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Andreas Reinhold ist ein typischer Durchschnittsversager. Er verdient sein Geld in einem Job, den er hasst, hat keinerlei nennenswerte Hobbies, sein Beziehungsstatus ist »nicht vorhanden« und sein bester Freund ist ein Typ, den er immer nur in einer Kneipe sieht - besoffen, versteht sich. Andis Wahlheimat stellt die Stadt Chemnitz dar, eine triste und nicht wirklich nennenswerte Ansammlung von Häusern, alten Menschen und Ignoranz. Als wäre sein Leben nicht beschissen genug, wird er obendrein noch überfallen, was seine Überzeugung, stets das Gute in den Menschen zu sehen, stark ins Wanken bringt. Durch dieses Erlebnis und eine neue App auf seinem Handy gewinnt seine Geschichte unfreiwillig an Fahrt. »Was wäre, wenn?« Das Leben ist kein Konjunktiv und dennoch stellen sich Millionen Menschen täglich genau diese Frage. Was wäre, wenn ich mein Schicksal und das meiner Mitmenschen selbst in der Hand hätte? Was wäre, wenn ich die Zukunft gezielt beeinflussen könnte? Was wäre, wenn Newsfeed in mein Leben käme?
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Seitenzahl: 719
Veröffentlichungsjahr: 2021
Begonnen: 08.11.2019
Fertiggestellt: 18.11.2020
David Rother, Dittersbach den 20.11.2020
Andreas Reinhold ist ein typischer Durchschnittsversager. Er verdient sein Geld in einem Job, den er hasst, hat keinerlei nennenswerte Hobbies, sein Beziehungsstatus ist »nicht vorhanden« und sein bester Freund ist ein Typ, den er immer nur in einer Kneipe sieht - besoffen, versteht sich. Andis Wahlheimat stellt die Stadt Chemnitz dar, eine triste und nicht wirklich nennenswerte Ansammlung von Häusern, alten Menschen und Ignoranz. Als wäre sein Leben nicht beschissen genug, wird er obendrein noch überfallen, was seine Überzeugung, stets das Gute in den Menschen zu sehen, stark ins Wanken bringt. Durch dieses Erlebnis und eine neue App auf seinem Handy gewinnt seine Geschichte unfreiwillig an Fahrt.
»Was wäre, wenn?« Das Leben ist kein Konjunktiv und dennoch stellen sich Millionen Menschen täglich genau diese Frage.
Was wäre, wenn ich mein Schicksal und das meiner Mitmenschen selbst in der Hand hätte?
Was wäre, wenn ich die Zukunft gezielt beeinflussen könnte?
Was wäre, wenn Newsfeed in mein Leben käme?
David Rother wurde 1989 in einem Krankenhaus geboren. Er wuchs als Sohn seiner Eltern auf und hat die Schuhgröße 44. Es kommt natürlich darauf an, von welchem Hersteller die Schuhe sind – manchmal trägt er 44,5. Zu enge Schuhe sind schließlich eine Qual!
Davids Hobbys sind unter anderem Tiefseetauchen, Arktisexpeditionen, Bungeejumping und fremde Menschen über seine Freizeitgestaltung anlügen. Wenn er nicht arbeitet, ist er zu Hause anzutreffen. Er ist weder der Hunde- noch der Katzentyp, deswegen hat er beides. Da seine Frau nichts außer Tee kochen kann, ist er meist in der Küche zu finden, wenn er nicht gerade Romane schreibt.
Prolog
Teil I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil II
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Teil III
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Teil IV
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Epilog
Flucht.
Instinktiv handelt der Mensch in Notsituationen in lediglich drei Mustern – Angriff, Erstarren oder Flucht. Die meisten Menschen entscheiden sich für die Flucht oder das Erstarren. Der unbedingte Überlebenswille beherrscht den Menschen wie ein Unwetter das tosende Meer. Er kann nichts dagegen tun.
Chemnitz ist eine Stadt in Sachsen. Eine Stadt in Deutschland. Europa. Diese Stadt gleicht eher einem Loch als einer lebenswerten Metropole. Ein wahres Mekka des Mindestlohns, der alten Menschen und der Perspektivlosigkeit. Ein Loch aus dem Viele versuchen zu fliehen. Wenigen gelingt es, dieser tristen Häuseransammlung im Vorerzgebirge zu entkommen. Das Gro arrangiert sich mit dem Schicksal, in diesem vergessenen Winkel Deutschlands alt werden zu müssen. Sie erstarren. Die meisten Einwohner sind bereits greis. Chemnitz - die Stadt, in der die Menschen durchschnittlich über fünfzig Jahre alt sind. Junge Leute gibt es hier kaum. Die einzige Jugend in den Straßen stellen die Flüchtlinge dar.
Die dunklen Wolken lagen seit Wochen schon über der Stadt. Es war, als ob das Wetter stehen geblieben wäre, um die Tristesse dieser besiedelten Einöde möglichst noch hervorzuheben. Die Tropfen hatten keine wirklich nennenswerte Größe und schwebten in ihrer vom Wind verwehten Leichtigkeit bis in die kleinsten Nischen. Nach diesem viel zu trockenen Sommer schwemmte der Boden nun regelrecht auf und es bildeten sich Pfützen in den riesigen Schlaglöchern der Asphaltdecke. Die vollkommen unebenen Gehwege am Straßenrand überzog eine Seenlandschaft, im Maßstab eins zu einhundert. Wer trockenen Fußes ankommen wollte, musste Parkour laufen oder einen der selten freien Parkplätze direkt vor der Haustür ergattern.
Ihm war es egal, ob er trocken blieb. Er lief so schnell, dass er gerade noch als »unauffällig« durchging.
Wer rennt, macht sich verdächtig. Scheißbullen.
Er wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, etwas Verdächtiges im Schilde zu führen. Doch vor allem wollte er nicht erwischt werden bei dem, was er im Schilde führte. So zügig wie nur möglich eilte er der maroden Haustür entgegen und hielt das Paket dicht an sich. Der Niesel hatte es leicht aufgeweicht und es sollte nicht noch nasser werden. Seine offene Jacke hing er ein wenig davor. Unmöglich konnte er das Paket komplett unter das Kleidungsstück klemmen. Das würde nur unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Viel zu verdächtig.
Viel zu viele Scheißbullen hier.
Mit der freien Hand kramte er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Die Haustür befand sich in einem derart desolaten Zustand, dass eigentlich kein Schlüssel dafür notwendig gewesen wäre. Ein Tritt hätte gereicht, um sie zu öffnen. Ein Stolpern und anschließendes ungünstiges gegen das Holz Fallen, würde sicherlich etwas Ähnliches bewirken. Ja, sogar ein leichtes Niesen in Richtung dieser morschen Bretter hätte möglicherweise ausgereicht, um ins Innere des Gebäudes zu gelangen. Niesen erzeugt unnötige Aufmerksamkeit. Zu verdächtig. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite saß eines dieser Drogenopfer im Hauseingang und beachtete ihn nicht. Wollte ihn nicht beachten. Sah fast schon auffällig weg.
Vielleicht ein Bulle. Undercover.
Er trat ins Treppenhaus und versuchte es zu vermeiden tief einzuatmen. Diesen Geruch fand er schon immer grauenhaft, doch das Haus war Mittel zum Zweck. Im Treppenaufgang benutzte er nur jede zweite Stufe. So schnell wie möglich eilte er seinen Räumlichkeiten entgegen.
Keiner hier will hören, was ich zu sagen habe. Niemand hört zu. Blinde, die eine Wahrheit erst erkennen, wenn es zu spät ist. Keiner glaubt mir.
Ungläubige!
Ihr Schicksal war so gut wie besiegelt. Sie wussten es noch nicht, doch ihre Tage waren gezählt und es blieben ihnen nur noch wenige. Doch noch war er nicht an seinem Ziel. Noch musste er sich verstecken. Und wo konnte man besser untertauchen als in der Höhle der Löwen. Lämmer, welche sich einst als Löwen verkleidet hatten und sich nun für Raubtiere hielten. Das Auge des harmlosen Hurrikans.
Der Ansatz eines Lächelns floh über sein Gesicht, als er an seiner Tür angekommen war. Diese Tür würde niemand so schnell überwinden. Nur er wusste, was sich dahinter verbarg. Er löste alle drei Schlösser und trat in sein Reich. Sein persönlicher Himmel. Nachdem seine nassen Schuhe leichtfüßig über die Schwelle geschwebt waren, atmete er tief ein. So tief, dass es ihm vorkam wie der erste richtige Atemzug seines Lebens. Er roch die hochkonzentrierten Chemikalien, den verbrannten Geruch der Rückstände in den leeren Töpfen und den Triumph, welcher allgegenwärtig in der Luft lag. Das Paket legte er vorsichtig auf den Tisch und öffnete es mit einem der hochwertigen und silbrig glänzenden Messer aus der Schublade. Als sein Blick auf den Inhalt fiel, blieb das bisher flüchtige Lächeln endgültig haften. Es war ein diabolisches Lächeln, das eher einer Grimasse glich als einer durch menschliche Emotionen hervorgerufenen Mimik. Die ausgewaschenen Töpfe stellte er auf die Herdplatten und begann mit dem Vorheizprozess. Bis die Utensilien Betriebstemperatur erreicht hatten begann er sein Ritual und ging hinüber zum Fenster. Er zog die schweren von schönsten chemischen Gerüchen getränkten Decken leicht zur Seite und sah durch die getrübten Scheiben hinunter. Unter ihm lagen die trostlosen Straßen von Chemnitz. Er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie die Stadt ohne Regen aussah.
Wenigstens kein Schnee. Ich hasse Schnee.
Nur wenige Gestalten bewegten sich auf dem Bürgersteig hin und her. Er sah eine alte Frau mit einem Rollator, einen Mann in seinen Mittfünfzigern mit einem Mischlingshund und diesen Typen gegenüber. Dieses Drogenopfer saß noch immer auf den Stufen des Hauseingangs und blickte nach oben.
Das Ritual musste heute leicht abgeändert werden und so zog er die Decke wieder vor das Fenster. Er mochte es nicht, in seinem Reich beobachtet zu werden. Sein Werk war viel zu wichtig. Langsam streifte er sich die gummierten Handschuhe über. Er war bereit. Er war es leid zu flüchten.
Flüchtling.
Es gibt hin und wieder Menschen, die das Muster ihrer Instinkte ändern. Manche wollen es. Andere haben keine Wahl. Sie werden durch die äußeren Umstände und durch die Gesellschaft zum Angriff gezwungen. Das unberechenbarste Tier ist das, welches in die Ecke getrieben wurde und keinen Ausweg mehr hat.
Meine Flucht ist fast vorbei.
Mittwoch, 10.11.2021 – Billies 80‘s Bar
»Auf einer Skala von Eins bis David-Hasselhoff-schafft-es-nicht-seinenBurger-zu-essen, wie betrunken bist du eigentlich gerade?« Er sah Peter in die Augen und versuchte, wie so oft bei diesen wirren Themensprüngen, hinterherzukommen.
»Eine solide Fünf, würde ich schätzen. Johnny Depp nach dem Aufstehen sozusagen.« Peter trank einen großen Schluck von seinem Bier und schüttelte sich leicht. »Sechs jetzt. Wie auch immer. Alpakas! Ich sag es ja nur.«
»Nenn mich Banause, aber mir will sich nicht so wirklich erschließen, wieso du jetzt plötzlich so ein Lama haben möchtest.« Auch Andreas trank einen großen Schluck Bier.
Peter breitete seine Arme zu einer großzügigen Geste aus, wobei er nur knapp an seinem Getränk vorbeifuchtelte und den bärtigen Mann neben sich anstieß. »Alpaka, Andi! Nicht Lama. Lamas sind der Trabbi, Alpakas der Porsche unter den peruanischen Nutztieren. Wusstest du, dass sich diese niedlichen Viecher Kotstellen anlegen? Das heißt, die scheißen immer nur an einem Fleck. Ich müsste nicht jedes Mal die gesamte Wiese reinigen, sondern nur das Stück, an dem Murphy geschissen hat.«
»Murphy?«, fragte Andreas.
»Das ist der Name des Tieres.«
»Nur, dass ich das richtig verstehe: Du hast also schon so ein Ding?«
Peter schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Ich hadere noch mit dem organisatorischen Teil.«
»An was scheitert es denn?«
»Also zunächst sind es Herdentiere. Das heißt, ich müsste mindestens zwei kaufen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass es vereinsamt und stirbt. Oder unglücklich ist. Hast du schonmal ein unglückliches Alpaka gesehen? Das ist genauso bizarr wie lustige Clowns oder fähige Politiker – wider die Natur! Will keiner. Braucht keiner. Dann sind die, entgegen der landläufigen Meinung, recht teuer in ihrer Anschaffung. Zumindest, wenn man zu einem seriösen Züchter geht. Ich will nämlich kein behindertes Tourette-Alpaka, das ständig zuckt und Leute beißt.«
Andreas nickte irritiert, jedoch zustimmend.
Peter hämmerte mit seiner Faust auf den Bartresen, sodass der Typ mit dem Bart erschrak und fast vom Hocker fiel. »Aber ich habe gute Kontakte zu einem äußerst vertrauenswürdigen Züchter in der sächsischen Schweiz und das nötige Geld fast zusammen. Bin seit Wochen am Sparen. Die brauchen auch nicht jeden Tag Kontakt zu Menschen, sodass es egal ist, wenn ich mal ein bisschen länger arbeite.« Er griff nach seinem Glas und trank das Bier aus. »Noch eins, bitte!« Er schob das Glas in Richtung der Barkeeperin. Sie verdrehte deutlich die Augen, nahm wortlos das leere Glas entgegen und begab sich, nachdem sie sich ein sauberes Glas genommen hatte, zur Zapfanlage. »Nun muss ich mir nur noch Gedanken darüber machen, wie ich die beiden Tiere aus der sächsischen Schweiz hier hertransportiert bekomme. Der Züchter hat keinen Lieferservice. Ist ja nicht so, als ob man sich bei Amazon ein Alpaka in den Warenkorb schmeißt und das per Overnightexpress geliefert wird.« Peter kratze sich am Kopf und griff gierig dem neuen Bier entgegen, das ihm die Barfrau hingestellt hatte. Er setzte es an und trank.
»Klingt plausibel«, sagte Andreas. »Auf welcher Wiese sollen die dann stehen?«
Peter hatte das Bier noch vor seinem Gesicht, als sich seine Augen weiteten. Er setzte es ab und spuckte einen Teil der goldenen Flüssigkeit zurück ins Glas. »OH-OH!«
»Wie jetzt?« Andreas musste sich ein Kichern verkneifen.
»Ich habe an alles gedacht, Andi! An ALLES! Außer an die Wiese.« Er sank regelrecht zusammen und verlor sich spürbar in seinen Gedanken.
Andreas konnte sein Grinsen nicht mehr verstecken. »Du sagst also, dass du seit Wochen planst, dir irgendwelche Herdentiere aus den Anden zuzulegen, aber dir völlig entfallen ist, dass du in einer Zweiraumwohnung mitten in Chemnitz wohnst?«
Peter nickte und kramte unterdessen sein Handy aus der Hosentasche. Er legte es auf den Tresen und tippte wild auf dem Screen herum.
»Und was jetzt?«, wollte sein Kumpel wissen.
»Storniere ich die Anzahlung«, nuschelte Peter leise und schon ziemlich lallend vor sich hin.
Genau deswegen kam Andreas regelmäßig zu Billies 80‘s Bar. Nur hier konnte er die negativen Wendungen, welche sein Leben in den letzten Jahren genommen hatte, hinter sich lassen und wirklich entspannen. Peter lernte er zirka vor einem halben Jahr kennen. Streng genommen kannte er ihn schon eher. Peter gehörte sozusagen zum Inventar der Bar, als Andreas zum ersten Mal, am Anfang des Jahres, dieses Lokal betrat. Es war einer dieser einsamen Abende, an denen ihn das Kopfkino plagte und er unbedingt aus seinen vier Wänden fliehen musste. Jenny hatte keine Zeit, also googelte er nach den billigsten Kneipen in Chemnitz. Der Alkohol musste von seinem geringen Budget bezahlt werden können. In der 80‘s Bar wurde er fündig. Hier kostete das Bier so wenig, dass er sich zünftig die Kannte geben konnte, ohne dabei sein Konto überziehen zu müssen. Auch die Shots waren bezahlbar. Das war einer der Gründe, wieso er sich bei seinem ersten Besuch bei Billie regelrecht aus dem Leben geschossen hatte. Bevor alles zu spät war, schob ihm jedoch Billie, die Betreiberin, Barkeeperin und einzige Mitarbeiterin, einen Riegel vor und schmiss ihn raus. Trotzdem zog es ihn wieder und wieder in diese Kneipe. Die nächsten Male hatte er seinen Alkoholkonsum besser im Griff und wenn er wieder drohte, es zu übertreiben, rief ihn die Chefin rechtzeitig zur Räson. Eine professionelle Barkeeperin kennt schließlich ihre Pappenheimer nach dem ersten Absturz und prägt sich die Grenze ein. Genau wie sich eine Verkäuferin ihre Produkte mit den dazugehörigen Preisen einprägt, um ihren Job gut zu machen. Alles in Allem begegnete Andreas in dieser Kneipe immer wieder denselben Menschen. Leute, die irgendwann aus ihren geregelten Bahnen geflogen sind und versuchten, sich hier wieder zu ordnen. In einer Bar. Gute Idee.
»Weißt du noch was über unsere erste Unterhaltung?«, durchbrach er die entstandene Stille.
Peter hatte die Anzahlung offensichtlich storniert, denn er steckte sein Handy zurück in die Hosentasche und sah Andreas verdutzt an. »Du standest am Pissoir neben mir und hast mich gefragt, ob ich wüsste, wie eklig eigentlich so ein Furz ist. Und als ich dir antwortete…«
»…hast du mir auf den rechten Schuh gepisst«, vollendete Andreas den Satz.
Peter war es auch nach über einem halben Jahr noch peinlich. Er errötete leicht. »Ich hatte geantwortet, Fürze seien richtig übel! Man hat etwas in der Nase und im Mund, was ein anderer kurz vorher noch in seinem Arsch hatte.«
»Genau«, erinnerte sich Andreas. »Und dann meintest du, dass so ein Furz sogar ekliger wäre, als fremder Urin auf den Schuhen.«
»Erstens sagte ich ›Pisse‹, Herr Professor«, Peter zuckte mit den Schulten und hob entschuldigend die Hände, »und zweitens hattest du voll einen fahren lassen. Wir waren quitt.«
Sie hoben ihre Biergläser in die Höhe und stießen an.
»Quid Pro Quo, Pete!«
»Quid Pro Quo, Andi!«
Andreas trank leer. »Billie, wärst du so lieb?« Er stellte das Glas auf den Tresen und sah zu wie die Chefin ihm ein neues befüllte. Dann wandte er sich wieder Peter zu. »Wenn du dich so einsam fühlst, wieso holst du dir dann nicht einfach eine Katze? Die kann man in der Wohnung halten.«
»Ich hasse Katzen. Die sind hinterhältig, böse und haben es auf die Weltherrschaft abgesehen.« Peter trank noch einen kleinen Schluck. »Wenn die könnten, würden die dich töten. So ein Killer kommt mir nicht in die Wohnung! Außerdem halten sich nur alte, verzweifelte Menschen Katzen.«
»Pete, du bist fast vierzig. Das ist alt.«
»Sagt ausgerechnet die Mumie.«
Andreas zog eine Augenbraue nach oben. »Du bist ein knappes Jahr jünger als ich. Ja und?«
»Mumie.« Peter zog das Wort trotz seiner alkoholbedingten undeutlichen Aussprache übertrieben in die Länge.
Die Barkeeperin stellte das Bier auf den Tresen und tippte mit ihrem Zeigefinger auf die billige Casio-Uhr an ihrem Handgelenk. »Jungs, denkt ihr dran, dass ich hier Punkt Null Uhr die Schotten dicht mache?«
Andreas versuchte die aktuelle Uhrzeit an Billies Casio abzulesen, doch die kleinen dunklen Zahlen konnte er nicht erkennen. Zum einen, weil er bereits heftig getankt hatte und zum anderen, weil die Zahlen tatsächlich klein und dunkel waren. Er zog sein Handy aus der Hosentasche. Kurz tippte er den Knopf an, welcher seitlich an dem Gerät angebracht war und das Display leuchtete hell auf. Er benötigte ein paar Sekunden, um etwas erkennen zu können. Eine Nachricht von Sandra.
Gerade, als er die Nachricht öffnen wollte, berührte Peter sein Schienbein mit der Schuhspitze. »Hey, Big Ben, wie spät ist es denn?«
»Hast du kein eigenes Handy mit Uhrzeit?«, fragte sein Gegenüber gespielt genervt.
Peter klopfte auf das rechte Hosenbein seiner engen Jeans. »Bin zu faul, es erst rauszufummeln.«
Andreas schloss die Nachricht von Sandra, ohne sie gelesen zu haben und sah in die obere rechte Ecke des Bildschirms. »Dreiundzwanzig-Dreißig.« Er steckte das Telefon zurück. »Gehen wir mal von der Katze weg. Wäre ein Hund nix für dich?«
»Da habe ich tatsächlich drüber nachgedacht. Das große Problem bei Hunden ist, dass ich nicht wüsste, für welche Sorte ich mich entscheiden sollte.«
»Du meinst Rasse«, verbesserte Andreas ihn.
»Nein. Sorte!«, erklärte Peter in strengem Ton. »Es gibt ganz konkret drei Sorten von Hunden. Erstens wären da die Hunde, die beißen. Klar will ich einen Hund, der mich im Notfall beschützen kann, wenn böse Leute mir an die Wäsche wollen …«
»So wie dich ein Alpaka beschützt?«
Peter ignorierte die Frage. »… doch wenn der Köter einmal beißt, dann macht der das immer. Du kennst ja den Spruch mit dem Blut lecken. Vielleicht beißt der dann irgendwen, der unschuldig ist oder ein Kind oder, Gott behüte, einen Typen, der mich deswegen verklagt. Ich bin miserabel haftpflichtversichert. Sorte Zwei sind Hunde, die nur bellen. Man sagt ja, Hunde, die bellen, beißen nicht. Sobald der Bösewicht das Sprichwort kennt, bin ich geliefert. Dann sticht mich einer in der Innenstadt ab und meinen Hund gleich mit, weil der ja nur sinnlos bellt.« Peter nahm einen großen Hieb vom Bier. »Wenn dem dann nachts in meiner Wohnung einfällt, dass er unbedingt bellen muss, kann ich nicht mehr schlafen. Dann klingelt der Nachbar und sticht mich ab.«
»Du hast ziemliche Angst davor, abgestochen zu werden«, stellte Andreas in seinem steigendem Alkoholrausch so nüchtern wie möglich fest.
Peter schmiss die Feststellung mit einer Wegwerfgeste über seine Schulter, zu dem bärtigen Typen hinter sich. Dieser war mittlerweile vorn übergesunken und lag schlafend mit dem Kopf auf dem Holz des Tresens. »Wir leben in Chemnitz. Hier werden ständig Menschen abgestochen.«
Andreas zog die Mundwinkel nach oben. »Das ist doch schon über drei Jahre her jetzt.«
»Was auch immer.« Peter musste sich kurz sammeln, um den verlorenen Faden des Gesprächs wiederzufinden. »Drei Sorten Hunde. Hunde, die beißen, Hunde, die bellen und Werfer.« Andreas standen Fragezeichen ins Gesicht, daher wurde er konkreter. »Die Werfer sind kleine Hunde, welche weder beim Beißen noch beim Bellen den gewünschten Wirkungsgrad erzielen – also den Bösewicht in die Flucht schlagen.«
»Ich begreife es noch nicht«, erklärte Andreas. »Wieso dann Werfer?«
»Die kannst du nur noch werfen!«, rief Peter übertrieben laut und schlug dabei mit der flachen Hand auf das Holz der Bar, sodass der Bärtige hochschreckte und sich verwirrt, mit einem Sabberfaden in der Gesichtsbehaarung, umsah.
»Du nimmst das arme Tier also in die Hand und…«
»…wirfst deinem Angreifer diesen kleinen Kläffer direkt ins Gesicht!«, beendete Peter den Satz. »Dann nimmst du die Beine in die Hand und läufst wie der Teufel! Wenn du Glück hast, beißt sich dein Yorkshire Terrier, oder was auch immer, noch im Gesicht des Bösewichts fest. Wenn du Pech hast und vorher vergisst, die Leine abzumachen, kommt die Fußhupe zurück wie ein verdammter Bumerang.«
Andreas führte sich das Schicksal des kleinen Hundes vor Augen und wurde, vielleicht auch alkoholbedingt, plötzlich sehr sentimental. »Das ist ja schlimm!«
»Ja«, bestätigte Peter. Da stimmt die Kosten-Nutzen-Bilanz überhaupt nicht. Ist wie bei so einer Einwegkamera von Kodak aus den Neunzigern. Erinnerst du dich an die Dinger?«
Da waren sie wieder. Die Themensprünge, die jedes noch so schwachsinnige Gespräch mit Peter auf eine sonderbare Art und Weise anspruchsvoll machten. Andreas hatte das letzte Thema allerdings noch nicht abgeschlossen. »Ich finde, wenn du wirklich ernsthaft über Haustiere nachdenkst, solltest du eventuell Goldfische in Erwägung ziehen.
»Die schmecken furchtbar.« Peter zog angeekelt seine Oberlippe nach oben und sog das Bier wie ein Staubsauger in sich hinein. Das Glas war in Bruchteilen von Sekunden wieder leer. Auch sein Mittrinker zog nach und schluckte sein halbes Glas auf ex. Der Sabberbart von nebenan hatte gerade bezahlt und wankte in Richtung des Ausgangs, als die Barkeeperin wortlos die leeren Gläser an sich nahm und zwei neue befüllte. »Das letzte für Heute. Danach schmeiß ich euch raus«, erklärte Billie. Andreas und Peter salutierten und sahen mit Silberblicken zu ihr hoch. Sie verdrehte die Augen und spülte stumm die benutzen Gläser ab. Aus den Lautsprechern an der Decke dröhnte der Song Girls Just Want To Have Fun von Cyndi Lauper. Die Kneipe hieß Billies 80‘s Bar und zumindest musikalisch war der Name Programm. Billie spielte zwar jeden Abend die gleiche Achtziger-Playlist über Spotify, doch das störte die Wenigsten, da die Musik beim Kummer-Saufen zweitrangig wird. Cyndi begann die zweite Strophe mit der Zeile »The phone rings…«
»Verstehst du da auch immer ›Da vorne links…‹, wenn sie das singt?«, fragte Andreas und schob sich mit dem Zeigefinger seine Brille ein kleines Stück den Nasenrücken hoch. Er wusste, dass dieser Move stets so aussah, als wäre er der Oberstreber schlechthin, doch da saß nur Peter und der war zudem mittlerweile rund wie ein Buslenker.
»Ganz klassischer Agathe-Bauer-Effekt«, erklärte Peter sachlich. Natürlich lallte er dabei, als hätte er den Mund voller Murmeln. Auch sah er Andreas nicht mehr direkt in die Augen, sondern wenige Millimeter daran vorbei. Doch trotzdem wirkte er beherrscht. Er mimte immer den nüchternen Besserwisser, wenn er eigentlich schon lange drüber war. Andreas staunte, dass Billie es an diesem Abend so ausreizte mit den beiden. Sie war wohl froh über jeden Cent, den sie sich mit dieser Spelunke verdiente, also konnte sie schlecht ihren Kunden verbieten, bei ihr einzukaufen. Solange die Kundschaft nicht deutlich an einer Grenze des Konsums angelangt war, in der möglicherweise etwas zu Bruch gehen könnte und der Kosten-Nutzen-Faktor sich ins Negativ begab, schenkte sie aus. Es war ein schmaler Grat. Billie war mittlerweile in einem Alter, in dem sie ganz sicher keinen neuen Job in dieser Stadt finden würde. Daher musste sie entweder aus ihrer Unternehmung Profit schlagen oder sie schließt die Bude und erledigt beschissen bezahlte Minijobs, mit denen sie sich kaum über Wasser halten kann, um anschließend in die Altersarmut abzurutschen. Rosige Aussichten.
Peter riss Andreas aus seinen Gedanken. »Kennst du den Song, in dem dieser eine Kerl ›atmosphere‹ singt und so ziemlich jeder Deutsche das Wort ›Erdnussbier‹ versteht?«
»Agathe Bauer.« Er sagte die Worte als wäre es ein Trinkspruch und hielt seinem Kumpel das frisch gezapfte Blonde entgegen.
Peter hob sein Glas, welches er erst nach dem dritten Versuch richtig zu Greifen bekam und sah seinem Gesprächspartner in die Augen. Na ja, zumindest, zu der Stelle, an der er Augenkontakt vermutete. »Agathe Bauer!« Sie stießen ihre Gläser so heftig gegeneinander, dass einiges vom weißen Schaum auf dem Tresen landete. Nachdem sie getrunken hatten, fiel Andreas auf, dass sie, abgesehen von der Chefin, die letzten in der Kneipe waren. »Was machst du, wenn du dann zu Hause bist?«, wollte er wissen.
»Ich werde wohl Netflix in meiner Unterhose schauen und mir noch einen Absacker reinstellen. Dann schlafe ich in einer vollkommen lächerlichen Position auf der Couch ein und wundere mich morgen früh über die Nackenschmerzen. Und du?«
Andreas wippte seinen Kopf hin und her. »Wird bei mir so ähnlich werden. Nur Netflix in der Unterhose lasse ich weg.«
»Wieso?«, fragte Peter, wohl mehr aus Anstand, als aus Interesse.
»Weil ich kein Netflix in meiner Unterhose habe.«
Stille trat ein. Die Pegelstände in den Gläsern verringerten sich gleichmäßig und exakt null Uhr stand Billie vor ihnen. In den Händen hielt sie einen dicken, ledernen Geldbeutel. »Zahltag, Männer.«
Andreas und Peter beglichen die Rechnungen und zogen sich an. Andreas trug, wie so ziemlich immer bei Temperaturen unter zehn Grad, einen dunkelbraunen Mantel. Sein Kumpel schmiss sich in seine, völlig aus der Zeit gefallene, Camouflage-Bomberjacke. Jetzt, da Andreas stand, bemerkte er wie der Alkohol im Blut zuschlug. Der Suff versuchte ihm die Beine wegzuziehen. Doch er hielt sich wacker und schwankte auf den Ausgang zu. Der gesamte Boden in der Kneipe schien instabil geworden zu sein und bewegte sich willkürlich hin und her. Er hielt dagegen, indem er sich jeder Neigung entgegenlehnte. Der Ausgang kam kontinuierlich näher. Drei Versuche benötigte er, um die Türklinke zu ergreifen.
Du Scheißteil! Hör endlich auf, meiner Hand auszuweichen!
Hinter der Tür schlug Andreas unvermittelt die kalte und nasse Chemnitzer Nachtluft entgegen. Seine Nasenflügel blähten sich, als er einen kräftigen Zug in sich aufnahm. Zunächst war es unangenehm, da die Kälte ihm ins Gehirn und anschließend in die Lunge schoss. Doch nach nur einem weiteren Zug wurde sein Kopf klarer und er fühlte sich fast schon wieder nüchtern. Die Welt um ihn herum schwankte kaum noch und seine Augen stellten sich wieder scharf. Er konnte nun die Konturen der Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite deutlich erkennen. Das Licht der Laternen spiegelte sich in den Pfützen, welche sich in unzählbaren Mengen auf der Oberfläche des unebenen Asphalts bildeten. Ein Auto fuhr vorbei. Die viel zu lauten Bässe aus dem Inneren des Wagens legten sich Andreas auf den Magen und verursachten plötzliche Übelkeit. In seinem Mund nahm der Speichel explosionsartig überhand und er spuckte ihn auf den Bordstein am Straßenrand. Der Speichel schmeckte merkwürdig sauer. Er realisierte erst, dass er sich erbrochen hatte, als Peter ihm den Rücken tätschelte.
»Andi, hast du grade echt vor die Bar gekotzt? Hättest du nicht wenigstens noch zehn Meter weggehen können? Wenn das Billie sieht, ist sie nicht begeistert. Wir kriegen noch Hausverbot, weil du dich nicht beherrschen kannst. Kenne dein Limit, sag ich da nur. Das nächste Mal ka…« er stockte mitten im Satz und übergab sich ebenfalls. Peter traf fast genau dieselbe Stelle wie Andreas nur wenige Sekunden zuvor. Jedem anderen wäre das nach solch einer Ansage im Vorfeld peinlich gewesen. Peter nicht. »… kannst du dir drinnen einen Eimer Wasser geben lassen und den Mist wegspülen«, beendete er seinen Satz, als hätte er ihn nie unterbrochen. Er wischte sich mit der flachen Hand über den Mund und sah nachdenklich zum Straßenrand. »Aber du scheinst Glück zu haben. Der Niesel macht das für dich.«
Da kaum feste Bestandteile dabei waren, zerrte das Regenwasser bereits kurz nach dem Erbrechen die sauren Pfützen in Richtung des Regenwassereinlaufs. Andreas und Peter beobachteten schweigend den Vorgang, zum Teil angeekelt, zum Teil fasziniert.
Peter klopfte seinem Barkumpel auf die Schulter. »Wir sehen uns.« Er wankte schließlich in einem eigenartig gleichmäßig-unregelmäßigen Schritt davon. Andreas sah ihm für einen Augenblick hinterher und setzte sich dann selbst in Bewegung. Die Welt um ihn herum hatte sich langsam wieder eingepegelt, trotzdem musste er einen Fuß vorsichtig und hochkonzentriert vor den anderen setzen, um heil nach Hause zu kommen. Bis zu seiner Wohnung benötigte er von Billies Bar aus zirka zwanzig Minuten. Zu dieser Uhrzeit fuhren die öffentlichen Verkehrsmittel selten bis gar nicht mehr, weswegen er sich entschloss, direkt durch die Innenstadt zu laufen. Eigentlich mochte er diese Strecke nicht sonderlich, weil sie ihn durch den Stadthallenpark führte. Oder zumindest knapp daran vorbei. Seit der großen Flüchtlingswelle von 2015 war das kleine Stück Grün mitten in Chemnitz einfach nicht mehr wie vorher. Er selbst glaubte nicht an die hirnlose Propaganda der rechtspopulistischen Partei Pro Chemnitz. Diese Spinner versuchten nun bereits seit Jahren alles Übel in der Stadt den Ausländern in die Schuhe zu schieben. Natürlich war es auffällig, wie die Araber und Osteuropäer tagtäglich im Park saßen und sich gegenseitig Drogen zusteckten. Aber es mischten sich ebenso viele in Deutschland geborene gescheiterte Existenzen dazwischen. Und solange die unter sich blieben, konnte ihm das völlig egal sein. Ihm war auch noch nie etwas Negatives widerfahren, wenn er tags oder nachts durch den Stadthallenpark lief. Dem Ordnungsamt, der Polizei und der Stadt waren die dortigen Drogenübergaben ein Dorn im Auge, weswegen regelmäßig Razzien stattfanden. Das brachte kaum etwas. In der heißen Jahreszeit veranstaltete die Stadt den sogenannten Parksommer. Auf einer Bühne mitten auf der zentralen Wiese fand dann jeden Abend eine kleine Veranstaltung statt, die das gutbürgerliche Klientel, welches den Fleck mittlerweile mied, auf die Grünfläche zurückholen sollte. Die Veranstaltung lief vier Wochen und ab Woche fünf wurde die Bühne abgebaut und alles war wie immer. Augenwischerei, wenn man Andreas fragen würde.
Seine Schritte wurden mit jedem einzelnen stabiler und er genoss es, die kalte Nachtluft tief einzuatmen. Da es ohne Unterlass nieselte und das schon seit Tagen, wenn nicht sogar Wochen, roch die feuchte Umgebung leicht säuerlich. Nahezu modrig. Wie, wenn man die frisch gewaschene Kleidung zu zeitig in den Schrank legt und sie einige Zeit später – noch immer klamm – anziehen will. Man stülpt sich den Pullover über und riecht sofort, dass etwas nicht stimmt. Der Gammel-Gestank war sinnbildlich für Chemnitz. Eine Stadt, die einfach der falschen Pflege anheimfiel.
Passanten gab es zu dieser Uhrzeit kaum. Erst lief ein ebenso besoffener Typ an ihm vorbei und anschließend kam ihm eine Gruppe Jugendlicher entgegen. Sicherlich aus der Spätvorstellung des Kinos. Das Kino befand sich im obersten Stockwerk der Galerie Roter Turm. Das war ein Einkaufszentrum in der Mitte der Stadt. Die Galerie war nach dem gleichnamigen Überbleibsel der alten Stadtmauer benannt. Das historische Bauwerk befand sich exakt zwischen dem Shoppingcenter und der Stadthalle. Der Turm aus rotem Backstein markierte den südlichen Eingang des Stadthallenparks.
Andreas vergrub die Hände in seiner Manteltasche, während er an der fröhlichen Kinogesellschaft vorbeiging. Sie wirkten ausgelassen und blödelten herum. Ein blonder Junge, um die siebzehn, gestikulierte wild. »Dann stirb zweimal! BAM-BAM!« Er hielt seine Finger dabei zu einer Pistole geformt und bedrohte feixend seinen Kumpel. Alle lachten ausgelassen über den offensichtlichen Insider aus dem eben gesehenen Film.
Augenkontakt vermied Andreas in solchen Situationen gern. Er hatte sehr zeitig in seinem Leben die Erfahrung machen müssen, dass dies als Provokation galt, wenn man den falschen Leuten begegnete. Seine Hände stülpten sich noch tiefer in die Taschen und seine Arme wurden steif, als die Gruppierung auf seiner Höhe war. Sie beachteten ihn nicht und er lockerte sich wieder. An der nächsten Ecke bog er ab und lief geradewegs auf den Roten Turm zu. Das Glück schien auf seiner Seite zu sein. Der Stadthallenpark war augenscheinlich leer.
Bei diesem Scheißwetter hat auch niemand Bock hier draußen zu sein.
Zwischen dem Turm und der Galerie stand im Laternenschatten des Gebäudes ein VW-Transporter der Polizei. Die hingen nahezu jeden Abend dort herum. Nur wenn es Schlägereien oder Überfälle im Park gab, waren die aus irgendeinem Grund nie da.
Die Bullen sind immer nur da, wenn man sie nicht braucht.
Im vergangenen halben Jahr war es ihm immer wieder passiert, dass er an dem Auto vorbeilief und einer spontanen Personenkontrolle unterzogen wurde. Die Cops ließen sich dabei immer reichlich Zeit. Und da er in seinen Zwanzigern ab und zu mit Cannabis erwischt wurde, zogen die jedes Mal das volle Programm durch. Taschen leer machen. Arme hoch. Beine breit…
An der Motorhaube des Wagens lehnten zwei Gesetzeshüter. Einer der beiden rauchte, der andere stand mit dem Rücken zu Andreas.
Sorry Jungs, aber ich habe grad keine Ambitionen, eure zärtlichen Berührungen über mich ergehen zu lassen. Fuck Cops.
Er bog zeitiger als ursprünglich geplant in den Park ab und versuchte, auf den ausgeleuchteten Pfaden zu bleiben. Diese wurden nur sparsam mich Licht verwöhnt, doch immerhin war es nicht in Gänze dunkel. Die Gefahr, dass sie ihn entdeckten und »Halt! Polizeikontrolle« riefen, bestand noch immer, doch dafür hatte er sich einen Trick überlegt. Er kramte sein Handy aus der Tasche und hielt es sich ans Ohr, um im Zweifelsfall behaupten zu können, er hätte sie nicht gehört, weil er telefoniert habe. Einmal gelang ihm dieser Bluff bereits. Da Bullen von Haus aus unglaublich lauf-faul sind, ließen sie ihn ziehen und machten sich nicht die Mühe, ihm hinterherzurennen.
Aufgrund der Dunkelheit trat er in eine sehr tiefe Pfütze und sofort bemerkte er, wie sein Schuh sich mit Wasser vollsaugte. Er blieb kurz stehen, um nach hinten zu sehen. Die beiden Uniformierten waren außer Sichtweite. Er drehte seinen Kopf nach vorn und senkte das Telefon vom Ohr weg. Plötzlich verspürte er einen dumpfen Knall, der ihn frontal auf den Brustkorb traf. Durch den Aufschlag blieb ihm die Luft weg, während er nach hinten stolperte und mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Nach zwei Schritten trat er abermals in die Pfütze, stellte sich dabei selbst ein Bein und setzte sich schmerzhaft auf seinen Hintern. Das dreckige Regenwasser bremste seinen Sturz nicht im Geringsten. Er spürte wie sich seine Jeans voll Wasser sog, während er panisch nach Luft schnappte. Sein Handy blieb trocken, da er es mit der einen Hand noch immer fest umklammert hielt. Indes stütze er sich auf die andere, die freie Hand, und schob sich aus der Pfütze hinaus. Als er nach oben sah, wusste er woher der unvermittelte Schlag kam.
»Du. Gib mir Telefon! Gib Geld!« Vor ihm stand eine Gruppe von drei Leuten. Sie alle trugen dunkle Kleidung und waren vor der Kulisse des finsteren Stadthallenparks kaum wahrzunehmen. »Yallah, Sibbi!«, setzte der Typ in der Mitte aggressiv nach.
Andreas stütze sich vom Boden ab und stellte sich aufrecht vor die Gruppierung. Alle drei gingen einen Schritt auf ihn zu. Er wich zurück. Die drei hatten zu ihrer dunklen Kleidung auch noch dunkle Haare, dunkle Augen und einen dunkeln Teint. Andreas versuchte, die Gesichter der drei zu erkennen, doch es gelang ihm nicht auf Anhieb. Nur langsam stellten sich seine volltrunkenen Augen scharf. Die Jungs konnten ihrem Aussehen nach kaum über zwanzig sein. Der linksstehende Typ meldete sich nun auch zu Wort. Er zischte etwas auf Arabisch (vermutlich). Es klang wie »Brechbohnensalat!«
Agathe Bauer.
Der junge Kerl auf der rechten Seite blieb stumm. Andreas fiel der glänzende Gegenstand in seiner Hand auf. Der junge Mann hielt seinen Arm gerade nach unten. Aus seiner geballten Faust lugte eine Messerklinge. Ihr bedrohliches Metall reflektierte glitzernd das Laternenlicht, welches hinter Andreas am Rande des Parks leuchtete. Erst jetzt begriff Andreas den Ernst der Lage. Sein Herz setzte einen Schlag aus und er verspürte ein unangenehmes Kribbeln in der Brust. Er war von einer Sekunde zur nächsten stocknüchtern und suchte nach einem Ausweg.
»HANDY, GELD, BRECHBOHNENSALAT!«, schrie der Typ in der Mitte und alle drei liefen vorwärts.
Brechbohnensalat – igitt.
Andreas wurde übel.
Donnerstag, 11.11.2021 – Galerie Roter Turm, Chemnitz Mitte
»Die fünfte Jahreszeit«, nuschelte er, während sie warteten.
Andreas reagierte zunächst nicht.
»Na Faschingsbeginn. In bisschen was über zehn Stunden. Dann geht die fünfte Jahreszeit wieder los und die Karnevalsvereine drehen durch. Ich habe diesen Scheiß nie wirklich verstanden.«
»Mh«, sagte Andreas in Gedanken versunken.
»Sie etwa?«
Er sah zu dem Mann in der stechend blauen Jacke hoch. »Was jetzt?«
»Diesen Zinnober, der um Fasching gemacht wird? Oder Karneval, wenn Sie so wollen.«
»Nein.« Andreas las die Schrift auf der Jacke: »Center-Security«. Seine Jeans war noch immer nass. Die Holzbank, auf der er saß, war kalt und hart. Sein Gesäß tat weh wie noch nie und er rutschte nervös hin und her. »Wie lange brauchen die denn?«
Der Security schnaubte hörbar und sah auf seine Armbanduhr, wie er es in den letzten drei Minuten gefühlte hundert Mal getan hatte. »Normalerweise sind die ziemlich schnell hier. Aber keine Sorge. Bei mir sind sie sicher.« Er tippte das Pfefferspray an seinem Gürtel an, während er das sagte. Dann zwinkerte er mit seinem braunen Auge, also dem rechten. Sein linkes Auge war blau, was ihm die Aura eines Irren verlieh. Doch für einen Irren wirkte er ziemlich nett. Schließlich hatte er Andreas geholfen, nach der Flucht vor den Arabern. Und er hatte die Cops alarmiert. Was sich im Nachhinein betrachtet als keine gute Idee herausstellte, denn sie warteten nun schon seit einer guten Viertelstunde auf die Schutzmänner.
Andreas sah sich um. Das Licht im Eingangsbereich des Shoppingcenters wirkte dunkler als sonst. Wenn er während der offiziellen Öffnungszeiten die Galerie Roter Turm betrat, ähnelte die Beleuchtung stets dem Flutlicht in einem Fußballstadion. Er fragte sich, ob es daran lag, dass sie das Deckenlicht im langen Gang gedimmt hatten oder weil die Läden rechts und links des Ganges finster waren. Der Bücherladen gegenüber hatte zum Beispiel das metallene Rolltor heruntergelassen und die Romane, Sachbücher, Reiseführer und Mangas dahinter lagen in einer nahezu gespenstischen Finsternis. Der Security füllte seine Jacke gut aus. Er war weder besonders fett noch besonders muskulös. Es war wohl eine Mischung aus beidem. Zu einem Hundertmetersprint hätte Andreas ihn herausfordern können. Zu einem Faustkampf im Ring lieber nicht. Doch an diesem Abend hatte er weder Lust noch die Kraft auf Wettrennen oder Kämpfe. Er war in dieser Nacht weit genug weggerannt – vor einem Kampf.
»Sie haben ziemlich geladen«, stellte der kräftige Mann fest.
»Wirke ich etwa betrunken auf Sie?« Andreas starrte in die verschiedenfarbigen Augen des Center-Mitarbeiters und fragte sich, ob sein vorausgegangener Bierkonsum dermaßen auffiel.
»Zumindest haben Sie eine Alkohol-Fahne«, sagte der Mann sachlich. »Wie ein Spiegeltrinker kommen Sie mir nicht vor. Und Sie lallen ein bisschen. Also nicht stark. Nur so, dass Sie die Satzenden verschlucken.« Er rieb sich mit der flachen Hand über den Hinterkopf. Seine Frisur – falls man sie so nennen konnte – bestand aus wenigen Millimeter langen Haaren, die auf dem gesamten Schädel die gleiche Länge hatten. Gesichtsbehaarung hatte er keine. »Die wenigen Sätze, die Sie bis jetzt gesagt haben«, setzte er nach. Er tippelte nervös von einem Fuß auf den anderen und sah wieder und wieder auf seine Armbanduhr.
»Wie spät?«, fragte Andreas.
»Kurz vor eins«, antwortete er, während er den Betrunkenen von Kopf bis Fuß eingehend betrachtete. »Tut Ihnen irgendwas weh?« Diese Frage hatte er schon einmal gestellt. Kurz nachdem Andreas durch die offene Glastür gestürzt kam und ihm seine Situation geschildert hatte.
»Ich brauche immer noch keinen Rettungswagen, falls Sie das wissen wollen«, stellte er klar.
Der Mann in der blauen Jacke nickte verständnisvoll. »Gut. Hätte ja sein können, dass sie nun irgendwas merken, nachdem die Endorphine und das Adrenalin sich aus Ihrer Blutbahn entfernen.« Abermals rieb er seinen Hinterkopf. »Könnten Sie mir einen kleinen Gefallen tun?«
Andreas sah ihn erwartungsvoll an.
»Wenn die dann eine Anzeige mit Ihnen machen wollen oder sowas, könnten Sie das bitte außerhalb der Galerie machen? Ich hätte nämlich eigentlich lange schon Feierabend und bin nur noch wegen Ihnen hier. Ja und wenn die Polizei Sie dann noch hier drinnen vernimmt, komm ich nie heim.« Seine verschiedenfarbigen Augen formten einen Hundeblick.
Der Blick eines irren Hundes.
Andreas nickte und sein Oberkörper wippte durch die Kopfbewegung leicht nach. Es sah in Richtung der Glastüren am Eingang. Noch immer war dort draußen in der Dunkelheit keinerlei Bewegung auszumachen. Er verließ wegen dieser beschissenen Bullen seinen ursprünglichen Weg und geriet deswegen in diese Misere. Als er sie dann brauchte, waren sie verschwunden. Und nun kamen sie nicht herzu.
Von je her konnte er diesen Scheißverein namens Polizei nicht leiden. Da er in einem Dorf aufgewachsen war, hatte er als Kind nicht viel Umgang mit den Hütern des Gesetzes gehabt. Doch seit er mit Anfang zwanzig nach Chemnitz gezogen war, pflegte er regelmäßigen (unfreiwilligen!) Kontakt zu dieser überbezahlten Trachtentruppe. Einmal zu einer sogenannten Verkehrskontrolle. Er fuhr noch schnell einkaufen. Ein typischer Junggeselleneinkauf. Eine Dose Nudeln, eine Tafel Milka und eine Dose Mixery. Sein Zuhause war keine fünfhundert Meter von dem Laden entfernt, weshalb er kurzerhand auf den Sicherheitsgurt verzichtete. Sein erstes Auto veranstaltete auch noch keines dieser nervigen Piep-Konzerte, wenn man einmal vergaß sich anzuschnallen. Es war ein warmer Sommertag und er fuhr in seinem weißen Shirt bei offenem Seitenfenster über die Straßen des Wohngebietes. Als hätten sie nur auf ihn gelauert, zogen die Bullen aus einer Seitengasse heraus und schalteten das Blaulicht ihres Streifenwagens ein. Andreas dachte sich nichts weiter und lenkte seinen alten Seat an den Straßenrand. Er war der festen Überzeugung, dass sie ihn lediglich überholen wollten – vielleicht, um richtige Verbrecher zu fangen – und brachte sein Auto zum Stehen. Weit gefehlt. Die beiden übergewichtigen Waffenträger hielten mit ihrem Wagen direkt hinter seinem Wagen und stiegen fast zeitgleich aus. Sie näherten sie rechts und links dem Seat. Er nutzte die Zeit, in der sich die beiden aus ihrem, für deren Körperbau zu niedrigem, Fahrzeug quälten, um sich nachträglich anzuschnallen.
»Polizeihauptmeister soundso. Das ist mein Kollege Polizeihauptmeister soundso. Blablabla, allgemeine Verkehrskontrolle. Führerschein und Fahrzeugpapiere«, verlangte der dünnere von beiden, welcher an Andreas‘ Seitenfenster stand. Wobei das Wort dünner irreführend ist, da der eine vielleicht hundertfünfzig Kilo und der andere hundertsechzig Kilo auf die Waage brachte.
Andreas kramte im Portmonee nach seinem Führerschein und griff im Handschuhfach nach der Zulassung. Er übergab es an den Dünneren und dieser verschwand wortlos in Richtung des Polizeiautos.
Es setzte sich der hundertsechzig-Kilo-Typ in Bewegung. Er stellte sich vor das Auto. »Abblendlicht«, rief er Andreas zu. Der tat wie verlangt und drehte and dem kleinen Rädchen links des Lenkrades. »Blinker links«, rief der Bulle. Der Fahrzeugführer betätigte den entsprechenden Hebel. »Blinker rechts.« Andreas folgte. Auf diese Art kontrollierte der Hauptmeister jedes Licht am Fahrzeug. Anschließend sah er sich die Profiltiefen der Reifen an und zum Schluss wollte er noch die »mitführungspflichtigen Gegenstände« sehen. Andreas öffnete dazu zitternd die Kofferraumklappe, da er genau wusste, was sich dort befand. In der Hoffnung, das Tütchen unbemerkt verschwinden lassen zu können, griff er noch beim Öffnen nach der Filzmatte, die den Kofferraum vom Ersatzreifenfach trennte und hob diese schnell hoch. Das Cliptütchen rutschte wie geplant bis zum Rücksitz und verschwand aus dem Sichtfeld. Der Dicke bemerkte offensichtlich nichts und wartete auf die Vorführung der benötigten Utensilien. Andreas hielt die Matte kontinuierlich nach oben und griff mit seiner freien Hand nach dem Sani-Kasten. Uniform-Fetti nickte zustimmend, also griff Andreas nach dem Warndreieck, welches sich in einer stabilen Plastikbox befand.
»Zusammenbauen«, befahl der Bulle in einem Ton, der jede Diskussion bereits im Vorfeld im Keim erstickte. Andreas trat eine Schweißperle auf die Stirn. Diese Aufgabe konnte er unmöglich einhändig erfüllen. Ihm stockte der Atem, während er die Filzmatte fallen ließ. Er stellte sich möglichst breit ins Sichtfeld des Polizisten und baute souverän das Dreieck zusammen. Dabei war er bemüht, sein nervöses Lächeln nicht zu nervös aussehen zu lassen. Der dicke Bulle nickte. Andreas drehte sich in einer flüssigen Bewegung herum, hob die Matte und legte das Warndreieck zurück in die dafür vorgesehene Aussparung neben dem Ersatzrad. Dann schmiss er die Kofferraumklappe zu und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, nicht erwischt worden zu sein.
Der Dicke wirkte desinteressiert, während er Andreas anbot, im Seat zu warten. Fahrzeugführer setzte sich erleichtert auf den Fahrersitz seines Autos und sah auch schon den anderen Polizisten im Rückspiegel auf sich zukommen. Auf dem Weg zur Fahrertür blieb er für einen Moment stehen und unterhielt sich mit seinem Kollegen. Es dauerte lediglich wenige Sekunden und er kam die letzten vier Schritte bis zum offenen Seitenfenster.
»Also Folgendes, Herr Reinhold. Da Sie ohne Gurt im Straßenverkehr unterwegs waren, haben Sie eine Ordnungswidrigkeit begangen, die ein Verwarngeld nach sich zieht. Dabei reden wir von dreißig Euro. Können Sie es hier vor Ort zahlen oder muss ich Ihnen eine Rechnung nach Hause schicken?«
»Moment«, sagte Andreas, ohne mit dem Bullen diskutieren zu wollen, und kramte einen Zwanziger und einen Zehner aus seinem Portmonee. Er übergab es an den Hauptmeister und bekam von diesem eine Quittung. Der Polizist hielt Andreas Führerschein und die Zulassungspapiere entgegen.
»Ach, noch eine Kleinigkeit«, sagte er süffisant lächelnd und zog die Papiere wieder ein Stück zurück. »Die Drogen in Ihrem Kofferraum, Herr Reinhold, geben Sie die freiwillig heraus oder müssen wir die beschlagnahmen?«
Das »Ah!« des Security-Mannes mit den verschiedenfarbigen Augen holte ihn aus seinen Gedanken und er schaute zur Glastür, durch die in diesem Augenblick die beiden längst erwarteten Polizisten kamen. Schnellen Schrittes eilten die beiden auf Andreas und den Security zu. Der eine Cop trug einen Schnauzbart und war schätzungsweise um die fünfzig Jahre alt. Er hatte einen grimmigen Blick und hinkte ein wenig. Nicht sehr auffällig, doch ein gleichmäßiger und gesunder Gang sah anders aus. Sein schütteres, grau-meliertes Haar verriet, dass er wesentlich älter war als sein Kollege. Der andere Polizist war sogar sehr viel jünger. Andreas ordnete ihn bei Anfang zwanzig ein. Sogar seine blaue Uniform wirkte frischer als die des schnauzbärtigen Alten. Auf den Schultern trug der Babybulle dunkelblaue Klappen, die jeweils mit einem silbrig funkelnden Stern verziert waren. Gegen dieses glänzende Silber verblassten die vier blauen Sterne auf jeder Schulterseite des alten Cops regelrecht. Babyface kam ohne jegliche Gesichtsbehaarung daher – wahrscheinlich, weil da einfach nichts wuchs in seinem Alter – und trug eine Frisur, die man im Allgemeinen einen »Wuschelkopf« nennen konnte. Die straßenköterblonden Haare fielen ihm wirr auf die Stirn und endeten knapp oberhalb seiner Brauen. Er war zwar jung, doch seine dunklen und tiefen Augen und die kantige Kinnpartie erweckten den Eindruck einer gewissen Reife. Und dennoch – er erinnerte Andreas mehr an einen Halbwüchsigen als an eine erwachsene Autoritätsperson.
»Guten Morgen«, grüßte der junge Kerl überraschend freundlich.
»Polizeikommissar Grätner mein Name.«
Kommissar Babyface. Andreas musste trotz oder gerade aufgrund seiner Abneigung gegen Bullen über diesen Gedanken ein bisschen schmunzeln.
Mit einer Handbewegung gestikulierte Kommissar Babyface in Richtung seines Streifenpartners. »Das ist mein Kollege Polizeihauptmeister Kern.«
Der Alte nickte, ohne seinen Kopf tatsächlich zu neigen. Sein Gesicht war wie in Stein gemeißelt und seine Augen hatte er zu kleinen Schlitzen zusammengezogen. Es machte den Eindruck, als würde er ohne verdunkelte Brille direkt in die Sonne schauen. Kern blieb stumm und überließ Kommissar Babyface das Sprechen. »Können Sie mir erstmal schildern, was genau hier vorgefallen ist?«
»Da grätsche ich gleich mal rein«, meldete sich der Security mit seiner quietschenden Stimme. »Könnten Sie das draußen machen, damit ich hier zuschließen kann? Ich hätte schon seit einer halben Stunde Feierabend, wissen Sie? Und ich würde dann auch gern langsam mal heimfahren wollen.«
Die Polizisten warfen sich einen flüchtigen Blick zu, den Andreas überhaupt nicht deuten konnte.
»Können Sie etwas zum Tathergang erzählen?«, fragte der alte Bulle mit einer tiefen und ernsten Stimme.
»Nur das, was der Mann mir vorhin erzählt hat.« Dabei deutete er auf Andreas und zuckte mit den schlaffen Schultern.
»Gut. Da müsste ich nur Ihren Namen notieren und dann sind Sie uns auch schon los«, sagte der Kommissar und zog einen Notizblock aus der Tasche, die an seiner Schutzweste befestigt war.
»Neubert.«
»Vorname?«
»Ronny.«
Er notierte sich den Namen und bedankte sich bei Ronny. Anschließend wandte er sich Andreas zu. »Wir gehen raus zum Auto, dort machen wir weiter. Können Sie laufen? Geht’s Ihnen gut?«
Wieso fragen mich das alle? Sehe ich wirklich so beschissen aus?
Andreas erhob sich mühsam von der Holzbank und folgte den beiden Beamten nach draußen ins Dunkel. Noch immer schwankte er beim Gehen. Verdammter Alkohol!
Ronny, der Security, schloss die Glastür hinter ihnen ab, nachdem sie die Galerie Roter Turm verlassen hatten und eilte ins Innere des Shoppingcenters zurück. Andreas wurde rechts und links von den Polizisten zu deren Fahrzeug begleitet. Der Streifenwagen, ein VW Passat, stand genau dort, wo vor einer knappen Stunde noch der Bullen-Transporter gestanden hatte. Sie blieben am hinteren Teil des Fahrzeugs stehen. Kommissar Grätner öffnete die Beifahrertür und kramte nach etwas in der Mittelkonsole. Was das war, konnte Andreas nicht erkennen. Unterdessen drehte sich der zunehmend genervt wirkende alte Hauptmeister ihm zu.
»Haben Sie einen Ausweis für uns?«
Der Betrunkene tastete in seiner Manteltasche nach dem Portmonee und zog es bewusst langsam heraus. Die beiden Jungs hatten schließlich Waffen und man kann ja nie wissen, wie nervös und schießwütig diese Typen sind. Er hielt dem Alten seinen Personalausweis hin. Dieser nahm ihn entgegen und reichte die kleine Plastikkarte an seinen jüngeren Kollegen weiter. Der Kommissar saß mittlerweile auf dem Beifahrersitz und hatte einen Laptop auf seinem Schoß. Während er den Ausweis entgegennahm, reichte er ein kleines schwarzes Gerät aus dem Polizeiauto, welches Hauptmeister Kern wortlos ergriff. »Sie wurden überfallen?«, nuschelt er mit seiner tiefen, emotionslosen Stimme.
Andreas nickte zustimmend. Als er bemerkte, dass der Polizist auf eine konkretere Aussage wartete, sprach er weiter und versuchte dabei möglichst nüchtern zu klingen. »Ich bin hier durch den Stadthallenpark gelaufen und wurde von drei Typen angequatscht. Sie wollten mein Geld und mein Handy. Ich wollte es ihnen nicht geben, doch der eine zog ein Messer.«
»Hat er Sie damit bedroht?« Sein Schnauzbart zuckte ein wenig beim Sprechen.
»Na ja, nicht direkt. Er hielt es einfach nur in der Hand.« Andreas unterstützte seine Aussage, indem er seinen rechten Arm zur Faust geballt ganz gerade nach unten hielt und mit dem Zeigefinger seiner linken Hand darauf deutete. »So in etwa.«
»Wieso sind Sie so dreckig?«
»Ich glaube, einer der Typen hat mich geschubst, sodass ich rückwärts in eine Pfütze gefallen bin.«
Der Bulle zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. »Sie glauben?«
»Also ich bin mir ziemlich sicher«, warf Andreas schnell ein.
Der junge Kommissar tippte auf der Tastatur seines Laptops herum, doch Andreas konnte nicht erkennen, was genau er tat. Der alte Bulle räusperte sich. »War es derjenige mit dem Messer, der Sie in die Pfütze befördert hat?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich hatte gerade nach hinten geguckt als ich zurückgestoßen wurde.«
»Sie haben sich umgedreht, um wegzurennen, wegen des Messers?«, vergewisserte sich der Cop.
Kopfschüttelnd erläuterte Andreas es genauer. »Nein, nein. Das mit dem Schubsen war noch vor dem Messer.«
»Sie wurden in eine Pfütze geschubst und dann mit einem Messer bedroht. Ist das jetzt so richtig?«, fuhr ihm Hauptmeister Kern über den Mund, bevor er die Sache weiter beschreiben konnte.
»Genau.«
»Wie sind Sie entkommen?«
Der hält mich endgültig für behindert, wenn ich dem die Wahrheit erzähle. Andreas wollte dennoch bei den Tatsachen bleiben und nichts weglassen. Oder hinzudichten. »Hab mein Handy geworfen und bin weggerannt. Erst hierher, weil hier vorhin noch ein Bull… Polizeiauto gestanden hatte. Das war nicht mehr da, deswegen bin ich zum Eingang der Galerie gesprintet. Die ist ja abends immer noch offen für die Leute, die aus dem Kino kommen.« Er hatte nicht das Gefühl, dass ihm Glauben geschenkt wurde.
»Ich glaube Ihnen nicht.«
Ich wusste es! Bevor Andreas widersprechen konnte, stieg Kommissar Grätner aus dem Auto und sagte seinem Kollegen etwas so Leises, dass Andreas es nicht verstehen konnte. Na toll. Jetzt kommen die mir wieder mit der Cannabis-Scheiße von Anno Dazumal. Schon als Ronny, der Security, angeboten hatte, die Polizei zu verständigen, wusste er, dass das keine besonders gute Idee war. Er war froh, nicht abgestochen worden zu sein und wollte auf Nummer Sicher gehen, dass die Araber ihn nicht verfolgten. Um in der sicheren Zone namens Galerie Roter Turm verweilen zu können, bis die Luft draußen wieder rein war, hätte er jedem Vorschlag zugestimmt.
»Herr Reinhold, haben Sie Drogen, starke Medikamente oder Alkohol zu sich genommen?«, wollte Grätner wissen.
Andreas schüttelte energisch den Kopf. Aufgrund dieser Bewegung begann sich alles um ihn zu drehen,. Dadurch fiel ihm ein, wie betrunken er eigentlich noch war. »Also doch. Ja. Ich meinte Alkohol. Ich habe Bier getrunken in der 80´s Bar. Ziemlich viel Bier.«
Hauptmeister Kern hielt nun das kleine schwarze Gerät hoch, welches er vor geraumer Zeit von seinem jüngeren Kollegen entgegengenommen hatte. Mittlerweile hatte er ein transparentes Plastikröhrchen auf den oberen Teil des schwarzen Dinges geklemmt. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir Ihren Alkoholwert mal schnell überprüfen.« Er hielt ihm das Gerät entgegen. Es piepste.
»Nur, um zu ermitteln, ob Sie überhaupt vernehmungsfähig sind«, warf der bartlose Polizist beschwichtigend aus dem Hintergrund ein, nachdem der Betrunkene zögerte. »Einfach kräftig reinpusten bis es knackt.«
Andreas hielt noch kurz inne, doch schloss seine Lippen, ohne zu diskutieren um das Röhrchen und blies. Er hörte ein leises Knacken und löste seinen Mund wieder davon. Kern zog das Gerät zurück und sah ausdruckslos auf das Display. Eine unangenehme Stille trat ein, während der Alkoholtester offensichtlich den Wert berechnete. Andreas hörte einen leisen Wind, der sich an den Gebäudekanten ringsum verwirbelte und dadurch flüsternd zischte. Ein kontinuierliches Plätschern des Regenwassers in den Fallrohren war ebenfalls zu vernehmen. Weiter weg erkannte er die Geräusche, die ein Auto erzeugte, als es über den nassen Asphalt rauschte. Ein lautes Piepsen dominierte plötzlich die Geräuschkulisse.
Beide Polizisten sahen auf das leuchtende Display und zogen zeitgleich die Brauen nach oben. »Dass Sie noch aufrecht stehen können, ist ein Wunder, Herr Reinhold«, stellte Kommissar Babyface erstaunt fest.
»Wissen Sie was ich denke?«, fragte der Alte harsch.
Woher soll ich das wissen? Bin ich Gedankenleser?
»Ich denke, Sie verarschen uns hier ein bisschen«, herrschte er Andreas an. »Die Geschichte, die Sie eben erzählt haben, stimmt doch vorne und hinten nicht. Erst werden Sie mit einem Messer bedroht, dann wieder doch nicht, dann werden Sie in eine Pfütze geschubst. Dann werfen Sie ihr Handy nach den Räubern. Das macht doch keiner.« Er sah zum Kommissar, dann wieder zu Andreas. »So wie ich die Sache sehe, waren Sie Saufen, sind dann auf die Fresse geflogen und haben dabei ihr Handy verloren. Oder es ist kaputt gegangen. Oder es liegt noch in der Kneipe. Oder was weiß ich. Jedenfalls hielten Sie es für eine geile Idee, die Polizei anzurufen. Sie wollten, dass wir Ihnen die gequirlte Scheiße abnehmen und dann eine Anzeige aufnehmen, nur damit Sie Papier für die Versicherung haben. So kriegen Sie kostenlos ein neues Telefon.«
»Mir ist das wirklich passiert!«, polterte es unkontrolliert aus Andreas heraus. Dabei hörte er sich selbst lallen. Er hatte nun keinen Grund mehr, seine Volltrunkenheit zu verstecken.
»Können Sie die Täter denn wenigstens beschreiben?«, fragte der junge Polizeikommissar versöhnlich. »Dann könnten wir eine Funkfahndung einleiten und so ihr Handy wiederfinden.«
»Sie hatten dunkle Haut, dunkle Haare, dunkle Augen und dunkle Klamotten«, rief sich Andreas in Erinnerung.
Der alte Hauptmeister griff sich mit Daumen und Zeigefinger an den Nasenrücken und schnaubte hörbar genervt Luft aus sich heraus. »Sehr präzise. So finden wir die in Null-Komma-Nichts.«
»Lag vielleicht daran, dass es im Park dunkel ist«, stellte Andreas zynisch fest.
Die Augen des Hauptmeisters Kern zogen sich noch mehr zu engen Schlitzen zusammen als ohnehin schon. »Dich kleinen Scheißer müssten wir eigentlich wegen Notrufmissbrauchs anzeigen.« Er ging einen Schritt auf Andreas zu und hob seine Hand in einer Art Drohgebärde.
Kollege Babyface stellte sich dazwischen. »Das bringt uns nichts. Mit dieser Beschreibung finden wir niemanden«, erklärte er in beschwichtigendem Ton. »Wollen Sie eigentlich Anzeige erstatten und einen Strafantrag stellen, Herr Reinhold?«
»Nein«, sagte er. »Wozu auch?«
Der Kommissar nahm es zur Kenntnis und änderte sehr schnell das Thema. »Wann hatten Sie eigentlich das letzte Mal Umgang mit illegalen Betäubungsmitteln?«
Na toll. Jetzt kommt die Kontrolle, die ich ursprünglich vermeiden wollte. Wenigstens habe ich diesmal nichts einstecken.
Bevor Andreas antworten konnte, wurden die drei durch einen Funkspruch unterbrochen, der aus dem Streifenwagen dröhnte. »An alle eingesetzten Kräfte Carola. Verfügbare Kenner verlegen unverzüglich zum Lessingplatz. Dort Messerangriff mit mindestens zwei verletzten Personen. RTW rollt.«
Die Polizisten sahen sich für den Bruchteil einer Sekunde erschrocken an. Der Kommissar eilte auf den Beifahrersitz und griff nach einer Art Telefonhörer in der Mittelkonsole. »Die Zweiunddreißig fährt mit an«, sprach er hinein. Danach rief er seinem Kollegen »Komm!«, zu.
Der alte Hauptmeister sah enttäuscht aus, als er Andreas den Personalausweis zurückgab. »Beim nächsten Mal wirst du durchsucht. Geh jetzt heim, du Spinner!« Er lief zügig um das Auto herum – dabei bemerkte Andreas wieder das Hinken – und setzte sich ans Steuer. Die Sirene dröhnte noch durch die Häusergassen, als das Auto schon lange außer Sichtweite war.
Mittlerweile nieselte es nicht mehr. Die Stadt lag in einem tiefen Nachtschlaf, während Andreas die letzten Meter zu seiner Wohnung eilte. Vereinzelt zeigten sich Sterne am sonst schwarzen Himmel. Sie funkelten und blinkten, während die Temperatur spürbar fiel. Da er noch immer nasse Hosen hatte, spürte er seine Beine vor lauter Kälte kaum noch. Er betrat den typischen Chemnitzer Altbau, in dem er wohnte, durch die Haustür und lief durch das großzügige Treppenhaus nach oben in die zweite Etage. Von den zwei gegenüberliegenden Türen in dem Stockwerk schloss er die auf der linken Seite auf und trat ein.
Home Sweet Home.
Er war froh darüber, dass die Bewohnerin der gegenüberliegenden Wohnung keine Notiz von ihm genommen hatte. Nicht selten kam es vor, dass Andreas mitten in der Nacht betrunken durchs Treppenhaus lief und auf dem Weg zu seiner Wohnungstür der alten Frau Schrimm begegnete. Diese schrullige Hexe lauerte ihm regelmäßig auf, um ihm die Leviten zu lesen. Sie hatte in Andreas Reinhold ein willkommenes Opfer für ihren inneren Selbsthass gefunden. Die alte Schachtel spielte nur zu gern Hauspolizei und mit Bullen – egal welcher Art – konnte Andreas einfach nicht gut umgehen.
Kurz nachdem er seine eigenen vier Wände betrat, lief seine Brille so stark an, dass er kaum noch etwas erkennen konnte. Er setzte sie ab und die Welt verlor ihre Konturen. Mit seinem Ärmel wischte Andreas über die Gläser der mit einem dicken schwarzen Rahmen umfassten Brille und setzte sie wieder auf.
Besser!
Nachdem er seinen braunen Mantel ausgezogen hatte und in bequeme Klamotten geschlüpft war, putzte er sich die Zähne und betrachtete sich im Badspiegel. Wie konnte sein Leben nur in diese Schieflage geraten? Nächstes Jahr sollte das fünfte Klassentreffen seiner Mittelschulabschlussklasse stattfinden. Er war vierzig Jahre alt, wohnte in einer billigen Zweiraumwohnung, arbeitete in einem furchtbaren dreißig-Stunden-Job und war seit seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr geschieden. Er dachte darüber nach, was seine anderen Klassenkammeraden in der Zeit nach der Schule alles erreicht hatten. Systemingenieur. Erfolgreiche Vermögensberaterin. Surflehrer in Thailand. Und Andreas? Er betrank sich zwei- bis dreimal in der Woche in Billies 80‘s Bar gemeinsam mit Peter, weil ihre Leben sonst noch unerträglicher wären.
Als Andreas im Bett lag, wollte er den Wecker auf seinem Handy einschalten, doch da war kein Handy mehr.
Ach ja. Das hatte ich im Tausch gegen körperliche Unversehrtheit geopfert. Egal. Ich muss morgen erst zur Spätschicht auf Arbeit.
Er knipste seine Nachttischlampe aus und drehte sich auf die Seite. Sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt seinem Sohn.
Donnerstag 11.11.2021 – Wohnung von Andreas Reinhold
Das Telefon im Flur klingelte zum gefühlt hundertsten Mal. Andreas hatte es bis jetzt erfolgreich ignoriert. Doch egal, wer da versuchte, ihn zu erreichen - derjenige blieb hartnäckig. Er lag in seinem Bett, alle vier Gliedmaßen von sich gestreckt und fühlte sich außer Stande, auch nur die kleinste Bewegung zu machen. Sein gesamter Körper hatte sich über Nacht in einen einzigen pochenden Schmerz verwandelt. Angefangen bei dem klopfenden Dröhnen in seinem Kopf, zogen sich die verschiedenen Wehwehchen wie ein kompliziertes Netzwerk durch seinen Torso, in Arme, Beine, bis in die Zehenspitzen. Kurz dachte er darüber nach, auf Arbeit anzurufen, um sich für die Spätschicht krank zu melden, doch er verwarf den Gedanken schnell wieder. Apropos Telefon – da war es wieder – dieses penetrante Klingeln im Flur. Es auszublenden fiel ihm immer schwerer. Seine Mundhöhle war so trocken, man hätte Zucker dauerhaft darin lagern können, ohne dass dieser verklumpt. Unter Stöhnen drehte er sich auf die Seite und griff nach der Flasche Mineralwasser, die vor seinem Nachttisch stand. Saskia. Wenn er nicht ab und zu bei LIDL einkaufen würde, gäbe es überhaupt keine Frauennamen mehr in seinem Schlafzimmer. Bei dem Gedanken schmunzelte er ein wenig. Er setzte sich auf, um etwas zu trinken. Die Flasche ließ sich schwerer öffnen als vermutet.
Widerspenstige Saskia! Typisch Weiber.
Mit einem kräftigen Ruck ließ sich der Plastikschraubverschluss schließlich doch von der PET-Flasche drehen. Die Kohlensäure im Inneren stieg explosionsartig an und verteilte das Wasser kreuz und quer über seine Bettwäsche. Der Flascheninhalt aus dem oberen Drittel Saskias