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In der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts haben Einzelschicksale an Bedeutung verloren und im wiedererstarkten britischen Empire verschwinden Menschen und Nachrichten. Noch nie ist Ally verreist, ohne dass ihr Bruder davon wusste. So begibt sich Matt auf eine Suche, die ihm Undenkbares über ihn selbst und die Welt offenbart. An der Seite von neu gefundenen Freunden gerät er in einen Strudel aus Gewalt und Verrat, der die Weichen für eine unvorstellbare Zukunft stellen wird.
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Seitenzahl: 428
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Mark Beck
Eine utopische Dystopie
'Ohne Wasser kein Leben', flatterte das Omen auf handgemalten Fahnen über ihren Köpfen; was eine Forderung sein sollte, wirkte vor der Wand aufgebotener Gewalt wie eine dünne Klage. Die Klagenden selbst wirkten so schwächlich und schmutzig wie die Ansammlung ihrer schiefen, traurigen Baracken. Ein kalter, schneidender Wind prüfte seit Stunden die Standfestigkeit der überwiegend nur notdürftig gekleideten Leute, die der übrigen Gesellschaft egal geworden waren. Mit trotzigen Gesichtern hielten einige unerschütterlich ihre Transparente hoch. In die wütenden Beschimpfungen ihrer Nachbarn, die ihre Beteiligung an der Demonstration aus Furcht verweigert hatten, mischte sich wachsende Verzweiflung.
Ein zweiter, innerer Wall aus mehreren hundert Schwerbewaffneten hatte alle dreitausend Bewohner der Layton-Siedlung zusammengetrieben wie eine Herde verängstigter Tiere. Nun brach kalter Regen in dichten Wogen über die Ghettobewohner herein und spülte den Boden bald in schlammigen Strömen über ihre Füße. „Da habt ihr euer Wasser!“, johlten hämisch grinsende Gesichter aus trockenen Unterständen herüber. Einige ältere Leute konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten und brachen erschöpft im Morast zusammen. Andere mühten sich nach Kräften sie zu stützen. Panik breitete sich aus, untermalt vom amüsierten Gelächter der umstehenden schwarzen Menge, die sich mit heißen Getränken aufwärmte.
Vorne stemmte sich eine große, junge Frau mit versteinerter Mine entschlossen gegen die Schilde. Ihr dunkles, nasses Haar klebte in langen Strähnen an Stirn und Hals. Mit dem durchdringenden Pfeifton, der nun über das Gelände schallte, verschwand die letzte Menschlichkeit hinter blitzschnell angelegten Schutzmasken. Das ferngesteuerte Geschütz eines Panzerwagens feuerte eine Batterie Gasgeschosse in die Menge, von der sich Gruppen schreiend abtrennten und wie gehetzte Fischschwärme ziellos hierhin und dorthin flohen, um den beißenden Wolken zu entkommen. Immer neue Explosionen trieben sie wieder auseinander.
Schlagstöcke schleuderten wild über den Zaun aus Schutzschilden. Hustend und mit panischem Blick reckte in vorderster Reihe eine Greisin ihr Banner wie eine Kapitulationsfahne in die Höhe. Der kräftige Stockhieb eines jungen Polizisten zerschmetterte ihren Kiefer. Mit blutendem Mund sank sie stöhnend in den Schlamm. Der Schrei ihres Mannes, der sich schützend über sie warf, verstummte unter den unbarmherzigen Schlägen der entfesselten Schergen, die in die Bresche der Gestürzten hereinbrachen wie Fluten über einen gebrochenen Damm.
Die Züge der jungen Frau ließen weder Überraschung erkennen noch Furcht. Ein breitschultriger Mann baute sich drohend vor ihr auf. Suchend schaute sie durch das verspiegelte Visier und fixierte dann seine Augen. „Aus welchem County du auch stammst - das hier ist nicht deine Angelegenheit, Bürger“, rief sie.
„Verkriech dich hinter den anderen Ratten, kleine Schlampe, sonst wirst du es bereuen!“, entgegnete der Beamte grob und überheblich hinter seiner Atemmaske. Es mangelte ihm an Möglichkeiten, um die Sache an sich überhaupt zu begreifen, dachte sie.
„Das sind deine Mitbürger, deine Nachbarn!“, appellierte sie ohne Hoffnung. „Aber wenn du glaubst, dass dich deine Uniform zu Gewalt gegen entrechtete Leute legitimiert, denen man schon alles genommen hat - ich werde darauf keine Rücksicht nehmen.“
„Du lächerliches Mist...“ Seine Unflätigkeit endete so abrupt wie sein gleichzeitig abgefeuerter Stockhieb, der unkoordiniert ins Leere schwang, bevor er vor ihr zusammensackte. Würgend hielt er sich die Kehle, wo sie ihn getroffen hatte. Bevor er sich davon erholen konnte, trat sie kraftvoll gegen den Schild, der krachend gegen den Helm des Polizisten schlug, und stürmte in die Reihen der Angreifer. Mit Präzision traf sie jede der weniger gepanzerten Körperstellen, als hätte sie es lange geübt. Schnell lagen sechs, sieben schwarze Gestalten gekrümmt um sie herum, bis sie selbst das Gleichgewicht verlor und vornüber fiel. Im Schutz des Tumults hatte sich unbemerkt eine Drohne mit großkalibrigem Geschütz nähern können, deren Kugel den Oberarm der Frau durchgeschlagen hatte und mit roter Fontäne auf der Rückseite wieder ausgetreten war. Ein junger Mann direkt dahinter wurde von dem Geschoss getroffen und fiel mit blutender Brust auf die Knie. Die Häscher witterten ihre Chance. Zwanzig Arme griffen und schlugen nach der jungen Frau. Sie stürzten sich wie Ameisen auf eine verletzte Wespe und schleppten ihr überwältigtes Opfer fort in ihren Bau.
Noch eine letzte Stunde trennte Matt vom genehmigten Urlaub. Die ersten freien Tage seit er den Job beim London Guardian vor beinahe einem Jahr bekommen hatte. Es war Ende März und beinahe jede Woche zog irgendwo auf der Insel ein Orkan mit Sturmfluten oder später Blizzard über das Land. Ein energischer Wind pfiff um den Block und fegte letzte Wolkenfetzen vom Himmel - harmlose Ausläufer eines mächtigen Zyklons, der erst noch Vormittag auf den äußeren Hebriden die Cottages einiger unbeachteter Insulaner dem Erdboden gleich gemacht hatte. Einige hundert Meilen davon entfernt, war das Verlagsgebäude so massiv wie eine militärische Einsatzzentrale und die Büros luxuriös beheizt. Das machte Matt Richards Büro in dieser Jahreszeit zu einem elitären Arbeitsplatz, für den viele bei der grassierenden Armut alles in Kauf genommen hätten. Auch Matt wusste diesen Komfort teilweise zu schätzen, aber ließ sich davon nicht korrumpieren.
Bis vor etwa fünfzehn Monaten war der Guardian nur die größte Tageszeitung Londons; dann avancierte er zur einzigen – oder jedenfalls zur einzigen, die frei erhältlich war. Dieser Aufstieg gründete jedoch nicht auf dem marktwirtschaftlichen Effekt einer überragenden Popularität, sondern auf politischen Machtverhältnissen. Im Zuge ambitionierter Rekolonialisierungsaktivitäten des Vereinten Königreichs rund um den Globus, musste ein Organ her, das die traditionell größte Glaubwürdigkeit unter der Bevölkerung besaß und jeden erreichen konnte. Schwarze Lettern auf gelblichem Papier genossen auch heutzutage noch aus kaum weiter erklärbaren Gründen weitaus mehr Kredit als flüchtiges Fernsehen, Funk oder die undurchsichtigen Quellen des Internets. Dazu bildeten gelesene Worte einen dauerhafteren Nährboden, und eine darauf kultivierte Saat ließ sich später von stürmischen Reden leichter zur gewünschten Blüte bringen. Daneben gab es bald kaum noch eigenständige Stimmen, da sie sich nur mit viel Zivilcourage Gehör verschaffen konnten und nach einigen Tagen folgenloser Debatten gewöhnlich schnell wieder untergingen. Das waren feste Größen, auf die sich die Partei nun uneingeschränkt verlassen konnte. Seit der Verstaatlichung der Zeitung verteilte man sie fast kostenlos im ganzen Land, und war selbst im ärmlichsten Haushalt im hintersten Winkel des Reiches so sicher zu finden wie der Fernseher. Diese unscheinbare, jedoch bedeutende Maßnahme zog durch die schrittweise Schließung aller übrigen Verlage hinter der Bühne lediglich ein paar tausend private Schicksale und stille personelle Wechsel nach sich, die kein gesteigertes Interesse weckten und kaum in die Öffentlichkeit durchdrangen.
Die Artikel, die Matt zu redigieren hatte, vermied er in der Regel aufmerksamer zu lesen oder darüber zu reden, als für die Ausführung seiner Arbeit unbedingt vonnöten war. Alles, was auf seinem Schreibtisch zur Bearbeitung landete, enthielt in der Regel kaum mehr verlässliche Informationen als die sich wiederholenden Horoskope. Auf der einen Seite sollte billiger Feuilleton und ein optimistisch gehaltener Wirtschaftsteil die wenigen, aber dafür unverhältnismäßig Gutsituierten bei Laune und empfänglich für Regierungsmaßnahmen halten, auf der anderen Seite eine farbverfälschte Politikkolumne die breite Basis ängstlicher, hungriger Bürger mit passender Diät füttern. Zwar vertraute die Partei generell auf die traditionelle Trägheit ihrer Bevölkerung – eine steigende Zahl von Massenprotesten gegen soziale Notstände, die erst mit viel Blutvergießen auf beiden Seiten niedergekämpft werden konnten und auch vermehrt auf der Insel auftraten, veranlasste die Führung jedoch zu einer gewissen Wachsamkeit.
Die Anzahl ehemaliger Mittelschichtler, deren Leben von immer existenzielleren Fragen vereinnahmt wurde, wuchs täglich. Das erforderte eine Mischung aus Fingerspitzengefühl und propagandistischen Parolen, um die Interessen der Partei auch zu den Interessen derer zu machen, die schlussendlich unter den Handlungsfolgen leiden würden. Dieser Spagat wurde in der Redaktion mit viel Energie perfektioniert, und der Journalist, der sich der Wahrheit näher verbunden fühlte als solcher Verrenkungen fähig, und ihr nicht abschwören wollte, musste sein Auskommen binnen weniger Tage oder Stunden woanders suchen und konnte ziemlich sicher mit langfristigen Repressalien rechnen. Zwar arbeitete Matt hier nicht ohne Grund; ein Grund, der für keinen Smalltalk taugte und den er tunlichst im Verborgenen hielt. Und dennoch - wie lange würde er diesen Verrat an der Wahrheit ertragen können, mit dem er sein Leben finanzierte? Alles in allem sah er seiner beruflichen Zukunft mit verhaltener Euphorie entgegen.
Er begann seinen Platz aufzuräumen. Dabei versuchte er gleichzeitig auch sein Inneres zu ordnen und sich auf die vor ihm liegenden vierzehn Tage vorzubereiten, da traf ihn die tiefschürfende Reportage über die Tochter eines Großindustriellen und deren siebter Scheidung in der angemessenen Form eines zerknüllten Papierballs am Hinterkopf.
„Wie willst du nur ohne unsere Geschichten durch den Tag kommen?!“ Steve Bradley trat grinsend ins Büro. Mit gespieltem Ernst warf Matt ihm einen scharfen Blick zu, ohne den getroffenen Kopf zu bewegen.
„Das wird nicht einfach. Ich werde bestimmt ständig an euch denken“, machte er ironisch mit. „Aber jetzt muss ich erstmal meine eigene Story schreiben.“ Der letzte Satz kam ihm bedenklicher vor, als er ihn gewollt hatte. Immerhin bestand noch die Hoffung, dass sich alles als völlig undramatisches Missverständnis oder Versäumnis entpuppte. Als einer von wenigen, kannte Steve ein wenig vom Innenleben seines Kollegen und erriet etwas von dessen unausgesprochenen Gedanken. In diesem Fall hatte er direkte Fragen bisher jedoch vermieden und versuchte, ihn anders aus der Reserve zu locken.
„Wirst Du wenigstens diesmal ans Meer fahren?“
Auch wenn es kein sehr vernünftiger Gedanke gewesen wäre, seinen Energiepass so früh im Jahr zu plündern – er schätzte, Matt würde etwas ganz anderes im Sinn haben; und der ergab sich endlich in plötzlicher Offenheit.
„Ich muss es versuchen, Steve. Ich kann nichts anderes mehr denken.“ Er ließ seinen Kopf mit den zerzausten blonden Haaren hängen. „Nichts anderes mehr fühlen; es frisst mich auf. Sie hätte mir etwas gesagt! Und niemanden kümmert es! Niemand rührt auch nur einen Finger!“
Seit vier Jahren kannten sie sich jetzt. Matt hatte in der Redaktion das Praktikum seines Anglistik- und Journalismusstudiums absolviert. Sehr bald fiel er schon damals einigen zweifelhaften Abteilungsleitern auf, wenn er seine grundsätzlich zurückhaltende Art verlor, sobald ein Text ob dessen entlarvender Fakten über nationale Frevel verworfen wurde. Das geschah früher oft – insbesondere dann, wenn es sich um brisante Verfehlungen britischen Militärs oder der omnipräsenten Polizei handelte. Mehr als einmal konnte Steve ihn vor einer Eskalation bewahren. Heute landeten solche Berichte ausnahmslos bereits im Zensurfilter der Chefredakteure. Verbrechen an Gesellschaft, Völkern und Natur hatten ausschließlich - aber dann umso pathetischere – Erwähnung verdient, wenn man mit erhobenem Finger auf die Welt außerhalb des Empires zeigen konnte. Jene Welt war jedoch klein geworden.
Nachdem ein Journalist bei einem Artikel um mittlerweile unverhohlen blutig geführte Ressourcenkriege in Kanada bestialische Aktionen britischer Soldaten gegen Bewohner und indigene Stämme in lediglich hässliche verwandelte, und der Bericht Gott weiß wie das Lektorat unbemerkt passiert hatte, und man jenen armen Teufel keine achtundvierzig Stunden später tot aus dem Counters Creek fischte, begann Matt seine Lage allerdings neu sowie mit gesteigerter Vorsicht zu beurteilen. Zufall oder konnte es tatsächlich wegen eines Zeitungsartikels einen Zusammenhang geben? Trotz und wegen diesem potenziell gefährlichen Klimas drängte es ihn ein paar Jahre später - nach der Verstaatlichung der Zeitung - erneut zum Guardian. Seinen Magister hatte er in der Tasche, ohne zu wissen, was jemand wie er in diesen Zeiten eigentlich damit anfangen sollte. Als Autor hätte ihn seine Gesinnung binnen kürzester Zeit in Schwierigkeiten gebracht, wenn nicht Schlimmeres. Doch an diesem Ort gab es – wenn jemand angemessene Vorsicht walten ließ - die Möglichkeit, öffentlich unbekannte Dinge von der Welt zu erfahren, bevor sie gefiltert, verdreht und entstellt einer in Angst gehaltenen Bevölkerung wie ein sedierendes Gift verabreicht wurden. So entschied er sich fürs Redigieren und manövrierte sich auf einen bescheidenen Posten, wo er weder eine journalistische noch redaktionelle Aufgabe hatte, sondern eine rein sprachliche. Das reduzierte deutlich die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, und damit sein Risiko.
Bei seiner parallelen Nachforschung nach ursprünglichen Meldungen musste er sehr vorsichtig zu Werke gehen. Es gab hier bekanntermaßen Parteiler, ebenso wie ruchlose Opportunisten. Sie warteten nur darauf, subversive Mitarbeiter und jeden Andersdenkenden zu denunzieren, um vielleicht in der Gunst eines Höhergestellten zu steigen oder, wenn das Glück es wollte, vielleicht sogar auf der Hierarchieleiter einen kleinen Schritt emporzusteigen, der für treuen Gehorsam und reinen Fleiß alleine unerreichbar wäre.
Mit den Jahren hatte Matt gelernt, seine Überzeugungen nur dort anzubringen, wo es wenigstens eine Chance gab, etwas zu erreichen. Märtyrertum wäre Verschwendung und damit in gewisser Weise auch verantwortungslos gewesen. Steve wurde eine seiner ergiebigsten Quellen – und ein guter Freund, ein Verbündeter, der ihm manchmal fast wie ein älterer Bruder erschien. Nachdem es mit Tabita nun aus war, gab es momentan nur wenige Menschen, denen er sich näher fühlte – allen voran Ally, seine vier Jahre ältere Schwester. Sie hatte stets größtes Interesse an seinen Informationen und war der eigentliche Motor für sein Durchhaltevermögen. Ihr untypisches Verschwinden ohne jede Nachricht oder Erreichbarkeit machte Matt schwer zu schaffen.
„Wenn ich könnte, würde ich Dich begleiten. Melde Dich, wenn Du irgendetwas brauchst, ok?! Und wenn es nachts um drei ist.“
„Um die Zeit hast Du glaube ich nichts bei Dir, was ich von Dir würde haben wollen“, flachste Matt. „Aber danke! Ich werde mich melden.“
„Also auch dieses Jahr wieder keine Südsee für Dich!?“, bohrte Steve, in der Hoffnung noch etwas Konkretes über seine Pläne aus ihm herauslocken zu können. Diese Verschlossenheit war ungewöhnlich zwischen ihnen. Aber schließlich war auch die Situation ungewöhnlich und Matt blieb meist sehr zurückhaltend bei Dingen, die seine Schwester betrafen.
„Nein, ich werde sicher nichts tun, worauf Du neidisch sein könntest. Und nach allem, was ich zuletzt gehört hab, macht es bald keinen Sinn mehr im Indischen tauchen zu wollen. Fast alle Riffe sollen abgestorben sein – es ist entsetzlich! Wo das Neopren aufhört, fängt das Jucken an, heißt es. Alles, was nicht essbar ist, kippen sie ins Meer. Und alles, was darin dennoch überlebt und essbar ist, wird restlos rausgefischt. Die sind fast so schlimm wie wir. Nach dem Krieg, den wir ihnen beschert haben, ist alles noch weiter aus dem Ruder mit Unruhen und Attentaten überall!“
„Ich weiß ja, ich weiß!“ Natürlich war Steve über die meisten Wahrheiten genauso im Bilde und seinem Freund oft ein geduldiger Zuhörer, wenn der darüber die Fassung verlor – nur teilte er selten Matts Bestürzung.
Private Flugreisen waren seit vielen Jahren für die meisten Bürger nahezu unmöglich geworden, was nicht allein auf finanzielle Gründe zurückzuführen war. Sämtliche Kontinente wurden unentwegt an der einen oder anderen Ecke von Krieg überzogen - wie das Mittelalter von der Pest. Lediglich relativ gesicherte, sprich: kolonialisierte Gebiete, waren durch permanente Luftbrücken für einen vergleichsweise kleinen Kreis theoretisch erreichbar. Für Angestellte einer staatlichen Zeitung gab es bei konsequentem Nachfassen eventuell Mittel und Wege – aber dazu musste man es sich zudem eben auch noch leisten können, was nur wenige konnten. Erst vor drei Jahren sahen die Verhältnisse noch entspannter aus. Die Welt veränderte sich in unheimlichem, kaum mehr verfolgbarem Tempo. Damals hatte Matt eine vielleicht einmalige Gelegenheit beim Schopf gepackt, einen Flug nach Burma ergattern können, und war fasziniert von der Unterwasserwelt gewesen, die er damals während seiner ersten Tauchgänge endlich mit eigenen Augen sehen durfte. Dieses Erlebnis übertraf so meilenweit jede Vorstellung, die er nach vielen Filmdokumentationen natürlich hatte. Bereits Anfang des Jahrhunderts, das wusste er aus diversen wissenschaftlichen Reporten, waren die Korallenriffe der Erde – diese neben den Regenwäldern ursprünglich artenreichsten Biotope des Planeten – allerdings schon zu einem Drittel vernichtet. Heute, gerade mal eine Generation später, waren öffentlich keine verlässlichen Zahlen aufzutreiben, doch seltene Berichte unabhängiger Ozeanologen sprachen von deprimierenden Zuständen. Anderes war auch kaum wahrscheinlich – in den vergangenen Jahren waren die Böden sämtlicher Weltmeere durchlöchert, abgetragen und durchsiebt worden. Für die seit Jahrzehnten geplünderte Meeresökologie bedeutete das vielerorts den finalen Todesstoß. Den Landmassen hatte man beinahe alle wertvollen Elemente entrissen und verhökert. Der anschließende Ausverkauf des Meeresbodens ging wie früher die Überfischung, Gift- und Müllverklappungen naturbedingt eher unbeachtet vonstatten. Die Luft war in manchen Regionen der Welt bereits hochgiftig, was selbst jetzt noch von Behörden verschleiert wurde; aber wäre man mit ihr genauso wie mit den Meeren umgegangen – das Keuchen der Menschen wäre von New York bis Mumbai zu hören gewesen. Verstreute Wissenschaftler, die mehr als nur die Weiterbewilligung von Forschungsmitteln im Sinn hatten, fanden keine ausreichende Lobby, um auch nur ihre Ergebnisse publik zu machen.
Nachdem er seine Abmeldung am Computer beendete, bereitete Matt den Datenzugang für den vertretenden Kollegen vor und verstaute die abgearbeiteten Akten.
„Zuallererst werde ich wohl nach Maidenhead fahren“, sagte er emotionslos. Sein Vater wohnte dort. Vor einigen Jahren schon hatten sie den Kontakt zueinander abgebrochen. Steve wusste aus Matts Erzählungen, dass Carl Richards im Gegensatz zu seinen Kindern ein ziemlich kritikloser oder kritikunwilliger Bürger war; ein Schaf in einer endlosen Herde von Schafen – wenn auch ein gut betuchtes - das nur einen Wert kannte: das Maß seines eigenen Wohlergehens, ganz gleich, welcher Schäfer es auf welche Weide führte, um was auch immer zu fressen. So jemand war eine Freude für jede Regierung. Leicht mit kleinen Zugeständnissen köderbar, ohne – wie alle Schafe - die Bedeutung zu haben, um für seine Dienste je wahrgenommen zu werden. Das zumindest war Matts Meinung über seinen Vater und sagte einiges über seine eigenen Werten und Prioritäten.
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte Carl unablässig versucht, Ally und Matt zu einer chamäleonhaften Angepasstheit zu erziehen. Manchmal, als sie bereits alt genug waren, um diese Absicht nicht mehr als Objekte einer zweifelhaften Erziehung, sondern längst immune Beobachter analysieren zu können, hegten sie schiere Zweifel an ihrer Blutsverwandtschaft. Carl Richards war Biochemiker und konnte sich nach finanziellen Maßstäben zu einem privilegierten Stand zählen. Allmählich zog er sich jedoch immer weiter in seine eigene Welt und sein Haus in Maidenhead zurück. Während Ally blieb und sich um das Anwesen kümmerte, sah Matt sich später dazu außerstande und tauschte mit Zwanzig das Elternhaus gegen ein kleines Zimmer in der Nähe der Universität.
Seine Mutter hinterließ in Matt hingegen ein ganz und gar helles Bild, lebendig, voll Stärke und Charakter, mit endloser Wärme und einer respektvollen Weisheit, der er sich sogar als pubertierender Teenager – meistens – gefügt hatte. Ein Unfall hatte sie aus dieser verqueren Welt gerissen. Es soll ein Kleinbus oder Van gewesen sein. Der Fahrer wurde nie ermittelt. Das lag nun vierzehn Jahre zurück. Damals war Matt noch keine fünfzehn, Ally gerade neunzehn.
„OK, ich bin bereit, dich der Meute zu überlassen. Hoffentlich erträgt sie dich ohne meine Diplomatie.“ Matt´s vermeintliche Lockerheit und verdrehter Sarkasmus klangen gequält. Sie umarmten sich kurz.
„Es wird mir fehlen, Deinen Hals zu retten.“
„Wer weiß, vielleicht bekommst du trotzdem bald Gelegenheit dazu.“
„Hey, eine Postkarte mit Palmen und Bikinis drauf wäre erstmal alles, was ich demnächst bekommen möchte, und wenn du sie aus Liverpool abschickst.“
„Ein andres Mal, Steve. Und was Du dann bekämst, wäre nur Ärger mit deiner Felicitas.“
Sein Kollege warf ihm noch ein Handzeichen hinterher, das sie als Fans einer alten Science-Fiction-Filmreihe verband.
„Live long and prosper!“, erwiderte Matt lachend und machte sich auf den bereits dunklen Heimweg.
Die Tage hatten noch wenig Licht, aber wenigstens milderte die abendliche Kühle den Gestank auf den Strassen. Gerüche, an die man sich nie gewöhnte – dafür waren sie zu abwechslungsreich. Nur angenehm waren sie selten. Ein geregeltes Abfallmanagement gab es in weiten Teilen der Insel seit Jahren nicht mehr. Meistens kam Matt mit dem Fahrrad zur Arbeit. Heute wählte er einen anderen Heimweg als üblich. Er wollte noch jemanden besuchen und setzte sich Richtung Nordost in Bewegung, vorbei an ausgedehnten, ehemaligen Schrebergartenkolonien, die zu Wohnsiedlungen mutiert waren und vergleichsweise doch nicht zu den schlechtesten Behausungen gehörten. Schlimmer ging es beispielsweise den Hüttenbewohnern entlang der Bahntrasse, die sich in dem fast baumlosen Land nun wieder entscheiden mussten, wie viel sie von ihrem Wetterschutz für ein wärmendes Feuer opfern durften. Was ein Orkan an diesem Ort, wie bereits an unzähligen anderen, anrichten würde, brauchte nicht viel Fantasie.
Bald endete die öffentliche Straßenbeleuchtung und Matts Weg wurde nur mehr im Kegel seiner Fahrradlampe erkennbar erhellt. Der Mond stand noch in seinem ersten Viertel. Hier und dort flackerte ein Lagerfeuer, umringt von dunklen Körpern. Er hatte das Land der imperialen Unterschicht betreten. Gelegentlich wirbelte eine Wolke glühender Funken auf, wie winzige Irrlichter, die diese Erde froh gegen den Himmel tauschten. Er näherte sich einem Feuer, das hell brannte von frisch aufgeworfenen Autoreifen. Das gleißende Licht schickte lange Schatten zu ihm, die vor seinem Vorderrad tanzten und es schwer machten, Steine, Glas und Löcher zu umfahren. Feuchte Kälte kroch allmählich seinen Körper hoch und ließ seine Hände klamm werden. Eine Panne mochte jetzt unangenehm sein. Den Blick fest auf die beleuchteten Yards vor ihm geheftet, nahm er plötzlich aus den Augenwinkeln einen Umriss wahr, der sich durch einen minimal anderen Winkel verriet. Eine Spur schneller und irgendwie runder, sprang das Abbild in Deckung der übrigen Schatten und landete auf knackenden Zweigen links vor ihm, außerhalb des zuckenden Lichts. Abrupt, aber kontrolliert, brachte Matt sein Rad zum Stehen. Dann schwang er ein Bein über den Sattel, löschte die Lampe und wartete gefasst auf die Gestalt, die sich aus der Dunkelheit herausformen würde, sobald sich seine Augen an die Schwärze gewöhnt hatten. Einige Bezirke waren berüchtigt dafür, dass man Leuten schon für ein paar Pfund oder etwas Essbares die Kehle durchschneiden würde. Nur eine Sekunde später sprang etwas Undefinierbares schreiend auf ihn zu. Aber noch bevor es im flackernden Feuerschein ganz sichtbar wurde, entspannten sich Matts Muskeln angesichts von Statur und Stimmlage des Hinterhalts. Ein wenig inkonsequent wirkend, kam das dünne Wesen mit großem Kopf zwei Yards vor ihm zum Stehen und enthüllte ohne Scheu seine grässliche Fratze. Auf Brusthöhe starrte es ihn mit einem aus der Höhle getretenen, auf der Wange baumelnden Augapfel an. „...oder Saures!“, beendete es grimmig seine Forderung. Auf dieses Kommando hin raschelte es im Gebüsch und ein zweiter Zwerg, gut ein Fuß kleiner, mühte sich unbeholfen, um der Szene zuzustoßen. Im Kampf ums Gleichgewicht ruderten seine Arme durch die Luft und verdrehten dabei versehentlich sein ebenfalls unproportional großes, aber mit einem Clownsgesicht deutlich symphatischeres Haupt, so dass dieser Gnom, stur zur Seite schauend und offenbar blind wie ein walisischer Maulwurf, seinen Kumpan zu verfehlen drohte.
„Hierher Gwen, hier drüben bin ich!“, rief Zwerg Nummer eins. „Nimm die Maske runter, Dummchen!“
Matt musste lachen. Er holte seine Taschenlampe aus der Beintasche. Die elfjährige Mary stand ihm gegenüber und grinste verlegen.
„Ham wir Dich erschreckt?“, fragte sie erwartungsvoll.
„Mein Herz steht immer noch still, kleine Hexe.“, schwindelte Matt und griff sich dramatisch an die Brust. Die ausgezehrten Mädchen fielen ihm zur Begrüßung um den Hals. Eine größere Gestalt, die schlanke, aufrechte Silhouette von Susan Baker, ihrer Mutter, kam winkend auf sie zu.
„Mama hat gesagt, Du würdest heute kommen und wir durften uns die Masken von den McEwans borgen. Sammy und Timmy sind letzten Monat gestorben.“
Übelkeit stieg in Matt auf. Diese unvermittelte Neuigkeit schickte ihm einen ungebetenen Schauer, an dem die Kälte unschuldig war. Bei aller Wut, die sein Vater über viele Jahre in ihm heraufbeschworen hatte – er war in einem Haus aus festen Mauern aufgewachsen und wenn er krank war, konnte er jederzeit zu einem Arzt gehen und erhielt Medizin. Nie musste er Hunger leiden und konnte sogar ein - wenn auch aus Orientierungslosigkeit unsinniges - Studium absolvieren. Er hatte die Kinder der McEwans gekannt. Der kleine Samuel hatte ihm im Gegensatz zu seinen Eltern einen sehr nachdenklichen und wissbegierigen Eindruck gemacht; und Matt manches Mal an sich selbst und sein Verhältnis zu seinem Vater erinnert. Nun sollten beide Kinder tot sein. Wie hatte das passieren können? Er würde es bald von der Mutter der Mädchen erfahren.
„Aber Halloween ist längst vorbei!“, beschwerte sich Matt mit gespielter Empörung.
„Wissen wir doch!“, strahlte Mary. „Deshalb haben wir ja die Masken auf! An Halloween hättest du ja gleich Bescheid gewusst!“
„Ihr seid ja eine ganz raffinierte Bande! Aber leider wird eure Beute nicht groß sein!“ Doch Matt war natürlich vorbereitet und begann in seinem Rucksack nach dem süßen Teil seines Einkaufs zu wühlen. Zwei Augenpaare begannen zu leuchten, als er eine große Packung halb mit Schokolade überzogener Waffeln zutage förderte.
„Gerechte Teilung mit deiner Schwester“, mahnte er Mary unnötig, die sich stets um die kleine Gwen sorgte. „Und putzt euch danach die Zähne!“
„Danke, danke, danke!“, quietschten sie im Chor und die kleine Gwen umarmte ihn noch einmal stürmisch.
„Schön Dich zu sehen!“, hörte er Susan´s klare Stimme. Ihr apartes Gesicht trat aus dem Schatten.
Susan´s Bekanntschaft hatte er erstmals vor gut zwei Jahren durch Ally machen dürfen. Die alleinstehende Mutter kam ursprünglich aus gutem Haus, wie man so unüberlegt dahersagt. Doch ein abgebrochenes Medizinstudium nach früher Schwangerschaft und Heirat mit einem wenig hoffnungsvollen Bergbauarbeiter (der fünf Jahre später bei einer Grubenexplosion ums Leben kam), brachte die wahre Qualität - eine nachhaltige Verachtung - ihrer Familie ans Licht, für die sie fortan schlichtweg nicht mehr existierte. Die Gesellschaft zeigte ihr, dass sie jeden Wert und die meisten Rechte eingebüßt hatte. Doch nie hörte man sie in Selbstmitleid klagen, noch verlor sie sich jemals in Wut oder Verzweiflung.
Matt hatte sie als außergewöhnlich warmherzige wie intelligente Frau kennengelernt, mit einem hohen Maß an Integrität, Verantwortungsgefühl und unumstößlichen Prinzipien – Eigenschaften, die heute niemandem zum Vorteil gereichten, sofern sie es denn je getan haben, sondern im Gegenteil, zunehmend eine latente Gefahr darstellten. Manchmal erinnerte sie ihn an das Bild seiner Mutter. Sie hätte eine Lehrerin, eine Führerin sein sollen, doch das blieb sie nur für die Kinder; ein Edelstein an einem schmutzigen, lichtlosen Ort. Es gab in dieser Zeit keinen Lohn für Weisheit und Güte.
Ohne Versorgungsleitungen irgendeiner Art, machten die Leute hier seit vielen Jahren von ihrem Menschenrecht Gebrauch, natürliche Wasservorkommen für ihr Überleben zu nutzen – in ihrem Fall ein kleiner Seitenarm des verdreckten River Lea, der hauptsächlich von einer natürlichen Quelle gespeist wurde. Im Sommer vor einem Jahr begann dieser Zulauf einzutrüben. Sein Wasserstand fiel tiefer, als sich die Alten erinnern konnten. Das kaum mehr fließende Wasser vermischte sich zunehmend mit dem hereindrückenden River Lea. Über Monate wurden vermehrt Leute krank, bis die Lebensader der Leyton Bahndammsiedlung schließlich von einem Tag auf den anderen soweit austrocknete, dass sich das Flussbett mit den verendeten Fischen einer 'göttlichen Absicht' gehorchend in eine stinkende Kloake verwandelte. Das war jedenfalls die Erklärung, mit der sich die zahlreichen einfachen Leute hier in ihr ratloses, 'gottverlassenes' Schicksal ergaben. Mit abenteuerlichen Konstruktionen begannen sie den Regen zu sammeln. Doch war er durch Gifte aus der Luft belastet, und Vorratstanks mit stehendem Wasser wurden immer wieder zu Brutstätten von Infektionen.
Zum erstem Mal war Ally als Vertreterin der Aktivistengruppe Four Corners hergekommen, um Dinge ans Tageslicht zu fördern, die ohne Lobby grundsätzlich in einem zähen Sumpf aus Bürokratie spurlos versickerten. Mit Matts Unterstützung, der ebenfalls Informationen aus diesem Sumpf ausgehoben hatte, stieß sie schnell auf die Ursachen sowie bald auf die Schuldigen. Dass der Fluss in Zeiten weitgehend verseuchten Grund- und Oberflächenwassers überhaupt trinkbar war, verdankte er der Speisung aus seiner tiefen, natürlichen Quelle. Diese Quelle war ein leichter Fang für die Prospektoren der Pecola Company, die zu den weltgrößten Getränke'herstellern' gehörte. Kurzerhand hatte Pecola das billige Land oberhalb der Siedlung für einen lächerlichen Betrag aufgekauft und das Wasser einfach restlos aus dem Boden gesaugt, in Flaschen abgefüllt und es zum hundert-, ja, bis zum tausendfachen Preis an eine überall durstige Welt verkauft. Das war eine probate Vorgehensweise und bei der Wehrlosigkeit der Leyton-Leute ein Geschenk. Auf dieselbe Weise rissen sich derartige Piraten seit Jahrzehnten die seltener und wertvoller werdenden Rohstoffe aus den entlegendsten Winkeln der Erde unter den Nagel und verscherbelten dabei buchstäblich die Lebensgrundlage und Gesundheit von Natur und einheimischen Bewohnern, die meist ohnehin von kaum mehr als Brot und Wasser überleben mussten. Die Hintermänner scheffelten unfassbare persönliche Reichtümer und hinterließen Armut, Verwüstung und Krankheit, während ihr Marketing in anderen Teilen der Welt zahlungswillige Zielgruppen für ihre Produkte aushob. Darunter befanden sich nicht selten Gruppen der jungen Generation, die in der marionettenhaften Rolle, die ihnen die Konzerne gegen Bezahlung zugewiesen hatten, ein Zeichen von Erfolg und erstrebenswertem Lifestyle sahen. Schon vor der Jahrtausendwende wurde die Erde von milliardenschweren, multinationalen Unternehmen mit tausende Meilen entfernten Geschäftssitzen in kapitalistisch behüteten Wohlstandsländern, mit endloser Raffgier geplündert. Und heute, wie schon in vorherigen Dekaden, in denen enthemmte Krämerseelen ihr vernichtendes Unwesen trieben, entkamen die Rädelsführer nicht nur einer angemessenen, schwersten Bestrafung, sondern lebten perverserweise in königlichem Reichtum und Ansehen.
Mit Susan´s Hilfe gelang es einmal dennoch, fast dreitausend Betroffene auf die Straße zu bringen. Dazu hatte Ally damals einen kleinen privaten Fernsehsender organisiert und nahm an mehreren Verhandlungsgesprächen mit dem Firmenvorstand und Politikern teil – namentlich allen voran mit Pecolas Vorstandsvorsitzenden Clive Cunningham sowie dem Minister für Innere Angelegenheiten Douglas Gifton. Die Lippenbekenntnisse im Beisein einiger, wenn auch unbedeutender Medien wurden wenig später korrigiert - nachdem die Siedlung kurzerhand zur subversiven Brutstätte erklärt war, unterzog man sie einer brutalen Strafaktion, in deren Verlauf es zahlreiche Verletzte gab, von denen fünfundzwanzig später ihren Verletzungen erlagen. Ally selbst erlitt dabei eine Schusswunde. Dennoch konnte sich Matt nie ganz erklären, warum Pecola in diesem Fall schließlich den Mittellosen nachgab – Philanthropie war jedenfalls sicher kein Beweggrund.
Seither besuchte er die Bakers oft, brachte Bücher, Malsachen und Süßigkeiten mit und mitunter benötigte Medikamente.
Sie waren mittlerweile alle zusammen zum wärmenden Feuer spaziert. Eine bis dahin lebhafte Ansammlung von Leyton-Anwohnern wurde seltsam ruhig, als sie Matt kommen sah.
„Nimm es nicht persönlich!“ Susan griff seinen Arm, um damit ihre Verbundenheit mit dem augenscheinlich privilegierten Besucher zu demonstrieren. Einige Augenpaare wanderten verstohlen in seine Richtung, andere musterten ihn ganz provokant. Manche Gesichter verzogen sich in unkaschierter Ablehnung und grinsten blöd zu herabwürdigenden Witzen. Andere, die ihn längst kannten, blieben teilnahmslos.
„Not und Unsicherheit sind groß in letzter Zeit. Neid blüht überall, selbst auf die allergeringsten Dinge.“
Da sich Matt ruhig verhielt und längere Blickkontakte vermied, hob der Lautstärkepegel bald wieder auf gehabtes Maß an und die Spannung ließ nach.
„Was ist das für eine Geschichte mit den McEwans und wie geht es euch?“
„Allen wurde erzählt, es handle sich um viröse Lungenentzündung. Viele Leute, Erwachsene wie Kinder, die in letzter Zeit krank geworden sind ohne sich wieder davon zu erholen, waren vorher vielleicht immunologisch geschwächt. Trotzdem glaube ich das nicht. Die Jungs benahmen sich zum Schluss sehr seltsam und hatten Halluzinationen und Krampfanfälle und Ihre Eltern konnten sich kaum um sie kümmern, da sie selbst sehr geschwächt waren. Matthew, ich habe Angst, dass es Tuberkulose ist.“
Besorgnis verschleierte für einen Moment Susans schönes Gesicht.
„Aber uns geht es gut soweit – nicht zuletzt dank dir“, lächelte sie. Doch lag auch Besorgnis in ihrem Blick auf ihre Töchter, die darin vertieft waren, Sterne und blumenähnliche Formen aus den Waffeln herauszuknabbern. Sie konnte jetzt nicht weiter darüber sprechen und fuhr mit einer Neuigkeit fort, die für sie weit bedeutsamer war als sie sie nun vorbrachte:
„Letzte Woche hatte ich ein Gespräch mit einem Verleger. Ally hatte das arrangiert. Ein Mr. Brightman vom Candice Verlag. Ich glaube, sie wollen eine meiner Geschichten drucken! Und weißt du was?! - Sie wollen außerdem die Zeichnungen von Mary!“
„Susan, das wäre ja großartig! Das kann endlich eure Fahrkarte hier raus sein!“, freute sich Matt etwas voreilig wie über die plötzliche Erfüllung eines mittlerweile fast schon für unmöglich gehaltenen Wunsches. „Bitte sag mir, wenn ich Dir irgendwie helfen kann. Es wäre mir eine Ehre!“
Die Kinder von Leyton wuchsen in mancherlei Hinsicht in eine Welt wie vor fünfhundert Jahren - ohne geregelte Bildung, ohne Antworten. Und wenn sie doch welche erhielten, wünschten sie sich meist, sie hätten nie gefragt. Susan machte sich daran, wenigstens jene Kinder zu unterrichten, die von ihren Eltern zu ihr vorgelassen wurden. Da viele Erwachsene aber genauso viel Furcht vor der Welt außerhalb ihres Ghettos wie vor einer möglichen Überlegenheit (und Revolte) ihrer Kinder entwickelten, musste sie sich selbst dafür einen kleinen Trick einfallen lassen. Susan rief also harmlose Geschichtenabende – oder 'Märchenstunden', wie sie die Leute manchmal sagen hörte - für alle etwa bis zum Teenageralter ins Leben. Damit waren die Eltern beruhigt und insgeheim froh, wenn sie ihre quengelnden Ableger an langen, arbeitslosen Tagen mal für zwei, drei Stunden los waren. Susan verstand es, in fabelhaften Erzählungen Ideale und Werte zu vermitteln, die nur allzu oft verleugnet oder hintergangen wurden. So konnte sie die hinderlichen Ängste der Eltern überlisten. Die fantastischen Märchen und Gleichnisse komponierte sie aus Erinnerungen ihrer eigenen Jugend, die sie mit Szenen aus passenden oder ihr besonders ans Herz gewachsenen Geschichten ausschmückte. Für die Kinder war es immer wieder erstaunlich, wie häufig darin versteckte Rechenaufgaben oder knifflige Fragen aus Biologie und Physik vorkamen, die sie lösen mussten, bevor Susan bereit war, mit der Handlung fortzufahren. Wann immer es zu einer Erzählung passte, forderte sie ihre Schüler auch mal zum Malen auf oder sang mit ihnen bekannte und fremde Lieder. Beschreibungen von unglaublichen Tieren mit meterlangen Hälsen, drachengleichen Wesen, die tatsächlich irgendwo existieren sollten, oder winzigen, schillernden Vögeln, die mühelos auf der Stelle schweben konnten, schürten wenigstens unter einigen Kindern Neugier und Faszination für eine Erde, die sie höchstwahrscheinlich nie mit eigenen Augen sehen würden.
Von Medizin verstand Matt nicht wirklich viel, aber er wusste, was Tuberkulose in anderen Winkeln des Landes und der übrigen Welt in den letzten Jahren angerichtet hatte. Ohne seinen Gedanken zu Ende zu denken – seine Gefühlswelt war durch diese Neuigkeiten vollends durcheinander geraten – brach eine sehr ungewöhnliche Überlegung ungefiltert aus ihm hervor.
„Ihr könntet in den nächsten vierzehn Tagen doch bei mir wohnen, wenn ihr möchtet.“
Nachdem ihm seine Aufdringlichkeit bewusst wurde, erklärte er schüchtern und sachlich: „Ich habe Urlaub und bin ab morgen unterwegs. Es ist alles da!“
Was sollte nach den zwei Wochen geschehen? Er hatte keine Ahnung. Er hatte es nicht überlegt. Vielleicht würde sich irgendetwas ergeben. Irgendetwas musste sich ergeben! Susan sah ebenso überrumpelt aus und wusste kaum, was sie sagen soll. Matt rannte seiner Fassung hinterher und holte sie halbwegs ein.
„Mach Dir keine Gedanken. Ihr müsst jedenfalls erstmal weg hier! Susan, die Mädchen müssen unbedingt hier weg, wenigstens solange nicht geklärt ist, ob Du mit Deinen Befürchtungen recht hast! Überleg es Dir und fühl Dich bitte zu nichts verpflichtet! Ich hab noch über siebzig Prozent auf meinem Energiepass – ihr könntet jeden Tag baden! Ihr wärt einfach Gäste, die sich um den Briefkasten kümmern müssten“, versuchte er sich Luft zu machen, wobei sein Briefkasten selten anderen Besuch bekam als von kleinen Propagandablättchen oder Rechnungen. Dann überholte er sich erneut selbst.
„Ich komme einfach morgen wieder vorbei und ihr könnt mit mir kommen, falls Du einverstanden wärst. Dann kann ich euch alles zeigen und geb euch die Schlüssel.“
„Lass mich mit Mary und Gwen darüber sprechen“, wich Susan etwas beschämt aus, aber es war natürlich keine Frage, was die beiden, die immer noch kirchernd über die Waffeln gebeugt für den Moment keine Kälte zu spüren schienen, dazu sagen würden.
Meistens hatte Matt bisher aufs Carsharing und seinen Roller verzichtet – zumindest für den Weg zur Zeitung. Durch den Job brauchte er außerdem allenfalls mal abends zu heizen und bis vergangenen September, bis es Tabita, der seine ständige 'Problemwälzerei', wie sie es genervt genannt hatte, endgültig zu viel wurde und sich einen 'unkomplizierteren' Partner suchte, blieb seine Wohnung ohnehin meist unbenutzt. Natürlich wusste er insgeheim seit ihrer ersten Begegnung, dass sie im Grunde ein sehr einfacher Mensch war, deren Lebensinhalt schlicht darin bestand, lediglich ihren unmittelbaren Bedürfnissen nachzugehen und für sich selbst noch ein möglichst großes Stück vom verdorbenen Kuchen abzubekommen. Den Konsequenzen, die es dafür in Kauf zu nehmen galt, stand sie im Allgemeinen kritik-, und zu Matts vermehrtem Unverständnis, sogar meinungslos gegenüber. Irgendwann hatte er sich fast damit abgefunden, dass sie offenbar nie wirklich viel von dem begriff oder begreifen wollte, was überhaupt um sie herum geschah oder ihre Mitmenschen tatsächlich im Schilde führten. Kennengelernt hatten sie sich auf einer Party bei Steve. Sie lachte über ein paar Witze, die ihm damals geläufig waren und hörte seinen spärlichen Reiseanekdoten zu, ohne dass sie je viel Interesse weder an den Reisen noch an den Orten zeigte. Sein aus mangelnder Übung mit obligatorischen Flirtkonventionen völlig verfehlter Ausflug in politische Elementarfragen wurde von seiner Gesprächspartnerin früh mit alarmierendem Desinteresse in Form von Blicken in Richtung anderer männlicher Gäste quittiert. Später blieben politische Themen die ganzen zwei Jahre über tabu zwischen ihnen. Als sie ihn zu seiner Überraschung noch an jenem Abend trotzdem in ihr Bett ließ, hatte er das Gefühl, dass dies nicht das Geringste mit ihm persönlich zu tun hatte. Sie waren jung, und obwohl ihm Intimität noch vorgekommen war wie etwas Surreales, wie ein zu schnell entweihtes Heiligtum, hatte er Tabitas Einladung nicht ausgeschlagen. Im Grunde entwickelte sich ihre Beziehung dann kaum anders als zwischen allen Paaren, an die er sich erinnern konnte. Sie gingen ein gutes Stück ihres Lebens gemeinsam durch ihren Alltag und teilten wie alle anderen alltägliche Freuden, Momente und Probleme ohne besondere Leidenschaft oder tiefere Bedeutung. Nur die Einbildung so vieler Lebensabschnittskooperationen, in denen der Partner, der in der Regel aus der verfügbaren Runde von einer Handvoll Leuten gewählt wurde, unter denen die Hälfte bereits gebunden, sonstwie unerreichbar, der vermeintlich 'falsche Typ', mit falschen Attributen oder am entscheidenden Abend mit dem falschen Hemd oder Spruch ausgestattet war - in dieser exquisiten Wahl den Einzigen und Besonderen unter der Sonne gefunden zu haben, solch irrwitziger Selbstverblendung fiel nicht einmal Tabita anheim. Sie lebten einfach zusammen und Matt hätte nicht sagen können, ob das nun richtig oder falsch war, und doch ahnte er instinktiv, dass das Leben noch andere Facetten des Glücks bereithielt, die noch außerhalb von Wunsch und Erfahrung warteten. Später verband ihn mit ihr dennoch manch herzliche Erinnerung und er vermisste zugegebenermaßen ihre Nähe.
In früheren Jahren kam selbst er bei allem Verzicht selten mit den Ressourcen aus, die man ihm zugestand. Proklamiert wurde der Energiepass ursprünglich als Regelwerk der Vernunft gegen die Maßlosigkeit. Bei seiner Einführung traf er damals soweit Matts völlige, wenn auch ungläubige Zustimmung. Die Idee hätte bedeutsame Wirkung haben können. Beinahe elf Milliarden Menschen trampelten nach wie vor mehrheitlich gedankenlos über die Erde. In gerade einmal zweihundert Jahren – weniger als zwei lange menschliche oder eine einzige schildkrötliche Lebensspanne – hatte die Menschheit in exponentieller Taktrate jegliche Fähigkeit zur Vorsorge und Überlebensfähigkeit verloren. Nach einem Zeitraum, der sich sogar zwischen gesellschaftlichen Epochen unbedeutend ausnahm, verbrauchte jeder Homo sapiens im kleinen, glücklichen Kreis außerhalb der ausgebeuteten, früheren 'Entwicklungsländer' während des Wimpernschlags, für den er den Kopf aus der Erde stecken durfte, das Tausendfache an Rohstoffen und Energie, als die Gleichung der Natur erlaubte, und hielt es in seiner Unfähigkeit zur Reflexion für sein gottgegebenes Recht. Der gesellschaftliche Stoffwechsel hinterließ eine tödliche Menge Abfälle. All das beschrieben die Verursacher mit wissenschaftlicher Akribie, fassten es in Worte, maßen es oder rechneten es in absurde Geldwerte um – doch eine wahre Gleichung war ihnen ebenso unmöglich wie die Einschränkung ihrer Gier oder eine seelische Verbindung zur Erde. Hätte man es anfangs noch mit seiner kindlichen Unbedarftheit und Unwissenheit entschuldigen mögen – schließlich stammten all der Firlefanz, all die wunderbaren Errungenschaften, die gestern noch unvorstellbar und unvermisst, und heute bereits mindestens unverzichtbar waren, aus den Köpfen einer nur kleinen, elitären Riege von Ingenieuren und ambitionierten Geldschefflern – so sorgten seltene Kritiker noch Ende des zwanzigsten Jahrhunderts in damals freierer Atmosphäre beharrlich für öffentliche Warnungen und Aufklärung bis auf Molekularniveau. Aber weder das sich abzeichnende Schicksal der eigenen Nachkommen und gesamten Spezies, geschweige denn das des Lebens an sich, waren in der Lage, mit dem Konsumrausch nach putzigen Technik-Gadgets oder lächerlichen Fortbewegungsmitteln, nach möglichst königlichem Lebensstil und neidvoller Aufmerksamkeit zu konkurrieren.
Was den Pass anging, wurde indes sehr bald unmissverständlich deutlich, dass seine Erfinder am Ende nur eines beabsichtigten: ein machtvolles und flächendeckendes Instrument zu elementarer, flexibler politischer Kontrolle zu schaffen! Seine Werthöhe, zu Beginn eines Jahres auf einhundert Prozent eines angeblich ökologisch orientierten Anfangswerts gesetzt, nahm mit jeder Kilowattstunde, jedem Liter Öl, jedem Einkauf ab, wobei sich sowohl Startwert wie Abnahmefaktor seltsam analog zu Regierungsloyalität und Beruf seines Besitzers verhielten. Nur zu häufig kam es zu abgedrehtem Strom und kalten Heizungen in den Wohnungen heimlicher oder bekannter Dissidenten. Auf der anderen Seite schienen parteizuträgliches Engagement oder die Loyalität von Staatsdienern mit gewissem Überfluss einherzugehen.
„Kommt her, ihr zwei“, rief Susan den Mädchen zu, „Zeit für den Sandmann!“ Sie verabschiedeten sich von Matt - Susan mit einem Blick, der ihm neu war. Aber Mary bat, noch einen Moment bei ihm bleiben zu dürfen. Sie ergriff Matts Hand und schlenderte mit ihm ein Stück in die Nacht zu einem alten Sofa, das in der Nähe langsam am Wegesrand verrottete. Eine Decke, die die Kinder früher am Tag darüber ausgebreitet hatten, machte aus dem alten Möbel eine recht einladende Sitzgelegenheit. Mary kuschelte sich in Matts Arm. Sie war zierlich wie ein Vogel, obwohl mit fast fünf Fuß, drei Zoll bereits auf Augenhöhe mit manch erwachsener Frau. Ihr strohblondes Haar schimmerte im bläulichen Zwielicht. Sie schaute in den klaren Sternenhimmel und wurde sehr ruhig für eine Elfjährige. Nach einer Minute schnellte ihr Arm hoch. Matt sah nur noch den letzten Schweif des Kometen aufleuchten und vergehen.
„Nun werden unsere Wünsche wohl nur zur Hälfte wahr!“
„Du kannst meine Hälfte haben! Ich schaue ihnen nur gerne zu. Meine Wünsche gehen doch nie in Erfüllung.“ Matt schaute ein wenig betreten auf sie herab.
„Woher sie wohl kam? Wenn ich eine Sternschnuppe wär, ich würde um die ganze Welt fliegen und ganz weit weg von hier landen, vielleicht – vielleicht in Australien. Da soll es noch große Tiere geben, die frei herumlaufen. Wie heißt das Hüpftier, das seine Jungen in einem Beutel mit sich rumträgt? Die würde ich so gerne sehen, Matt, bevor es...“, sie unterbrach sich. „Wohin würdest Du gerne fliegen?“
„Bevor was?“, fragte Matt nach. Mary zögerte. „Niemand mag, wenn ich sowas rede.“
„Vielleicht bin ich anders“, versuchte er sie aus der Reserve zu locken.
„Du bist anders - ich weiß!“, sagt sie und lächelte ihn an. Aber er spürte, was Mary wirklich bewegte, bevor sie es aussprach. Ihn überlief einmal mehr dieses Kribbeln auf der linken Seite seines Kopfes, das bis hinter sein Ohr kroch, sich in Zeitlupe im Nacken auflöste und sich anfühlte, als würden sich seine krausen Harre allesamt schnurstracks und gerade wie die Stacheln eines Seeigels in den Himmel aufstellen. Zumal nur linksseitig, malte er sich dazu ein ziemlich skurriles Bild aus, das ihn früher oft verunsichert hatte, bis er eines Tages während eines Telefonats in einem Spiegel sehen konnte, dass dem keineswegs so war. Abgesehen vielleicht von einer Situation intimer Nähe, würde kein Außenstehender von dieser intensiven Gefühlsregung das Mindeste mitbekommen.
„Alles geht verloren, nicht wahr? Bis ich erwachsen bin, wird es nicht mehr viel geben, was Gwen und mich zum Staunen oder Lachen bringt!? Wie ist das möglich, Matt? Warum muss alles sterben und kaputt gehen? Die Menschen – sie fühlen nichts. Sie reden freundlich und man glaubt, sie sind nett und haben ein gutes Herz – aber sie reden nur dummes Zeug und in Wahrheit mögen sie nur sich selbst, immer nur sich selbst. Sie nehmen und stehlen, was sie kriegen können und fühlen überhaupt nichts!“, schloss sie unglücklich.
Er drückte ihren angespannten Körper an sich. Obwohl sich ihre ungewöhnliche Reife schon oft gezeigt hatte, aber in dieser Umgebung kaum jemand über genug Aufmerksamkeit oder Geist verfügte sie wahrzunehmen, traf ihn die Bitterkeit ihrer Worte und die tiefen Zweifel ihrer kindlichen Seele wie ein Peitschenhieb. Mit einem Fingerstreich aktivierte er seinen Wristcom. Schnell hatte er gefunden, was er suchte und streckte seinen Arm aus. Das Geräte projizierte vor dem Nachthimmel ein gut zwei Fuß messendes Hologramm. Ein lustiger Vogel mit langen Wimpern schaute neugierig um sich, bevor der Straußenvogel auf kraftvollen Beinen über eine schier endlose Steppe jagte. Mit großen Augen staunte Mary über riesige, dreihundert Fuß in den Himmel ragende Eukalyptusbäume und Baobabs, die wie korpulente Märchenfiguren aussahen und das ganze Bild ausfüllten. Zwischen ihnen waren kleine Gestalten zu sehen, die unter einer gleißenden Sonne hüpfend den Boden nach Essbarem absuchten. Als die Kamera auf eines der Kängurus zoomte, aus dessen Körpermitte der Kopf eines Jungtiers ragte, lachte Mary vor Vergnügen laut auf.
„Mary, Du bist auch anders und Gwen und Deine Mutter. Ihr werdet es nicht zulassen, dass es so weitergeht wie bisher“, versuchte er ihr wider besseren Wissens Mut zu machen. „Und es gibt andere – Du musst sie finden. Sie sind gerade heutzutage eigentlich ziemlich leicht zu erkennen. Einmal weil sie selten sind, aber zum anderen auch, weil sie genauso dich suchen und wenn sie dich erkennen, mit dieser Entdeckung nicht hinterm Berg halten werden.“
„Glaubst du? Aber es sind nur ganz wenige! Was soll´n die ausrichten?! Auch die meisten anderen Kinder interessieren sich für gar nichts. Mama versucht immer, ihnen was beizubringen. Aber sie wollen genauso sein, wie die Leute, die für all das hier verantwortlich sind; wie die Leute in der Stadt, die, die uns das Wasser gestohlen haben oder wie die Polizisten, die sie hergebracht und geschlagen haben. Die älteren Jungs reden ganz oft davon. Sie interessieren sich kein bisschen für Kängurus. Sie wollen nur selbst die gleichen Uniformen tragen und Leute schlagen und reich sein und alle anderen in Ghettos zusammentreiben. Und die Mädchen finden sie noch toll dafür. Sie schminken sich, um ihnen zu gefallen – kannst du dir das das vorstellen? Wie alt müssen wir werden, damit das aufhört?“
„Unter Erwachsenen ist das alles schon ganz anders, Mary.“ Beschämt konnte sich Matt an keine dümmere Lüge erinnern.
„Das Gute hat in der Welt keinen Platz, sagt Mama. Was können wir da schon tun?“
„Alles in der Welt hat seinen Antagonisten, also ein Gegenstück, einen Gegenspieler.“ Er verlor den Faden, denn er wusste keinen plausiblen Rat. In dieser Rechnung stand es eine Million zu Eins. Länger wie Mary alt war grübelte er bereits selbst darüber nach, und die einzigen vielversprechenderen Antworten, die ihm je in den Sinn kamen, waren kaum vertretbar und kaum passend für Kinderohren. Diese Hilflosigkeit war ihm verhasst. Die Antwort blieb ihm verborgen – eine Antwort, die sich in dieser Welt würde behaupten können, mit der Macht, berechtigte Hoffnung in eine zweifelnde Seele sähen zu können. Nie hatte er sich diesem Kind näher gefühlt.
„Vieles ist verloren, Mary, und Du magst nur wenige Menschen finden, die über den Verlust trauern. Weniger als Sternschnuppen. Aber Du musst stark sein und deinen Weg gehen – für deine Schwester und alle, die Du lieb hast.“
Sie nickte schwach, doch fehlte ihr die Vorstellung, was sie 'mit ihrer Stärke' bewirken könnte.
Wenn in diesen Zeiten noch ein 'Ideal' überlebt hatte, dann war es Egoismus. Die Lage der Welt spitzte sich zu – im Großen wie im Kleinen. Das steigerte abermals den Hunger auf die vielleicht letzte Chance zum Überfluss, der in der jungen Generation eine sich überschlagende Manie nach den nötigen Mitteln und Wegen entfachte. Zielgerichtete Studiengänge und Seminare für wirklichkeitsmanipulierende Mechanismen in Selbstdarstellung, Führung, Rhetorik oder Ökonomie hatten in jedem Winkel des Landes Konjunktur. Mit deren Hilfe würde selbst der größte Idiot die benötigten Türen öffnen. Die Fähigkeit, in wenigen Minuten sondieren zu können, wer für ihre Gier von Wert sein könnte und wen es dafür aus dem Weg zu räumen galt, gewann größte Bedeutung; bewährte Winkelzüge wurden zur gefeierten, neuen Religion. Geboren im Handel und perfektioniert in der Politik, wurde Opportunismus zum unausgesprochenen Credo der Gegenwart. Kaum jemand vermochte mehr das wahre Ich seines Gegenübers unter zweckdienlichen Lügen und Masken zu erkennen. Und es war egal, da nur der eigene Nutzen von Bedeutung blieb, für den man sich nötigenfalls gerne jedem erfolgversprechenden Gebilde anschloss. Die Gesellschaft glich in weiten Zügen einem Wertpapiermarkt. Wer dabei jedoch keinen Handel treiben und authentisch bleiben wollte, der entdeckte bald alle Nuancen der Verachtung bis zu nacktem, tödlichen Hass.
Die Sprache bezeichnete man als den Grundstein menschlicher Entwicklung, die Keimzelle der Intelligenz, Grundlage der Kultur. Aber was hatten die Menschen daraus gemacht? Ihre fundamentalste Gabe verkam zu einem perfiden Werkzeug für Machenschaften, die ebenso kleingeistig wie gewaltig waren. Die Hälfte aller Worte schien für Lügen erfunden worden zu sein. Moralische und ethische Grundwerte wurden wann immer nötig verleugnet oder in ihr dienstbares Gegenteil verdreht. Jeder durchschnittlich Gebildete war mit dem entsprechenden Ehrgeiz in der Lage, probate Sätze zu formen, um seine eigennützigen Ziele zu erreichen und sich eine förderliche Lobby zu erschleichen; und er tat es aus dem einfachen Grunde, da in ihm weder Gefühle noch Geistesreife dagegen sprachen und Skrupellosigkeit und Begehrlichkeiten deren Plätze eingenommen hatten.
Nicht nur durch seinen Job wurde Matt tagtäglich mit diesen miesen Gesellschaftsspielen und ihren Auswüchsen konfrontiert - doch es galt mit Kollegen und Nachbarn auszukommen, dafür zahllose Konventionen zu beachten und die Welt, wie sie tatsächlich war, ein ums andere Mal beiseite zu lassen. Er litt unter dem Zerfall und der Umkehrung der letzten und höchsten Werte, und vermisste Wahrhaftigkeit. Sicher, es gab noch immer gute, anständige Leute, wobei selbst die wenigen positiven Strömungen sich bedauerlich oft als persönliche Eitelkeit oder Befriedigung entpuppten oder fremdgesteuert waren, an Authentizität litten und zusammenbrachen, sobald sich ihre Protagonisten anderen Absichten zuwendeten. Dennoch lebten sogar heute noch vereinzelt bemerkenswerte Denker und Dichter, die über das taktische Nachplappern fremder Worte und Erfindungen hinauswuchsen. Doch war ihnen ein unverrückbarer Platz zugewiesen. Sie waren – straffrei, solange sie kein revoltierendes Gedankengut verbreiteten und wenn man von wankelmütiger Zensur absah – verurteilt zu nichts weiter als bedeutungslosem, eitlen Tand; ein fremder Zögling, dessen feineres Wesen, das weder geteilt noch wirklich verstanden wurde, über die Verkommenheit und Geistlosigkeit des Hausherrn hinwegtäuschen sollte.
Das Feuer war mittlerweile fast heruntergebrannt, der Menschenkreis beinahe aufgelöst.
„Ab ins Bett für heute, Fratz! Ich will nicht, dass Du Dich erkältest. Dann zieht mir Deine Mutter das Fell über die Ohren und dafür sind die Nächte noch zu kalt.“ Ein abwesendes Lächeln flog über ihr Gesicht, doch machte sie keine Anstalten, seinen schützenden Arm aufzugeben. Matt glaubte, Sie fixiere einen Punkt am Himmel.
„Der helle Nebel - das ist die Galaxie Andromeda“, versuchte er ihren Blick zu erraten.
„Mhm, ich weiß. Und darüber Kassiopeia. Mama hat mir ein paar Bilder erklärt. Sie sind immer gleich. Immer so schön. Die Sterne mein ich. Glaubst Du, sie wissen wie schön sie sind? Manchmal stell ich mir vor, dass sie zurückschauen und uns sehen und beobachten, was die Menschen tun. Denkst Du, die nächsten Kinder werden noch wissen, wie schön alles mal war?“
Bei dem letzten Satz, der keine Hoffnung mehr kannte, zerfiel der Rest von Matts Schutzschild zu Asche.
„Ach Mary, wie willst du anderen Hoffnung geben, wenn du deine eigene aufgibst? Du darfst nicht so traurig sein!“. Eine ungeschickte Wunschäußerung allein war freilich kein Trost. Das rechte Wort zur rechten Zeit gelang ihm bei aller Sprachlehre ironischerweise nur selten.
„Es liegt noch soviel Zeit vor Dir!“
'Du hast noch so viel zu entdecken.’, hätte er gerne hinzugefügt, wenn er nicht ihre Angst teilen würde und wusste, wieviel Schmerz und wieviel Verlust die Welt für einen wachen Geist bereit hielt. Warum konnte sie keine einfachen Sachen sagen, wie andere Kinder in ihrem Alter!, wünschte er sich einen flüchtigen Moment lang. Wie sollte ausgerechnet er eine Hilfe sein?! Sein eigenes Leben wurde seit so vielen Jahren von niederschmetternden Fragen und dem Gefühl einer seltsamen Deplatziertheit beherrscht.
‚Die mit dem weitesten Horizont haben oft die schlechtesten Aussichten.’ – ihm kam dieser Satz irgendeines klugen Menschen, dessen Namen er vergessen hatte, in Erinnerung. Es hatte kluge Menschen mit klugen Sätzen gegeben – und er fragte sich manches Mal, wie wohl deren persönliches Schicksal ausgesehen haben mochte.
„Hey, wie wärs mit einem kleinen Abkommen?! – Ich erzähl dir noch eine Gute-Nacht-Geschichte und du versprichst mir, vor dem Schlafengehen nicht mehr so betrübt zu sein. Pass gut auf – darin kommen ein paar Tiere vor und ich bin gespannt, ob du das alles von ihnen weißt.“ Matt wartete bis Mary verträumt nickte, und begann, so gut er sich noch erinnerte, mit einem alten Indianer-Märchen, in dem vor langer Zeit, noch bevor es Menschen gab und als die Tiere noch eine gemeinsame Sprache sprachen, eines Tages die Sonne verschwand.