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Endlich, nach einer ganzen Weile, erhob sich die Kreatur zu ihrer vollen Größe, schlug den Umhang zurück und gab den Blick auf die volle Montur eines Tempelritters frei. Katrin holte vor Schreck tief Luft, was den Templer für einen kurzen Augenblick innehalten ließ. Dann holte er einen kleinen Beutel hervor, schüttete dessen Inhalt in die rechte Hand, um diesen anschließend in einer ausladenden Bewegung auf dem Boden vor der Wand zu verteilen. Danach griff er erneut unter seinen Mantel und förderte ein kleines Fläschchen hervor, dessen Inhalt er ebenfalls mit der gleichen Handbewegung auf dem Boden verteilte. Dann räumte er alles zusammen und wendete sich in Richtung Katrins Säule. Die versuchte nun, mit jedem Schritt des Templers, der ihn näher an sie heranbrachte, um die Säule herumzurutschen, sodass diese immer zwischen ihm und ihr war. Doch da hatte Katrin die Rechnung ohne die Kirchenbänke gemacht. Irgendwann stieß sie mit ihrem Rücken gegen das Mobiliar und musste einsehen, dass sie nicht mehr weiter konnte. Dem Ritter war dies offensichtlich vollkommen klar, denn er schritt um die Säule herum, bis er vor ihr stand. Katrin sah jetzt keinen Grund mehr, wie ein verschrecktes Kaninchen auf dem Boden zu hocken. Auffordernd stellte sie sich hin und gab ihrem Gegenüber zu verstehen, dass sie keine Angst hatte, was natürlich nicht stimmte.Der Templer blickte sie durch sein Helmvisier an und lachte kurz auf. Katrin Russo wollte eigentlich nur ein paar unbeschwerte Tage mit ihrem Bruder in seinem Anwesen in Schottland verbringen. Doch als sie eines Nachmittags neben seiner Leiche aufwacht und sich kaum an etwas erinnern kann beginnt eine grausame Zeit für die Archäologin und Bibelforscherin. Zusammen mit einem angeblichen Freund ihres Bruders sucht sie nach der Ursache für dessen Ermordung und stößt dabei immer tiefer in die Mysterien von Rosslin und unbekannten Schaffen von Isaac Newton vor. Kann Katrin den wahren Täter wirklich finden? Zu viele Gruppen scheinen daran beteiligt zu sein.
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Seitenzahl: 323
Veröffentlichungsjahr: 2020
Bereits erschienen:
Ich möchte mich bei meiner Frau und meiner Tochter für das Verständnis bedanken und die Zeit, die sie mir gegeben haben, dieses Buch zu schreiben.
Es war bereits später Vormittag, als Katrin versuchte, ihre Augen zu öffnen. Sie hatte das Gefühl, aus einem tiefen Koma zu erwachen. Nur sehr langsam schafften es ihre Augenlider, sich zu lösen und Millimeter für Millimeter zu öffnen. Das Erste, was sie sah, war eine dünne Linie rötlichen Lichts, die stetig größer wurde. Trotzdem sie ihre Augen nun schon zur Hälfte geöffnet hatte, sah sie alles nur verschwommen. Es dauerte noch ein paar Minuten, bis ihr Blick klar wurde. Allmählich erkannte sie, dass sie an einer weichen Unterlage lehnte, die zudem auch noch warm war. Irritiert schlossen sich ihre Augen wieder. Ihre Hand strich über den weichen Untergrund und versuchte heraus-zufinden, aus welchem Material er bestand. Als ihr dies nicht gelang, überwand sie sich, erneut die Augen zu öffnen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie starke Kopfschmerzen hatte. Am liebsten hätte sie ihr Vorhaben wieder aufgegeben, doch ihre Neugierde ließ das nicht zu. Mit scheinbar letzter Kraft öffneten sich die Augenlider und gaben Katrin den Blick auf ihre Umgebung frei. Immer noch betäubt versuchte sie das Bild, was nun vor ihren Augen entstand, wie ein Puzzle in ihrem Kopf zusammen-zusetzen. Das Erste, was ihr klar wurde, war, dass sie sich in ihrem Schlafzimmer im Haus ihres Bruders befand. Glücklich über die erste brauchbare Information machte sie sich daran herauszufinden, an was sie sich anlehnte und was sich so merkwürdig anfühlte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass es sich nicht um eine glatte Fläche handelte, sondern um etwas Erhöhtes, was dazu auch noch sehr schmal war. Mühevoll drehte sie den Kopf von der Seite nach vorn und hob ihn an. In derselben Sekunde, in der sie dies tat, bereute sie es. Ein stechender Schmerz durchzog ihren Nacken und stieg in den Kopf auf. Nachdem sich ihre Sicht wieder geklärt hatte, betrachtete sie ihre Unterlage erneut.
Mit Entsetzen erkannte Katrin, dass sie zur Hälfte auf ihrem unbekleideten Bruder lag. Erschrocken riss sie die Augen noch weiter auf, während das Adrenalin durch ihre Adern schoss. In Michaels Hals steckte ein langes Küchenmesser, welches sie mit der linken Hand umklammerte. Aus der Wunde war eine unglaubliche Menge Blut ausgetreten, welche das Betttuch nahezu völlig rot gefärbt und durchnässt hatte. Katrin war jetzt vollkommen wach und stieß sich mit aller Kraft von dem toten Körper ab. Entsetzt kletterte sie rückwärts über das Fußende vom Bett und ging weiter bis zur Wand, wo sie an einen kleinen Tisch stieß. Schwer atmend betrachtete sie jetzt das gesamte Bild. Wie ein gehetztes Tier sah sie sich um, als müsste sich noch eine weitere Person in diesem Raum aufhalten, die nur auf diesen einen Moment gewartet hatte. Doch dort war niemand. Sie war allein. Plötzlich bemerkte sie, dass ihr Gesäß langsam kalt wurde. Erstaunt und verwirrt zugleich drehte sie sich langsam um und erkannte die kalte Marmorplatte des kleinen Tisches. Gleichzeitig bemerkte sie auch den Grund, warum diese ihrem Hinterteil die Wärme entzogen hatte. Sie stand vollkommen unbekleidet in dem Raum. Ihre langen Haare bedeckten noch nicht einmal den oberen Ansatz ihrer Brüste.
Katrin konnte einfach nicht begreifen, was hier geschehen war. Mit aller Kraft versuchte sie, die letzten Stunden zu rekonstruieren. Doch ihr fehlte jeglicher Anhaltspunkt, um auch nur ansatzweise zu erklären, wie sie mit ihrem Bruder in dieses Zimmer gekommen und warum sie beide unbekleidet waren. Sie konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, gestern Abend ihren Bruder gesehen oder mit ihm gesprochen zu haben. Aber war dies wirklich so? Oder hatten sie sich auf etwas eingelassen, das dann außer Kontrolle geraten war? Ihr Blick ging weit ins Leere, während sie unbewegt immer noch neben dem Tisch stand, auf dem sie sich mit einer Hand abstützte. Von irgendwo her hörte sie das Ticken einer Uhr. Krampfhaft überlegte sie, was sie als Nächstes tun sollte.
Es lag jedoch nicht an ihr, den nächsten Schritt zu machen. Denn plötzlich überschlugen sich die Ereignisse.
Völlig unerwartet öffnete sich die Tür zu ihrer Rechten. Ein etwa ein Meter achtzig großer Mann, etwa Mitte dreißig, betrat ohne Ankündigung den Raum. Sein erster Blick fiel auf den Leichnam, der auf dem der Tür gegenüberliegenden Bett lag. Mit einigen wenigen großen Schritten erreichte er das Fußende und nahm den Tatort ausführlich in Augenschein. Katrin, die schräg hinter ihm stand, hatte er nicht bemerkt. Sie wurde, als er den Raum betreten hatte, von der Tür verdeckt. Während Alan auf das Bett zu stürmte, hatte er sich nicht um die weitere Umgebung gekümmert. Daher war ihm das zitternde Häufchen Elend, welches jetzt seine Arme über der Brust verschränkt hielt, nicht aufgefallen. Erst nachdem er sich schon fast vollständig wieder zum Gehen gewendet hatte, entdeckte der Mann Katrin in ihrer Ecke. Zunächst war ihm nicht klar, in was er hier hineingeraten war. Lange anhaltend musterte er die nackte Frau. Aus irgendeinem Grund registrierte sein Unterbewusstsein, dass es an Katrins Körper keine Blutspuren gab. Wer aber war diese Frau und was machte sie hier? Er war sich nicht klar darüber, was er als Nächstes machen sollte. Die Frau sah nicht gefährlich aus. Trotzdem lag hier eine Leiche und sie war die einzige weitere Person in diesem Raum. Unschlüssig blickte Alan immer wieder zu dem toten Körper auf dem Bett, während Katrin den Neuankömmling mit gemischten Gefühlen musterte. Scheinbar wollte keiner von beiden den ersten Schritt machen. Schließlich hielt es Alan nicht mehr aus. Er drehte sich mit einem Ruck zu Katrin um und sprach sie an.
"Was ist hier passiert?", fragte der Mann mit sich überschlagender Stimme. Dabei deutete er hektisch mit der einen Hand auf den Toten, während er mit der anderen Hand auf Katrin zeigte. Die war jedoch nicht in der Lage, auch nur ein Wort von sich zu geben. Hilfe suchend öffnete sie ihre Arme und streckte sie dem Unbekannten entgegen. Doch Alan blieb an seinem Platz stehen und wartete auf eine Antwort. Schließlich überwand sich Katrin doch noch.
"Ich weiß es nicht", brachte sie gequält hervor. "Ich kann mich an nichts erinnern."
Der Mann betrachtete ihren unbekleideten Körper erneut, um dann seinen Blick wieder auf Michael zu lenken, der in seinem eigenen Blut auf dem Bett lag. Katrin bemerkte dies. Hektisch versuchte sie, die Situation richtigzustellen.
"Ich habe damit nichts zu tun. Das müssen Sie mir glauben." Katrin sah den Unbekannten flehend an. Doch der zeigte keine Reaktion. Krampfhaft versuchte sie, ihn weiter zu überzeugen. "Ich bin heute Morgen wie aus einem Koma nackt neben meinem Bruder liegend aufgewacht, mit dem ich wohl ...", sie blickte an sich herunter.
"Sie meinen, sie haben mit ihm ...", den Rest ließ der Unbekannte offen.
"Ja. Ich meine, nein", korrigierte sich Katrin schnell wieder. "Wir hatten nicht eine solche Beziehung", wehrte Katrin jetzt vehement ab.
"Das glaube ich Ihnen allerdings gerne", antwortete Alan spöttisch.
"Was soll das heißen?", fragte Katrin jetzt aufbrausend. "Glauben Sie, ich bin nicht ...", der Rest ging bereits in Alans abwehrender Antwort unter.
"Nein, nein. Um Gottes willen. Das wollte ich damit nicht ausdrücken. Sie sind sehr, sehr ...", jetzt geriet er ins Stocken. Dabei deutete er mit beiden Händen von oben nach unten und wieder zurück auf ihren Körper. "Ich meinte ja nur, er hatte ...", wieder entstand eine Pause, "... kein derartiges Interesse. Ich glaube, Sie ziehen sich jetzt besser etwas an. Wir müssen uns unterhalten."
Katrin blieb immer noch wie eine Marmorstatue unbeweglich an dem kleinen Tisch stehen. Verzweifelt sah sie ihren Gegenüber an. Doch der machte nur eine hilflose Bewegung, drehte sich um und verschwand durch die Tür, die er hinter sich schloss.
Wieder allein im Raum, sah sich Katrin suchend nach ihrer Kleidung um. Sie fand diese an mehreren Stellen im Raum verteilt. Immer noch verzweifelt über die Tatsache, dass sie sich an gar nichts erinnern konnte, begann sie sich anzuziehen. Dabei versuchte sie es zu vermeiden, ihren toten Bruder auf dem Bett anzusehen. Als sie sich endlich fertig bekleidet hatte, nahm sie die Bettdecke und legte diese über den Toten. Danach verließ sie, mit einem letzten Blick auf das Bett, das Zimmer. Alan wartete bereits in der Küche auf sie, wo zwei Tassen mit dampfendem Kaffee auf dem Tisch standen. Auf dem Herd befanden sich verschiedene Töpfe und Pfannen, aus denen es nach einem englischen Frühstück duftete. Als Katrin den Raum betrat, drehte sich Alan zu ihr um. Seine Augen verrieten, dass er immer noch im Zweifel darüber war, was er von der Situation halten sollte. Katrin begab sich mit unsicheren Schritten zu dem ihr am nächsten stehenden Stuhl, auf den sie sich fallen ließ. Mit zitternder Hand griff sie nach einem der Becher, aus dem sie einen langen Schluck nahm. Alan hatte sich wieder dem Herd zugewandt. Es vergingen weitere zehn Minuten, ohne dass einer der beiden sprach.
Nachdem die beiden eine Kleinigkeit gefrühstückt hatten, eröffnete Alan das Gespräch. Seine Stimme schreckte Katrin aus ihren Gedanken auf. Diese beschäftigten sich jedoch weniger mit ihrem toten Bruder, sondern mehr mit dem Unbekannten, der hier an diesem Tisch saß. Wer war er und wie war er in das Haus hinein gekommen? Wenn er ihren Bruder kannte, in welcher Beziehung stand er zu ihm? Und was sollte überhaupt die Bemerkung, dass ihr Bruder andere Interessen gehabt hätte? Eins schien jedoch festzustehen. Er hatte nichts mit dem Mord zu tun, denn dann hätte er sie wahrscheinlich ohne Zögern auch umgebracht. Oder war er vielleicht doch der Mörder? Warum hatte er noch nicht die Polizei gerufen? Möglicherweise war er zurückgekommen, weil er noch etwas zu erledigen hatte. Katrin konnte die Spannung nicht mehr aushalten. Ihr Kopf drehte sich ruckartig herum und ihre Augen bohrten sich in sein Gesicht.
"Wer sind Sie und wie sind Sie in dieses Haus gekommen?", schrie sie Alan an. Der zuckte sichtlich zusammen. Allmählich wurde ihm in der Gegenwart dieser Frau ein wenig unwohl. Ihr Blick, der Zustand der Leiche und einige andere Dinge deuteten auf eine Psychopathin hin.
"Vielleicht sollten wir doch besser die Polizei verständigen", antwortete Alan, ohne zunächst auf ihre Frage einzugehen. Doch das hätte er besser gelassen. Katrin stand so schnell von ihrem Stuhl auf, dass dieser dabei umfiel und sie den Tisch um mehrere Zentimeter von sich stieß. Alan war davon so sehr überrascht, dass auch er von seinem Stuhl aufsprang und sich über das umgestürzte Möbel einige Meter rückwärts nach hinten begab, bis er an den noch heißen Herd stieß. Erschrocken zog er seine Hand von der heißen Platte. Katrin hatte sein Missgeschick beobachtet und stürzte jetzt auf ihn zu, um ihm zu helfen. Doch das verstand Alan völlig falsch. Hektisch griff er in die nächste Schublade und förderte nach einigem wühlen ein Messer hervor, welches er Katrin entgegenhielt. Die bremste sofort ihren Lauf, um sich sogleich wieder ein Stück zurückzuziehen. Alan wechselte die Hand mit dem Messer und drehte mit der anderen den Wasserhahn auf. Dann ließ er das kalte Nass über die Brandblase fließen, während er Katrin nicht aus den Augen ließ. Diese wiederholte nun mit ängstlicher Stimme ihre Frage von vorhin.
"Mein Name ist Alan Arkin. Ich bin ...", seine Stimme geriet ins Stocken, "... war ein enger Freund von Michael. Wir haben in letzter Zeit an einem gemeinsamen Projekt gearbeitet. Genau genommen ist es sein Projekt gewesen. Ich habe ihm lediglich geholfen und ihn in einigen Dingen unterstützt. Das erklärt auch, wie ich in dieses Haus gekommen bin. Michael hatte mir einen Schlüssel gegeben, damit ich hier auch weiter arbeiten kann, wenn er nicht Zuhause ist. Und jetzt erklären Sie mir bitte, wer Sie sind und was Sie hier machen."
"Ich bin Katrin, Michaels Schwester. Michael hatte mich in sein Haus eingeladen, weil ich hier in Schottland an einer Konferenz für Archäologen und Bibelforscher teilnehme. Das Anwesen hier ist so groß, meinte Michael, dass er sich über ein wenig Gesellschaft freuen würde. Allerdings muss ich gestehen, habe ich Michael noch kein einziges Mal gesehen seit, dem ich hier angekommen bin."
"Kurz bevor ich hier eingetroffen bin, erhielt ich eine SMS von meinem Bruder, dass er derzeit nicht zu Hause sei. Er bat mich, den Schlüssel für das Anwesen bei einer Bekannten in Melrose abzuholen. Das habe ich auch getan. Ich bin dann gestern Abend hier im Abbotsford House angekommen. Als Erstes habe ich mich frisch gemacht. Danach fand ich einen Zettel von Michael am Kühlschrank, dass er im Ofen bereits etwas vorbereitet hatte. Schließlich bin ich ins Bett gegangen, weil die lange Reise von Münster hier her mich doch sehr erschöpft hatte."
Bei der Erwähnung des Namens Münster runzelte Alan die Stirn. Natürlich kannte er die Stadt nicht. Daher musste Katrin ihm erst noch erklären, dass sowohl Michael als auch sie aus Deutschland stammten. Alan hatte ihren Bruder immer für einen waschechten Schotten gehalten, da dieser schon seit über zwölf Jahren an der Napier University in Edinburgh studierte und sogar jedes Jahr an den Highland Games teilnahm. Als Alan ihr das erzählte, musste Katrin kurz kichern. Sie sah ihren Bruder vor ihrem inneren Auge, wie er mit einem Schottenrock bekleidet Baumstämme durch die Gegend warf. Doch dieser Moment der Heiterkeit währte nur wenige Sekunden. Sehr schnell wurden beide wieder ernst und Alan beschloss, das Messer wieder in die Schublade zurückzulegen. Auch Katrin wurde jetzt klar, dass dieser Mann mit größter Wahrscheinlichkeit nichts mit dem Mord an ihrem Bruder zu tun hatte. Gemeinsam begannen sie nun zu überlegen, was sie mit dem Leichnam machen sollten. Natürlich wäre es am einfachsten, wenn man die Mordwaffe und die Fingerabdrücke auf ihr einfach verschwinden lassen würden. Nur dann würde die Polizei wahrscheinlich eine langwierige Untersuchung des Falles beginnen, die unter Umständen dazu führte, dass sie über Wochen oder gar Monate hier in Schottland festgehalten würde. Möglicherweise würde es sogar zu einem Prozess kommen, in dem man sie anklagte. Und da es so aussah, als wenn sie die einzige Person gewesen war, die zur Tatzeit sich auf dem Anwesen befand, würde man sie vermutlich wegen Mordes verurteilen und ins Gefängnis stecken.
Alan wusste nicht warum, aber er hatte das Gefühl, dass Katrin am Tod ihres Bruders unschuldig war. Er hoffte inständig, damit nicht falsch zu liegen, als er ihr seine Hilfe anbot. Um sich ganz sicher zu sein, blickte er ihr tief in die Augen und fragte sie eindringlich, ob sie etwas mit dem Mord zu tun hätte. Katrin beteuerte glaubwürdig, dass sie zwar von nichts, was in den letzten Stunden passiert war, eine Ahnung, sie aber unter gar keinen Umständen ihren Bruder ermordet hatte. Alan beschloss ihr zunächst zu glauben und machte sich mit Katrin zusammen auf den Weg durch das Haus zu ihrem Schlafzimmer. Gemeinsam überlegten sie auf dem Weg dorthin, wie sie weiter vorgehen wollten. Katrin schlug vor, den Tatort auf Spuren zu untersuchen, die eventuell von dem oder den Tätern zurückgelassen wurden. Alan gab zu bedenken, dass er kein ausgebildeter Polizist oder Spezial Agent sei. Daraufhin grinste Katrin ihn an und erklärte, die Archäologie sei auch nichts anderes als die Suche nach Spuren. Nur, dass die Leichen viel älter waren.
Doch leider nützten ihre archäologischen Fähigkeiten den beiden nichts. Wer auch immer diesen Mord ausgeführt hatte, war beim Verlassen des Tatortes sehr gründlich gewesen. Die beiden fanden nicht einen einzigen brauchbaren Hinweis auf die Täter. Alan bat Katrin darum, ihm noch einmal genau zu beschreiben, was sie nach dem Aufwachen gesehen hatte. Während Katrin dies tat, deckte Alan den Leichnam erneut auf und betrachtete den toten Körper. Plötzlich fiel ihm etwas auf, was er beim ersten Mal nicht gesehen hatte. Auf Michaels Brust waren einige geometrische Zeichen zu sehen. Schnell holte er sein Notizbuch aus der Tasche und begann damit, die Zeichen abzuzeichnen. Katrin trat näher an ihn heran, um zu sehen, was er dort machte. Erst jetzt fielen auch ihr die Zeichen auf. Sie fragte Alan was das bedeutet, aber der konnte ihr keine Antwort darauf geben.
Nachdem die beiden sich wieder in der Küche eingefunden hatten, fiel Katrins Blick auf eine Zeitung, die auf der Ecke der Arbeitsplatte lag. Aus purer Gewohnheit griff sie danach und schaut auf das Datum. Plötzlich wurde ihr Gesicht kalkweiß. Sie fragte Alan, ob das die Zeitung vom heutigen Tage wäre. Alan bestätigte das. Er hatte die Zeitung mit hereingebracht, als er heute Morgen das Haus betrat. Katrin fragte sofort nach, wie spät es sei. Alan deutet auf eine Uhr an der Wand. Katrins Blick folgte dem Zeigefinger. Hektik und Panik brachen bei ihr aus. In schnellen Worten erklärte sie Alan, dass sie umgehend nach Edinburgh müsste, wo sie in zwei Stunden einen Vortrag auf der Konferenz halten sollte. Alan war ein wenig verwirrt über die Tatsache, dass Katrin, die heute Morgen erst ihren Bruder tot aufgefunden hatte, dies jetzt scheinbar völlig verdrängte, und zu ihrer Konferenz wollte. Trotzdem bot er ihr an, sie dorthin zu fahren. Doch Katrin war schon in Gedanken mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Ihr war auf einmal klar geworden, dass ihr drei Tage in ihrem Gedächtnis fehlten. Doch davon erzählte sie Alan nichts – noch nicht.
Nur sehr ungern begab sich Katrin ein weiteres Mal in ihr Schlafzimmer. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, da sie sich für die Konferenz unbedingt formeller anziehen musste. Nachdem sie den Raum betreten hatte, versuchte sie jeden Blickkontakt mit dem Bett zu meiden. Ohne Umschweife ging sie auf ihren Kleiderschrank zu, öffnete die Türen und suchte nach einem Hosenanzug, den sie extra für diese Anlässe vor Jahren gekauft hatte und der ihr, dank ihres täglichen Sportprogramms, immer noch passte. Schnell suchte sie noch passende Unterwäsche und Strümpfe hervor und verließ das Zimmer. Auf dem Flur angekommen überlegte sie, in welchem der Zimmer sie sich umziehen sollte. Nach einem kurzen Moment der Unschlüssigkeit begab sie sich in das gegenüberliegende Badezimmer, wo sie sich, ohne die Tür richtig zu schließen, sofort ihrer Alltagskleidung entledigte, um danach in den Anzug zu schlüpfen. Als sie damit fertig war, warf sie ihre Jeans, das Baumwollhemd und die Unterwäsche neben der Badewanne in eine Ecke auf dem Fußboden. Hastig riss sie die Tür auf und wäre beinahe in Alan hinein gelaufen, der auf dem Flur stand. Durch den Spalt der Tür und dem an der Wand angebrachten Spiegel im Badezimmer hatte er Katrin beobachtet.
Mit einer Entschuldigung auf den Lippen und ohne ihn weiter zu beachten, suchte sie nach ihrem Autoschlüssel, der neben dem Eingang auf einer kleinen Kommode lag. Jedenfalls glaubte sie sich daran zu erinnern, ihn dort hingelegt zu haben, als sie im Haus angekommen war. Doch genau das war nicht der Fall. Eiligst durchsuchte sie alle Schubladen und Schränke in der Nähe, dann fiel ihr Blick auf das Schlüsselbrett hinter der Tür. Instinktiv griff sie nach dem Haustürschlüssel, den sie in die Hosentasche steckte. Bevor sie ihre Suche erneut aufnahm, trat Alan hinter sie. In seiner Hand hielt er ihren Autoschlüssel.
"Er lag hier auf der Kommode neben der Tür. Ich habe mir gedacht, dass ich vielleicht besser fahre. Zum einen, weil ich mich hier besser auskenne, zum anderen, weil Sie sicherlich immer noch sehr aufgeregt sind."
Katrin bedankte sich bei Alan für seine Fürsorge, nahm ihm jedoch den Schlüssel aus der Hand und begab sich zur Haustür. Noch bevor sie diese öffnen konnte, klingelte es. Katrin blieb wie angewurzelt stehen. Mit Schrecken im Gesicht wendete sie ihren Kopf Alan zu. Doch der zuckte nur mit den Schultern. Auch er hatte keine Ahnung, wer hierherkommen sollte. In den ganzen letzten Wochen, in denen er mit Michael hier im Haus zusammengearbeitet hatte, war nicht ein einziges Mal jemand ohne Anmeldung aufgetaucht. Alan machte eine hilflose Bewegung mit der Hand, die etwa soviel bedeuten sollte wie einfach die Tür zu öffnen und das Beste, aus dem was passieren würde zu machen. Katrin wiederum deutete mit einer Kopfbewegung an, dass er die Tür öffnen sollte. Aber Alan lehnte dies mit heftigem Kopfschütteln und einer noch heftigeren Handbewegung ab. Schließlich läutete es ein zweites Mal. Endlich wich die Anspannung von Katrin, die daraufhin die wenigen Schritte zur Eingangstür machte und diese öffnete.
Vor der Tür standen zwei Beamte der Polizei von Melrose. Erneut erreichte Katrin eine Welle der Panik, die sie versuchte möglichst unbemerkt zu unterdrücken. Die zwei Polizisten betrachteten sie überrascht. Scheinbar hatten sie jemand anderes erwartet, der ihnen die Tür öffnete. Als der Mann anfangen wollte zu sprechen, fiel ihm seine Kollegin ins Wort. Sie war eine typische, durchschnittliche Polizistin ohne besondere Merkmale. Außer vielleicht, dass sie ein sehr hübsches Gesicht hatte. Ihr Kollege hingegen hätte genauso gut auch ein kanadischer Baumfäller sein können. Er sah grobschlächtig aus und Katrin war fest davon überzeugt, dass er, wenn es sein musste, auch kräftig austeilen würde.
"Guten Tag", sagte die Frau. "Ich bin Sergeant Higgins und das ist mein Kollege Sergeant Walters. Darf ich fragen, wer sie sind?"
"Schönen guten Tag, mein Name ist Katrin Russo. Was kann ich für Sie tun?"
"Nein, Michael ist leider nicht da. Ich bin seine Schwester. Kann ich etwas ausrichten?"
"Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?", fragte der Polizeibeamte jetzt drängend.
"Das war heute Morgen, als ich aufgewacht bin", antwortete Katrin wahrheitsgemäß.
"Hat er etwas zu ihnen gesagt", wollte der Beamte jetzt weiter wissen.
"Nein. Er war irgendwie sehr schweigsam heute. Normalerweise kenne ich das gar nicht von ihm. Er wirkte irgendwie vollkommen anders als sonst."
"Wissen Sie, wo er hin wollte", mischte sich jetzt wieder Sergeant Higgins in das Gespräch ein.
"Wie gesagt, er war heute sehr schweigsam", versuchte Katrin die Frage zu beantworten. Die beiden Beamten mussten einsehen, dass sie hier wohl keine weiteren Antworten bekommen würden. Daher beschlossen sie, auf ihr Revier zurückzufahren und sich anderen Dingen zuzuwenden. Bevor sie jedoch in den Wagen stiegen, bat die Beamtin Katrin noch darum, sollte sich ihr Bruder wieder einfinden, dass er sich dann bei ihnen oder seiner Verlobten melden sollte. Sie wäre nämlich diejenige gewesen, die die Polizei darum gebeten hatte, nach Michael zu sehen, da sich dieser in den letzten drei Tagen nicht bei ihr gemeldet hätte. Genauso wenig hätte er auf ihre Anrufe oder auf ihr Läuten an der Haustür reagiert. Katrin versprach, sie würde dies ihrem Bruder ausrichten, sobald sie ihn wieder sehen würde. Sie gab allerdings auch zu bedenken, dass ihr Bruder häufig unterwegs sei und erst nach einigen Tagen oder gar Wochen wieder zurückkam. Die beiden Beamten bedankte sich und verließen das Grundstück.
Nachdem die Polizei wieder gegangen war, trat Alan, der die ganze Zeit hinter der Tür gestanden hatte, auf Katrin zu und erklärte ihr, dass sie Michaels Leiche möglichst schnell loswerden mussten. Katrin stimmte dem zu und fragte Alan, ob er sich in der Zeit, in der sie ihren Vortrag auf der Konferenz hielt, darum kümmern könnte. Doch dieser lehnte vehement ab. Stattdessen nahm er ihr den Autoschlüssel aus der Hand, seine Jacke vom Haken und öffnete die Tür. Mit der anderen Hand schob er Katrin nach draußen. Schließlich verschloss er die Tür sorgfältig, um dann auf Katrins Fahrzeug zuzugehen. Doch die hielt ihn am Arm fest, während sie ihre Schlüssel zurückforderte.
"Es gibt nur einen, der meinen Wagen fahren darf und das bin ich." Mit diesen Worten entzog sie ihm die Autoschlüssel, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Hinter dem Steuer sitzend betrachtete sie Alan, der jetzt regungslos und unschlüssig stehen geblieben war. So viel Kraft und Energie sowie Entschlossenheit in einer Person hatte er noch nie erlebt. In gewisser Weise fühlte er sich ein wenig überfordert. Schließlich riss Katrin ihn aus seinen Gedanken.
"Was ist jetzt? Wollen Sie dort stehen bleiben oder mitkommen?", rief sie ihm aus dem Wagen zu. Ohne etwas zu sagen, begab er sich auf die Beifahrerseite und stieg ein. Schließlich erklärte er ihr noch den kürzesten Weg. Katrin startete den Wagen und fuhr los.
Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Einfahrt zum Abbotsford House, lehnte ein Schatten einige Meter entfernt im Gestrüpp an einem Baum. Mit Sorge betrachtete er den Polizeiwagen, der von Melrose kommend rechts in die Auffahrt zum Anwesen einbog. Schnell überquerte der Schatten die Straße und bog wenige Meter nach der weißen Holzschranke in den das Anwesen vor fremden Blicken schützenden Wald, durch den er bis zum Haupthaus lief. Dort angekommen, stellte er sich hinter einen Baum in der dritten Reihe und beobachtete das Geschehen. Die beiden Beamten sprachen mit Katrin, wobei er kein Wort der Unterhaltung verstand. Schließlich verabschiedeten sich die Polizisten wieder. Wenig später erschienen Katrin und Alan, die das Haus verließen, um mit Katrins Volkswagen wegzufahren. Der Schatten blickte den beiden nachdenklich hinterher. Schließlich, als der Schatten sicher sein konnte, dass niemand mehr in der Nähe war, überquerte er den Vorhof und begab sich auf die Rückseite des Gebäudes. Doch bevor er dort ankam, hörte er Reifen, die den Schotter unter sich laut knacken ließen.
"... und somit können wir davon ausgehen, dass es sich bei Qumran nicht, wie so oft behauptet wird, um eine Siedlung der Essener handelt, sondern um einen einfachen Handelsposten." Mit diesen Worten schloss Katrin ihren Vortrag. Nach nur wenigen Sekunden brandete Applaus auf, während sie ihre Unterlagen auf dem Rednerpult sortierte. Mit einer höflichen Verneigung trat sie einen Schritt zurück, verabschiedete sich und begab sich in Richtung der kleinen Treppe, die zur Bühne hinauf führte. Unten im Zuschauerraum angekommen streckten ihr einige Zuhörer die Hände entgegen, die sie kräftig schüttelte. Andere wiederum überhäuften sie mit Fragen oder Komplimenten für ihre großartigen Ausführungen. Katrin war dieser ganze Trubel gar nicht recht, da sie eher zurückhaltend war. Im Mittelpunkt zu stehen, war etwas, das ihr gar nicht behagte. Daher fühlte sie sich am wohlsten, wenn sie irgendwo in einem fremden Land an einer Ausgrabung teilnehmen konnte. Endlich, nach langen Minuten, hatte sie den Raum durchquert und war beim Ausgang angekommen. Dort wartete Alan bereits auf sie. Er nahm ihr die Aktentasche mit ihren Unterlagen ab, um sie dann auf dem schnellsten Wege auf den Parkplatz zu führen. Katrin war sichtlich erleichtert, den Menschenmassen entkommen zu sein. Am Wagen angekommen, blieb sie plötzlich stehen. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und drehte sich langsam um. Mit versteinerter Miene, als hätte der Geist ihrer verstorbenen Großmutter sie gerufen, suchte sie das Gelände hinter sich ab. Plötzlich war da kein Geräusch mehr. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie ganz allein auf dieser Welt. Eingeschlossen in eine undurchdringliche Blase.
Alan war bereits eingestiegen und bemerkte erst jetzt, dass seine Begleitung zögerte. Unverwandt stieg er wieder aus dem Wagen aus und trat zu ihr hinüber. Fragend betrachtete er sie von der Seite, doch als sie nicht reagierte, folgte er ihrem Blick. Das Einzige, was er sah, waren die anderen Autos auf dem Parkplatz und das Kongressgebäude. Als Katrin immer noch nicht reagierte, sprach er sie an.
Wie aus einer tiefen Trance gerissen, drehte sie sich jetzt langsam zu ihm um. "Ich weiß nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass uns jemand beobachtet. Sie nicht?" Katrin war sichtlich nervös. Alan legte ihr beruhigend eine Hand auf den Unterarm, dann nahm er ihr vorsichtig den Autoschlüssel aus der Hand.
"Vielleicht ist es besser, wenn ich zurückfahre", sagte er, während er Katrin offen ins Gesicht sah. Sie schien langsam aus ihrem Albtraum zu erwachen und nickte nur. Alan öffnet ihr die Beifahrertür. Nachdem sie eingestiegen war, schloss er diese wieder und ging um den Wagen herum, um dann auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen. Er startete den Motor, parkte den Wagen aus und machte sich auf den Weg zum Abbotsford House. Katrin saß zunächst schweigsam neben ihm. Unverwunden blickte sie durch die Frontscheibe, während die Landschaft an ihnen vorbeizog. Es dauerte einige Zeit und einige Kilometer, bis sie aus ihrer Gedankenwelt wieder zurückkehrte.
Sie hatte bemerkt, dass Alan sie immer wieder von der Seite angesehen hatte. Noch immer wurde sie nicht das Gefühl los, dass sie von jemandem aus der Menge der Zuhörer angestarrt wurde. Alan versuchte sie auf andere Gedanken zu bringen, indem er ihr Fragen zu ihrem Vortrag stellte. Doch Katrin durchblickte dieses Manöver sehr schnell. Sie lächelte ihn freundlich an und gab ihm zu verstehen, dass sein Bestreben sehr liebenswürdig sei, sie jedoch nicht von den Gedanken abbringen könnte, die sie momentan beherrschten. Er erkannte, dass es wenig Sinn hatte, sie abzulenken oder gar aufzuheitern zu wollen. Daher versuchte er erst gar nicht mehr, dieses Vorhaben weiter durchzuführen, sondern konzentrierte sich auf die Realität. Für den Moment war er davon überzeugt, Katrin habe mit dem Mord an ihrem Bruder nichts zu tun. Eins war allerdings offensichtlich. Irgendjemand anderes war dann verantwortlich für den Tod von Michael.
Auch Katrins Gedanken kreisten nur um diese eine Frage. Wer konnte so brutal und grausam sein, ihren Bruder zu töten und aus welchem Grund war dies geschehen? Nach ihrem Dafürhalten war diese Tat sorgfältig geplant. Warum sollte sich sonst jemand die Mühe machen, Michael zu ermorden und sie dann offensichtlich zu betäuben, nur um sie danach auszuziehen und auf ihren Bruder zu platzieren. Allein die Tatsache, ihre beiden nackten Körper in dieser perversen Art und Weise anzuordnen, deutete darauf hin, dass es sich nicht um eine spontane Aktion gehandelt haben konnte. Außerdem vermutete Katrin, dass ein einzelner Täter dazu auch nicht in der Lage gewesen wäre. Es mussten mindestens zwei gewesen sein. Vielleicht sogar noch mehr. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, sprach Alan sie plötzlich von der Seite her an. Katrin zuckte regelrecht zusammen, da sie so tief in ihrer Gedankenwelt versunken war, dass sie sogar vergessen hatte, wo und mit wem sie war. Gehetzt blickte sie den Mann hinter dem Steuer an, während ihr Puls raste und ihr das Herz bis zum Hals schlug. Nach einer knappen Minute war sie wieder in der Realität angekommen.
"Entschuldigen Sie bitte", sagte sie." Was haben Sie eben gesagt? Ich war gerade tief in Gedanken."
"Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen", antwortete Alan ihr." Ich habe Sie erschreckt. Das war nicht meine Absicht."
"Nein, nein. Das ist schon in Ordnung. Woher sollten Sie denn auch wissen ...", den Rest ließ sie offen. Nach einer längeren Pause fuhr Katrin fort. "Wie wollen wir jetzt weiter verfahren? Haben Sie eine Idee, Alan?"
"Offen gestanden habe ich zum ersten Mal mit einer solchen Situation zu tun." Er versuchte krampfhaft zu lächeln, um der Situation ein wenig die Schärfe zu nehmen. Doch seine scherzhafte Bemerkung hatte nicht den gewünschten Erfolg. Katrin blickte ihn etwas verständnislos von der Seite her an. "Tut mir leid. Die Bemerkung war ziemlich unangebracht. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was wir machen sollen. Genauso wenig habe ich eine Ahnung davon, wieso das alles passieren konnte. Ich kenne nicht den kleinsten Grund, warum man Ihren Bruder umbringen sollte."
"Wir müssen herausfinden, wer dahinter steckt", unterbrach Katrin ihn. Plötzlich war ihr absolut klar geworden, welchen Weg sie einschlagen mussten. Würde man die Polizei ins Spiel bringen, hätte dies nur zur Folge, dass sie oder Alan, oder aber auch beide, vor ein Gericht gestellt und verurteilt würden. Die Indizien waren einfach zu eindeutig. Also hatten sie gar keine andere Wahl, als selbst nach den Tätern zu suchen. Und genau das würde Katrin machen. Als sie Alan jedoch diese einfache Schlussfolgerung offenbarte, war der so geschockt, dass er auf der glücklicherweise wenig befahrenen Landstraße eine Vollbremsung hinlegte und den Motor abwürgte. Katrin wurde in ihrem Sitz heftig nach vorne geschleudert, als der Wagen abrupt zum Stand kam. Voll entsetzen drehte Alan sich zu ihr um.
"Was haben Sie da eben gesagt?", fragte Alan aufgebracht. "Sie wollen allein auf die Jagd nach den Tätern gehen?"
"Ich hatte gehofft, Sie würden mich dabei begleiten." Alan blickte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Wie konnte sie nur glauben, dass er sich in eine solche Gefahr begeben würde.
"Sie haben doch überhaupt keine Ahnung, mit wem Sie sich da einlassen. Sind Sie sich überhaupt darüber im Klaren, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Mord handelt? Wenn jemand Ihren Bruder aus dem Weg räumen wollte, weil er zu viel wusste, hätte er nicht so einen Aufwand betreiben müssen. Es hätte schlicht und ergreifend gereicht, ihn zu töten und dann dort liegen zu lassen. Stattdessen hat man sich die Mühe gemacht ein solches Szenario zu erstellen, das nicht nur ihn beseitigt, sondern auch Sie in Schwierigkeiten bringt. Wer auch immer dahintersteckt, muss sehr viel Macht besitzen."
"Und genau das ist der Grund, warum wir uns um die Lösung kümmern müssen. Wenn diese Leute so viel Macht besitzen, dann werden sie mit Sicherheit auch dafür sorgen, dass die Polizei den Fall nicht lösen kann. Ich will aber unbedingt wissen, was hinter der ganzen Sache steckt. Und wenn Sie mir nicht helfen wollen, Alan, dann werde ich es eben im Alleingang machen. Weder Sie noch irgendjemand anders kann mich davon abbringen", sprudelte es wütend aus ihr heraus.
Alan betrachtete lange Zeit Katrins Gesicht, in dem sich Entschlossenheit widerspiegelte. Er wusste genau, dass er diese Frau nicht von ihrem Vorhaben abbringen konnte. Also versuchte es auch gar nicht erst. Trotzdem war ihm nicht wohl dabei, wenn er darüber nachdachte, ihrem Wunsch zu folgen. Wer auch immer für diesen Mord verantwortlich war, er war alles andere als zimperlich. Würden sie zu weit vorstoßen, davon war Alan fest überzeugt, wäre das auch ihrer beider Todesurteil. Verzweifelt blickte er durch die Frontscheibe des Wagens auf die Straße und überlegte, was er Katrin zur Antwort geben sollte. Dabei biss er sich immer wieder auf die Unterlippe. Schließlich kam er zu der Erkenntnis, dass es gar keine andere Möglichkeit gab, als ja zu sagen.
"Also gut. Sie lassen mir gar keine andere Wahl. Ich werde Ihnen bei der Suche nach den Mördern Ihres Bruders helfen. Unter einer Bedingung. Wenn es definitiv zu gefährlich wird, übergeben wir alle Informationen der Polizei und lassen die ihre Arbeit machen." Ohne auf eine Antwort von Katrin zu warten, ließ er den Motor an. Dann blickte er zunächst in den Außenspiegel, danach in den Innenspiegel, um die Straße zu kontrollieren, bevor er wieder anfuhr. Alan wollte gerade das Gaspedal durchtreten, als er plötzlich stockte. Irritiert blickte er erneut in den Innenspiegel und schnitt mit einer Handbewegung Katrin das Wort ab, die gerade etwas sagen wollte. Noch bevor sie sich beschweren konnte, fiel Alan ihr ins Wort.
"Etwa hundert Meter hinter uns steht ein roter Wagen auf der Straße."
"Vielleicht hat er eine Panne", antwortete Katrin ihm. "Sollen wir hingehen und ihn fragen, ob er Hilfe braucht?"
"Irgendwie habe ich nicht das Gefühl, dass der Wagen defekt ist. Soweit ich das erkennen kann, sitzt der Fahrer unbeweglich hinter dem Lenkrad in seinem Fahrzeug. Ich gebe es ja nur ungern zu, aber vielleicht hatten Sie doch Recht mit ihrem Gefühl, dass wir beobachtet werden."
"Was sollen wir schon machen. Wir werden einfach weiterfahren", gab er zur Antwort. Während er das Gaspedal jetzt langsam durchtrat, beobachtete er im Rückspiegel das andere Fahrzeug. Der Fahrer machte offensichtlich keine Anstalten, ebenfalls die Fahrt wieder aufzunehmen. Nach und nach wurde der Wagen zu einem kleinen Punkt, der dann schließlich verschwand. Möglicherweise hatten sie sich doch getäuscht und das Auto war nur liegen geblieben. Alan konnte auch nicht mit Gewissheit sagen, wie lange es dort schon hinter ihnen gestanden hatte. Als der rote Wagen auch in der nächsten halben Stunde nicht mehr im Rückspiegel auftauchte, beruhigten sich beide wieder etwas. Beim Abbotsford House angekommen, fuhr Alan links in die Zufahrt zum Anwesen und blieb kurz hinter der weißen Schranke stehen.
"Worauf warten Sie?", fragte Katrin erstaunt, die bemerkt hatte, dass Alan zwar zu ihrer Seite herübersah, jedoch nicht sie anblickte. Doch Alan ließ mit seiner Antwort auf sich warten. Er blickte dabei aufmerksam in den rechten Außenspiegel, in dem er einige Minuten später einen roten Wagen langsam auf der Straße heranfahren sah.
"Darauf habe ich gewartet", gab er Katrin jetzt zur Antwort und deutete mit dem Finger auf den Außenspiegel. "Scheinbar hat die Jagd bereits begonnen", fuhr Alan fort. Dabei blickte er Katrin ernst an. Erneut fuhr der Wagen an und parkte wenig später vor dem Haupthaus. Bevor Alan aussteigen konnte, fasste Katrin ihn am Arm. Sofort ließ er sich in den Fahrersitz zurückfallen und wartete auf das, was sie ihm sagen wollte.
"Was wollen wir jetzt mit Michaels Leichnam machen?", fragte sie etwas ängstlich.
"Wir müssen die Leiche auf jeden Fall loswerden. Sonst besteht weiterhin die Gefahr, dass die Polizei noch ein weiteres Mal kommt und sie findet. Was das für uns bedeuten würde, ist Ihnen klar. Ich denke, das Beste wird sein, wenn wir ihn irgendwo auf dem Gelände vergraben."
Katrin war bei der Vorstellung, ihren Bruder wie einen toten Hamster unter die Erde zu bringen, zuwider. Krampfhaft überlegte sie, welche anderen Möglichkeiten es noch gab. Eine offizielle Bestattung, wie Katrin sie ihrem Bruder gerne hätte zukommen lassen, war natürlich vollkommen unmöglich. Schließlich, nach einer Weile, hatte sie einen Einfall. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Bruder einmal gesagt hatte, er würde gerne nach seinem Tode in der kleinen Kapelle hinter dem Haus bestattet werden. Alan war damit einverstanden und beide stiegen aus. Im Haus machten sie sich an die Vorbereitungen, wobei sie als Allererstes die kleine Kapelle inspizierten. Scheinbar hatte Michael, was seinen Wunsch angeht, bereits vorgesorgt. In der Mitte des Raumes stand ein einfacher, schlichter Sarkophag aus Stein. Gemeinsam öffneten sie den Deckel und legten ihn zur Seite. Danach begaben sich die beiden erneut ins Haus, um sich auf den Weg ins Schlafzimmer zu machen. Dort schlugen sie die Bettdecke zurück, welche die Leiche von Michael vor fremden Augen geschützt hatte.
Das Bett war vollkommen leer und die Bettdecke sowie die Matratze waren erneuert worden.
Katrin und Alan standen wie erstarrt und völlig sprachlos vor dem leeren Bett. Verwirrt durch die neue Situation sahen sich die beiden an. Dann wanderten ihre Blicke wieder zurück auf das Bett. Verzweifelt versuchten beide, eine Erklärung zu finden. Aber hier herrschte nicht Logik vor. Wer auch immer diesen perfiden Plan geschmiedet hatte, wusste genau, wie man sie immer wieder erneut ins Leere laufen lassen konnte. Für die beiden war es vollkommen unverständlich, warum man sich zunächst die Mühe gemacht hatte, ein derartiges Szenario aufzubauen, um dann später einen der Protagonisten verschwinden zu lassen. Natürlich stellten sich beide die Frage, warum man Michaels Leichnam entführt hatte. Wozu sollte das dienen? Wollte man ihn anonym der Polizei zukommen lassen, damit die Ermittlungen gegen Katrin endlich in Gang kamen? Bei diesen Gedanken fingen sie an, das Zimmer nach der Tatwaffe zu durchsuchen. Diese blieb jedoch verschwunden. Das bedeutete für Katrin ein besonderes Problem, da sie bislang die Fingerabdrücke nicht von dem Griff des Messers abgewischt hatte. Sollte diese Waffe wieder auftauchen oder gar der Polizei übergeben werden, konnte sie sich auf eine langjährige Strafe im Gefängnis gefasst machen.
Sie hatte nicht bemerkt, dass Alan das Zimmer bereits verlassen hatte. Auch er war auf die gleiche Idee gekommen, nur hatte er sofort geschaltet. Die Waffe war ein einfaches Küchenmesser gewesen, das möglicherweise aus den Beständen von Michael stammte. Mit eiligen Schritten war er in die Küche gestürmt und hatte dort angefangen, sämtliche Schubladen zu durchsuchen. Nach kurzer Zeit fand er, wonach er gesucht hatte. Das Messer war sorgfältig gereinigt worden und lag friedlich in seinem Fach. Ohne es anzufassen, schob er die Schublade wieder zu und begab sich zurück zu Katrin ins Schlafzimmer. Dort erzählte er ihr von seiner Entdeckung, was dazu führte, dass Katrin ihn jetzt nur noch umso verstörter und verständnisloser ansah. Nach einigen Minuten fand sie ihre Sprache wieder.
"Können Sie sich vorstellen was das soll, Alan?", fragte sie mit verzweifelter Miene. "Ich meine, das macht doch alles keinen Sinn. Was wollen die mit Michaels Leiche? Wenn sie die Tatwaffe mit meinen Fingerabdrücken nicht haben, dann nützt ihnen die Leiche auch nichts. Das ist doch der reinste Irrsinn. Ich werde noch wahnsinnig."
Alan überlegte lange und intensiv, was er ihr darauf antworten sollte. Langsam glaubte auch er, den Verstand zu verlieren. Statt Katrin eine Antwort zu geben, wollte er sie in die Arme nehmen. Doch die wendete sich von ihm ab, ging an ihm vorbei durch die Tür und zurück in die Küche wo sie sich ein Glas Wasser holte, das sie in einem Zug austrank. Nachdem sie noch einige Male tief eingeatmet hatte, beruhigte sie sich langsam wieder. Immer mehr wurde ihr klar, dass diejenigen, die sich all dies ausgedacht hatten, einfach nur krank sein mussten. Endlich bahnte sich die Anspannung ihren Weg und Katrin setzte sich schluchzend an den Küchentisch. Alan stand draußen auf dem Flur und beobachtete sie durch die offene Küchentür. Ihm war mehr als bewusst, dass er Katrin für den Moment nicht helfen konnte. Um sich selbst ein wenig abzulenken, begab er sich in das Arbeitszimmer von Michael, wo er anfing, an einigen Dokumenten zu arbeiten, die zu dem Projekt gehörten an dem sie beide zuletzt gearbeitet hatten.