glaubte sie aber noch an einen dummen Scherz eines Klassenkameraden. Doch am nächsten Morgen ist es die Top-Schlagzeile: Verheerender Unfall mit mehreren Toten unter der Havenbrücke. Spätestens jetzt wurde ihr klar, dass der nächtliche Anruf kein böser Traum gewesen war. Das war volle Realität. Doch was wollte der Typ von ihr? Gemeinsam mit ihrem Freund Leon versucht Johanna, dem anonymen Anrufer auf die Spur zu kommen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 432

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus-Peter Wolf

Neongrüne Angst

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorwort12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061626364656667686970717273747576777879808182838485

Dieser Roman spielt in Bremerhaven, Delmenhorst, Ganderkesee und Norddeich.

 

Ich habe mich an diesen Orten bewegt und mich von ihnen inspirieren lassen. Doch auch, wenn der Roman in einer real existierenden Kulisse spielt, so ist doch die Handlung von mir frei erfunden worden.

 

 

Klaus-Peter Wolf

1

Wenn es ganz dunkel oder ganz still war, konnte Johanna Fischer nicht schlafen. Sie brauchte irgendwo ein kleines Licht, und sie musste hören, dass sie nicht allein auf der Welt war, deshalb stand neben ihr auf dem Nachtschränkchen ein altes Radio. Die leuchtend grünen und roten Pünktchen beruhigten sie. Gern ließ sie sich von den männlichen Moderatoren, die abwechselnd durch das Nachtprogramm führten, in den Schlaf quatschen.

Sie schaltete das Radio praktisch nie aus. Sie stellte es nur morgens lauter, um wach zu werden, und abends leiser, um niemanden zu stören.

Es war kurz vor Mitternacht, als das Telefon sie weckte.

Johanna sprang aus dem Bett und war, noch bevor es zum zweiten Mal klingeln konnte, am Apparat.

Die Stimme ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen, denn sie klang merkwürdig vertraut und doch fremd. Ihr fiel kein bekanntes Gesicht zu der Stimme ein, aber ähnlich wie bei den Radiosprechern stellte Johanna sich jemanden vor.

Er stand in einer Telefonzelle und hielt ein Papiertaschentuch in der Hand, das nah am Hörer raschelte. Er war jung und flüsterte geheimnisvoll:

»Hallo, Johanna. Haben dir die Rosen gefallen?«

Wollte Leon sich einen Scherz mit ihr machen? Klar, das war ein Scherz, was sonst?

»Ja, ich hab heute einen wundervollen Strauß Rosen vor der Tür gefunden. Womit hab ich den verdient? Und warum anonym? Wer bist du?«

Er atmete schwer, und es raschelte wieder.

»Ein Verehrer. Die Rose ist das Symbol für Liebe und Zuneigung. Aber auch für Schmerz. Das weißt du doch, Johanna … oder?«

Sie war inzwischen mit dem Telefon zurück im Bett, saß aufrecht da und kuschelte das Kissen gegen ihren Bauch wie eine kleine Katze, die gekrault werden will.

Jetzt glaubte sie zu wissen, wer sich den Scherz mit ihr erlaubte: Tobias Zenk! Natürlich! Der hatte sich an drei Schauspielschulen beworben und wollte nach Hollywood. Er paukte Englisch, täglich zwei Stunden, weil er davon überzeugt war, dass nur in dieser Sprache große Filme gedreht wurden.

Er konnte Stimmen imitieren. Mühelos machte er Peter Maffay nach, Udo Lindenberg oder Benjamin Blümchen. Die Synchronstimmen von amerikanischen Stars waren seine Spezialität. Eddie Murphy, Robert de Niro, Al Pacino konnte er zum Verwechseln ähnlich kopieren.

»Tobi! Mensch, du hast mich gerade echt verunsichert. Übst du eine Szene für einen Film?«

»Willst du mich beleidigen? Ich bin nicht Tobi, dieser Idiot. Stehst du etwa auf solche Schönlinge?«

Johanna drehte das Radio ganz leise, um besser hören zu können, was er sagte. Es musste doch möglich sein, die Stimme zu identifizieren. War es doch Leon?

»Darf ich dich um einen kleinen Gefallen bitten, Johanna?«

»Einen Gefallen?«

»Ja. Komm zur Havenbrücke.«

Sie drückte das Kissen an sich. »Zur Havenbrücke? Jetzt? Weißt du, wie spät es ist?«

Da war ein lautes Brummen, wie von einem vorbeifahrenden Lkw.

»Ich möchte dich in diesem Licht sehen. Tu’s für mich, deinen Verehrer. Es ist doch nicht weit. Du kannst in ein paar Minuten hier sein.«

Sie stellte sich vor, dass Leon sie auf die Probe stellen wollte. Würde sie sich mit einem heimlichen Verehrer, der ihr Rosen geschenkt hatte, treffen? War sie neugierig genug, um dorthin zu kommen?

Sie schloss die Augen und sah die lange, leuchtende Glasröhre vor sich, die, in grüngelbes Licht getaucht, das Klimahaus und das Mediterraneo mit dem Columbus-Center verband.

Das alles schien auf einer blau phosphoreszierenden Säule zu stehen, wie von Hundertwasser im Rausch entworfen. Ein schöner Ort, um auf den alten Hafen zu gucken. Ein romantisches Plätzchen für knutschende Pärchen. Dort hatte Leon ihr ewige Treue geschworen und sie ihm.

Nein, sie würde ganz bestimmt nicht dorthin gehen, um irgendeinen Mann zu treffen, der seine Stimme verstellte.

»Ich liege schon im Bett«, sagte sie und dann, in der Hoffnung, Leon könnte es hören: »Außerdem treffe ich mich nachts nicht mit fremden Männern.«

Die Stimme wurde jetzt sehr eindringlich. »Bitte, Johanna. Dies ist eine ganz besondere Nacht. Alle Geschäfte haben auf. Die Menschen amüsieren sich. Hier herrscht eine geradezu südländische Leichtigkeit. Im Mediterraneo spielt eine Band … Du willst mich jetzt doch hier nicht so einfach stehenlassen … Ich kann nicht glauben, dass du so unhöflich bist!«

Es hörte sich fast so an, als ob eine Drohung in seinen Worten mitschwingen würde.

Sie nahm das nicht ernst, sagte sich, das käme nur daher, dass dieser Typ seine Stimme verstellte. Aber trotzdem hatte sie ein komisches Gefühl im Magen.

Manchmal war ihr Magen schlauer und schneller als ihr Verstand. Er wusste oft, lange bevor der Kopf es anerkannte, dass sie sich verliebt hatte oder ob sie sich fürchtete oder wohl fühlte.

Aber wie so häufig hörte sie nicht auf ihren Magen, sondern auf ihren Verstand und sagte: »So, tschüs jetzt. Ich bin hundemüde.«

»Halt!«, sagte er, »du kannst jetzt nicht einfach auflegen. Ich warte hier auf dich. Komm, sonst geschieht ein Unglück!«

Johanna legte auf. Sie stellte das Radio wieder ein bisschen lauter, nur so viel, dass die Musik eine Chance hatte, sie zu beruhigen. Aber das klappte heute Nacht nicht. Nicht einmal die Stimme von Jens-Uwe Krause auf Bremen Vier mit seinen Oldies half ihr in den Schlaf. Immer wieder drehte sie sich im Bett herum und zerwühlte das Laken.

Sie wurde von Bildern geflutet. Sie sah die Glasröhre der Havenbrücke neongrün leuchten. Über dem dunklen Wasser schwebte Leon wie ein Engel. Aber das Bild hatte nichts Schönes an sich. Er ruderte mit den Armen und schrie etwas, aber sie verstand nur so viel, dass er sie warnen wollte. Dann stürzte er ab und klatschte ins Wasser.

Sie schreckte hoch. Sie war klatschnass. Im Radio lief You can’t always get what you want von den Stones.

Sie wischte sich die Haarsträhne aus der Stirn und sah auf den Digitalwecker. Vier Uhr zwölf.

Hatte sie diesen komischen Anruf nur geträumt? Für einen Moment glaubte sie daran, aber dann kehrte die Erinnerung voll zurück. Sie rieb sich die Oberarme, dann verkroch sie sich ganz tief unter ihrer Decke. Der Gedanke, von einem geheimnisvollen Verehrer bewundert zu werden, der ihr heimlich Blumen vor die Tür legte, aber zu schüchtern war, sich offen zu zeigen, gefiel ihr irgendwie auch. Es war ein bisschen spooky, aber auch auf eine kribblige Weise schön.

Der nächste Traum begann besser. Sie lief durch die Glasröhre. Alles war in dieses grüne Licht getaucht. Der Boden war übersät mit weißen und roten Rosen. Die Stängel mit den Stacheln fehlten. Es lagen nur Blätter auf dem Boden oder die geöffneten Knospen, wie abgeschlagene Köpfe.

Sie lief immer weiter. Mit jedem Schritt, den sie machte, wurde die Brücke länger. Die real existierenden zweiundvierzig Meter wurden zu ein paar hundert, schließlich zu einem Kilometer oder mehr. Sie konnte das Ende einfach nicht erreichen. Das Mediterraneo schien plötzlich am Ende der Welt zu liegen, und dort wartete ein junger Mann mit weit geöffneten Armen auf sie. Seine Schönheit und Anziehungskraft hätten die Stars der Twilight-Saga, Robert Pattinson und Taylor Lautner, neidisch gemacht.

Sie sah sich kurz um. Sie hoffte, Leon würde es nicht mitkriegen. Sie wollte ihm nicht weh tun, ihn weder betrügen noch verletzen, sondern nur einmal diesen geheimnisvollen Verehrer sehen.

Aber die Glasröhre wuchs rasant … Im Traum hörte sie Alarmsirenen, aber sie rannte weiter.

Als sie aufwachte, liefen die Frühnachrichten. Es hatte einen schlimmen Unfall gegeben. Vier Menschen waren tot, drei lagen schwer verletzt im Krankenhaus. Jemand hatte in der Nacht, kurz nach zwölf Uhr, Mülltonnen auf die Fahrbahn nahe bei der Havenbrücke geworfen. Fünf Autos waren ineinandergekracht. Die Columbusstraße war immer noch gesperrt.

Sie hatte wie meist in einem alten Nachthemd ihrer Großmutter geschlafen. Sie ließ es jetzt zu Boden fallen und ging nackt ins Bad. Ihre Haare klebten in fettigen Strähnchen zusammen. Sie duschte heiß und schäumte sich die Haare zweimal ein.

Dampfend kam sie, in ein flauschiges Saunatuch gehüllt, aus den Nebelschwaden des Badezimmers, um sich vor dem Spiegel die Haare zu föhnen.

Da klingelte das Telefon.

Sie wusste sofort, wer dran war. Sie hielt mit links das Handtuch fest und griff mit rechts nach dem Hörer.

»Ja?!«

»Hallo, Johanna. Ich bin’s. Du hast mich schwer enttäuscht. Ich hab auf dich gewartet. Warum machst du so etwas? Ich finde, du solltest dich jetzt bei mir entschuldigen. Ich bin bereit, dir zu vergeben – ich meine, diese Leute könnten noch leben, wenn du ein bisschen freundlicher gewesen wärst.«

»Welche Leute?«

»Der Unfall. Unter unserer Brücke. Weißt du es denn noch gar nicht?«

Johanna hörte sich selbst schreien: »Warst du das etwa? Hast du die verdammten Mülleimer auf die Straße geworfen?«

Er klang weinerlich. »Ja. Ich war ein böser Junge. Wenn ich so arg enttäuscht werde, dann kann ich für nichts garantieren …«

Johannas Knie wurden weich. Sie musste sich setzen. Sie plumpste auf die Bettkante. Das Handtuch rutschte runter. Sie brauchte alle Kraft, um das Telefon ans Ohr zu drücken. Es war so schwer, dass sie Angst hatte, es könnte herunterfallen wie das Handtuch.

»Das … das hast du doch nicht wirklich gemacht?«

»Lenk jetzt nicht ab. Natürlich war ich das. Ich bin sehr traurig gewesen. Ich hab all die Pärchen gesehen, die da entlangflanierten, die Musik war da, alle waren so glücklich, und ich … ich …« Plötzlich schimpfte er los: »Ist es so schwer für dich zuzugeben, dass du einen Fehler gemacht hast?«

Sie hörte sich selber sagen: »Nein, nein, natürlich nicht. Ich entschuldige mich.«

»Das sagst du doch nur so daher. Das glaube ich dir nicht. Das ist keine richtige Entschuldigung.«

»Doch, doch, ich entschuldige mich. Natürlich. Ich meine das wirklich ernst.«

»Dann sag’s mal ganz deutlich. Wofür entschuldigst du dich?«, forderte er.

Es war warm im Zimmer, doch Johanna begann so zu frieren, dass ihre Knie zitterten. Mit dem Ellbogen versuchte sie, ihre Beine fester auf den Boden zu drücken, doch das Zittern ließ nicht nach.

»Ich … ich entschuldige mich dafür, dass ich dich habe warten lassen.«

»Gut. Das ist gut. Aber du wirst mich kein zweites Mal enttäuschen, nicht wahr?«

»Nein, das werde ich nicht! Ganz bestimmt nicht!«

»Okay. Bitte komm zum Freimarkt. Da haben sie diesmal eine Riesen-Achterbahn aufgebaut. Es liegen fünf Chips in deinem Briefkasten. Ein Geschenk von mir. Die Achterbahn öffnet heute um 18 Uhr. Ich will, dass du gleich die erste Fahrt machst …«

Sie konnte kaum noch sprechen. Ihr Mund war ausgetrocknet. »Ich … ich kann nicht mit der Achterbahn fahren. Mir wird schon im Auto auf dem Rücksitz schlecht. Ich hab Höhenangst und …«

»Ein Geschenk muss man annehmen, Johanna. Das ist sonst eine Beleidigung. Du willst doch nicht, dass ich wieder Dummheiten mache?«

2

Leon Schwarz empfand Wut und Trauer, wenn er seinen Vater sah. Er bewegte sich in einer beständigen Alkoholwolke. Es kam Leon so vor, als sei sein Vater in einer Art Whiskynebel gefangen. Der Geruch umgab ihn wie eine dunkle Aura, der er genauso wenig entkommen konnte wie seinem eigenen Schatten.

Sogar seine Statur hatte sich verändert. Seine Schultern hingen herab, der Rücken war krumm, als hätte er zu lange zu viel getragen. Der Bauch wölbte sich vor, spannte das Oberhemd und sprengte die Knöpfe ab.

Früher wurde er einmal Elvis genannt, wegen seiner Haartolle und weil er so sehr auf sein Äußeres achtete, weil er ein heißer Feger war und Rock ’n’ Roll im Blut hatte.

Davon war nicht mehr viel übriggeblieben.

Trudi betonte immer wieder, dass sie kein Hausmütterchen sei, und er solle sich ja nicht einbilden, dass sie ab jetzt für ihn und seinen Sohn das Dienstmädchen spielen würde. Wenn sie sich an Leon wandte, begann sie gern mit den Worten: »Ich bin nicht deine Mutter!«

Lange hatte Leon das einfach geschluckt und genickt, doch beim letzten Mal hatte er geantwortet: »Nein, das bist du wirklich nicht. Meine Mutter hat nicht den ganzen Tag vor der Flimmerkiste gehockt. Sie hat richtige Bücher gelesen. In dieser Wohnung hier hätte sie sich nicht wohl gefühlt. Hier gibt’s ja nicht mal ein Buchregal. Meine Mutter hätte auch meinen Vater nicht so rumlaufen lassen, und Zigarettenrauch in der Wohnung hätte sie niemals geduldet.«

Trudi Warkentin rauchte schon morgens. Ihr Frühstück bestand aus einer Tasse mörderisch starken schwarzen Kaffees und zwei Filterzigaretten, die nach Gummireifen mit Moschus dufteten. Leon wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm die Schuld am Zustand seines Vaters gab. Manchmal sah sie ihn so komisch an, mit so einem vorwurfsvollen Augenaufschlag.

Leon hatte verstanden, dass sein Vater nicht länger in der Eigentumswohnung in der Prager Straße wohnen wollte. Irgendwie hing die böse Geschichte in den Wänden fest. Im Grunde wollte auch Leon weg aus dem Haus. Nie würde er das Bild seiner im Bett ermordeten Mutter vergessen. Aber fast noch schlimmer war dieser metallische, süßliche Blutgeruch.

Früher hatte Leon gern frische Fleischwurst auf dem Brot gegessen, heute war ihm das nicht mehr möglich. Er konnte nicht einmal an einer Metzgerei vorbeigehen, ohne dass ihm übel wurde. Er hielt den Geruch nicht aus …

Aber es hätte Leon gereicht, innerhalb von Bremerhaven umzuziehen. Er wollte nicht nach Ganderkesee. Jetzt, nach dem Tod seiner Mutter, brauchte er seine Freunde in Bremerhaven mehr denn je. Er wollte auch die Schule nicht wechseln. Nie war ihm die Edith-Stein-Schule toller vorgekommen als jetzt, da er sie verlassen musste, um sein Abi am Gymnasium Ganderkesee zu machen.

Okay, Vaters Freundin Trudi wohnte hier, und sie hatte Platz. Am Anfang sah alles auch ganz gut aus, doch dann wurde Leon ständig daran erinnert, dass sein Vater und diese Frau schon eine Beziehung gehabt hatten, als seine Mutter noch lebte, und das gefiel Leon nicht.

In den ersten Wochen war es ihm furchtbar auf die Nerven gegangen, nachts unfreiwillig ihrem Liebesspiel zuhören zu müssen. In letzter Zeit lief zwischen den beiden aber im Bett nichts mehr, oder sie hatten einen Weg gefunden, das alles diskreter zu regeln. So kratzig, wie sich Trudi tagsüber benahm, glaubte Leon eher, dass ihre Liebe eingegangen war wie die Topfblumen auf der Fensterbank, die niemand hier goss.

Es wäre ihr am liebsten gewesen, die beiden rasch wieder loszuwerden, das spürte Leon genau, aber aus irgendeinem Grund warf sie Vater und Sohn nicht raus. Leon würde ohnehin die erste Chance nutzen, sich hier zu verabschieden, davon ging sie garantiert aus. Und sie tat alles, um diesen Entschluss in ihm zu unterstützen.

Die Schüler und Lehrer am Gymnasium Ganderkesee hatten es ihm leichtgemacht, seine Noten hatten sich hier sogar verbessert. Jeder wollte es dem Jungen, der gerade den schrecklichen Tod seiner Mutter verkraften musste, so leicht wie möglich machen. Manchmal waren ihm die Rücksichtnahme und Hilfsangebote ganz schön auf den Keks gegangen.

Am schlimmsten aber war es, von Johanna getrennt zu sein. Es waren fast neunzig Kilometer von Ganderkesee bis Bremerhaven, mit Bus und Bahn eine abenteuerliche Weltreise. Aber er hatte es geschafft, in Rekordzeit den Führerschein zu machen, und als sie versuchten, hier ein neues Leben zu beginnen, da war sein Vater am Anfang sogar großzügig gewesen, und aus dem Geld von dem Wohnungsverkauf ließ er fünftausend Euro für einen gebrauchten Fiat Grande Punto springen. Aber trotzdem war es schwierig.

Am liebsten hätten sie sich täglich gesehen, aber das war unmöglich. Je nach Verkehr brauchte er manchmal eineinviertel Stunde, aber es hatte auch schon mal zweieinhalb Stunden gedauert, bis er endlich bei ihr war. Und dann musste er nicht nur hin, sondern auch noch zurück.

Seit er mit Johanna ging, hatte er Probleme mit ihrem Bruder Ben, der früher mal sein bester Freund gewesen war, aber das war vorbei. Je besser Leon sich mit Johanna verstand, umso kälter wurde seine Beziehung zu Ben.

Nie hätte Johannas Mutter erlaubt, dass Leon über Nacht bei ihrer Tochter geblieben wäre. Ulla Fischer spielte sich plötzlich als Sittenwächterin auf.

Leon hatte – vermutlich um das Andenken an seine Krimi liebende Mutter aufrechtzuerhalten – all ihre Kriminalromane in Kisten verpackt und mitgenommen. Es waren ein paar hundert. Wenn Leon in den Büchern schmökerte, fühlte er sich seiner Mutter nah. Er hatte die letzten zwei, die seine Mutter bestellt hatte, sogar in der Buchhandlung abgeholt und an ihrer Stelle gelesen. Dann hatte er seine Gedanken zu den Büchern aufgeschrieben und anschließend beim »Delmenhorster Kreisblatt« vorbeigebracht.

Er hatte die Zeitung zufällig gelesen, sie lag im Eiscafé La Gondola herum, wo Leon auf seinen Erdbeerbecher wartete und wo er in Ruhe den Krimi seiner Mutter lesen wollte, ohne das ständige Gequassel im Fernsehen hören zu müssen. Etwas an dem Blatt hatte ihn angesprochen und ihm Mut gemacht, einfach hinzufahren und seine Buchbesprechungen dort anzubieten.

Sie hatten dem Chefredakteur Ralf Freitag auf Anhieb gefallen, und es sprang sogar direkt nach dem Abi eine Praktikumsstelle für Leon dabei heraus.

Seine Mutter, das wusste er, wäre stolz auf ihn gewesen. Sein Vater nahm das Ganze nicht einmal wirklich zur Kenntnis, und um Trudi zu beeindrucken, hätte er schon »Wetten dass« moderieren müssen oder wenigstens eine Quizshow.

Er schrieb jetzt Krimikritiken. Er war immer schneller als die großen Blätter wie »DIE WELT«, »DIE ZEIT« oder »FAZ«. Falls sie die Bücher, die er besprach, überhaupt zur Kenntnis nahmen, dann zwei, drei Wochen, nachdem er sie im »Delmenhorster Kreisblatt« vorgestellt hatte. Das machte ihm diebische Freude. Jedes Mal, wenn er wieder vor allen anderen einen Newcomer entdeckt hatte, zwinkerte ihm sein Chefredakteur komplizenhaft zu.

Oh ja, wie stolz seine Mutter auf ihn gewesen wäre!

Jetzt saß Leon im Auto und fuhr über die A 27 in Richtung Bremerhaven. Er wollte Johanna treffen. Doch da spielte sein Handy plötzlich »Born to be wild«. Die Scheibe, bei der es seine Mutter immer hochgerissen hatte und sie auf die Tanzfläche musste.

Johanna war dran. Sie klang ganz merkwürdig. Sie stammelte herum, und er brauchte eine Weile, bis er kapierte, dass sie das Treffen heute absagen wollte. Er hörte im Hintergrund Geräusche, Musik und Karusselllärm.

Sie behauptete, nicht raus zu dürfen, weil ihre Mutter »voll am Rad drehen« würde.

Nein, er könne auch nicht zu ihr kommen, es sei heute alles total blöd, und er müsse das eben jetzt akzeptieren.

Sie klang anders als sonst. Merkwürdig getrieben, ja fast verängstigt. Leon deutete es so, dass sie fürchtete, er könne ihre Lüge durchschauen, denn ganz offensichtlich hatte sie keinen Stubenarrest, sondern befand sich auf einem Jahrmarkt mit Karussells, Bierständen, lauten Losverkäufern und Musik.

Ihm war, als würde ihm intravenös flüssige Glut gespritzt, die jetzt durch seine Adern schoss und seine Haut unter der Kleidung krebsrot werden ließ – wie bei einem plötzlichen allergischen Schock.

Sie hatte einen anderen. Ganz klar!

Kein Wunder, dachte Leon, ich bin einfach nicht oft genug da. Ich komme ein-, höchstens zweimal pro Woche, und die Typen am Edith-Stein-Gymnasium haben den ganzen Tag Zeit, sie zu beflirten.

3

Mist, dachte Johanna, er hat garantiert etwas bemerkt. Er ist sensibel. Er kriegt Stimmungsschwankungen mit. Bestimmt hat er den Lärm um mich herum gehört.

Am liebsten hätte sie ihn einfach zurückgerufen und ihm die ganze Wahrheit erzählt, aber sie hatte Angst vor seiner Reaktion. Junge Männer konnten so unberechenbar sein und Leon im Besonderen.

Vielleicht würde er versuchen, sie davon abzuhalten, würde ihren Verehrer suchen, um ihn zu verhauen. Vielleicht würde dann wieder ein Unglück geschehen …

Sie stellte sich vor, der Telefonflüsterer könnte einen Wagen der Achterbahn entgleisen lassen oder ein Feuer in der Geisterbahn legen.

Ach, es war so viel möglich, und sie traute ihm alles zu. So ein Freimarkt bot tausend Möglichkeiten, Menschen Leid und Schmerzen zuzufügen. Er schien auf der Suche nach seinen Opfern nicht sehr wählerisch zu sein.

Sie verspürte einerseits den irren Zwang in sich, zu tun, was er von ihr verlangte, um ja nicht schuld zu sein am Tod von irgendwelchen Menschen, andererseits wurde ihr schon schlecht, wenn sie die Achterbahn auch nur sah. Sie hatte einen Looping. Das Kreischen der Menschen in der Kurve kam ihr vor wie die Ankündigung einer Katastrophe.

Sie versuchte, in die Gesichter der Leute zu gucken, wenn sie scheinbar in den freien Fall übergingen und nach unten sausten. Aber sie hielt es nicht aus.

Sie schloss die Augen, weil ihr schwindlig wurde. Der ganze Platz um sie herum trudelte. Es fiel ihr schwer, Einzelheiten aus dem Farballerlei herauszufiltern. Die Gesichter der Menschen wurden immer länger.

Sie schüttelte sich. Reiß dich zusammen, Johanna, dachte sie. Er muss hier irgendwo sein. Er beobachtet dich garantiert. Er hat gesagt, du müsstest schon die erste Fahrt mitmachen, und du hast sie versäumt. Aber das wird ja nicht so schlimm sein. Hauptsache, du schaffst es überhaupt.

Johanna lehnte sich schwer atmend an einen Würstchenstand. Sie begann zu schwitzen und hätte am liebsten ihr Sweatshirt ausgezogen.

Sie sah den Losverkäufern zu, die ihre Lose aus einem großen Eimer verkauften. Einer war als Grizzlybär verkleidet und ein anderer als Mickymaus. Damit kamen sie bei den Kindern besonders gut an. Viele Väter schossen Fotos von ihrem Töchterchen in den Armen des Grizzlys, und auch Mickymaus wurde gern abgelichtet.

Du wirst ihn erkennen, sagte sie sich. Zeig dich. Zwing dich hinzugucken. Vielleicht kannst du mit ihm reden … Du musst ihn nur erst identifizieren, dann kannst du ihn auch davon überzeugen, mit dem Wahnsinn aufzuhören.

Jemand berührte sie und schüttelte ihren rechten Arm.

»Äi, was ist, Josy? Bist du besoffen? Ist dir schlecht?«

Sie riss die Augen auf und blickte in das aufgedunsene Gesicht von Volker Krüger. Er hatte, seitdem er die Schule verlassen musste, gut zehn Kilo zugelegt. Sie wusste nicht genau, worum es damals gegangen war, angeblich irgendetwas mit Drogen. Er hatte sie an Schüler verkauft und auch an einen Lehrer, so zumindest ging das Gerücht.

Sie glaubte, er sei in einer Art Erziehungsanstalt, einem Jugendknast gelandet, doch jetzt stand er vor ihr. Er, der sie als einziger Mensch immer Josy nannte, als sei er zu blöd, sich ihren richtigen Namen zu merken.

Seine Augen glänzten fiebrig. Er sah aus, als wäre er voll auf Tilidin, und er roch auch nach Bier. Seine Gesichtshaut war ungesund stumpf und gerötet. Sie hätte aber nicht sagen können, ob er zu viel Sonne abbekommen hatte oder ob sein Blutdruck verrückt spielte.

Er tänzelte nervös vor ihr herum wie ein Boxer, der in Bewegung bleibt, um der nächsten Attacke ausweichen zu können.

»Hast du einen durchgezogen oder was?«, fragte er lachend.

Sie antwortete nicht. Sie hatte noch Probleme, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.

Ist er der Verehrer? Volker Krüger?

Er hatte eine niedrige Frustrationsschwelle. Wenn es auf oder vor dem Schulhof eine Schlägerei gegeben hatte, war er garantiert darin verwickelt gewesen.

Er tätschelte ihr Gesicht. Seine Hand war feucht.

»Klar hast du einen durchgezogen! Du bist gar nicht die Spaßbremse, für die dich alle halten. Du bist nur keinen guten Stoff gewöhnt, was?«

Sie wehrte ihn ab und entzog sich seinen Berührungen. »Lass mich!«

»Ach komm, Josy, stell dich nicht so an! Du musst was trinken und ein bisschen was Süßes essen, dann geht’s dir gleich besser. Glaub mir, ich hab Ahnung davon.«

Er zeigte auf eine Bude, wo Lebkuchenherzen und Zuckerwatte verkauft wurden.

»Die haben da Zuckerstangen. Das Zeug stabilisiert dich sofort. Gummibärchen helfen auch!«

Sollte sie ihn einfach fragen? Hast du mir die Rosen geschickt? Hast du die Abfalleimer auf die Columbusstraße geworfen? Sind die Chips für die Achterbahn von dir?

Sie war zweigeteilt, einerseits traute sie Volker genau so eine Gemeinheit zu. Andererseits wiederum auch nicht. Er war dumm und doch auf eine gefährliche Art gerissen. Er liebte nur sich selbst und wollte so viel Spaß wie möglich so schnell wie möglich. Er lachte gern auf Kosten anderer Leute, und es machte ihm nichts aus, andere Menschen leiden zu sehen.

Sie hatte noch gut die Bilder in Erinnerung, wie Volker auf der Prager Straße, nicht weit von Leons Wohnung entfernt, einen Mitschüler verdroschen hatte. Es war eine Prügelorgie gewesen. Sie hatte Volker angeschrien, er solle endlich aufhören, ob er Pit umbringen wolle. Irgendwann war Volker dann einfach gegangen und hatte Pit auf der Straße liegenlassen wie ein weggeworfenes Tempotaschentuch.

Sie hatte Pit versorgt und ihm wieder auf die Beine geholfen. Sie wollte einen Arzt für ihn rufen, aber Pit hatte sie gebeten, das nicht zu tun. Er wollte alles vertuschen, tat, als sei er vom Rad gestürzt. Wahrscheinlich war es ihm peinlich, von einem Schüler verhauen zu werden, der nicht nur jünger war als er, sondern auf jeden Fall auch viel, viel dümmer.

Langsam ging es Johanna besser. Sie schob sich an Volker vorbei. Sie musste in der Tat etwas trinken. Dort war ein Bierstand, und da gab es garantiert auch ein großes Glas Wasser.

Sie drängte sich vor, was sonst gar nicht ihre Art war. Da sah sie Tobias Zenk mit Jessy Schmidt. Die beiden pickten gemeinsam in einer Currywurstschale herum. Das Ganze wirkte irgendwie aufgesetzt auf Johanna. Künstlich, unecht. Allein, dass Jessy, die immer so sehr auf ihre Figur achtete, Currywurst aß statt Salatblätter, war schon ein Ding der Unmöglichkeit. Für sie, die, genau wie Tobi, ihre Zukunft in Hollywood sah, waren Raucher kriminell, und Leute, die Brot aßen oder Schweinefleisch, komplett verrückt.

Übten die zwei hier eine Rolle, oder warteten sie darauf, ihr beim Achterbahnfahren zuzusehen?

Johanna drehte sich um. Waren hier auf dem Freimarkt noch mehr Bekannte?

Der junge Mann hinter dem Tresen reichte ihr das Wasser mit einem Augenzwinkern.

Verdammt, dachte sie, wollen mich hier alle anbaggern?

Sie trank das Glas im Stehen mit einem Zug leer. Es war, als würde sie das kalte Wasser wieder erden und wie eine Mutwelle durch ihren Körper fluten. Sie musste aufstoßen, und auch das tat gut.

Die fünf Chips brannten in ihrer Tasche. Ja, sie würde jetzt in diese gottverdammte Achterbahn steigen, sich anschnallen, so fest es nur ging, und dann wollte sie es hinter sich bringen.

Es konnte so schlimm nicht sein. Die anderen Menschen überlebten es ja auch. Sie bezahlten sogar dafür und freuten sich darauf.

Sie war anders. Sie würde diese Menschen nie verstehen. Das war für sie ein komisches Freizeitvergnügen. Genauso gut konnte man sich doch die Fingernägel mit einem Hammer blutig klopfen oder in eine zu heiße Badewanne steigen. Heringssalat essen, der zwei Wochen über dem Verfallsdatum war, oder Bungeejumping ohne Seil ausprobieren.

Sie ging fest entschlossen zur Kasse. Ich werde, dachte sie, wenn ich oben bin, nicht die Augen schließen. Im Gegenteil. Ich werde mir den Platz von hoch oben genau angucken. Wenn du mich siehst, dann werde ich dich auch sehen. Wenn ich erst weiß, wer du bist, verlierst du deine Macht über mich.

Ein Glück, dass Leon jetzt nicht da ist, dachte sie. Der würde alles nur verkomplizieren. Gleichzeitig wünschte sie sich nichts mehr, als bei ihm zu sein.

Vor ihr stieg eine Gruppe alkoholisierter junger Männer ein. Sie war froh, nicht in deren Wagen steigen zu müssen, sie nahm den nächsten.

Hinter ihr giggelte ein Pärchen verliebt. Er versprach, ihr die Hand zu halten, und sie behauptete, schon auf viel tolleren Achterbahnen gewesen zu sein, zum Beispiel in Orlando, Wien und Rust.

Er lachte: »In Wien? Das war bestimmt das Riesenrad!«

Die zwei taten Johanna gut. Neben ihr saß jetzt eine Dame Mitte vierzig. Sie war sehr nervös und winkte jemandem zu.

»Ich habe eine Wette verloren, und das hier ist der Preis, den ich Rindvieh zu zahlen habe«, sagte sie zu Johanna. Es klang wie eine Entschuldigung.

»Ich hab auch Schiss«, gab Johanna zu, und die zwei sahen sich verständnisvoll an. Dann legte sich ein Sicherheitsbügel über ihre Beine, und sie begriffen beide, dass es zu spät war auszusteigen.

Die Jungs im Wagen vor ihnen hoben die Arme zum Himmel und grölten: »Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los!«

4

Leon drehte nicht um. Er wollte Gewissheit. Er wollte Johanna zur Rede stellen. Er ließ sich nicht verarschen. Er doch nicht.

Dieser blöde Aufschneider Tobias Zenk war hinter Johanna her. Das hatte Ben ihm gesteckt. Ein bisschen, weil es ihm Freude machte, den Freund seiner Schwester eifersüchtig zu sehen, aber ganz sicher auch, weil etwas Wahres dran war.

Für Ben hatten ohnehin alle Typen, die sich in seine Schwester verliebten, einen totalen Dachschaden.

Auf dem Weg zum Freimarkt spielte Leon durch, was er tun oder sagen würde, wenn er Johanna Arm in Arm mit einem anderen sehen sollte.

Nein, er würde dem Typen keine reinhauen. Er wollte einfach nur stillstehen und die beiden ansehen. Er hing insgeheim der Hoffnung nach, sie würde den anderen dann einfach stehenlassen, um zu ihm zu laufen. Er würde dann einen Arm um sie legen und mit ihr zum Auto gehen. Vielleicht würde er ihr noch ins Ohr flüstern: »Vergiss den Arsch, der ist es nicht wert.«

Er würde ihr keine Vorwürfe machen, sondern ihr zeigen, wie sehr er sie liebte. Aber dann kam alles ganz anders …

5

Als sie den Sicherheitsbügel fest auf ihren Beinen spürte, schoss ein übermächtiger Impuls in ihr hoch, jetzt sofort abzuhauen. Aber ein Mechanismus war arretiert und ließ sich nicht mehr lösen. Sie rüttelte an dem Bügel herum.

Die Dame neben ihr spürte den Anflug von Panik und versuchte, Johanna zu beruhigen: »Sei doch froh, dass das Ding so fest sitzt. Es sollte im Looping ja auch halten.«

Der Satz war wenig hilfreich. Jetzt wollte Johanna erst recht raus, doch der Wagen rollte vor.

Das »Jetzt geht’s los«-Gegröle der jungen Männer im Wagen vor ihnen wurde lauter.

War es einer von denen? Fuhr der Verehrer selbst mit? Versuchte er, ihr so nah zu sein?

Sie spürte ihren Herzschlag im Hals. Was mache ich hier, dachte sie. Bin ich komplett verrückt? Wer hat mich in diese Situation manövriert? Wie konnte das passieren? Warum ist Leon nicht bei mir, und wieso nicht mein Bruder Ben?

Sie fühlte sich einsam, dumm, im Stich gelassen, und die Fahrt begann mit einem Ruckeln von Zahnrädern, was ihr endgültig klarmachte: Jetzt gibt es kein Entkommen mehr!

Jetzt kannst du nur noch hoffen, dass das Ding nicht im Looping hängen bleibt oder abstürzt.

Längst vergessene uralte Bilder von Achterbahnunfällen tauchten aus der Tiefe ihrer Erinnerung auf und wurden zu einer Lawine, hinter der jeder klare Gedanke begraben wurde. Sie krampfte die Finger in die Gummierung der Sicherheitsrolle.

Es ging bergauf. Sie wurde in den Sitz gedrückt. Sie konnte von hier aus die Leute kreischen hören, die gegenüber bergab sausten. Sie waren ganz nah, als ob die Wagen aneinanderkrachen könnten, aber Johanna war nicht in der Lage hinzusehen. Sie versuchte, sich auf ihre Finger zu konzentrieren oder wenigstens auf ihre Knie zu starren und auf keinen Fall nach draußen zu gucken, nicht nach unten und nicht nach oben.

Von wegen, ich kann von da aus sehen, wer mich beobachtet, weil ich da über allem schwebe …

Die Frau neben ihr krallte sich in Johannas Arm. »Oh mein Gott, oh mein Gott!«

Jetzt riskierte Johanna doch einen Blick nach vorn. Der Wagen erreichte den höchsten Punkt. Es sah aus, als wäre von dort nur noch der Absturz ins Nichts möglich. Und genauso fühlte sich für sie an, was dann geschah.

Ihr eigener Schrei tat ihr weh in den Ohren, aber sie konnte nicht aufhören zu kreischen. Sie schrie gegen ihre eigene Angst an, während sie nach unten raste.

Ihre Hände krampften sich in den Sicherheitsbügel, und sie drückte sich mit Beinen und Armen fest nach hinten, so dass der Sitz im Rücken schmerzte.

Dann ging alles in die Schräglage über, und sie hatte das Gefühl herauszufallen, während die Dame neben ihr sie mit ihrem Körpergewicht gegen die Tür presste.

Die Jungs brüllten nicht mehr »Jetzt geht’s los! Jetzt geht’s los!«, sondern sie jubelten, als hätten sie gerade im Lotto gewonnen und könnten ihr Glück noch nicht fassen.

Jetzt ging es wieder bergauf. Johanna konnte ihre inneren Organe spüren. Sie kribbelten und waren irgendwie nicht mehr am richtigen Ort, sondern durcheinandergeraten. Der Magen schien in der Lunge zu hängen, die Leber war verrutscht, und es kam ihr so vor, als hätten sich Teile ihres Gehirns durch die Ohren verabschiedet.

Sie konnte den Brechreiz kaum unterdrücken. Ein fiebriges Gefühl von Aussichtslosigkeit machte sich in ihr breit und die Angst, einen Herzinfarkt zu bekommen.

Wenn sie unten die Sicherheitsbügel lösen, dachte sie, bin ich tot.

War es das dann? Hab ich dafür so viel gepaukt und gesund gelebt, um eine Scheiß-Achterbahnfahrt nicht zu überstehen?

Da war plötzlich ein Kribbeln in den Händen, in den Füßen, schließlich in den Lippen, dann im ganzen Gesicht, als würden unter ihrer Haut winzige Käfer herumkrabbeln. Ihr Herz raste. Sie hatte Schluckbeschwerden und fürchtete, am eigenen Speichel zu ersticken. Da war ein Würgegefühl, aber es kam nichts heraus.

Vom Rest der Fahrt bekam sie kaum noch etwas mit. Es war, als würde der Brustkorb zu eng werden, und sie bekam keine Luft mehr, obwohl sie heftig atmete.

Die Dame neben ihr kam nicht aus dem Wagen, weil Johannas Körper den Ausgang versperrte und den Sicherungsbügel unten hielt.

Sie rief die jungen Männer zu Hilfe. Drei von ihnen waren sofort bereit, den Helden zu spielen und der schönen jungen Frau zu helfen.

Sie hoben Johanna aus dem Wagen. Sie verkrampfte sich merkwürdig, japste und trat einem unabsichtlich ins Gesicht. Er hatte im Boxclub gelernt, härtere Schläge einzustecken, und lachte: »Das ist ja ein wildes Fohlen!«

Johanna glaubte, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Die Welt um sie herum trudelte. Sie nahm alles nur noch verschwommen wahr. Die Hände, die sie anfassten, empfand sie überhaupt nicht als hilfsbereit, sondern sie waren ihr unangenehm.

»Ich geb dir gleich Fohlen! Lass sie los, Cowboy!«, rief Leon angriffslustig und schob die Möchtegernretter von seiner Freundin weg. Er beugte sich über sie und fragte sich verzweifelt, was er tun sollte.

Er rief ihren Namen: »Johanna! Johanna! Was ist denn?«

Sie atmete mit den Brustmuskeln, statt mit dem Zwerchfell. Sie sog die Luft schneller und tiefer ein, als gut für sie sein konnte, das sah er wohl. Aber was sollte er machen?

In dem Moment kniete jemand neben ihm. Es war Pit Seidel von der Edith-Stein-Schule.

»Ich hab einen Sanitäterkurs beim Roten Kreuz gemacht. Sie hyperventiliert. Ganz ruhig, Johanna, ganz ruhig. Dir wird nichts passieren. Das ist sehr unangenehm, aber es wird dir nichts geschehen. In ein paar Minuten ist alles vorbei.«

»Ich … ich werde ohnmächtig«, hauchte Johanna.

»Ja, das falsche Atmen bewirkt, dass du zu viel Sauerstoff ein- und zu viel Kohlendioxid ausatmest. Dadurch kommt es zu einer Übersäuerung des Blutes. Außerdem werden die Muskeln zwischen den Rippen überdehnt. Gleich ist alles vorbei. Versuch, in den Bauch zu atmen.«

Ihre Hände verkrampften sich zu Pfötchen.

»Ich brauche eine Tüte!«, rief Pit. »Eine Tüte! Schnell!«

Endlich konnte Leon helfen. Er war so froh, dass Pit wusste, was zu tun war.

Er griff sich unwillkürlich in die Taschen, aber natürlich hatte er keine Tüte dabei.

Er sah sich um. Eine Tüte. Wie sollte er so schnell an eine Tüte kommen?

Dann sah er den Punker mit den Pommes rot-weiß. Die Tüte war noch ganz voll.

Mit zwei Schritten war Leon bei ihm. »Ich brauch die Tüte!«

»Äi, spinnst du, Alter?«

»Gib mir die Tüte!«

»Das sind meine Pommes. Kauf dir doch selber welche!«

Dies war nicht die Zeit für lange Diskussionen.

Pit rief: »Mach schnell, Mensch!«

Leon riss dem Punker die Pommestüte aus der Hand, ließ die heißen Kartoffelstäbchen auf den Boden fallen, und schon war er bei Pit und Johanna.

Die angetrunkenen Männer aus der Achterbahn standen in zwei Meter Abstand herum und glotzten. Einer von ihnen drehte sich um und fragte: »Ist das hier ›Vorsicht Kamera‹ oder was?«

Zu ihnen gesellten sich jetzt immer mehr Schaulustige, als sei das hier eine Touristenattraktion und kein Notfall.

Pit drückte die Pommestüte so über Nase und Mund von Johanna, dass sie in die Tüte hineinatmen musste. Dabei kleckerte er Mayonnaise und Ketchup auf ihre Augenbrauen, ihre Ohren und Haare.

Der Punker stieß Leon an. »Äi, was habt ihr denn geraucht?«

Leon wimmelte ihn ab: »Ich kauf dir gleich ’ne neue Tüte Pommes.«

Er bewunderte Pit Seidel für sein umsichtiges Handeln, konnte sich aber noch nicht genau vorstellen, dass das, was Pit da gerade tat, wirklich sinnvoll war.

Im Rhythmus von Johannas Atmung blähte sich die Pommestüte auf und zog sich wieder zusammen.

»Solange sie in die Tüte atmet, wird ihr kein neuer Sauerstoff zugeführt«, erklärte Pit. »Stattdessen atmet sie Kohlendioxid ein. So wird die Konzentration im Blut wieder erhöht, und dann verlangsamt die Atmung sich, und gleich ist alles wieder gut. – Du machst das ganz prima, Johanna. Wir haben es gleich geschafft.«

Leon war hin- und hergerissen, ob er Pits Art zu sprechen total emotionslos und nervig fand oder absolut richtig. Pit spielte alles runter, blieb auf einer sachlichen Erklärungsebene und nahm damit den Dampf aus allem, was vielleicht richtig war. Gleichzeitig fragte sich Leon, ob er nicht vielleicht selbst so eine Ausbildung beim DRK machen sollte. Was nutzt es mir, dass ich auf dem Gymnasium in Mathe, Algebra, Physik und Chemie den kleinen Albert Einstein gegeben habe und überall glatt Eins stand, wenn ich in so einer Situation völlig hilflos bin? Beim Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein hat man uns so etwas nicht beigebracht.

Volker Krüger tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und schob sich zwischen Johanna und Leon. Er rülpste seinen Bieratem in Leons Gesicht und sagte: »Ja, da kann man mal sehen, was Drogen aus einem Menschen machen. Man muss damit umgehen können, sag ich doch immer.«

»Hau ab!«, zischte Leon und schob ihn zur Seite.

Es schien Johanna wirklich zu helfen, in die Tüte hineinzuatmen. Der Krampf in ihren Fingern ließ nach. Sie stützte sich auf dem Boden ab und richtete den Oberkörper auf. Sie sagte etwas, aber durch die Tüte verstanden die anderen sie nicht.

»Wir haben dich aus der Gondel gehoben. Du bist da drin ohnmächtig geworden.«

»Die wurde nicht ohnmächtig, die hatte einen Anfall, du Arsch!«

»Die hat mir ins Gesicht getreten!«

»Ja, ihr seid Helden!«, giftete Leon. »Aber jetzt haltet die Fresse und verzischt euch, Cowboys.«

Sie kicherten.

Johanna befreite sich jetzt von der Pommestüte und wischte sich mit beiden Händen durchs Gesicht. Dabei verschmierte sie Ketchup und Mayonnaise noch mehr. Es sah aber nicht lustig aus, sondern auf eine groteske Weise erschreckend.

Jemand lachte und sagte, die Kleine sei zum Anbeißen. Leon nahm sich nicht die Zeit nachzuschauen, wer das war, obwohl er große Lust hatte, demjenigen eine reinzuhauen.

Pit legte eine flache Hand kurz unter Johannas Hals auf ihre Brust und sagte: »Tief in den Bauch atmen, Johanna. Tief in den Bauch. Nicht in den Brustkorb. Hast du mich verstanden?«

Mit weitaufgerissenen Augen starrte sie ihn an und nickte.

Irgendjemand hatte offensichtlich einen Sanitäter gerufen, denn kaum stand Johanna, von Pit und Leon gestützt, wieder auf den Beinen, war er da. Er war knapp fünfundzwanzig und trug einen Schnurrbart, der an Salvador Dalí erinnerte oder den Koch Horst Lichter, und er hatte auch ähnliche Kulleraugen.

»Hatten Sie einen epileptischen Anfall?«, fragte er und zeigte auf Johanna.

Volker Krüger mantelte sich auf. Er drückte seine Brust raus, schob sein Kinn vor und fletschte die Zähne.

»Warum kommst du erst jetzt, du Penner? Die Josy hätte tot sein können in der Zeit!«

Pit nahm deutlich Abstand von Krüger. Er schien Angst oder zumindest großen Respekt vor ihm zu haben.

Leon dagegen schimpfte: »Halt du dich da raus! Du hast doch gar nichts damit zu tun! Verzieh dich hier, Mensch! Wir haben auch schon ohne dich genug Probleme.«

»Ich semmel dir gleich eine rein, dann weißt du, was Probleme sind!«, fauchte Krüger zurück.

Leon hatte nun wirklich keine Lust, sich mit diesem Typen hier zu streiten. Aber er wusste auch nicht, wie er aus der Situation herauskommen konnte. Er wollte sich um Johanna kümmern, statt das diesem Pit zu überlassen, aber er war auch unheimlich wütend, und zwar auf Johanna.

Wieso trieb sie sich hier auf dem Freimarkt herum? Was hatte sie mit diesen Typen zu tun? In der glühend aufwallenden Eifersucht fragte sich Leon in der Tat, ob Johanna irgendeine Droge eingenommen hatte. Das passte nun so überhaupt nicht zu ihr, doch er konnte sich ihren Zustand nicht anders erklären. Es reichte ihm schon, einen Vater mit Alkoholproblemen zu Hause zu haben. Er brauchte nicht noch eine Freundin, die sich irgendwelche Trips reinpfiff.

Er griff in seine Hose und fingerte nach einem Tempotaschentuch. Krüger deutete das falsch, zog ein Springmesser und zeigte drohend die Klinge.

»Lass den Dolch in der Tasche, Schwarz. Ich bin sowieso schneller.«

Wenn Volker Krüger die Leute mit ihren Nachnamen anredete, war er immer kurz davor, auf sie loszugehen, das wusste an der Edith-Stein-Schule jeder.

»Ja, dann kann ich jetzt wohl gehen, oder braucht mich noch jemand?«, fragte der Sanitäter mit dem Lichter-Schnauzbart.

»Bleib ruhig noch da, hier fließt gleich Blut!«, rief einer von den Cowboys.

Vorsichtig und langsam, so dass Krüger jede Bewegung verfolgen konnte, zog Leon sein Tempotaschentuch aus der Jeans. Dann grinste er Krüger an und machte damit »Buh!«, als könne er mit dem Taschentuch zustechen. Er hoffte, so die ganze Situation zu entkrampfen und zu entschärfen.

Er traute sich jetzt sogar, Krüger den Rücken zuzudrehen, und lief hinter Johanna und Pit her. Er wollte Johanna das Taschentuch geben, damit sie sich das Gesicht reinigen konnte, aber sie hielt bereits eins von Pit in der Hand.

Hinter ihnen brüllte der Punk: »Äi, was ist jetzt mit meinen Pommes?«

Pit ging jetzt links, Leon rechts von Johanna. Sie stützte sich auf Pits Arm, hakte sich aber bei Leon ebenfalls unter. Sie bestimmte mit ihren wackligen Schritten das Tempo. Dann hielt sie an, richtete den Kopf nach oben und verdrehte die Augen so merkwürdig, dass Leon schon glaubte, sie könne gleich wieder so einen Anfall bekommen. Stattdessen sagte sie nur: »Mir ist so schwindlig. Hier ist alles so laut und so bunt. Bring mich hier weg.«

Keiner der beiden jungen Männer wusste genau, wer damit gemeint war, deshalb blieben sie beide.

Pit wurde ganz redselig. Er sprach nicht mit Johanna, sondern zu Leon, als müsse er ihm gegenüber etwas klarstellen: »Ich bin richtig froh, dass ich da war und Johanna helfen konnte. Sie hat mich auch mal rausgehauen, als dieser Brüllaffe dahinten mich verdreschen wollte.«

Er deutete mit dem Kopf kurz in Richtung Krüger, der hinter ihnen sein Messer wieder wegpackte, weil der Sanitäter drohte, sofort die Polizei zu rufen.

Leon kannte die Geschichte. Johanna hatte sie ihm mehrfach erzählt.

Pit war von Krüger auf der Prager Straße übel zusammengeschlagen worden. Johanna hatte durch ihr beherztes Eingreifen noch Schlimmeres verhindert.

Sie gingen gemeinsam zu Leons Fiat. Dort blieben sie unschlüssig stehen. Johanna war immer noch blass, und an ihren Haaransätzen klebte eine vertrocknete Ketchupkruste.

Leon wusste nicht, wohin er Johanna bringen sollte und ob er Pit Seidel anbieten musste, ihn zu seiner Wohnung in der Potsdamer Straße mitzunehmen. Er fühlte sich so unsicher.

Johanna stützte sich auf dem Autodach ab und nahm dann die Initiative in die Hand. »Ich muss mich bei dir, Pit, wirklich bedanken. Das war ganz großartig von dir. Dieser Trick wirkt. Im ersten Moment dachte ich, du spinnst, aber das mit der Tüte war wirklich toll.«

»Hattest du so etwas schon öfter?«, fragte er.

»Nein, noch nie.«

Er lächelte. »Sonst würde ich dir empfehlen, in Zukunft immer eine Tüte dabeizuhaben. Und wenn mal keine Tüte da ist, kannst du auch einfach beide Hände vors Gesicht halten und da hineinatmen.«

Er machte es vor.

»Also, noch einmal, Pit«, sagte Johanna, »ich muss mich wirklich bei dir bedanken.«

Er winkte ab. »Halb so wild. Du hast mir doch auch geholfen. Die Guten müssen auf dieser Welt zusammenhalten, sonst wird alles nur noch schlimmer.«

Johanna nickte, dann drehte sie sich zu Leon.

»Und bei dir muss ich mich, glaube ich, entschuldigen. Und beichten.«

»Beichten? Bin ich Pastor? Läuft was zwischen euch beiden?«, fragte Leon jetzt unverblümt.

Pit wehrte ab, und Johanna sagte: »Nein, zwischen uns läuft nichts.«

Dann schüttelte sie unwillig den Kopf. »Denken Jungen etwa so? Muss denn zwischen Jungs und Mädchen immer etwas laufen? Können sie nicht auch einfach Freunde sein?«

Dann gab Pit zu verstehen, dass er sowieso nicht vorhatte mitzufahren. Er nahm ein paar Meter Abstand vom Auto, ging aber nicht weg.

Als Johanna auf dem Beifahrersitz saß, klappte sie die Sichtblende herunter und betrachtete im dahinter angebrachten Spiegel ihr Gesicht. Was sie sah, erschreckte sie, und obwohl sie dafür bekannt war, nie besonders auf ihr Äußeres zu achten, bat sie Leon um ein weiteres Taschentuch und leckte ihre Fingerkuppen an, um sich Mayonnaise und Ketchuppünktchen aus dem Gesicht zu rubbeln.

Leon fuhr den Wagen aus der Parklücke. Pit stand ein paar Meter weiter und winkte ihn heraus, so als würde Leon es ohne seine Hilfe nicht schaffen. Der ignorierte Pit aber ganz bewusst. Der eine kann halt hyperventilierenden Frauen helfen und der andere perfekt ein- und ausparken, dachte Leon grimmig. Andererseits war er Pit wieder sehr dankbar, denn er hatte seiner Freundin geholfen.

Die jammerte jetzt: »Ich krieg Riesenpickel im Gesicht, das weiß ich jetzt schon. Andere schmieren sich pfundweise Puder ins Gesicht, kleistern sich die ganze Haut zu und nichts passiert. Und ich? Letztes Jahr habe ich irgend so eine Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 25 genommen. Ich hab zwar keinen Sonnenbrand bekommen, aber danach sah ich aus wie ein Streuselkuchen.«

Leon wollte sich nicht ablenken lassen.

»Du hast dich bei mir entschuldigt, aber ich finde, du hast mir etwas zu erklären …«

»Ja«, sagte sie. »Okay. Lass uns irgendwohin fahren, wo wir alleine sind.«

»Wir sind alleine. Das ist ein Auto, kein Bus.«

»Bitte, mach es mir nicht so schwer. Ich kann so nicht reden. Nicht während du fährst und …«

Wie aus einer plötzlichen Eingebung heraus sagte sie: »Lass uns in den Bürgerpark fahren.«

Auf dem Weg dorthin sprachen sie kein Wort mehr miteinander.

Leon parkte in der Bismarckstraße. Sie gingen an etlichen Skulpturen vorbei. Den Spielplatz im südöstlichen Bereich, der auch um diese Zeit noch sehr belebt war, mieden sie. Von einem der Grillplätze zog Bratwurstduft herüber.

Beim Bootsteich fanden sie die Ruhe, die sie suchten. Obwohl nicht weit von ihnen eine Parkbank stand, setzten sie sich ins Gras.

»Also«, sagte Leon viel unfreundlicher, als er eigentlich vorhatte, »wieso belügst du mich, und warum, um alles in der Welt, fährst du Achterbahn? Ich denke, Karussell fahren ist dir ein Gräuel. Du hast doch Höhenangst und hasst solche Freizeitbeschäftigungen.«

»Ich bin nicht Karussell gefahren, verdammt! Ich wäre in einer Scheiß-Achterbahn fast verreckt!«

»Warum?«

Sie hatte fürchterlichen Durst und hätte ihr Taschengeld für eine Flasche Mineralwasser gegeben, aber sie wusste, dass sie jetzt nicht danach verlangen konnte. Leon hätte es ihr nur als dumme Ausflucht ausgelegt.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und erzählte ihm ihre Geschichte.

Leon hörte ihr ruhig zu. Er zupfte dabei Grashalme ab und zerrieb sie zwischen seinen Fingern, formte Kügelchen daraus und schnippte sie ins Wasser. Er verspottete sie nicht, wie Johanna befürchtet hatte. Er schien sie ernst zu nehmen, was ihr guttat. Gleichzeitig war da aber auch eine Skepsis in seiner Haltung und in seinem Gesichtsausdruck. Er wollte sich auch nicht von ihr verarschen lassen.

Einmal stöhnte er zwischendurch, als könnte er ihre Erzählung nicht länger ertragen. Dann schwieg er eine ganze Weile.

Sie legte ihre Hand auf seinen Oberarm. Er zuckte zurück, als sei ihm die Berührung unangenehm.

»Nehmen wir mal an«, sagte er, »das alles stimmt. Weißt du, was ich mich dann frage?«

Sie antwortete nicht, sondern sah ihn nur an.

Ein paar Enten liefen schnatternd aufs Wasser zu und glitten dann hinein.

»Ich frage mich«, fuhr er mit belegter Stimme fort, »warum, verdammt nochmal, du mich nicht angerufen hast. Warum erfahre ich das alles erst jetzt?«

Es schien plötzlich kälter zu werden, und sie rieb sich die Arme.

Er wartete ihre Antwort gar nicht ab. Während er ihr so lange zugehört hatte, war eine Art Stau in ihm entstanden. Jetzt, da er einmal Worte gefunden hatte, löste eins das andere aus. Wie eine Lawine aus Worten prasselten seine Sätze auf sie runter, und sie streckte sich im Gras aus, als sei sie unter der Last begraben.

»Da schickt dir ein Typ Rosen, fordert dich auf, dich nachts mit ihm zu treffen, behauptet dann, er habe einen Riesenunfall verursacht, weil du nicht gekommen bist. Mensch, das heißt, der hat drei Leute umgebracht!«

Sie korrigierte ihn. »Vier.«

»Und dann schenkt er dir fünf Chips, und du tust, was er will? Begibst dich in diese unmögliche Situation, setzt dich dieser Gefahr aus, und ich weiß von alldem nichts? Mir erzählst du, deine Mutter würde am Rad drehen, und du müsstest zu Hause bleiben und wir könnten uns deswegen nicht treffen? Wenn hier einer am Rad dreht, dann doch wohl du!«

Er hatte im Grunde mit allem recht, aber vielleicht empfand sie seinen Gefühlsausbruch gerade deswegen wie ein Niederknüppeln. Als sei es noch nicht genug, setzte er noch einmal nach: »Und wieso, verdammt nochmal, gehst du nicht zur Polizei?«

Sie wischte sich eine Träne ab, die aus dem linken Auge tropfte und jetzt wie eine kleine Schnecke in ihre Ohrmuschel lief. Am liebsten wäre sie einfach aufgesprungen und weggerannt, aber sie fühlte sich plötzlich so schlapp, als könne sie nie wieder aufstehen.

»Weil die mir genauso wenig geglaubt hätten wie du«, sagte sie. »Ich hätte dagestanden wie eine dusselige Kuh.«

»Ja«, konterte Leon, »jetzt hingegen stehst du ja viel besser da …«

Sie spannte ihre Muskeln einmal an und löste sie wieder. Dann schaffte sie es. Sie sprang auf. Sie wollte nur noch weg von Leon, von diesem Ort, ja, am liebsten raus aus ihrem ganzen Leben.

Sie wusste nicht, wohin sie lief. Nach Hause zu ihrer Mutter wollte sie nicht. Einfach nur weg.

Erst als Leon sie rennen sah, wurde ihm klar, dass er einen Fehler gemacht hatte, und er nahm die Verfolgung auf. Er kam sich plötzlich vor wie der letzte Idiot.

Er sah nicht, wo sie war. Hier zwischen den Sträuchern und Büschen konnte sie in jede Richtung abgebogen sein.

Er brüllte: »Johanna! Johanna!«

Aber er erhielt keine Antwort.

Er drehte um und lief in die entgegengesetzte Richtung. Und dann sah er Johanna.

Er war nie der beste Sportler gewesen, aber heute brach er alle Rekorde. Mit einer Stimme, die er selbst nicht kannte, brüllte er noch einmal: »Johanna! Johanna! Bleib doch stehen!«

Aber so leicht war sie nicht davon zu überzeugen. Er musste schon schneller sein.

Als er fast auf ihrer Höhe war, kam sie an einem Paar vorbei, das auf einer Parkbank saß und, eingerahmt von gewaltigen Rhododendron- und Azaleensträuchern, kaum zu sehen war.

Leon griff nach Johannas Schulter, um sie festzuhalten. Sie lief weiter, so dass ihr Sweatshirt sich in die Länge zog. Sie ließ sich dadurch aber nicht stoppen. Es sah fast aus, als würde sie lieber ihr Sweatshirt verlieren und ohne weiterlaufen, als stehen zu bleiben.

»Hey«, kreischte das Girlie auf der Parkbank, »der tut der was, der Arsch! Lass sie in Ruhe, verdammt!«