Neuneinhalb Finger - Stephan Alfare - E-Book

Neuneinhalb Finger E-Book

Stephan Alfare

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Beschreibung

Und Schillinger sah das Gold des Zigarrenabschneiders, das aufblitzte, als Töffels ihn am Arm packte und seinen Arm verrenkte, ihn fast ausrenkte, er quetschte sein Handgelenk, und Schillinger spreizte alle fünf Finger, es sah aus, als wollten die Finger fliehen vom restlichen Teil seiner dürren Hand; mit dem Flachschneider fing Töffels seinen Zeigefinger ein, wie eine gelähmte, vor Schreck erstarrte Maus, die sich nicht wehren kann, und er drückte den Cutter zusammen. »Neuneinhalb Finger« ist ein dunkler, unerbittlicher Episoden-Roman made in Austria. Im Schatten eines eiskalten Soziopathen und Mörders führt uns der Autor die tiefen, schmutzigen Abgründe der menschlichen Seele vor Augen. Sein fesselnder Erzählstil, gepaart mit einer bildhaften, bunt-trockenen, präzisen Sprache, ist durchzogen von surrealen, humoristischen und schonungslosen Gedankenspielen. Der Roman erinnert an die Werke von Max Frisch, Alain Robbe-Grillet oder Hunter S. Thompson.

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Stephan Alfare

Neuneinhalb Finger

Dachbuch Verlag

1. Auflage: September 2022Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN: 978-3-903263-47-5EPUB ISBN: 978-3-903263-48-2

Copyright © 2022 Dachbuch Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehalten

Autor: Stephan Alfare

Lektorat: Nikolai UzelacSatz: Daniel UzelacUmschlaggestaltung: Katharina NetolitzkyUmschlagmotiv: Vantime/ShutterstockDruck und Bindearbeiten: Rotografika, SuboticaPrinted in Serbia

Besuchen Sie uns im Internet:www.dachbuch.at

The ugly fact is

books are made out of books.

The novel depends for its life

on the novels that have been written.

– Cormac McCarthy

ERSTES BUCH

August 2002

Aber sein Hirn spiegelte immer noch das nass geschwitzte, verklumpte Kopfkissen von dorther, wo er die letzten Stunden zu schlafen versucht hatte, und er fühlte sich krank, miserabel, als er in der verwaisten Wartehalle stand und sich nach einem Kiosk umsah, einer Imbissbude, an der er zwei oder drei Dosen Bier und ein Päckchen Pfefferminzkaugummi kaufen konnte. Er wartete auf den Nachtzug aus Zürich, der über Wien nach Budapest Keleti fuhr. Dort, wo der Kiosk war, war ein rostiger Rollladen heruntergelassen. Ein halbes Dutzend Reisende hielt sich im Freien auf, auf Bahnsteig zwei, und er nahm seinen kleinen Lederkoffer und stieg die Treppe zur Unterführung hinunter.

Auf dem Bahnsteig, den Koffer zwischen den Beinen, zündete er sich einen Zigarillo an, den letzten vor der Abreise, den letzten Zigarillo vor Innsbruck, dem ersten längeren Halt; er würde in Innsbruck aussteigen, einige hastige Lungenzüge machen, frische Luft schnappen, abhusten. Jetzt blies er das Streichholz aus. Ein Mann und eine Frau rauchten wie er. Es war schwül, ruhig und dunkel, weder Mond noch Sterne am Himmel; das Zirpen der Grillen fiel ihm auf, die Männchen, wie sie ihre Beine aneinanderrieben. Dann hörte er ein Knacken, ein Spratzeln aus den Lautsprechern, schließlich eine anonyme Frauenstimme, die das Einfahren des Zuges nach Budapest Keleti ankündigte.

Im Zugabteil saß ein junger Mann, der ihn an einen Germanistikstudenten erinnerte. Der Student lächelte, nickte ihm zu und fragte:

– Wohin fahren Sie?

– Nach Wien, sagte er.

– Setzen Sie sich hierhin, sagte der Student und erhob sich von seinem Fensterplatz. Da können Sie in Ruhe schlafen. Ich werde Sie nicht stören, wenn ich aussteige.

Und er saß am Fenster und wusste, dass er kein Auge schließen würde, dass er ohnehin nicht müde, sondern krank war. Seit vierzehn Tagen spielte sein Magen verrückt. Er hatte keinen Appetit und aß nahezu gar nichts, seit Tagen trank er Unmengen an Zitronenwasser, nicht einmal Bier wollte ihm schmecken. Doch Hopfen und Malz waren Nahrungsmittel; er würde sich Bier beim Schlafwagenschaffner besorgen.

Den ledernen Koffer hatte er auf den Sitz gegenüber geschoben, und als sich der Zug in Bewegung setzte, erhob der Student sich ein zweites Mal, nahm eine braune Aktenmappe von der Gepäckablage und sagte:

– Bitte, entschuldigen Sie mich. Ich muss mal.

Er öffnete die Schiebetür, schloss sie hinter sich und verschwand den Korridor hinunter. Der junge Mann kam nicht wieder.

Wahrscheinlich bin ich aschgrau im Gesicht und sehe einem Toten ähnlicher als jemandem, der am Leben ist, dachte er. Im Koffer steckten drei Bücher. Er überlegte kurz, ob er eines davon hervorholen sollte, ließ es aber bleiben; er raffte sich auf und knipste das Licht aus, als eine ungarische Eisenbahnschaffnerin das Abteil betrat, das Licht wieder anmachte und nach seiner Fahrkarte fragte.

Während Innsbruck immer näher rückte, zog er die Schachtel mit den Zigarillos und die Streichhölzer aus seiner Hemdtasche hervor. Ein wenig später fuhr der Zug in den Bahnhof ein, und er ging mit weiten Schritten durch den Korridor in Richtung Ausstieg; am Ende des Korridors verstellte ihm ein Mann den Weg.

– Pardon. Haben Sie vielleicht zwei Kippen übrig?

Der Mann, offenbar ein Deutscher, stand da, beide Hände in den Gesäßtaschen, und scharrte mit seinem Schuhabsatz auf dem Bodenbelag.

– Nein, hab ich nicht.

Er schob ihn sanft beiseite und war dann auf der obersten der zwei oder drei Stufen, die zum Bahnsteig hinunterführten. Er zündete seinen Zigarillo an, inhalierte, fächelte das Streichholz, bis es erlosch, und stieg danach die Stufen hinunter, legte seinen Kopf in den Nacken; er stieß Rauch aus und sah zu, wie der Rauch in der feuchtwarmen Nachtluft auseinandertrieb. Nach dem fünften oder sechsten Zug trat er den Zigarillo aus, stellte einen Fuß auf das Trittbrett und beobachtete die Anzeigetafel.

Etwas später marschierte er durch den Schlafwagen und stieß nach einer Weile auf den Schlafwagenschaffner, der ihm zwei eisgekühlte Dosen Bier verkaufte. Mit einer Hand hielt er die Dosen fest und bemerkte, als er das Kleingeld einsteckte, dass seine Finger zitterten.

Der Anruf von heute Mittag fiel ihm ein. Er war auf dem Weg zurück in das Abteil und sah sich selbst, wie er in seinem kleinen Arbeitszimmer auf das Handydisplay starrte, doch dort waren weder ein Name noch eine Nummer zu lesen. Er war neugierig und allein.

– Wir haben zusammen in der Innenstadt gesessen, wir haben Bier getrunken, weißt du noch?

Die männliche Stimme am anderen Ende gehörte jemandem, der ihn scheinbar gut kannte. Er versuchte, die Stimme einer Person zuzuordnen.

– Ich möchte gern meiner Tochter deine Nummer geben, weil sie dringend einen Arzt braucht. Wir haben ja drüber gesprochen, erinnerst du dich? Jetzt will ich dich fragen, ob das in Ordnung geht.

Er erinnerte sich nicht. Er wollte sagen, dass er kein Arzt sei. Er war kein Arzt und nur selten in der Wiener Innenstadt. Er sagte:

– Tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, wo ich dich hintun soll. Ich kenne einige, die Karlheinz heißen.

– Du bist doch ... warte mal ... du bist doch ... Wer bist du denn?

– Ich bin Schillinger. Schillinger, sagte er.

– Schillinger? Du bist Schillinger? Ja, das stimmt. Schillinger. Ich hab hier mein Adressbuch. Aber du bist der andere Schillinger. Ich hab dich verwechselt. Ist trotzdem schön, deine Stimme zu hören, Schillinger. Weißt du, was ich jetzt mache? Ich stehe in einer Telefonzelle am Westbahnhof. Ich werde mich jetzt gleich in einen Zug setzen, der nach Neapel fährt.

Während Schillinger nach seinem Abteil suchte, musste er an diesen Mann am Telefon denken, von dem er nicht wusste, wer er war, der ihn mit irgendjemandem verwechselt und nicht aufgehört hatte, nach einem Arzt für seine sterbenskranke Tochter zu fragen, die in Neapel in einem Krankenhaus lag.

– Obwohl ... für einen Arzt ist‘s ohnehin zu spät.

Der Mann hatte geseufzt, tief und schwer; das war ungewöhnlich laut und rau durchs Telefon zu hören gewesen.

– Ihr Körper ist voller Metastasen, und sie hat keine Ahnung davon. Das ist der Grund, warum ich nach Neapel reise. Ich werde sie im Krankenhaus besuchen, werde ihr drei Bussis geben, dann nehme ich den nächsten Zug zurück. Wie‘s um sie steht ... darüber verliere ich kein Wort. So hab ich mich zumindest verabschiedet, was denkst du, Schillinger? Zum letzten Mal auf Wiedersehen gesagt, auch wenn sie‘s gar nicht weiß.

– Das ist gut, ja. Das find ich gut, Karlheinz, hatte Schillinger erwidert in seinem kleinen Arbeitszimmer, bevor er das Gespräch beendet hatte.

Er ging von Wagen zu Wagen. Die Vorhänge mancher Abteile waren geschlossen, sonst saßen drei oder vier Personen darin. In einem, das leer war, deponierte er die beiden Bierdosen auf der Ablage unter dem Fenster. Die ungarische Eisenbahnschaffnerin unterhielt sich mit dem Mann, der ihn nach Zigaretten gefragt hatte.

– Ich kann mein Abteil nicht finden, sagte Schillinger. Mein Abteil mitsamt meinem Koffer.

– Aber Sie haben doch am Ende des Zuges gesessen. Ich bin mir sicher, dass ich Sie in einem der hinteren Abteile habe sitzen sehen. Kommen Sie mit, sagte die Schaffnerin.

Als sie den ersten ungarischen Großraumwagen erreichten, blieb die Frau plötzlich stehen, zog die Achseln hoch und ließ sie wieder sinken.

– Bitte, entschuldigen Sie mich, sagte sie. Die Arbeit ruft. Sie müssen sich nun allein umsehen.

Die Schaffnerin machte kehrt; er stand still und blickte ihr nach. Die Frau drehte sich noch einmal um.

– Sie werden sehen, sobald es hell wird, wird alles leichter sein. Bis Wien haben Sie Ihren Koffer wieder, Sie werden sehen.

Er schwitzte und lief durch die Großraumwagen, in denen links und rechts Menschen saßen oder kauerten, mit angezogen Beinen, den Knien an der Brust quer über den Sitzen lagen; manche schliefen, manche dösten vor sich hin. Die Gepäckgitter waren vollgestopft, auf und unter den Sitzen, überall standen Taschen, Koffer und Kartons, Kleidungsstücke waren darübergelegt, Hüte und Schirmmützen, Sommermäntel, Jacken, Sakkos. Sollt ich jemals im Zug einen Koffer klauen ... ich werde diesen nicht einfach in der Gegend herumstehen lassen, ganz sicher nicht.Ich werde ihn verstecken. Zudecken. Sollte er das Gepäck dieser Leute kontrollieren? Und was war mit den Abteilen, an denen die Vorhänge zugezogen waren?

Im letzten Wagen streckte ein junger Punk oder Goth, der sein Sohn hätte sein können, den tätowierten Irokesenkopf aus einem der Erste-Klasse-Abteile.

– Na hallo. Wo soll‘s denn hingehen?

– Ich suche meinen Koffer.

– Du suchst deinen Koffer?

Der Junge strich mit der flachen Hand sachte über die violetten Stacheln seines Liberty Hawks wie über einen verletzten Igel, nahm seinen Rucksack und das Skateboard. Eine schmale Sonnenbrille vor den schwarz geschminkten Augen, Ohr- und Nasenringe, Angelbites und Snakebites an den Lippen; schwarz lackierte Fingernägel, klobige Ringe und Kettenarmbänder; beide Arme waren mit Tattoos bedeckt, vernarbt, verschorft, geritzt vor nicht allzu langer Zeit, um seinen Hals hatte er ein Lederband mit kegelförmigen Nieten geschnallt. Der Punk steckte in einer falschen Giraffenfelljacke, obwohl es Sommer war, in karierten Röhrenhosen mit einem nutzlosen, um die Hüften schlenkernden Nietengürtel.

Sie nahmen die entgegengesetzte Richtung. Schillinger, der hinter dem Jungen herging, fixierte dessen Beine, dünn wie Spazierstöcke, die in staubige Doc-Martens-Stiefel mit abgetretenen Sohlen mündeten. Der Junge riss die Schiebetüren zu den Großraumwagen auf, eine nach der anderen, sodass jene, die in der Nähe dämmerten, aus dem Halbschlaf schreckten. Wie zwei Kontrollorgane durchkämmten sie die Wagen; er stieß dabei dem Jungen ständig den Zeigefinger zwischen die Schulterblätter, weil der Junge wie ferngesteuert war und alle paar Schritte unvermittelt stehen blieb, als habe er einen Wackelkontakt, um mit eckigen Armbewegungen unter eine Windjacke oder ein Blouson zu sehen. Sie fanden den Lederkoffer nicht. Bald verzichteten sie auf einen Blick in die Zugabteile mit den geschlossenen Vorhängen.

Dieser junge Punk oder Goth, der sein Sohn hätte sein können, verschwand plötzlich mitsamt seinem Rucksack und dem Skateboard in einem der Abteile, ohne noch ein Wort zu verlieren. Schillinger hätte ihm eine Dose Bier geschenkt, aber auch er sagte nichts. Dass er gern Gesellschaft gehabt, ein wenig Schwachsinn geredet und darüber gelacht hätte, gab es doch nicht viel zu lachen für ihn heute Nacht. Aber der Junge schien ohnehin voll auf Sendung zu sein, dem Anschein nach Eye Openers, Amphetamin oder Methamphetamin, wer wusste das schon?

Im Liege- und im Schlafwagen war es sinnlos, nach etwas zu suchen. Bald stieß er an eine Tür, die verschlossen war; weiter vorn war nur noch die Lokomotive. Er trat den Rückweg an. Schillinger zog sich am Handlauf durch den Wagen wie ein Schlafwandler.

Das Abteil mit den zwei Dosen Bier fand er auf Anhieb. Er ließ sich in den Sitz am Fenster fallen und riss eine davon auf. Das Bier war nicht mehr eiskalt. Er trank die Dose leer, zerquetschte sie und schmiss sie anstatt in den Abfallbehälter einfach auf den Fußboden. Mitsamt dem Koffer war dessen Inhalt verschwunden. Schillinger war mit seiner Weisheit am Ende. Peter Rosei, Franz Michael Felder und Hans Fallada; drei Bücher. Ein Notizbuch mit knappen Erzählungsentwürfen, ein Füllfederhalter. Ein Rasierapparat, ein Fingernagelknipser, ein Kamm und die Zahnbürste; eine zweite Hose, T-Shirts, Unterwäsche, Socken. Eine schöne, alte Blechdose mit Kautabak aus Pennsylvania, ein Geschenk einer netten Dame. Und schließlich, was ihn wirklich ratlos machte, ein Viertelpfund erstklassiges, hochwertiges und geruchsneutral verpacktes Henry. Neunzigprozentiger Türkischer Honig in Pulverform; reines Heroin. Woher ... das musste Schillinger für sich behalten.

Er saß am Fenster und starrte abwechselnd in die Nacht und auf den leeren Sitzplatz vis-à-vis, dachte an nichts, an niemanden, an gar nichts, an schon gar keinen Menschen. Später trank er das zweite Bier; dann bückte er sich und hob die zerquetschte Dose vom Boden auf.

In Salzburg rauchte er den dritten Zigarillo dieser Nacht, ging auf dem Bahnsteig auf und ab, fünf Schritte in die eine, fünf Schritte in die andere Richtung. Allmählich wurden Körper und Kopf müde und schwer, er hatte in den vorangegangenen zwei Wochen viel zu wenig geschlafen; bis vor einer Stunde noch rastlos, mit einer Stinkwut im Bauch auf der Suche nach seinem Koffer, war er längst in einen Zustand völliger Teilnahmslosigkeit gesunken.

Nachdem die Sonne als Lichtstreifen über der Ebene aufgetaucht war, stand bald das ganze Land in einer unwirklichen Helligkeit, wie er es eben noch in einem Traum gesehen hatte, Wald und Felder, die Gebäude in leichten, durchscheinenden Nebel gehüllt, ein fast rosenroter, aber zorniger Himmel darüber. Er war eingeschlafen auf seinem Fensterplatz; die ersten Sonnenstrahlen hatten ihn geweckt.

In Wien stieg er aus dem Zug und tappte gebeugt und mit hängenden Schultern über den Bahnsteig auf die Wartehalle zu. Der Zug war lang. Im Eingang zur Wartehalle blieb er stehen, drehte sich um und hakte die Daumen in die Hosentaschen. Er atmete tief ein, blähte seinen Brustkorb auf, reckte das Kinn nach oben. Hier mussten sie alle durch.

Breitbeinig stand er da, wie ein Mann vom Sicherheitsdienst, und wusste eigentlich nicht weswegen. Nur wer ein Narr war, zeigte sich hier mit einem vergangene Nacht im Zug gestohlenen Koffer. Die Zugreisenden zogen einer nach dem anderen links und rechts an ihm vorüber; weiter hinten erkannte er den Mann, der ihn nach Zigaretten gefragt hatte in Innsbruck, der sich offensichtlich schwertat mit seinem Trolley und der Reisetasche und sich auf eine der Metallbänke setzte, um ein wenig auszuruhen.

August 2006

Ich hatte das Ganze nicht aufgeschrieben, und das war gut so. Ich hatte das, was vorgefallen war, nur mündlich geschildert. Während eines gemeinsamen Abendessens hatte ich Kopetzky davon erzählt, meinem alten Chauffeur, aber das tut nichts zur Sache. Weiter nichts als so viel, dass das Geschehene nicht geschehen wäre, hätte Kopetzky sich damals nicht frei genommen und wäre nach Italien gereist, um drei Wochen am Strand von Jesolo in der Sonne zu liegen. Anderthalb Jahre später, im Winter, hatte ich überhaupt mit dem Schreiben Schluss gemacht. Ich hatte mich, noch keine sechzig Jahre alt, aus dem Geschäft zurückgezogen, war verstummt, die neuneinhalb Finger wuselten nicht mehr über die Tastatur.

Es war zehn Uhr abends. Ich wusste nicht, weswegen mir diese Geschichte in den Sinn gekommen war. Ich saß auf der Terrasse meines Hauses im Rheintal, trank französischen Rotwein und rauchte eine Zigarre, und diese Sache ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Eine Fahrt im Nachtzug von Feldkirch nach Wien ... und was nachher geschehen war. Ich pflanzte leise und friedlich tanzende Wölkchen Rauch in den Abend, nippte am Glas und dachte: Eigentlich eine recht ungewöhnliche Geschichte.

August 2002

Ein Taxi brachte ihn zu seiner Adresse im Westen der Stadt. Auf halbem Weg ließ er anhalten und besorgte sich zwei Hotdogs. Er leerte den Briefkasten im Hausflur, ehe ihn der Aufzug ins Dachgeschoss beförderte; dort öffnete er die Wohnungstür, schloss sie hinter sich, drehte den Schlüssel einmal, zweimal herum und schob den Sperrriegel vor. In der kleinen silbernen Dose, in der er das Heroin aufbewahrte, gab es einen Rest. Schillinger legte sich eine schmale Linie auf dem rot-blau umrahmten Handspiegel, nahm sein Geld aus der Hosentasche heraus, rollte die kleinste Banknote zu einem Röhrchen und inhalierte das graubraune Pulver.

Die Post bestand aus Wurfsendungen, einer Einladung zu einer Vernissage mit Soundperformance und der Ankündigung der Neueröffnung eines Kindergartens irgendwo in Ottakring. Er saß an seinem Schreibtisch, blätterte in den Faltprospekten der Supermärkte, mechanisch und gedankenlos, während er die beiden Hotdogs mit Senf, Ketchup und Mayonnaise verschlang. Sein Magen war auf dem Weg der Besserung. Er kaute und musste an das Heroin im Koffer denken und an den Preis, den er dafür bezahlt hatte.

Als es zwölf Uhr mittags war, klappte er sein Handy auf und wählte die Nummer der Pusherin.

Nach dem dritten Klingeln meldete sie sich.

– Du. Folgendes, sagte er.

Und Schillinger erzählte vom Verlust seines Koffers mitsamt dem Viertelpfund Henry. Er sagte, er habe jedenfalls dafür gelöhnt und er benötige das Zeug genauso, wie er sein Zitronenwasser zum Frühstück brauche.

Die Pusherin sagte nicht viel.

– Geht in Ordnung, sagte sie. Mach dir deswegen keinen Kopf.

***

Er war aus einem seltsamen Traum aufgewacht. Szenen aus dem Leben eines Bestsellerautors, den er bewunderte und auf den er neidisch war im Traum. Und er hatte durchgeschlafen, was nicht oft geschah. Jetzt war er wach, brühte Kaffee, quetschte den Saft einer Zitrone in einen Krug und füllte den Krug mit eiskaltem Wasser. Er riss einen Streifen Toilettenpapier von der Rolle, die auf dem Schreibtisch stand, schnäuzte sich und stopfte das Knäuel in die Hosentasche. Dann griff er nach dem zerfledderten Stephen-King-Taschenbuch mit den zwei Romanen, weil es zu früh war, um nach der Post zu sehen. Den ersten kannte er bereits; auf Seite dreihundertneununddreißig begann der zweite: Das heimliche Fenster, der heimliche Garten.

Er vermisste sein Notizbuch nicht, ebenso wenig wie die wackeligen Erzählungen darin. Diese hätte er aufsagen können wie das Abc, obwohl sie es nicht wert waren. Er würde die Geschichten in den nächsten Tagen Zeile um Zeile zornig in die Tasten seines Macintosh hacken. Immerhin handelte es sich um seinen Broterwerb.

Kurz vor halb eins nahm er den Aufzug nach unten. Rechts an der Wand waren die Briefkästen. Er begann zu schwitzen und spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss wie in eine Wunde, als er das Türchen mit dem Namensschild Schillinger öffnete. Gerechnet hatte er nicht wirklich damit, doch die Post war schnell. Das Päckchen von der Größe einer Tafel Schokolade steckte zwischen zwei identischen, selbst kopierten Reklamezetteln einer Änderungsschneiderei und dem Faltprospekt einer Pizzeria.

Unter dem Einwickelpapier kam ein Kartonetui für Buntstifte zum Vorschein, rundum verklebt mit transparentem Isolierband. Schillinger nahm das Kokainmesserchen zu Hilfe und schlitzte die Verpackung auf; fünf oder sechs bunte Trinkhalme waren beigepackt, eine nette Geste der Pusherin. Und nachdem er eine halbe Portion durch einen gekürzten roten Trinkhalm geschnupft hatte, tat er den Plastikbeutel mit dem Stoff in eine Tupperdose, die er ins Gemüsefach des Kühlschranks stellte. Er setzte sich an den Schreibtisch und rückte den steinernen Aschenbecher heran; dann rauchte er Marihuana, genoss es, trank ein kühles Bier und fühlte sich gut versorgt, als das Telefon klingelte.

Eine fremde Nummer; eine männliche Stimme. Noch bevor der erste Satz zu Ende war, wusste Schillinger, mit wem er es zu tun hatte.

– Ich sitze in Wolfi‘s Bierwinkel am Flughafen. Ich bin noch eine Stunde da. Beeilen Sie sich.

Möglicherweise war es ein Fehler gewesen, dem Mann keinen Zigarillo zu schenken im Nachtzug.

– Nein, den Koffer hab ich nicht. Aber ich hab dessen Inhalt.

– Warten Sie. Warten Sie.

– Dafür hab ich keine Zeit. Eine Stunde. Beeilen Sie sich.

Mit zittriger Schrift hatte er Wolfi‘s Bierwinkel an den Rand einer alten Zeitung gekritzelt. Er wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Gleich war es halb zwei. Eine Stunde. War es möglich, in einer Stunde von hier nach Schwechat zu kommen? Er wählte die Nummer des Jazztrompeters, hielt die Luft an, atmete aus, trank einen Schluck Bier und hielt wieder die Luft an. Der Jazztrompeter lachte ihn aus.

– Das Coupé? Das hab ich vor fünf Tagen verkauft. Du musst dich schon mit einem Flughafentaxi begnügen, mein Lieber.

– Ein Flughafentaxi?

Zehn Minuten später saß er in einem Flughafentaxi. Die Frau in der Zentrale hatte ihm versichert, er sei in dreißig Minuten am Flughafen Schwechat, er hatte ihr nicht geglaubt; nun sagte der Taxifahrer dasselbe. Er solle ganz locker bleiben und nicht die Nerven verlieren, ob er denn kein Gepäck mit sich führe. Nein, erwiderte Schillinger, er treffe jemanden am Flughafen, ob er rauchen dürfe. Ja, sagte der junge arabische Fahrer. Also rauchte er, und das beruhigte ihn ein wenig. Er lehnte sich zurück und nahm sich vor, noch ruhiger zu werden.

Als er den Fahrpreis bezahlte, gab er viel zu viel Trinkgeld. Er beeilte sich, ins Flughafengebäude zu kommen. Ein Shoppingcenter, eine Einkaufs- und Gastronomiemeile; es wimmelte von Menschen. Er hastete vorwärts, Schweiß perlte auf seiner Stirn; er drehte den Kopf auf die eine und auf die andere Seite, lief im Zickzack wie ein gejagter Hase und wich den Menschen aus, so gut es ging. Nicht alle waren Flugpassagiere. Im Flughafengebäude konnte man einen Teil seines Lebens verbringen, ohne jemals einen Fuß an Bord eines Flugzeugs zu setzen.

Wolfi‘s Bierwinkel. Der Name stand groß über der gläsernen Eingangstür. Neben der Türklinke war ein Messingschild angebracht, auf dem der Name ein zweites Mal zu lesen war. Er trat ein und blickte sich um. Das Lokal war geräumig und sah recht einladend aus. Ein leise knarrender Bretterboden, die Wände holzverkleidet, Stehtische und eine halbkreisförmige Theke. Das Licht hier drinnen war weder hell noch dunkel, frischer Tabakgeruch hing in der Luft.

Er entdeckte den Mann an einem der hinteren Stehtische, wo er auf einem Hocker mit Arm- und Rückenlehne einem Mädchen gegenübersaß. Sie erkannten sich in der gleichen Sekunde. Schillinger gab auch dem Mädchen die Hand, das hübsch und noch nicht volljährig war. Unschlüssig und wie überflüssig stand er daneben und war sich sicher, dass dieses Mädchen nicht zu diesem Mann mit dem braun gefärbten Haar, den falschen Zähnen und dem teigigen Gesicht gehörte. Er holte die Zigarillos hervor, zündete sich einen an und hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun oder sagen sollte. Bis eine Kellnerin an den Stehtisch trat, lächelte und sich nach seinem Wunsch erkundigte. Er erwiderte ihr Lächeln und bestellte ein großes Glas Bier.

Der Mann unterhielt sich mit dem Mädchen in gebrochenem Englisch; er rauchte die Zigaretten des Mädchens. Plötzlich wandte er sich Schillinger zu und sagte:

– Ich hab auch dieses Zeug in Sicherheit gebracht, dieses giftige. Sie wissen schon.

Die Kellnerin servierte das Glas Bier, Schaumflöckchen landeten auf der Tischplatte. Der Mann war viel zu laut.

– Die Burschen waren zu dritt. Ich hab drum kämpfen müssen, die haben mich am Bein verletzt. Sie haben mir alles abgeknöpft, den letzten Cent. Ihre Drogen hab ich, ja, dafür ist mein Bargeld weg. Und meine Kreditkarten.

Für einen Moment kam es Schillinger vor, als weine der Mann, aber er weinte nicht. Das Mädchen steckte ihre Zigaretten ein, ließ das Glas mit einem Rest Prosecco stehen und verschwand ohne ein Wort.

– Nun setzen Sie sich doch, sagte der Mann.

Schillinger glitt auf den Hocker, der noch warm war vom Hintern des Mädchens. Neben dem Aschenbecher lagen drei lange, dünne Damenzigaretten, die sie hatte liegen lassen.

– Ich weiß einiges über Sie, sagte der Mann.

Er steckte sich eine dieser langen, dünnen parfümierten Zigaretten an.

– Sagen Sie einfach du zu mir, sagte Schillinger.

– Ich weiß, dass du Schriftsteller bist, Schillinger. Dass du in Feldkirch einen Literaturpreis entgegengenommen hast, Schillinger.

Der Mann wirkte heruntergekommener als in der Nacht im Zug.

– Bezahlst du ein Bier? fragte er.

Schillinger reagierte nicht.

– Wir müssen uns dieses giftige Zeug vom Hals schaffen, sagte der Mann. Und zwar so schnell wie möglich.

Schillinger antwortete nicht. Für eine Weile waren nur die Bargeräusche zu hören. Dann sagte der Mann:

– Auf diese Weise kommen wir zu Geld.

– Wo ist das Zeug?

– Im Hotel.

– In welchem Hotel?

Der Mann schob den Ärmel seines Cordsakkos zurück, der abgewetzt war und wie das ganze Sakko fast schmierig aussah.

– Hotel Wimberger, sagte er.

Er zog die Augenbrauen zusammen und warf einen Blick auf seine Rolex-Nachbildung.

Der Autobus fuhr jede halbe Stunde. Der Bus war voll besetzt; er saß neben dem Mann, zwar nicht am Fenster, trotzdem fühlte er sich wie eingesperrt. Nachdem sie stundenlang sitzen geblieben waren und große Gläser Bier getrunken hatten, hatte Schillinger die Rechnung in Wolfi‘s Bierwinkel bezahlt und in der Folge zwei Fahrscheine gelöst. Inzwischen war es Abend geworden. Der Mann hieß Kai Uwe Hagen. Schillinger fragte ihn, was ihm lieber sei, Kai oder Uwe genannt zu werden.

– Weder noch, sagte der Mann. Sag einfach Hagen zu mir.

Am Europaplatz stiegen sie aus, beide ein wenig betrunken. Sie querten die Straße, marschierten auf dem Neubaugürtel das Stück bis zum Hotel, traten in die Empfangshalle, die ruhig war und leer, bis auf den Portier in seiner Loge. Der Portier schob Kai Uwe Hagen ein Paket in der Größe eines Schuhkartons über die Theke, in braunes Packpapier gewickelt, verklebt mit braunem Klebeband. Eine Adresse in Sachsen-Anhalt, die mit rotem Kugelschreiber in schwankenden Großbuchstaben auf das Packpapier geschrieben war: KAI UWE HAGEN, HEGELSTRASSE 36, 39104 MAGDEBURG, GERMANY.

– Da drin ist alles, was ich hab retten können, Schillinger.

– Das ist ganz und gar unmöglich. Wo denken Sie hin? Ich hab erst heute früh meine Hausbank in Magdeburg erreicht.

Er war mit dem Portier in Streit geraten wegen der Zimmermiete, die vorab zu zahlen, Hagen nicht im Traum einfiel. Der Portier sagte kein Wort mehr, er wandte sich kopfschüttelnd ab, nahm einen Bleistift zur Hand, schrieb irgendetwas auf irgendwelche Papiere, legte dann den Bleistift beiseite, stieß und klopfte die Blätter auf Kante, legte sie ebenfalls beiseite und tat, als ob die beiden Gestalten vor ihm etwas nur Erdachtes wären, etwas, das mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmte.

– Aber ich bin doch Geschäftsmann. Ich hab vorgehabt, in diesem Haus zu bleiben.

Keifend wie ein Marktweib verschwand er um die Ecke und kam zurück mit seinem Trolley und der Reisetasche. Er hinkte, er zog das linke Bein nach; Schillinger klemmte sich das Paket unter den Arm, und als sie wieder auf der Straße waren, zwei fragwürdige Protagonisten, wusste keiner der beiden wohin.

Schillinger musterte gedankenverloren die Fassade des Hotels. Eigentlich hatte er alles, was er brauchte. Er wollte nur heim.

– Meine Bankkarte liegt zu Hause. Du wartest im Café Westend auf mich. Ich komme wieder.

– Gib mir einen Grund, warum ich dir glauben soll?

– Das ist deine Sache.

Kai Uwe Hagen blickte zu Boden.

– Dir bleibt gar nichts anderes übrig, mein lieber Hagen.

Schillinger streckte seinen Arm aus und wedelte mit der Hand; ein Taxi blinkte, verlangsamte und hielt am Bordstein an. Die rechte Hintertür sprang auf.

In der Wohnung zerschnitt er mit dem Kokainmesserchen das Klebeband und riss das Packpapier von der Schachtel, die tatsächlich ein Schuhkarton war. Schillinger war überdreht, hellwach und dachte daran, ob das gut sei für sein Herz. Seltsame Gedanken, während er insgeheim betete, nicht enttäuscht zu werden. Er hob den Deckel vom Karton.

Es hatte alles seinen Platz darin. Fein säuberlich. Der Beutel Heroin war nicht angerührt worden. Was fehlte, waren die grüne Chinohose und Wer war Edgar Allan?, das Buch von Peter Rosei.

Er verstaute seine Bankkarte, nahm eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und wählte die Nummer der Taxizentrale. Die Frau sagte:

– In drei Minuten.

Im Aufzugsspiegel betrachtete er seine Augen. Er hatte zuvor eine schmale Linie durch die Nase gezogen, die Pupillen, die ihm aus dem Spiegel entgegenblickten, waren auf Stecknadelgröße verengt. Er knackte die Dose Bier. Gleich würde er Kai Uwe Hagen im Café Westend treffen, das war es ihm wert. Das, was passiert war, grenzte an ein Wunder.

Als er ins Taxi stieg, hatte er das Bier zur Hälfte ausgetrunken. Der Fahrer, ein Schwarzafrikaner, drehte das Autoradio lauter. Der Mann trommelte mit den Handballen im Rhythmus des wummernden Basses auf das mit Leder umwickelte Lenkrad; Schillinger wippte mit dem Kopf, streckte beide Beine schräg in den Fußraum, schlug die Füße übereinander und blickte abwechselnd zur linken und zur rechten Seitenscheibe hinaus. Die Stadt zog vorüber, dämmerig und glitzernd; die flirrenden Lichter im Halbdunkel kamen ihm, obwohl es mitten im Sommer war, fast wie zur Weihnachtszeit vor. Dem Geldautomaten auf Höhe der Moeringgasse entnahm er das Maximum, sprang zurück in den Wagen, und der Fahrer bog, als die Ampel auf Grün wechselte, rechts ab; das Taxi glitt den Neubaugürtel entlang.

Direkt vor dem Café ließ er anhalten. Der Schwarze wünschte ihm einen schönen Abend; er bedankte sich, bezahlte, wünschte dem Mann dasselbe und stieg aus. Auf dem Bürgersteig hielt er inne, trank im Licht der Straßenlaternen die letzten Schlucke Bier, zerquetschte die Dose und stopfte sie in den Mülleimer unterm Verkehrsschild. Er strich sich durchs Haar und warf die Strähnen über die linke Schulter zurück; die rechte Hand führte er zum Kopf, eine Bewegung, als rücke er einen imaginären Hut zurecht, und schritt dann aufrecht durch die offene Tür ins Café.

Hagen hatte ein kleines Glas Bier vor sich stehen, auf einer Untertasse lagen eine Packung Ernte 23 und zwei oder drei Streichholzheftchen.

– Du hast einen Friseur bitter nötig, sagte er. Du musst dich rasieren lassen, die Zähne gehören repariert, du weißt schon. Und du brauchst ein Thema, ein Bestseller braucht ein Thema. Ich werde dir meine Lebensgeschichte erzählen, und du schreibst alles auf. Damit landen wir einen Nummer-eins-Hit auf der Spiegel-Bestsellerliste.

– Deine Lebensgeschichte?

– Mein abenteuerliches Leben. Damit kannst du zehn Bücher füllen. Ich werde dein Manager sein, dein Agent, der Mann fürs Grobe. Ein Aufnahmegerät werden wir uns besorgen. Hast du einen Fernseher?

– Einen Fernseher? Nein. Warum?

– Ja, das gibt’s doch nicht. Ja, was machst du denn zu Hause?

– Ich höre Radio.

– Radio?

Hagen studierte die Speisekarte, als sei sein Interesse erloschen.

– Mein Geld muss in den nächsten Tagen hier sein, murmelte er.

Schillinger schwieg.

Der Kellner servierte ein großes Gulasch und einen Korb mit drei Fabriksemmeln.

– Eins noch, da du keinen Fernseher hast ... ein billiges Hotel in der Nähe und drei, vier Nächte im Voraus. Du hilfst mir doch?

Schillinger schwieg. Er dachte an das Hotel Bauer. Das Bauer war ein Stundenhotel. Er sagte:

– Das Hotel Bauer. In der Graumanngasse.

Er würde ihn hinbringen. Er würde ihm ein Zimmer für eine Nacht bezahlen. Das, glaubte Schillinger, sei er ihm schuldig.

***

Mittwoch, zehn Uhr siebzehn. Er hatte vergessen, das Telefon auszuschalten, und verfluchte sich, weil es zu spät war und er den Anruf entgegengenommen hatte im Halbschlaf. Dementsprechend hörten sich seine Antworten an.

– Ach, leck mich doch am Arsch.

– Du musst gleich herkommen. Ich warte auf dich am Eingang zum Westbahnhof. Ich muss mich auf dich verlassen können.

– Was soll ich am Westbahnhof? Ach, leck mich doch am Arsch.

Trotz geschlossener Jalousie konnte er sehen, dass draußen die Sonne schien. Er sagte:

– Wir treffen uns vor dem Café Westend, hörst du? Im Garten des Westend.

– Ich hab doch kein Geld. Was mach ich, wenn du nicht hinkommst?

– Zechprellerei. Was denn sonst?

Hagen hustete ins Telefon, es war ein richtiger Asthmaanfall; hinterher keuchte er.

– Ich muss mich ... auf dich ... verlassen können.

– Wart‘s ab, Hagen, sagte Schillinger und trennte die Verbindung.

Allmählich lief die Sache aus dem Ruder. Er verzichtete auf ein Taxi, ging zu Fuß zur Bushaltestelle und stieg mit einem knappen Dutzend anderer in den Autobus. Zehn Minuten später betrat er die U-Bahn-Station, eilte die Treppe zum Bahnsteig hinunter, fuhr eine Haltestelle weit, Station Westbahnhof, und die Rolltreppe zog ihn nach oben. Er querte den Gürtel. Vor dem Café Westend hielt er Ausschau nach Hagen, den er am Rand des Gartens entdeckte, ein Glas Bier vor sich, ein Wiener Schnitzel und einen Teller mit Pommes frites.

– Bist du hungrig? Willst du was abhaben?

Hagen legte das Besteck aus der Hand.

– Du bist ja dünn wie ein Strich, abgemagert wie eine Fischgräte. Greif zu.

Aber Schillinger hatte keinen Hunger.

– Vor ein paar Jahren, sagte er, ist hier draußen Keith Richards beobachtet worden. Wie er doppelte Wodkas mit Fanta und viel Eis getrunken hat.

Er zückte die silberne Dose und den kleinen rot-blau umrahmten Handspiegel, um sich eine Linie zu legen.

– Bist du wahnsinnig? Das kannst du hier nicht tun.

– Du wirst schon sehen, was ich tun kann, Hagen.

– Warum willst du das Zeug nicht verkaufen, Menschenskind? Wir könnten eine Menge Kröten machen, du weißt schon. Am Praterstern, am Schwedenplatz ... Da lungern die Süchtigen haufenweise rum, ich brauch dir nichts zu erzählen.

– Nein. Du brauchst mir nichts zu erzählen.

– Na also. Wie du aussiehst, hast du kein Problem damit. Ich allein kann das nicht machen. Mir merkt man zu sehr den Geschäftsmann an, du weißt schon.

– Du hättest es längst versucht, wenn du die Hosen nicht voll hättest, Hagen.

– Was sagst du da? Vergiss nicht ... ich kann ganz schnell ganz schön böse werden.

Diesen Satz hatte er gestern Abend schon einmal gesagt, so oder so ähnlich, nachdem er aus dem Hotel Wimberger hinausgeflogen war.

– Ich hab mein Leben für deinen dämlichen Koffer riskiert. Für deine dämlichen Drogen hab ich meinen Kopf hingehalten ...

Er war richtig wütend geworden, war laut, verdammt weithin zu hören.

– ... und hab dabei alles verloren. Mein Geld, meine Kreditkarten ... Mein Bein ist verletzt.

Der Garten des Café Westend war voll besetzt. Schillinger hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Er steckte die Dose und den Handspiegel in die Jackentasche zurück; dann bewegte er sich nicht mehr, er saß da, als sei er eingefroren. Mit zusammengepressten Lippen sah er Hagen an ... wie der Deutsche den Teller mit dem übrig gebliebenen Fetzen Wiener Schnitzel von sich stieß, das Besteck landete klirrend neben dem Tisch.

Als er sich erhob, stürzte sein Stuhl nicht um. Schillinger hätte damit gerechnet. Das Bild eines Mannes während eines überstürzten Aufbruchs, der Mann ist übellaunig, erbost; er schleppte die Reisetasche und zog seinen Trolley hinter sich her. Schillinger bemerkte die Packung Zigaretten, die halb voll war, die er auf dem Tisch hatte liegen lassen; auch sein Bierglas war noch zu einem Drittel voll. Und er sah, dass der Mann die grüne Chinohose aus seinem kleinen Lederkoffer trug.

Er fühlte sich nicht gut, während er Hagen hinterherblickte. Der Deutsche hatte Mühe mit seinem Gepäck; er humpelte zehn Meter weit, bevor er stehen blieb und sich noch einmal umdrehte. Er schrie jetzt wie ein zorniger Buchhalter:

– Ich werde dich bei der Polizei anzeigen, bei der Drogenpolizei! Drauf gebe ich dir Brief und Siegel.

Der Garten verstummte, aber das konnte nicht sein. Schillinger reagierte nicht. Nur dass sich seine Starre allmählich löste und er sich zurückfallen ließ auf die Lehne des Gartenstuhls, an dessen Rand er saß, den Blick in den blauen Himmel über den Dächern der Häuserzeile gerichtet, den Himmel aber gar nicht wahrnahm.

August 2006

Die Flasche Châteauneuf-du-Pape war leer, das Glas, das ich hinauf zum sternenklaren Himmel hob, bis auf den letzten Tropfen ausgetrunken, die Zigarre brannte nicht mehr. Ich konnte das fehlende Stück Finger spüren. Es waren keine Schmerzen, es war ein Gefühl, als sei der Finger noch da, wo er hingehörte, als stecke ein winziger Kiesel unter meinem Fingernagel, den es nicht mehr gab. In der Regel war das dann der Fall, wenn es kühler wurde. Aber heute Nacht war eine laue Sommernacht. Ich entzündete einen Zedernholzsplitter an einem der Windlichter und drehte die Zigarre über der Flamme.

Was den Finger betraf, war es mir in etwa so ergangen wie Matthew Pritchard in jener Szene aus Dirty Sanchez, wo er sich die Spitze seines kleinen Fingers amputiert. Bloß dass ich nicht selbst dafür verantwortlich und es ein Stück meines rechten Zeigefingers war. Eigentlich wollte ich nicht darüber nachdenken, darüber war kein Gras gewachsen. Nur so viel: Passiert war die Sache im Winter vor zweieinhalb Jahren. Ein Winter mit viel Schnee. Sie waren zu zweit. Einer der beiden, ein untersetzter, bulliger Mann, zauberte diesen goldenen Zigarrenabschneider aus der Innentasche seiner Lederjacke hervor.

– Esto aquí, sagte er, es la guillotina.

Während der andere mich festhielt, zwackte der Mann mit der Zigarrenschere zwei Glieder meines rechten Zeigefingers ab. Mein Wagen, ein schwarzer Mercedes-Benz der S-Klasse ... die Fahrertür war mit einem Fingerabdruckscanner gesichert. Mitsamt meinem Finger kam mir mein Wagen abhanden. Der Mercedes tauchte wieder auf, das Stück Finger nicht. Hätte ich das Teil im Schnee gefunden ... ich hätte die Mundhöhle mit Whisky gespült, hätte das Teil in den Mund gesteckt und wäre damit ins Krankenhaus gefahren. Zitternd wie Espenlaub auf der Rückbank eines Taxis. Vielleicht hätten sie es geschafft und die zwei Fingerglieder einfach wieder an den Stumpf genäht, replantiert, nur um sie elf Tage später erneut abzunehmen, weil es zu einer Blutstauung gekommen wäre, weil es der Finger nicht geschafft hätte; trotz acht Tage langer Blutegeltherapie, trotz Infusionen wäre der Finger am neunten Tag dunkel geworden, am zehnten wäre er schwarz gewesen. Alles im Sand verlaufen ... Einen Silikonfinger lehnte ich ab, eine Schmuckprothese samt Acrylfingernagel. Stattdessen bat ich Loki, für mich und meinen Stumpf Fingerhütchen aus Wolle zu stricken. Ich trug diese niedlichen Fingerhütchen in allen möglichen Farben. Ich finde meine Hände auch heute noch hübsch; Hände mit den Fingern eines Pianisten.

Und ja. Das Henry war wieder dort gelandet, wo es hingehörte.

– Das gibt‘s doch nicht. Das ist ja unglaublich, Boss.

So ähnlich hatte Kopetzky während unseres gemeinsamen Abendessens reagiert, nachdem ich meine Geschichte zu Ende erzählt hatte. Wir waren dann, während der Oberkellner die Nachspeise serviert hatte, auf das große Glück im Leben und den Zufall zu sprechen gekommen, mein alter Chauffeur und ich, sogar von Schutzengeln war die Rede gewesen. Wer hätte dem nicht zugestimmt?

Dennoch.

August 2002

Er nimmt den Mann ernst, fährt nach Hause und versteckt das Heroin im Toilettenspülkasten. Die Wohnung ist nicht groß. Sie werden es ohnehin finden, wenn sie danach suchen, das weiß er. Es ist eine dieser Placebo-Aktionen, die sein Gewissen beruhigen. Im Grunde glaubt er nicht daran, dass Kai Uwe Hagen Kontakt mit der Drogenfahndung aufnehmen wird. Dieser Mann hat eine Leiche im Keller. Und er lügt. Jeder Satz, jedes Wort eine Lüge.

Drei Tage später, am Telefon.

– Hallo, Schillinger.

– Hallo, Hagen.

Nach einer Weile, während der er wartet und schweigt, beginnt Hagen zu weinen.

– Mein Geld ist nicht da, schluchzt er. Sie wollen mich festhalten. Sie lassen mich aus dem Hotel Bauer nicht mehr raus.

Schillinger sieht auf die Uhr an der Wand. Dort ist es sechzehn Uhr. Die Zeiger hinken vier Minuten hinterher. Es ist also sechzehn Uhr vier und wird sechzehn Uhr fünf. Er antwortet nicht, sagt kein einziges Wort. Kai Uwe Hagen hört nicht zu weinen auf.

August 2006

Vereinbart hatten wir um Mitternacht. Bis dahin war eine knappe Stunde Zeit. Dass die beiden pünktlich sein würden, das war keine Frage. Auf dem Küchentisch lag die Tageszeitung. Hier waren auch eine zweite Flasche Wein und der Korkenzieher. Ich öffnete die Flasche, griff nach der Zeitung und ging zurück auf die Terrasse hinaus.

Die Kerzen in den bauchigen Windlichtern warfen ihr spärliches Licht auf eine Balkenüberschrift im Panoramateil, zerstückelt, aber fett genug, um sie mühelos lesen zu können im Schein der Wachslichter.

WIENER MORDFALL GEKLÄRT!NEBENBUHLERIN IN DONAU ERTRÄNKT –LEICHE TRIEB BIS BRATISLAVA

Und es war diese Schlagzeile, die eine Geschichte heraufbeschwörte, eine dieser abgründigen und scheußlichen Geschichten, die mir ein gottverfluchter Lumpenfisch am Weihnachtsabend zweitausenddrei unter vier Augen anvertraut hatte. Und ebenjene Geständnisse waren wie Zecken, die sich eingenistet und in meiner Gehirnhaut festgesetzt hatten und immer noch Blut saugten. Mich fröstelte. Ich nahm die Zigarre vom Rand des Aschenbechers; Daumen, halber Zeigefinger, der Mittelfinger, an dem ein klobiger Edelstahlring steckte. Die Zigarre brannte nicht mehr.

Mai 1983

Er sah sie an der Ecke Schopenhauerstraße und Mitterberggasse; zwei Häuserblocks weiter unten war das Café Aurelia, dessen Vorderfront wirkte, als sei sie aus Metall. Es war Frühling, Anfang Mai, die Sonnenstrahlen spiegelten sich in der metallischen Fassade. Sein Name war Töffels. Er war auf dem Weg zum Gemischtwarenladen gegenüber der Straßenbahnhaltestelle und nicht darauf gefasst, dass die beiden plötzlich vor ihm auftauchten. Sie standen auf dem Bürgersteig vor der offenen Tür zum alten Gasthaus. Der Wirt, eine speckige Schürze umgebunden, lehnte am Türpfosten, hinter seinem Rücken lief viel zu laut ein Fernseher in der kleinen, einsamen Schankstube. Er trat rasch in den Schatten des Ladeneingangs, um nicht bemerkt zu werden. Dort gab es eine Schiefertafel an der Hausmauer, auf der mit Kreide geschrieben stand, dass Spargelzeit sei.

Aber sie registrierten ihn ohnehin nicht, sie waren in ein Gespräch vertieft. Man hatte Töffels erzählt, sie hätten bereits herumgeknutscht vor zwei Jahren, als er für ein paar Tage nach Deutschland gereist war. Man hatte sich über ihn lustig gemacht deswegen. Als er dann zurück war aus Hamburg-Wandsbek und Annika ihn am Westbahnhof abholte, war das Lachen auf ihrem Gesicht, die Wiedersehensfreude, wenn er heute daran dachte, wie mit Wachsfarbe aufgemalt gewesen.

Der Rumäne war älter als er und wohlhabend. Er fuhr eine 1000er Kawasaki und ein rosarotes Fiat-Cabrio. Doch er war nicht stärker; er war ein Schwächling und halb verkrüppelt. Gerade eben, als er aus den Augenwinkeln sehen konnte, wie die beiden die Schopenhauerstraße querten und in Richtung Staudgasse gingen, bemerkte er wieder, dass der Kerl hinkte. Schlaksig und abgemagert, ein verbogener Oberkörper mit hängenden Schultern, das rechte Schulterblatt stach wie ein spitzer Höcker weit hervor, wie der Schatten eines eingeknickten, krummen Drahts wirkte die ganze Gestalt.

Was sie nur an ihm fand? Und wie verflucht gut sie aussah; gut und glücklich. Wie ein leichtherziger Teenager, der in hellen Flammen steht.

Er betrat den Laden, um Bier, Brot, Bananen und Kekse zu besorgen. Hol ihn der Teufel, dachte Töffels. Er hätte ihn gern geschlagen, besser noch, schlagen, verprügeln, richtig durchprügeln lassen. Warum, dachte er, als er an der Kasse bezahlte, warum soll‘s grade dieser halbe Mensch sein, der ihren Traum vom Glück verwirklicht, woran ich kläglich gescheitert bin? Diese rumänische Kanaille würde seine Tochter oder seinen Sohn zeugen.

Zu Hause fing er zu trinken an; das Trinken tat gut. Eine Flasche Bier in der Hand, stand er im kleinen Badezimmer und betrachtete sein Spiegelbild. Daran hatte sich nichts verändert. Das Gesicht mit den himmelblauen Augen ... hässlich, aber wirkungsvoll. Er stellte die Flasche an den Rand des Waschbeckens, nahm die Haarbürste zur Hand und kämmte sein dunkelbraunes Haar zurück; danach rieb er Gel hinein. Ihn zu beschämen, ihn lächerlich zu machen, das war dem Dreckskerl gelungen. Vor ihr, vor den Bekannten im Viertel, den Gästen im Café Aurelia, nicht zuletzt vor ihm selbst. Er trank den ganzen Nachmittag lang, bis in den frühen Abend. Als es dann dämmerte, machte er den Herd an und wärmte eine Dose Bohnensuppe. Sein Magen fühlte sich an wie ein aufgeblasener deformierter Luftballon.

Er nahm die Suppe vom Herd und setzte sich damit an den wackeligen Küchentisch. Die schmale Küche drehte sich im Kreis. Für eine Weile sah er zu, dann stolperte er ins Badezimmer, um einen Eimer zu besorgen. Er stellte den Eimer auf den Küchenboden und stierte, einen Löffel in der Hand, in den dampfenden Topf Bohnensuppe. Ein Aufstoßen, eine rasche Bewegung zum Eimer hin. Als wolle etwas Diffuses durch seine Speiseröhre nach oben krabbeln. Er erbrach sich. Ein Schwall, ein zweiter Schwall, ein letzter halber Schwall, dann kam nichts mehr hoch. Das Würgen blieb, der Magen krampfte sich zusammen, kalter Schweiß tropfte von seiner Stirn. Er keuchte und ließ den Suppenlöffel fallen. Mit in die Handflächen gegrabenen Fingernägeln, beide Fäuste gegen den Unterleib gepresst, kauerte er über dem Eimer. Jemand trieb Stricknadeln durch seine Magenwand.

***

Ich hasse diesen Krüppel abgrundtief. Ich hege seit einigen Tagen und Nächten Mordgedanken, ich wünsche mir, ihn auszulöschen, und zwar sehr langsam und gründlich. Diese Gedanken sind konkret, Szenen wie aus einem Film. Ich genieße es, wie sein Blut sich verteilt, ich nehme jenes bestimmte Messer immer wieder zur Hand, weiß auch schon, welchen Weg ich einschlagen werde.

Als kleiner Junge von fünfeinhalb Jahren, während sein Vater und seine Mutter mit der eben zur Welt gekommenen Franziska im Arm glückselig lächelnd wie betrogene Engel die Treppe vom Krankenhauseingang herabstiegen, kauerte er auf der Rückbank des Opel Kadett seines Vaters, lutschte an seinem Daumen und verwünschte das neugeborene Schwesterchen.

Ich will, dass sie weggeht.

Anderthalb Jahre später war es so weit. Franziska starb an einer Lungenentzündung, sein Vater erhängte sich an der Türklinke, seine Mutter wurde in die Nervenheilstätte im Oberland gebracht. Und er, sieben Jahre alt, quälte die Tiere auf dem Bauernhof seiner Großeltern; es sollte keine Katze überleben, nachdem er sie zwischen die Finger bekam. In der Schule war es ähnlich; der Gewalt konnte ein Junge nicht immer ausweichen, man konnte nicht über alles reden. Mit sechzehn wollte er von Beruf Scharfrichter werden. Wenn ich groß bin, dachte er, werde ich nach Amerika auswandern. Jemanden töten ... damit würde er seinen Lebensunterhalt verdienen.

Er brauchte nicht einmal einen besonderen Grund zum Töten. Hass musste er keinen aufbauen, der Hass stand bereits wie eine drei Meter dicke Mauer. Was er nicht hatte, war eine gewisse gesellschaftlich anerkannte Rechtfertigung. Selbstjustiz ist bekanntlich verboten, und er ist nicht nach Amerika gegangen, Henker ist keiner geworden aus ihm.

Aber dieses Gemisch aus starken Gefühlen ... kalter Hass und große Lust am Töten ... hatte sich in den letzten Tagen und Nächten in ihm festgefressen. Er ritzte sich selbst mit seinem Messer, Blut war nichts Außergewöhnliches, aber er hatte in seinem Leben noch keinen Menschen getötet. Töffels wusste nicht, wie sich das anfühlte, wie er sich nachher fühlen würde. Da war eine Stärke, die er nicht kannte. Herr über Leben und Tod zu sein, eine unglaubliche Macht, die einem Mörder einfach so zuwuchs.

***

Das rosarote Fiat-Cabrio parkte schräg oberhalb des Tabakladens. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er daran vorbeigegangen war; seit gut zwei Stunden schlenderte er auf und ab, überwachte die Zugänge zum Innenhof mit den Treppenaufgängen. Er hatte jede Menge Zeit und sich vorgenommen, einfach nur abzuwarten. Er wusste, dass er ihm heute Nacht noch gegenüberstehen würde, hätte aber nicht sagen können, weswegen er sich so sicher war. Vielleicht betete er darum.

Es war längst finster, als der Rumäne gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig durch das Gittertor kam. Ein schwacher fischfarbener Mond wie ein schräges Schriftzeichen, eine runde Klammer am Himmel, morgen oder übermorgen würde er ganz verschwunden sein. Hier an der Peripherie war weit und breit kein Mensch zu sehen; hätte ihn jemand beobachtet, hätte er oder sie sich wahrscheinlich gefragt, weswegen da ein Mann unablässig die Gasse hinauf- und hinabspazierte, ein bulliger Mann in einer Lederjacke, verwaschenen Bluejeans und Cowboystiefeln.

Er beobachtete den Rumänen, wie er die Wagentür entriegelte und das Verdeck nach hinten faltete. Er war auf Höhe des Zigarettenautomaten stehen geblieben und stieß sich nun mit der Schulter von der Hausmauer ab und steuerte den Wagen an; dabei räusperte er sich und spuckte einen Batzen Schleim in den Rinnstein. Der Rumäne schien wenig überrascht zu sein, als er ihm auf den Rücken klopfte.

– Hola, guapo. Ich fahr ein Stück mit dir mit. Bis zum Gürtel runter.

Eher war es, als habe er mit ihm gerechnet.

– Das kannst du unmöglich, sagte der Rumäne. Bin sowieso spät dran.

Er machte Anstalten, sich hinter das Lenkrad zu setzen, aber Töffels umklammerte seinen Oberarm und hielt ihn fest.

– Langsam, langsam. Hör mir erst mal zu.

– Lass mich los. Ich hab‘s eilig.

– Du wirst mir erst mal zuhören.

Der Rumäne riss seinen Arm los und drehte sich um. Dann suchte er nach Zigaretten, fand welche in der Gesäßtasche, nestelte ein Stück aus einer angebrochenen Packung, schob die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an.

– Schieß los, sagte er, während sich der blaugraue Rauch aus seinem Mund aufblähte und im Lichtkegel einer Straßenlaterne zerfranste.

Töffels griff in seine Lederjacke und zog das Butterflymesser hervor, öffnete den Sicherungsstift und schwang die Klinge heraus.

– Einsteigen, sagte er.

Die Faust umschloss den skelettierten Titangriff, sein Arm hing herunter, die Messerklinge war die stählerne Verlängerung seines Arms. Man hörte einen Fernseher aus einem offenen Fenster und jemanden, der hustete. Eine Frau kreischte:

– Aber nicht doch, du Trampel.

– Einsteigen, wiederholte Töffels.

Es war ein Befehl, nicht laut, ganz ruhig gesprochen. Der Rumäne gehorchte.

– Und was ist, wenn ich nicht zum Gürtel fahre?

Töffels ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und glitt elegant auf den Sitz.

– Das wird nicht der Fall sein, sagte er. Du wirst sogar ein Stück weiter fahren. Na los. Die Währinger Straße runter.

Als er in die Währinger Straße abbog, gab es dort nur noch wenig Verkehr. Der Rumäne überholte eine Straßenbahn; er sprach kein Wort mehr. Auf Höhe der Semperstraße erst sagte er:

– Wo genau musst du raus?

– Du wirst uns zur Alten Donau bringen.

– Zur Alten Donau?

– Wir werden einen kleinen Ausflug machen. Einen Ausflug an die Alte Donau.

Die Hand mit dem Messer lag auf Töffels‘ rechtem Oberschenkel; eine Fruchtfliege setzte sich auf die Messerspitze und blieb dort sitzen.

– Hör zu, sagte der Rumäne. Was willst du von mir? Ich hab Annika zu nichts gezwungen.

– Red nicht. Fahr.

Sie waren am Gürtel. Er fuhr nach Norden; ohne Widerrede. Er hatte von Döbling gesprochen und von einem späten Termin; noch fuhren sie in seine Richtung. Irgendwann sagte er:

– Hör zu. Dieser Termin in Döbling ist sehr wichtig für mich. Du kannst einfach hier sitzen bleiben. Und nachher chauffiere ich dich überallhin. Wo immer du hinwillst.

– Sei still. Du wirst jetzt rüberfahren. Übers Wasser. Du wirst die Adalbert-Stifter-Straße nehmen, die Floridsdorfer Brücke.

Der Rumäne fing zu lachen an und beschleunigte.

– Wenn das ein Witz sein soll, dann lach ich mal.

– Lach ruhig, sagte Töffels. Besser für uns beide, wenn wir das Lachen nicht verlernen. Das Leben ist nicht lang genug. Vielleicht sollten wir uns was zu trinken besorgen, was meinst du? Was hältst du vom Wasserpark? Wir besorgen uns was zu trinken, und du bringst uns zum Wasserpark.

Der Rumäne steuerte sein Cabrio über den Friedrich-Engels-Platz, kreuzte den Handelskai und querte die Donau und die Donauinsel über die Floridsdorfer Brücke. Töffels hatte ihn an einem Ausschank unter den Stadtbahnbogen anhalten lassen, hatte den Zündschlüssel verlangt, war aus dem Wagen gesprungen und hatte zwei Flaschen Bier gekauft. Eigentlich wunderte er sich über die geringe Gegenwehr, die der Rumäne an den Tag legte, als er bald darauf seinen Wagen parkte.

Ein von Laternen gesäumter Weg. Der Park, der zu einem Drittel aus Wasser bestand, das Licht der Laternen spiegelte sich darin; sumpfige Teiche voller Wasserpflanzen, Kröten und Frösche, die einen Lärm machten. Er dachte daran, dass er tagsüber niemals hier gewesen war. Es hieß, Biber, Möwen, Enten lebten im Wasserpark. Sie mussten sich vom Weg entfernen, irgendwohin, wo es finster war.

– Was sagst du, wenn ich zu dir sage, dass du sie nicht wiedersehen wirst?

Sie gelangten ins Unterholz.

– Wenn ich zu dir sage, dass sie dich bald vergessen haben wird?

Der Rumäne blieb stehen und blickte ihn an. Traurig wie ein krankes Tier. Dann ging er weiter, und Töffels konnte sehen, wie der Kerl sich schwertat, baumlang und krumm und elend, wie er hinkte; er konnte einem leidtun. Er sollte nicht vergessen, dass er ihm wehtun wollte.

– Warum hinkst du eigentlich ständig? fragte er ihn.

– Weil ich behindert bin, gehbehindert. Seit meinem Unfall. Außerdem hab ich eine angeborene Skoliose.

Er blieb wieder stehen.

– Überleg mal, sagte er. Was kannst du ihr groß bieten? Du hast noch nicht mal eine Arbeitsstelle. Du siehst dich gar nicht erst danach um.

Das saß. Obwohl ihn das einen Dreck anging, hatte er damit einen wunden Punkt getroffen. Töffels bildete sich ein, eine Blindschleiche zu erkennen, die sich unter einem Stein verkroch. Schliefen Blindschleichen nicht, wenn es Nacht war? Am Ufer gab es große und kantige Steine.

– Was fällt dir ein, du Sau?

Schnell und ohne Vorwarnung stach er zu. Der Rumäne stieß einen schneidenden Schrei aus.

– Sei ruhig, verdammt.

Er hatte ihn am linken Unterarm erwischt.

– Was ich mach ... das hat dich nicht zu interessieren, du Drecksau.

Mit der Faust verpasste er ihm rasch nacheinander ein paar Schläge gegen die Schläfe, bis er zu Boden ging und hysterisch um Hilfe zu rufen begann.

– Halt dein Maul, du Scheißdrecksau.

Töffels ließ das Messer fallen, kniete sich über ihn und versuchte, dem Kerl den Mund zu schließen; aber es gelang ihm nicht, ihn festzuhalten, deshalb legte er beide Hände um seinen Hals und schnürte ihm die Kehle zu.

Der Rumäne stieß ihn weg. Er landete im Gebüsch, völlig entgeistert, welche Kräfte dieser Mensch in Todesangst mobilisiert hatte, und wie er sich jetzt aufrappelte, die Beine in die Hand nahm und losrannte, so gut es eben ging; Töffels fand das Messer und handelte geistesgegenwärtig, er holte aus, zielte, warf. Eine Bewegung. Die Messerspitze drang unterhalb seines hervorstechenden rechten Schulterblatts ins Fleisch. Es war wie in einem Wildwestfilm; der Rumäne erstarrte, stand noch ein paar heftige Atemzüge lang aufrecht, dann strauchelte er und sackte in die Knie. Nervös blickte Töffels sich um und dachte, dass es schwerer sei, als er es sich vorgestellt hatte, und was denn passieren würde, wenn im Augenblick jemand vorbeikäme und Alarm schlüge.

Er schleppte einen der Steine vom Ufer heran und ließ ihn auf seinen Kopf fallen. Der Stein war kantig, groß und schwer. Er glaubte, etwas brechen zu hören; doch der Rumäne begann nur zu brüllen wie ein Irrenhausinsasse, dann schnappte er nach Luft. Er war neben ihm, packte ihn unter den Armen und schleifte ihn zum Wasser. Nun war der Boden blutgetränkt.

Ist doch lediglich ein Kätzchen. Und ein Kätzchen zu ersäufen, kann nichts Schlimmes sein. Man sollte dabei nicht weinen.

Er zerrte den Oberkörper ins Wasser, wo burgunderschwarzes Blut aufwölkte, mit Knie und Schienbein drückte er den Kopf nach unten. Das dauerte eine Weile. Und während dieser Zeit redete Töffels wirres Zeug. Er hätte nicht gedacht, dass jemand so lange die Luft anhalten könnte. Als der Rumäne sich nicht mehr rührte, erweckte er im Wasser den Eindruck eines zerstörten Gegenstands. Er war für ihn auch nichts anderes als ein Gegenstand, der zerbrochen war.

Während er dorthin zurückging, woher sie gekommen waren, strich er gedankenverloren mit zwei Fingern über die Buchstaben, die in das Fleisch seines rechten Handrückens eingebrannt waren. Ein A, zwei N, ein I, ein K und noch einmal ein A. Unter einer Laterne hielt er an, lehnte sich gegen den Pfahl und betrachtete ihren Namen. Etwa zur gleichen Zeit tauchten die Betrunkenen auf; sie bogen um die Ecke. Drei ausländische Burschen, die große Weinflaschen bei sich hatten.

Er trat nach hinten, in die Sicherheit des Schattens. Doch sie hatten ihn längst bemerkt und kamen näher. Was ihm dann die Sprache verschlug, war die Frage, die der größte unter ihnen, anscheinend der Anführer, an ihn richtete.

– He du. Wo hast du den Buckligen gelassen?

Er selbst war nicht betrunken. Sie hatten im Wasserpark jeder eine Flasche Bier geleert. Das war vor anderthalb Stunden gewesen. Sie hatten auf einer Bank gesessen, die Nacht auf der Haut. Die Luft war eine andere in der Nähe des Wassers, aber er hatte richtig gehört.

– Wo ist der Bucklige? Ich kenne seinen Wagen. Draußen parkt sein rosaroter Wagen.

Er hatte nicht damit gerechnet, sonst hätte er den Arm abgewehrt, denn der Bursche packte ihn am Kragen. Dunkle, getrübte Augen, die Lederhaut entzündet, die Pupillen schwammen in diesen funzeligen Augen, er roch nach kalter Asche, nach Alkohol und altem Käse aus dem Mund. Seine Spießgesellen links und rechts waren wie Wachposten an der Grenze oder Gefängniswärter, die ihm den Weg verstellten, mitsamt ihren Zweiliterflaschen mit billigem Wein.

– Was redest du da? Von wem redest du?

– Sein Wagen steht draußen, ich kenne seinen Wagen. Und du bist der Furzkopf, der Annika gevögelt hat.

Besäße er nur einen Funken Ehrgefühl, ein wenig Achtung vor sich selbst, dann schlüge er dem Burschen auf der Stelle die Rübe ab, ganz gleich wie die Chancen auch standen.

Der Bursche scheuerte ihm eine.

– Wo ist der Bucklige geblieben?

Erst jetzt registrierte er, dass dem Burschen einer der oberen Schneidezähne fehlte; neben der Nase wucherten einige wenige Barthaare aus einer Warze.

– Ich weiß nicht, wen du meinst, sagte Töffels.

Der Bursche schmierte ihm noch ein paar; links und rechts und links und rechts.

– Wo ist der Bucklige?

– Woher soll ich das wissen?

– Du hast Blut an den Händen, mein Freund.

Das sagte einer seiner Handlanger, dem Aussehen nach der jüngste, mit schmutzigem karottenfarbenem Haar und verschorften Stellen im Gesicht. Töffels starrte seine Hände an. Der Kerl hatte recht. Dunkles Blut im Laternenlicht, fast schwarzes Blut klebte an seinen Fingern. Daran hatte er nicht gedacht, er hatte an manche Dinge überhaupt nicht gedacht. Weil er genügend andere Dinge im Kopf hatte und weil es ihn nicht im Geringsten interessierte. Das Blut an seinen Händen war ihm egal.

– Das ist kein Blut, sagte er. Das ist dunkelrote Farbe.

– Ein Maler also. Ein Künstler, der nachts im Wasserpark blutrote Bilder malt.

Der kleinste der drei Burschen zerschlug seine Zweiliterflasche mit einem Rest Rotwein am Laternenpfahl. Das, was übrig blieb, eine zweizackige Scherbe, hielt er in der Hand.

Wenn es hell war, würde man ihn ohnehin finden. Er hatte ihn nicht versteckt, er hatte ihn im Wasser liegen lassen. Einen Stoß versetzt, doch dort gab es keine Strömung. Das Messer hatte sich aus seinem Rücken gelöst, während er ihn ans Ufer gezerrt hatte, als der Rumäne noch am Leben gewesen war. Das Messer würden sie nicht finden. Er hatte es in die Innentasche seiner Lederjacke geschoben.

August 2006

Als sie kam, war sie allein und lachte. Ich hörte den Wagen den Hügel herauffahren, das Schlagen der Wagentür und wie sie hinters Haus kam, ihre Schritte auf den Waschbetonplatten, und als sie dann vor mir stand, so ganz allein, blickte ich sekundenlang zur Hausecke im Halbdunkel, weil ich noch jemanden erwartete.

– Du bist allein? Wo ist Sigmar?

– Da kommt keiner mehr, sagte sie und lachte.

– Warum ist er nicht mitgekommen?

– Das erzähl ich dir ein andermal. Ich hab zwei Flaschen Blaufränkisch mitgebracht.

Sie stellte den Wein auf den Korbtisch. Weiter unten begann die Glocke der alten Pfarrkirche Mitternacht zu schlagen.

– Du bist pünktlich, sagte ich.

Loki war meine Halbschwester.

– Was hast du gedacht? sagte sie.

– Nichts Besonderes. Dass ihr zu zweit sein werdet.

– Du solltest nicht so viel grübeln. Man sieht‘s dir am Gesicht an, man sieht‘s auch an den Falten auf deiner Stirn.

– Ich grüble nicht, ich denke nach.

– Du solltest wieder schreiben, Leon.

– Das mach ich doch. Ich mach‘s in Gedanken. Eben noch bin ich ein Mörder gewesen, ein Mann mit Blut an den Händen. Aber es ist nicht leicht, ein Psychopath zu sein, nicht mal in Gedanken.

– Wenn du all diese Sachen nicht aufschreibst, die dir heute durch den Kopf schwirren, dann geht das alles verloren.

– Glaub mir, Loki, nur der Teufel weiß, wie gern ich das möchte. Warum setzt du dich nicht?

Ich betrachtete sie. Das blonde Haar strömte wie ein mächtiger gelber Fluss weit über den Rücken herab, kleine straffe Brüste unter einer schwarzen Seidenbluse, ihren prallen Hintern und die breiten Hüften hatte sie in rote Röhrenhosen gezwängt. Sie war Mitte vierzig und trug kanariengelbe Leinenturnschuhe.

– Es gibt Sachen, sagte ich, als sie einen Gartenstuhl heranzog und sich setzte, Sachen, die bleiben ein Leben lang wie Schmarotzer in deinem Schädel. Die kannst du gar nicht vergessen.

Sie hatte aufgehört zu sprechen. Weit draußen in der Nacht fuhr ein Güterzug vorüber.

Ich kramte ein blassgelbes gestricktes Fingerhütchen aus dem Jutebeutel und schnürte es mit nur einer Hand um meinen Stumpf. Dann nahm ich den Korkenzieher vom Küchentisch, aus dem Schrank ein zweites Glas und ging damit zurück nach draußen.

Loki sagte:

– Hast du niemals dran gedacht, irgendwo anders hinzufahren, einfach mal weg von hier?

– Wegfahren? Nein. Wohin denn? Nach Wien? In meine Wohnung in Ottakring?

Die halb heruntergebrannte Zigarre lag am Rand des Aschenbechers; ich griff danach und zündete sie an.

– Nicht nach Wien, sagte sie. Irgendwo anders hin. In ein anderes Land. Und wenn‘s nur nach Deutschland wäre.

– Ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen. In letzter Zeit ganz sicher nicht.

– Na, du hättest jede Menge Zeit dazu. Hier gibt‘s nichts zu versäumen.

– Das stimmt wohl. Damit könntest du recht haben.

Eine glasklare Nacht. Völlige Windstille. Wir sahen uns den Sternenhimmel an. Der Drache, der sich um den Kleinen Bären legt. Ich gab mir Mühe, mit den Lippen Objekte aus Rauch zu formen, kleine Skulpturen aus fast weißen, cremigen Schlieren von Rauch, die sich verformten, verwandelten und im Dunkeln langsam zergingen.

Sie nahm einen Schluck Wein, behielt ihn im Mund, als schmelze ein Stückchen Schokolade auf ihrer Zunge, schluckte dann und stellte das Glas zurück, zog ein Päckchen Tabak und Zigarettenpapier aus der Brusttasche ihrer seidenen Bluse hervor und drehte sich eine Zigarette. Sie besaß ein Zippo-Feuerzeug, ein Geschenk von Sigmar; ein silberhelles Klicken, sie hielt die Zigarette in die Flamme, inhalierte, und ihre Stimme klang dunkler, rauer, während sie sprach und zugleich Rauch ausstieß.

– Fühlst du dich eigentlich niemals einsam?

Auf dem Korbtisch lag die Tageszeitung. Ich schlug die Seite um, sodass statt dem Panoramateil mit der hässlichen Schlagzeile die Seiten mit dem Fernsehprogramm aufgeblättert waren.

– Warum antwortest du nicht?

– Was willst du wissen? Ob ich mich allein fühle? Eigentlich nicht.