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Der Franz kann schon lesen. Ein bisschen. Jedenfalls behauptet er das. Dabei geht er erst in den Kindergarten. "Lügenbolzen", sagt die Gabi, die er lieber mag als alle Buben, bis der Franz ihr beweist, dass er sogar Bilderbücher lesen kann. Und seitdem muss der Franz der Gabi alles vorlesen, was irgendwo geschrieben steht. So schwer ist das ja auch gar nicht - wenn niemand in der Nähe ist, der wirklich lesen kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Der Franz kann schon lesen. Jedenfalls behauptet er das. „Lügenbolzen“, sagt die Gabi zu ihm. Nun muss der Franz es ihr beweisen und ihr alles vorlesen, was irgendwo geschrieben steht. So schwer ist das ja auch gar nicht – wenn niemand in der Nähe ist, der wirklich vorlesen kann …Seite
Der Franz ist sechs Jahre und sechs Monate alt. Er ist ziemlich klein für sein Alter. Er hat Kornblumen-Augen und einen Kir-schenmund. Er hat rosarote Plusterbacken und keine Haare auf dem Kopf. Aber eine echte Glatze hat er nicht. Zweimal die Woche lässt sich der Franz von seinem Papa den Kopf rasieren.
Früher, wie der Kopf noch nicht rasiert war, haben viele Leute den Franz für ein Mädchen gehalten. Für ein Mädchen mit blonden Ringellocken. Das hat den Franz sehr gestört.
Das heißt aber nicht, dass der Franz Mädchen nicht leiden kann. Die Gabi, die neben ihm wohnt, hat er sogar sehr gern. Die mag er viel lieber als alle Buben, die er kennt.
Der Mama vom Franz tut es um die Ringellocken vom Franz leid. Sie sagt oft: „Mit den Locken warst du ein viel schönerer Franz!“
Aber der Franz ist lieber weniger schön und mehr wie ein Bub.
Die Gabi versteht das nicht. „Kann dir doch wurscht sein“, sagt sie, „wenn dich der Gemüse-Mann für meine Schwester hält!“
„Nein, das regt mich auf! Das macht mich wild!“, sagt der Franz.
„Ich würd mich freuen, wenn mich der Gemüse-Mann für deinen Bruder halten würde“, sagt die Gabi. „Das wäre doch lustig!“
„Das wäre etwas anderes“, sagt der Franz.
„Wieso denn?“, fragt die Gabi.
Da gibt ihr der Franz dann keine Antwort. Der Franz findet nämlich, dass es besser ist, ein Bub zu sein. Und dass sich ein Mädchen freuen kann, wenn man es für einen Buben hält. Und dass sich ein Bub kränken muss, wenn man ihn für ein Mädchen hält.
Doch damit wäre die Gabi nicht einverstanden.
Sie würde sich an die Stirn tippen und „Du Depp, du spinnst ja“ sagen. Und dann müsste der Franz „Selber Depp, du“ zurückschimpfen. Und dann würde ihn die Gabi in den Bauch zwicken. Und dann müsste der Franz ihr einen Tritt geben. Und das wäre dann ein echter Streit. Und der wäre nicht gut.
Der Franz und die Gabi streiten sowieso jede Woche zweimal. Zwei Streite pro Woche hält auch die beste Freundschaft nicht aus, denkt sich der Franz. Man muss so sparsam wie möglich sein beim Streiten, denkt sich der Franz.
Einmal, im Sommer, gingen die Gabi und der Franz in den Park. In den kleinen Park gleich gegenüber vom Haus. Zum Kinder-Spielplatz gingen sie. Sie wollten auf den Wipp-Schaukeln schaukeln und auf dem Kletterturm klettern.
Aber den Wipp-Schaukeln fehlten die Schaukelbretter, und der Kletterturm war überhaupt weg. Am Gitter vom Ballspiel-Platz hing ein weißes Schild mit schwarzen Buchstaben.
„Da sind drei a drauf“, sagte der Franz.
„Und neun e“, sagte die Gabi.
„Und der erste Buchstabe ist ein W“, sagte der Franz.
„Und der letzte ist ein t“, sagte die Gabi. Und dann sagte sie noch: „Wenn jetzt schon Weihnachten wäre, dann könnten wir das lesen!“ Sie zählte an den Fingern ab: „September, Oktober, November, Dezember!“ Sie nickte. „In vier Monaten Schule lernt man das sicher.“
Dann ging die Gabi zur Sandkiste. Der Franz ging nicht hinter ihr her. Er ging zu einem großen Buben, der am Gitter neben der Tafel lehnte. Den fragte er: „Bitte, was steht auf der Tafel?“
Der große Bub las ihm vor: „Wir bitten um Verständnis, die Spielgeräte werden frisch lackiert.“
„Danke schön“, sagte der Franz. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, pfiff vor sich hin, ging zur Sandkiste und setzte sich auf den Sandkistenrand.
„Du, Gabi“, rief er. „Ich kann jetzt schon lesen!“
„Kannst du nicht“, sagte die Gabi.
„Doch“, sagte der Franz. „Auf dem Schild steht, dass die Schaukeln und der Kletterturm lackiert werden, und wir sollen Verständigung haben.“
„Das hast du nicht gelesen, das hast du gefragt“, sagte die Gabi.
„Gar nicht wahr, echt nicht! Ich kann lesen!“, rief der Franz.
„Du bist ein Lügenbolzen, ein dummer!“, rief die Gabi.
Der Franz wollte etwas Böses zurücksagen, aber er merkte, dass seine Stimme gleich ganz piepsig werden würde.
Das ist eine Spezialität vom Franz. Immer, wenn er sich sehr aufregt, bekommt er eine Piepsstimme, eine ganz hohe. Dagegen kann er nichts machen.
Dagegen hilft nur: warten, bis sich die Aufregung gelegt hat.
So drehte der Franz der Gabi den Rücken zu und schaute zum Ballspiel-Platz hin. Der große Bub lehnte noch immer am Gitter.
Ein zweiter Bub war jetzt bei ihm. Der zweite Bub hatte einen Fußball unter dem Arm. Einen aus echtem Leder.
Der Franz dachte: Wenn ich ein bisschen größer wäre, könnte ich die beiden fragen, ob wir zu dritt Fußball spielen wollen! Und dann würden wir ein Supermatch machen. Und dann würden wir uns beim Kiosk ein Eis kaufen! Und dann würden wir Freunde sein! Und dann würde die Gabi merken, dass sie mich nicht einfach „dummer Lügenbolzen“ schimpfen kann!
Und dann überlegte der Franz, ob er für die beiden Buben nicht vielleicht doch groß genug sei. Viel mehr als einen Kopf kleiner als sie war er schließlich nicht. Und manche große Buben sind ja auch so nett und spielen mit kleineren Kindern!
Der Franz wollte gerade aufstehen und zu den beiden Buben gehen, da legte ihm die Gabi eine Hand auf die Schulter.
„He, du Angeber!“, sagte sie und hielt ihm mit der anderen Hand einen Zettel unter die Nase. Einen zerknitterten, verdreckten Zettel. Dort, wo der Zettel nicht dreckig war, war er rosa mit schwarzen Buchstaben.
„Na, lies vor, was draufsteht!“, verlangte die Gabi. Neben ihr stand ein großes Mädchen.
Die Gabi zeigte auf das Mädchen. „Die kann nämlich schon erstklassig lesen! Die kommt im Herbst in die dritte Klasse!“
„Ich hab jetzt keine Lust auf Lesen“, piepste der Franz.
Die Gabi lachte. Das große Mädchen lachte auch. Ganz gemein lachten sie.
Da sprang der Franz auf und streckte der Gabi und dem großen Mädchen die Zunge heraus. „Bääääh“, machte er und lief nach Hause.
Zu Hause beim Franz war nur die Lilli. Der Papa vom Franz war auf Arbeit. Die Mama vom Franz war auf Arbeit. Und der Bruder vom Franz, der Josef, war bei seinem Freund, dem Otto.
