Nicht mein Tag - Ralf Husmann - E-Book

Nicht mein Tag E-Book

Ralf Husmann

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Beschreibung

»Das Lustigste seit Kafka.« (Christian Ulmen) Till Reiners ist einer, der so ist wie alle, und bislang hat er das für etwas Positives gehalten. Da wo Till ist, ist es nicht trendy. Schon sein Name ist nicht hip, und dann wohnt er auch noch am Rande des Ruhrgebiets und trägt einen Seitenscheitel. Er hat eine Frau und ein Kind und ein Leben wie eine Tatort-Folge: ziemlich deutsch, mäßig spannend, mit wenig Sex, und man ahnt nach der Hälfte, wie es ausgehen wird. Bis Nappo auftaucht, ein Kerl mit einer Tätowierung, einer Sporttasche und einer echten Waffe. Plötzlich ist alles anders: Ein Kaninchen stirbt, ein Mann wird zusammengeschlagen, ein unflotter Dreier findet statt, und Bruce Springsteen spielt dazu. Außerdem fehlen der Dresdner Bank mal eben 30.000 Euro. Und Till Reiners ist auch nicht mehr, was er mal war … Intelligenter muss Humor nicht sein: Der erste Roman von Stromberg-Erfinder und Grimme-Preisträger Ralf Husmann: die unglaublich gute Geschichte eines gar nicht guten Arbeitstages!

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Seitenzahl: 446

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Ralf Husmann

Nicht mein Tag

Roman

Roman

Fischer e-books

Ich bin ein anderer.

Reinhard »Stan« Libuda

 

 

It’s good to be anywhere.

Keith Richards

 

 

Man guckt die Leute immer nur vor’n Kopp.

Opa von Miriam

1

Sein Seitenscheitel ist so out wie Volksmusik. Er ist fluffiger als die Versionen, die man bei Hitlers Helfer sieht, gleichzeitig aber nicht zottelig genug, um als retro, trendy oder szenig durchzugehen. Seit Till denken kann, hat er diesen Seitenscheitel. Vermutlich sogar noch länger. Vermutlich haben die Ärzte seiner Mutter bei seiner Geburt gesagt »Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Seitenscheitel«. Es ist praktisch das Einzige, was sein Vater ihm vererbt hat, abgesehen von ein paar Pfandbriefen.

Und dann noch mit dieser Haarfarbe: Ein Eichhörnchenbraun. Ein Braun wie eine überreife Banane. Aber während ringsherum alle ständig ihre Frisuren wechseln, hat er keine Ahnung, was er anders machen sollte. Jedes Mal, wenn er in dem hochfahrbaren Frisierstuhl sitzt, befällt ihn eine Starre, eine klamme Mulmigkeit, dass die Friseurin, die halb so alt ist wie er, die vermutlich halb so viel verdient wie er, die wahrscheinlich nie ein Buch von innen gesehen hat, dass diese Friseurin ihn auslacht, innerlich, womöglich sogar äußerlich, sobald er eine andere Frisur vorschlägt. Die erste Nachfrage von ihr wird ihn komplett aus der Bahn werfen. Deswegen hat er noch immer den Seitenscheitel. In zwei Jahren wird er vierzig sein, und er hat keine Ahnung, wie andere Männer es schaffen, sich passende Frisuren auszusuchen.

Till starrt auf sein Foto in dem Album, das Jesscia ihm hinhält. Jessica wartet darauf, dass er ein paar Sätze unter seinen Seitenscheitel schreibt. Es geht auf den Feierabend zu, bis dahin sollte ihm ein Satz eingefallen sein, denn Herr Walther wird die Filiale gegen 17 Uhr abschließen, sobald der letzte Kunde den Schalterraum verlassen hat. Dann wollen sie ihm den faltbaren Angelstuhl schenken, für den die Belegschaft zusammengelegt hat, und das Album, mit Fotos von allen Kollegen, mit denen Herr Walther mal gearbeitet hat. Fotos und Widmungen. Widmungen, die einem erstmal einfallen müssen. Und das, was er schreibt, muss jetzt quasi seinen Seitenscheitel wieder ausgleichen.

Herr Walther wird heute 60. Deswegen hatte Frau Odra die Idee, zusätzlich zu dem faltbaren Angelstuhl noch das Album zu machen. Sie war extra in der Hauptstelle und hat alle fotografiert, mit denen Herr Walther mal etwas zu tun hatte. Sie hat sogar ein Bild von den türkischen Putzfrauen gemacht, die seit ein paar Jahren für die Reinigung der Filiale zuständig sind. Seit Frau Odra ihren Afrikaner geheiratet hat, legt sie Wert darauf, auch andere Minderheiten ordentlich zu behandeln.

Tills Gehirn produziert nichts. Die Julihitze setzt die letzten Giftstoffe im durchgetretenen Teppichboden der Filiale Osthofen Süd frei, die Klimaanlage klappert pro forma, scheitert aber kläglich an ihrer eigentlichen Aufgabe. Durch die Fensterfront dringt das Verkehrsrauschen aus der Welt, die groß, übervölkert und weitgehend von ihm unentdeckt draußen vor der Dresdner Bank liegt. Er hat keine Idee, was man jemandem schreibt, der 60 wird.

»Schreib doch irgendwas. Schreib ›Piep, piep, piep, piep, wir haben Sie alle lieb.‹ Is doch egal ...«, sagt Jessica. –

»Ein Piep müssen wir leider abziehen, sonst holpert der Reim ... bleiben drei Piep, das macht in Schilling ...«

Sie sieht ihn an, für einen winzigen Moment hat sie aufgehört, ihr Kaugummi zu kauen, aber stattdessen nicht angefangen zu lachen. Natürlich nicht. Jessica ist 24. Woher soll sie Anspielungen auf Dalli Dalli verstehen? Hans Rosenthal ist schon lange tot. Und Jessica ist nicht das hellste Licht am großen Baum der Dresdner Bankfiliale in Osthofen-Süd.

»Wieso Schilling? Versteh ich nicht.«

Er winkt ab. »Nicht schlimm.«

Sie kaut weiter, sie sortiert Unterlagen, die ihr prompt aus der Hand fallen. Sie ist unfassbar dämlich, und er will sie gern nackt sehen. Am liebsten, während er auch nackt ist. Am allerliebsten, während sie dabei auf ihm sitzt und draußen vor dem Fenster Paris ist und nicht Osthofen-Süd und drinnen ... Er muss aufhören damit! Er muss dringend aufhören damit! Er ist praktisch schon so gut wie 40, und das muss er seiner Libido auch mal mitteilen, oder seinem Testosteron, oder was auch immer bei ihm dafür zuständig ist, dass seine Fantasie dauernd vollgerümpelt wird mit einer nackten Jessica.

Er muss etwas unter sein Foto schreiben, für Herrn Walther, der heute 60 wird und sein Zweigstellenleiter ist. Irgendwas Nettes sollte ihm einfallen. Aber der Teufel ist kein Eichhörnchen, wie oft behauptet wird, sondern Designer bei H&M und hatte die Idee mit den etwas zu kurzen Tops, die Jessica in diesem Sommer mit Vorliebe trägt. Jessica und ein Viertel ihres nackten Bauchs stehen gelangweilt vor Till. »Bei uns in der Schule hatten die Mädchen diese Poesiealben«, sagt er, »und Brigitte Schlünzke, die konnte ich nicht leiden, der hab ich reingeschrieben ›Wum fickt gut‹, und daneben hab ich Wum gezeichnet, wie er es Wendelin von hinten besorgt.« Er muss lachen, Jessica nicht. Sie sieht ihn an. »Das war damals ... Wum war so ein Hund ... und ein Elefant ... die waren in so einer Show ... im Fernsehen.« Er merkt, dass ihm die Erklärung missrät, und schiebt trotzdem hinterher: »Weil es doch den Spruch gibt, von wegen dumm, äh, also ...« Er kann nicht zweimal hintereinander »fickt« sagen zu einer Kollegin, die zwanzig Jahre jünger ist als er. Er merkt, dass sie auch so durchaus verstanden hat, dass er das mit dem Sex nicht auf Hunde und Elefanten bezogen hat. Dafür hat sie einen sechsten Sinn. Vielleicht fehlen ihr die anderen fünf komplett, aber den sechsten Sinn für billige Anmache, den hat sie.

Er ist sich in diesem Moment absolut sicher, dass der blöde Spruch stimmt. Mit Sicherheit ist Jessica eine Granate im Bett. Was immer das auch heißt. Er hat keine Ahnung, wenn er ehrlich ist. Jessica könnte es ihm zeigen, das fühlt er. Dabei sieht sie nach normalen Kriterien eher durchschnittlich aus. Nackt wäre sie eher in der Coupé als im Playboy. Sie ist ungefähr 1,65, schätzt er, parmesanblond, mit hellen Strähnchen, ein kleines bisschen fleischig um die Hüften, mit einem sparsamen, herzförmigen Gesicht, etwas zu vollen Wangen, leicht aufgeworfenen Lippen und herzzerreißenden Sommersprossen über der kleinen Nase, gerade jetzt, da sie vor zwei Wochen aus einem Ibiza-Urlaub wiedergekommen ist, wo sie offenbar bemüht war, alle Klischees über Ibiza-Urlauberinnen zu erfüllen. Zumindest ist sie reklamefähig braun und trägt deshalb ein ziemlich unseriöses rotes Top, und darunter ein weißes Trägerhemdchen und darunter nichts mehr, denn er sieht, wie sich bei jeder Bewegung ihre kleinen Brüste mitbewegen, einladend geformt wie perfekte Miniatursitzsäckchen, zwischen die er sich fallen lassen könnte, um ... er muss aufhören damit. Er muss aufhören damit!

Sie hockt sich hin, um die heruntergefallenen Unterlagen aufzusammeln, und zum circa neuntausendsten Mal fällt sein Blick auf die Tätowierung, die sie kurz über dem Steißbein hat. Ein buntes Muster, geformt wie ein Motorradlenker. Er weiß, dass das erbärmlich ist. Er weiß, dass das ein international gültiges Zeichen für eine ganz billige Tussi ist. Und entsprechend hat sie schon das ein oder andere Mal gesagt, sie würde lieber irgendwas mit Fernsehen, Modeln oder Berühmtsein machen, als in der Bank zu arbeiten. Und so, wie sie selbst einfache Vorgänge bearbeitet, ist klar, dass ihre Chancen trillionenfach größer sind, bei einer dieser Richtershows im Nachmittagsfernsehen zu enden als beim Nobelpreiskomitee in Stockholm.

Till ist das egal. Komplett wurscht. Er sieht in der Tätowierung einen aufgemalten Wegweiser, einen subtilen Hinweis darauf, dass es unter der Gürtellinie weitergeht mit Jessica. Er sieht die kleinen, hellen Härchen, in der leichten Mulde am unteren Ende ihres straffen Rückens, ein vollendet weicher Flaum, den der sadistische Regisseur des Lebens jetzt auch noch mit Mittagssonne beleuchten lässt. Jetzt, da die Sonne auf die Tätowierung fällt, wirken die Farben auf ihrer Haut gedämpfter, weicher als sonst. Wenn er jetzt die Wahl hätte zwischen Leonardos Mona Lisa und Jessicas Tätowierung, müsste er keine Sekunde überlegen. Wahrscheinlich hätte Leonardo heute sowieso ein Tattoo-Studio. Jessicas Tätowierung ist das bunte Vorspiel zu ihrem erdballrunden kleinen Hintern, grandios verpackt in einer fast weißen Hose, deren Bund tiefer hängt, als das bei Frauenhosen früher der Fall war. Das alles würde er ohne Zögern als Weltkulturerbe bezeichnen. Er muss aufhören damit.

Er blickt sich um, ob irgendjemand ihn beobachtet hat, wie er Jessica beobachtet hat. Gott sei Dank nicht. Er hat bislang mit keinem der Kollegen in der Bank über Jessica gesprochen, und die Kollegen haben von sich aus sicher auch noch nichts bemerkt. Er ist vorsichtig und verheiratet genug, um nicht aufzufallen.

Till sieht sich jetzt selber an, von seinem Foto, auf dem er unverändert nach wie vor seinen Seitenscheitel trägt. Es ist unwahrscheinlich, dass Jessica in ihrem Leben mit jemandem schlafen wird, der einen Seitenscheitel hat. Auch wenn der Rest von ihm durchaus Chancen hätte, durch den Liebhaber-TÜV zu kommen. Er hat die handelsübliche Anzahl an Armen, Beinen, Augen, Ohren und Nasen, alles mehr oder weniger ohne besondere Kennzeichen, einen leichten Bauchansatz, der nur auffällt, wenn er eng geschnittene Hemden trägt, er ist durchschnittlich groß, einsdreiundachtzig. Heute trägt er eine sandfarbene Leinenhose und ein kurzärmeliges, weißes Hemd, das vermutlich besser wirken würde, wenn er ein bisschen braun wäre. Aber er ist kein modischer Unfall wie Herr Walther an den meisten Tagen des Jahres. Till hat einen inselartigen Bartwuchs und eine kleine Narbe auf dem Kinn, von seinem Versuch, als Dreijähriger die Tischdecke vom Tisch zu ziehen, bei dem er auch den Kristallglasaschenbecher mitgerissen hat. Seither sieht sein Kinn aus wie ein erster, abgelehnter Entwurf für das Kinn von Kirk oder Michael Douglas. Trotzdem, insgesamt kann er zufrieden sein. Auf der Skala zwischen Brad Pitt und dem Elefantenmenschen ist er näher an Brad Pitt. Er hat schon Männer seiner Preisklasse gesehen, die es mit tätowierten Jessicas getrieben haben. In Pornos. Aber das ist nur ein marginaler Einwand, findet er.

Herr Walther klappert aus dem Hintergrund mit dem Schlüssel und läutet damit quasi das Ende des Arbeitstages ein, aber in dem Moment schleppt sich Frau Jablonsky in die Bank, und Herr Walther ist zu sehr Zweigstellenleiter, um nicht noch dieser Stammkundin bei ihren Angelegenheiten zu helfen.

Die lustige, dicke Frau Odra hat neben den Scheitel den Namen geschrieben. »Till Reiners« steht da in ihrer runden, geschwungenen Kleinmädchenschrift. Frau Odra ist ungefähr zehn Jahre älter als er. Frau Odra hatte in der Schule sicher auch Poesiealben. Man kommt einfach nicht weiter. Man wiederholt nur alles. Die Bands von damals sind wieder da, die Mode und jetzt auch Poesiealben. Und er sitzt immer noch da und starrt Mädchen an, wie damals. Nur jetzt nicht mehr in der Schule, sondern in einer Bank. Man kommt einfach nicht weiter.

Herr Walther steht nach wie vor am Tresen und redet mit Frau Jablonsky, und Till fragt sich, ob Herr Walther weitergekommen ist. 60. Das heißt, kurz nach dem Krieg geboren. Das heißt, Herr Walther hätte gut und gerne ein 68er sein können. Was er natürlich nicht war. Andererseits, man weiß es nicht. Franz Beckenbauer ist kurz nach dem Krieg geboren, Andreas Baader auch, Joschka Fischer und Pete Townshend. Alle sind oder wären heute so alt wie Herr Walther, der in seinem unförmigen hämatomfarbenen Anzug am Tresen steht und schwer atmet. Von heute aus kaum zu sagen, wie die Leute früher waren. Till versucht sich Herrn Walther mit zwanzig vorzustellen und schafft es nicht. Herr Walther war immer schon sechzig. Soweit er weiß, ist Herr Walther seit Ewigkeiten verheiratet. Seine Frau war ein paar Mal in der Filiale, bei Weihnachtsfeiern und dergleichen. Till hat kaum mit ihr gesprochen. Vermutlich spricht auch Herr Walther kaum mit ihr. Hinter vorgehaltener Hand gibt es Gerüchte, dass sie zu Hause die Hosen anhat, dass sie ihn finanziell sehr kurz hält und dass er nur deswegen das Auto zur Arbeit mitnehmen darf, weil sie mit ihrem Besen fliegen kann.

Herr Walther flüchtet ständig zum Angeln. Angeln ist eine gute Ausrede, um an den freien Tagen früh aus dem Haus zu gehen und spät wieder zu kommen. Und es ist billig. Die Walthers haben eine unscheinbare Tochter, die Claudia, Monika oder dergleichen heißt und ein paar Jahre jünger ist als Till, aber auch schon wie sechzig wirkt. Auch sie hat wiederum ein Kind. Die Walthers sterben nicht aus. Die Welt geht immer weiter.

Der Geldautomat hat die EC-Karte von Frau Jablonsky gefressen, sie hat vergessen, wo sie sich die Geheimzahl notiert hat, sie versteht nicht, wieso sie überhaupt so eine Karte haben soll, warum sie nicht das Geld am Schalter bekommt, wie früher, warum sie für ihre Miete einen Dauerauftrag einrichten soll – sie traut ihrem Vermieter nämlich nicht über den Weg. Frau Jablonsky versteht nicht, wieso alles immer komplizierter wird und warum nicht alles so bleiben kann wie früher. Herr Walther versucht ihr in seiner routinierten Verkaufsstimme zu erklären, dass die ganzen Neuerungen nur Erleichterungen bringen, dass im Gegenteil ja alles immer einfacher wird, aber Till ist im Prinzip auf Seiten von Frau Jablonsky. Nichts wird einfacher. Jede Lösung schafft nur neue Probleme. Telefon-Banking, Online-Banking, e-commerce, das alles wird am Ende dazu führen, dass keine Bankangestellten mehr gebraucht werden. Sie arbeiten hier seit einigen Jahren auf ihre eigene Abschaffung hin. Ein Viertel der Zweigstellen wurde bereits zugemacht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch diese hier drankommt. Für Herrn Walther kein Thema mehr, für Till selbst wird es schon eng werden, Jessica, das arme Ding, hat so gut wie keine Chance.

Hat sie sowieso nicht. Gerade hat sie Unterlagen falsch zusammengetackert, er sieht es aus den Augenwinkeln. Till wird das morgen heimlich wieder in Ordnung bringen. Er wird sie retten. Er wird ihr Held sein. Er wird alles entklammern und neu tackern und dafür wird sie sich für ihn ausziehen und ihn klammern und tackern und ... er muss aufhören damit! Er muss sich jetzt konzentrieren und an etwas anderes denken! Er muss sich vorstellen wie, ja, wie zum Beispiel Herr Walther nackt aussieht, oder wie Herr Walther und Frau Walther ihre Claudia oder Monika gemacht haben, damals, als ihn seine Frau offenbar noch nicht dazu gebracht hat, Fischen Würmer vor die Nase zu halten, auf dass sie mit dem Wurm auch den Haken fressen, an dem sie sterben werden, wie eben auch Herr Walther sterben wird, irgendwann, auf dem Angelstuhl, den sie ihm heute schenken ...

»Das Leben hat uns stets verdrossen, ab heute wird zurückgeschossen«, schreibt er hin, unter das Foto mit dem Seitenscheitel, auf dem er lustig ein Auge Richtung Nase verdreht hat. Auch etwas, das er schon zu Schulzeiten geübt hat und irgendwann konnte, ein Trick, der ihn damals in ein, zwei kritischen Situationen vor drohenden Schlägereien bewahrt hat und der seitdem fest in seinem Fotogesichter-Repertoire verankert ist.

Herr Walther furzt vernehmlich, laut und lang. Eine Darmgeschichte, wegen der er demnächst ins Krankenhaus geht. Er hat das nicht unter Kontrolle. Es passiert immer wieder. Er hat sich anfangs dafür entschuldigt, mittlerweile tun alle so, als nähmen sie es nicht mehr wahr. Es ist vermutlich der Grund, warum man ihm von ganz oben zu verstehen gegeben hat, dass er bis auf weiteres möglichst wenig Kundenkontakt haben soll. Es hat Beschwerden seitens einiger Kunden gegeben. Sogar Frau Jablonsky sieht ihn irritiert an, aber Herr Walther hat eine Routine darin entwickelt, eisern weiter zu reden. Die lustige, dicke Frau Odra hat das Wort »Krebs« geflüstert.

Herr Walther wird nicht in seinem Angelstuhl sterben, denkt Till, sondern unkontrolliert furzend auf der Intensivstation eines Krankenhauses. Es war keine gute Idee, in das Album für Herrn Walther zu schreiben » ... ab heute wird zurückgeschossen«. Till würde die Widmung gerne durchstreichen. Bis hierhin war das heute nicht sein Tag. Frau Jablonsky bricht wieder auf. Sie wird eine neue EC-Karte bekommen. Herr Walther schließt hinter ihr die Tür ab. Feierabend. Später wird Till an diesen Tag zurückdenken als seinen letzten normalen Arbeitstag im Leben. Aber das weiß er in diesem Moment noch nicht.

2

Herr Walther sagt tatsächlich »Das wär doch nicht nötig gewesen«, und zwar nicht über die verunglückte Widmung, sondern über den faltbaren Angelstuhl. Über die verunglückte Widmung sagt er nichts. Till denkt, dass das auch ein guter Spruch wäre für den Grabstein:

Karl Heinz Walther 1946–2011»Das wär doch nicht nötig gewesen.«

Alle haben sich in Herrn Walthers Büro versammelt, das direkt neben dem Schalterraum liegt. Ein großer, heller Lamellenvorhang, der vor dem Fenster hängt und bis zum Boden geht, sorgt dafür, dass man von der Straße aus nicht hereinsehen kann. An der Wand hängen zwei ausgeblichene Aquarelle, die hauptsächlich nicht weiter stören sollen. Darunter stehen der Schreibtisch, ein paar Stühle und ein tapferer Hydrokulturbaum, der vermutlich mit Herrn Walther zusammen pensioniert wird.

Till hat eine Ahnung, dass er nur darum so schlecht von Herrn Walther denkt, weil ihm dessen Geburtstag klarmacht, dass er selber in zwanzig Jahren in einem anderen Büro neben einem anderen Hydrokulturbaum stehen wird, um seinen Sechzigsten zu feiern und damit praktisch das Ende, denn er sieht weder sich noch Herrn Walther in einer Reihe mit Chaplin, Picasso oder Adenauer, die immer dafür herhalten müssen, wenn es darum geht zu zeigen, dass man auch im hohen Alter noch einiges reißen kann. Zur Bestätigung furzt Herr Walther laut und anhaltend in seine eigene Dankesrede. Alle blicken angestrengt auf den Teppichboden, Herr Walther spricht unbeeindruckt weiter. Noch zwanzig Jahre, denkt Till. Zwanzig Jahre ist praktisch die Hälfte der Zeit, die er jetzt schon auf der Erde ist, mehr oder weniger die Zeit seit dem Ende der Bundeswehr bis jetzt. Und die Zeit fliegt schneller, je älter man wird, auch eine Weisheit aus Herrn Walthers Plattitüdenvorrat. Er muss aufhören, so negativ von sich zu denken.

Es gibt ALDI-Sekt aus Wassergläsern, zur Feier des Tages. Seit die Darmgeschichte aufgetreten ist, ist Herr Walther etwas lockerer geworden. Alkohol in den Arbeitsräumen wäre früher nicht denkbar gewesen. Jetzt schenkt er ALDI-Sekt aus, als gelte es, sich die Kollegen binnen einer Stunde schönzutrinken. Mehrfach versichert Herr Walther, dass der ALDI-Sekt bei der Stiftung Warentest ausgezeichnet abgeschnitten hat. Höchstwahrscheinlich hat die Stiftung Warentest den ALDI-Sekt nicht ungekühlt bei 32 Grad Außentemperatur nachmittags um fünf aus dicken Wassergläsern verkostet, aber Till nippt tapfer ein paar Schlucke und stimmt Herrn Walther zu. Er behauptet, er hätte Ähnliches gelesen über die Froschschenkel in Vollmilch-Nuss von ALDI. Er lügt das Blaue aus Jessicas Augen. Jessicas Augen wären stonewashed-blau, wenn sie Jeans wären. Sie sind nicht besonders groß oder ausdrucksvoll, aber im Augenblick sehen sie ihn an und Jessica kichert unterdrückt.

Sie hat den Froschschenkelgag verstanden, den Till an Herrn Walthers Verständnis vorbeigemogelt hat. Er muss jetzt dranbleiben und nachlegen. Sobald Herr Walther sich weggedreht hat, hält Till fachmännisch die Nase über sein Wasserglas und macht eine Weinprobengeste, um anschließend die Augen zu verdrehen, sich pantomimisch zu übergeben und dann seinen ALDI-Sekt über die braunen Hydrokulturkügelchen des Bürobäumchens zu kippen. Jessica honoriert seine Darbietung mit einem seitlich weggezogenen Mundwinkel, der sich allerdings darauf bezieht, dass hinter seinem Rücken auch Herr Walther Tills Darbietung mitbekommen hat. »Ich hab, äh ...«, setzt Till an, »ich meine, er soll doch auch mitfeiern«, er deutet auf den Baum, »steht hier so lange tapfer in Ihrem Büro, ohne einen Mucks zu sagen, hat nie Urlaub, ist nie krank ...«, er sieht, dass das nirgendwo hinführt, dass ihn im Gegenteil jetzt alle ansehen, »ich muss noch fahren, gleich, nachher, nach Hause«, schiebt er müde hinterher.

»Ich nehm wohl noch ’n Schlückchen«, fällt ihm Frau Odra in den Rücken.

»Alk kann nie schaden!«, schließt Jessica an. Grandios. Der Froschschenkelgag-Bonus ist aufgebraucht. Till ist wieder bei null. Genau genommen ist er sogar unter null. Er pendelt irgendwo im Minusbereich.

Auf dem Prospekthalter in Herrn Walthers Büro lacht eine Familie mit Vater, Mutter und zwei Kindern freundlich für einen DIT-Fonds. So eine Frau ist für jemanden wie Till vorgesehen. Eine mit mittelblonden, mittellangen Haaren, die einen vernünftigen weichen cremefarbenen Pullover trägt, der sicher lang genug ist, um ihren Bauch zu bedecken. Eine DIT-Fonds-Frau. Jessica hätte keine Chancen bei einem DIT-Fonds-Fotoshooting. Jessica wäre eine Räkel-Ische in einem Felgen-Sonderangebotskatalog, oder das CD-Covergirl für Bauchfreie Fetenhits 4.

»Ich dachte, du wolltest die Gitarre mitbringen!« Nils, wie immer mit dem perfekten Timing für die falscheste Bemerkung zum ungünstigsten Zeitpunkt. »Die Mädels und ich haben schön was einstudiert.« Nils lacht sein Nils-Lachen, während er gleichzeitig seine Handballerhand einfach so auf Jessicas Rücken legt, in Höhe der Tätowierung. Zur Tarnung umfasst er auch die dicke Frau Odra, aber Till weiß Bescheid. Nils ist der Kollege, den er am wenigsten ausstehen kann. Ein typischer Frauen-Rumkrieger. Till kennt das gesamte Repertoire: Diese leicht angebräunte Gesichtsfarbe, die bedeutet, ›Leute, ich war heute vor der Arbeit schon schwimmen, oder Gewichte stemmen oder auf dem Mount Everest, um Reinhold Messner eine Flasche Sauerstoff vorbeizubringen‹. Dazu kommt der Aftershave-Schweif, den Nils auch noch bei diesen Temperaturen bis weit in den Nachmittag hinter sich herwehen lässt, vermutlich von irgendeinem Zeug, das aus Stierhoden gewonnen wird oder aus Kampfhundextrakten. In jedem Fall passt es aufs Schönste zu den Motivsocken, die er trägt. Motivsocken mit Mainzelmännchen, Snoopy, oder den Figuren von South Park. Nils hat sie alle und sie sollen zeigen, dass Nils mit seinen 28 Jahren ein lockerer Typ ist, mit dem man jederzeit Spaß haben kann. Wenn er Krawatten trägt, sind sie einzig und allein dazu da, den Blick auf seinen Schritt zu lenken. Jede seiner Krawatten ist ein textiler Pfeil auf seinen durchtrainierten Geschlechtsapparat, mit dem man ebenfalls jederzeit Spaß haben kann. Momentan trägt Nils die Haare sportlich kurz, hat aber allein in den letzten zwei Jahren mindestens sechs Frisuren durchprobiert. Keine davon war ein Seitenscheitel.

Das Schlimme ist, dass Nils überall gut ankommt, trotz seiner Motivsocken-Ausstrahlung und seiner Stierhoden-Ausdünstung. Zumindest macht Jessica keine Anstalten, seine Hand aus ihrem Rücken zu wischen. Im Gegenteil. Stattdessen hampelt sie zusammen mit Nils, der etwas von »50 Cent« gebrabbelt hat und jetzt in eine Art Sprechgesang verfällt »It’s my birthday, it’s my birthday lalalalalala as if it’s my birthday!«

Nils ist angeblich Hip-Hop-Fan, versteht allerdings maximal sieben Prozent der Texte, und Till wünscht sich, dass Nils spontan mit eben dieser Performance, die er da gerade abliefert, in die New Yorker Bronx gebeamt wird, um sie vor echten Schwarzen zu wiederholen. Er würde beiläufig erschossen werden. In der Wirklichkeit von Osthofen-Süd hat Nils die gesamte Belegschaft soweit, dass sie Till dazu bringt, seine Gitarre aus dem Auto zu holen. Soviel Überredungskunst ist dazu allerdings gar nicht nötig. Die Gitarre ist letztlich die perfekte Wahl der Waffe im Duell mit Nils. Quasi die Schaufel, mit der er Nils ein zeitweiliges Grab schaufeln wird. Die Gitarre ist sein Handball, sein Surfbrett, seine Hantel und was immer Nils sonst alles noch macht. An der Gitarre war Till mal gut. Das ist zwar schon eine Weile her, aber die Kollegen sind immer ein dankbares Publikum. Zur Feier des Tages hat sich Till ein paar neue Strophen zu »Mein Gott, Walter« ausgedacht, was bei den älteren gut ankommt, die sich noch an den Hit von Mike Krüger erinnern können und jetzt, nach einigen Gläsern lauwarmen ALDI-Sekts, bereitwillig »Mein Gott, Herr Walther« mitsingen. Jahrelange Lagerfeuererfahrung bringt Till geradewegs zu »Geburtstag – oho«, gesungen auf die Melodie von »Volare«, und zu »Herr Walther wird 60«, gesungen auf »Quantanamera«. Nils singt begeistert mit. Das ist das Schlimme an ihm.

Frau Odra wagt ein paar Tanzschritte, und nun wird auch Till musikalisch wagemutiger und versucht sich an Barry Manilows »Copacabana«, was er im Refrain spontan auf Herrn Walther umtextet zu »Ja, er ist Opa, Opa Cabana«. Herr Walther nimmt es nicht übel, im Gegenteil, Till sieht, dass er unter dem Einfluss des ALDI-Sekts sogar so etwas Ähnliches tut wie tanzen. Die Darmgeschichte scheint tatsächlich ernst zu sein. Vermutlich tanzt Herr Walther hier gegen den Sensenmann an. Die ganze Zeit behält Till Jessica im Auge, die gelangweilt mit der Perlenschnur des Lamellenvorhangs spielt. Mike Krüger, Barry Manilow, das passt alles nahtlos zu Wum und Wendelin und Dalli Dalli.

Alte-Sack-Musik aus dem letzten Jahrhundert. Für Jessica ist Mike Krüger so tot wie Beethoven. Er sucht sein Gedächtnis nach einem Song ab, der ihr gefallen könnte. Er ist sich nicht sicher, ob es heutzutage einfach keine Lagerfeuer mehr gibt, oder ob dann jemand zwei Plattenspieler und ein Mischpult mitbringt. Till fühlt sich alt und fehl am Platz, und nachdem er sich durch alle Strophen von »Country Roads« geklampft hat, fragt er sie nach ihrem Lieblingssong. Sie hat keinen.

»Und was hörst du so für Musik?«

»Alles Mögliche«, sagt sie und dann nach einer längeren Pause, »was grad so läuft.«

»Hmm«, sagt er und nickt, »das find ich auch gut.« Till Reiners wird Jessica niemals nackt sehen.

3

Es hat gut getan zu spielen. Auf dem Parkplatz verstaut er die Gitarre wieder im Auto. Erstaunlich, dass die Finger sich immer noch selbständig an ihre Positionen auf den Saiten erinnern, auch wenn er jetzt merkt, dass seine Fingerspitzen die ungewohnte Belastung registriert haben. »Hornhaut auf der Fingerkuppe ist dem Gitarristen schnuppe, wenn sie aber platzt und blutet, hat er zuviel sich zugemutet.« Stand damals in einem Lehrbuch.

Auch die Hitze des Tages macht ganz langsam Feierabend. Vorstadtstaub flirrt im Licht der untergehenden Sonne. Die warme Luft, die vom Asphalt des Parkplatzes hochsteigt, macht Till Vorwürfe: Ein sonnenvoller Sommertag geht zu Ende, den er im Schalterraum seiner Bank verbracht hat. Von irgendwo plärrt ein Radio, Kinder spielen kreischend auf einem Hinterhof, die Eisfahne am Kiosk gegenüber hängt schlapp herunter, ein Mann im Unterhemd steht davor, mit einer Flasche Bier in der Hand. Es riecht nach Sommer. Und der Höhepunkt seines Tages war »Copacabana«, gespielt mit zu langen Fingernägeln vor sechs Zuhörern, die mit ALDI-Sekt gnädig gestimmt worden waren.

Er hat das Gefühl, als müsse er dem Sommertag noch irgendwas abtrotzen. Er klappt das Sonnendach hoch und lässt die Seitenfenster herunter. Näher kommt er mit seinem Subaru nicht an ein Cabrio. Für die Mittagshitze funktioniert sein Auto wie eine Thermoskanne. Sie hat sich darin warm gehalten und legt sich jetzt um seine Schädeldecke. Er merkt, wie sich der Schweiß an seinem Rücken sammelt, und in den Falten, die sich automatisch um seinen Bauch legen, wenn er sitzt. Nils winkt fröhlich von der anderen Seite des Parkplatzes mit seinen leicht gebräunten, muskulösen Unterarmen. Natürlich hat Nils ein Motorrad und legt gerade munter seinen Nierengurt an. Sein Hemd ist jetzt zwei Knöpfe weiter aufgeknöpft als vorhin, und er wird gleich mit wehenden Haaren irgendwo hinfahren, wo man mexikanisches Bier mit Grapefruitgeschmack trinkt, wo es Musik gibt und wo haufenweise Jessicas darauf warten, von ihm mitgenommen zu werden. Till hat Lust ihn zu überfahren. Mit der vorderen Stoßstange mitten rein in das dicke Nilsgrinsen. Stattdessen winkt Till schlapp zurück und fährt langsam los in die andere Richtung. Er hat im Laufe der Jahre neun verschiedene Routen herausgefunden, von der Bank nach Hause zu fahren. Er könnte bei Wetten dass?! auftreten und präzise vorhersagen, bei welchem Verkehrsaufkommen man welche Route mit welchem Tempo einschlagen muss, um die bestmöglichen Ampelphasen zu erwischen. Jetzt zum Beispiel liegt er richtig, wenn er hinter der Beethovenallee Gas gibt und dann rechts über die Bruckner- in die Brahmsstraße fährt. Falls die Bank ihn tatsächlich feuern sollte, könnte er als Taxifahrer durchkommen. Und immerhin den ganzen Tag Musik hören. Das Autoradio verkündet, man spiele »die Hits der 70er, 80er, 90er und das Beste von heute« und dann spielen sie »Baker Street« von Gary Rafferty, was er wirklich ewig nicht gehört hat und was perfekt zum Feierabendautofahren passt. Das Saxofon klingt nach Großstadt, nach Aufbruch, und legt einen gnädigen Klang über die einfallslos rechteckige Nachkriegsarchitektur, rechts und links neben der Straße. Die unterschiedlichen Abstufungen von Grau, die albernen Geranien an den Balkonen, die nur gebaut wurden, um Bierkästen abzustellen. Vorstadt. Das ist etwas, was Till am Leben generell bemängelt: Fast nie hat der Alltag den richtigen Soundtrack. Das Leben sollte mehr so sein wie Gary Rafferty Song, ist aber meistens bestenfalls Peter Maffay.

»Inge’s Grillstübchen« steht auf einer Leuchtreklame. »Hauptsache« heißt der Frisör. Wann hat das angefangen, dass Läden lustig sein wollen? Zwei Drogeriemärkte unmittelbar nebeneinander belauern sich gegenseitig. Die Löwen-Apotheke heißt weiterhin so. Apotheken wollen noch nicht lustig sein.

Gary Rafferty spielt noch immer. In den 70ern mussten die Songs noch nicht kurz und klingeltonfähig sein. Warum hat man nie wieder etwas von Gary Rafferty gehört? Wie kann jemand so einen grandiosen Song schreiben und dann dreißig Jahre lang nichts mehr? Andererseits hat er immerhin diesen einen Song gemacht, der noch immer gespielt wird, während es von »Renate, ich warte!« nie eine Platte gegeben hat. Gott sei Dank. Das war damals Tills erster Versuch, ein Mädchen mit Musik rumzukriegen. Er endete ähnlich wie sein heutiger Versuch mit Jessica. Er war seiner Zeit in jeder Hinsicht hinterher. Die Neue Deutsche Welle war schon wieder vorbei und Renate Hillinghausen war plötzlich mit Markus Schöttke zusammen, nur weil Till zwei Wochen gebraucht hatte, um eine passende dritte Strophe von »Renate, ich warte« zu schreiben. Zwei Wochen, die Markus Schöttke offenbar besser genutzt hatte. Die ganze Aktion war ziemlich peinlich. Till hatte den größten Teil seiner Ersparnisse für das Tonstudio ausgegeben, um »Renate, ich warte« professionell aufnehmen zu können. Er hatte dann eine Kassette gemacht, »Spezial Mix«, bis aufs Letzte ausgetüftelt und exakt auf Renate zugeschnitten, vier, fünf Stücke, gutes, solides Zeug, Shakespeare Sisters, Joe Jackson und so weiter, abseitig genug, um sie zu beeindrucken, nicht so krude, um sie abzuschrecken, dann ein heimlicher Livemitschnitt von Depeche Mode, verrauscht und von miserabler Qualität, aber quasi unbezahlbar. Das würde sie umhauen, da war er sicher, und direkt danach elegant angehängt »Renate, ich warte!«, für sie, einstmals glühender Fan von ›Ideal‹. Bumm! Ihr kleines, unbelastetes Herz würde ein, zwei Schläge aussetzen und dann eine Dauerleihgabe für Till Reiners werden, das stand fest. Und dann kam Renate zum vereinbarten Übergabeort der Spezial Mix Kassette und hatte Markus Schöttke im Schlepptau, der ihr permanent das Ohr auslutschte, um Till zu zeigen, welche Sextricks er draufhatte. Immerhin konnte Till noch soviel Restwürde zusammenkratzen, um den beiden eine unglaubwürdige Geschichte vorzulügen, wie sein sechsjähriger Neffe aus Versehen an der Stereoanlage herumgefuhrwerkt hatte, und dabei der Spezial-Mix gelöscht wurde, weswegen es leider eben keine Kassette mehr gäbe. »Renate, ich warte«, während Markus Schöttke mit seiner Zunge auf Renate rumlutscht, das wäre nicht wieder gutzumachen gewesen. Till hatte danach beschlossen, Renate nicht mehr anzurufen und musikalisch mehr in Richtung Jazz zu gehen.

Er hat Renate vor ein paar Jahren zufällig wieder getroffen. Sie hatte sich durch zwei nichtssagende Kinder körperlich nahezu verdoppelt, und lebte getrennt vom Vater der Kinder, der aber nicht Markus Schöttke war. Im Gegenteil. Renate brauchte fast zwei Minuten, um sich überhaupt an Markus Schöttke erinnern zu können, unfassbar. Das Leben ist verrückter als Zirkus, wie Herr Walther sagt.

Mittlerweile ist auch Baker Street zu Ende und sie hängen eine Robbie Williams Nummer an, die er schon mal gehört hat und die gar nicht so schlecht ist, wie er sie finden will. Das ist alles sehr gut gemacht. Die Bläser, der Sound des Schlagzeugs. Er hätte keine Chance gehabt. »Renate, ich warte«. Er war siebzehn damals. Wahrscheinlich war Robbie Williams mit siebzehn schon bei Take That. Irgendwie droht die leichte Sommerabendstimmung zu kippen, die Till noch bei Gary Rafferty hatte. Es gibt kein Glückskonto, auf das man gute Momente einzahlt, und von dem man im Bedarfsfall wieder was abheben kann.

Till wechselt den Sender und biegt nicht in die Gleiwitzstraße ab, um nach Hause zu fahren, was eigentlich jetzt der schnellste Weg wäre, sondern er fährt weiter, die Ehrendorfer Straße hoch, in das Rot des Sonnenuntergangs hinein. In einem ansonsten ungenutzten Eckchen seines Kurzzeitgedächtnisses hat er abgespeichert, dass Jessica vorhin den Biergarten am Ostpark erwähnt hat. Da trifft sie sich jetzt mit einer Freundin. Jessica ist seit dem Ibiza-Urlaub wieder Single. Irgendwas an Gary Rafferty hat ihn auf die verpasste Chance mit Renate gebracht und das hat einen anderen Dominostein in seinem ohnehin lädierten Inneren angestoßen, und jetzt will er die minimale Chance ergreifen, dass dies hier doch noch sein Sommer werden könnte. Ohne die Bank im Hintergrund kann er anders anfangen. Er kann zu altem Charme auflaufen, wenn Nils und Herr Walther nicht da sind, um ihn auf ihr Sparbuchlevel herunterzuziehen.

Von hier aus ist er in zehn Minuten am Ostpark, schätzungsweise. Auch der neue Sender streut einen Oldie ein: die Temptations mit »My girl«, guter Song, vor seiner Zeit, erinnerungsfrei. Till singt laut mit. Er hat Renate verdrängt und stattdessen die goldbraunen Arme von Jessica vor Augen und die zwei goldenen Kettchen, die sie heute getragen hat, und die schmalen Handgelenke mit den nun ebenfalls braunen Händen, die sich gut machen würden, auf seinen Händen, die jetzt locker auf dem Lenkrad liegen. »My girl ... talking ’bout my girl ...« Wenn er vom Ostpark aus rechts abbiegt, kommt er auf den Zubringer zur Autobahn und sie wären in weniger als vier Stunden in Paris. Sein Handy klingelt und er sieht im Display, dass seine Frau ihn anruft.

Seit es Handys gibt, muss die Zahl der Affären drastisch gesunken sein. Die klassischen Ausreden von früher fliegen einem heute mit einem einzigen Anruf um die Ohren. »Wo bist du?«, hört er. Er ist nicht schnell genug für eine Antwort, die ihm eine Entschuldigung für den Ostpark oder gar Paris liefern würde.

Till ist mehr denn je auf Seiten von Frau Jablonsky. Nichts wird besser. Alles wird im Gegenteil immer schwieriger. »Klar, kein Problem, ich bring Milch mit ... und eine Gurke, ja«, sagt er in den Hörer und fährt nicht nach Paris.

4

Der kleine Nico hatte einen harten Tag im Kindergarten, von dem er sich noch immer nicht erholt hat. Er versucht gleichzeitig zu weinen, Luft zu holen und zu erzählen, dass Finn nicht mehr sein bester Freund ist und von nun an auch nie, nie mehr sein wird.

Die Geschichte dahinter hat irgendetwas mit einem roten Auto zu tun. Till hat schon vor einigen Minuten auf Autopilot geschaltet, Miriam hat Kartoffelpüree gemacht und Bratwurst, normalerweise ein sicherer Ankommer bei Nico, der nun aber unter Tränen behauptet, die Bratwurst sei doof und er wolle nichts, gar nichts, nie mehr, und Finn sei auch eine Bratwurst und doof, und offenbar hat Nico im Kindergarten auch das Wort »Arschloch« gelernt, und Till ist zu müde, um die jetzt eigentlich von ihm gefragte Vaterrede zu halten, dass man das nicht sagt. Er findet, Nils ist zum Beispiel auch ein Arschloch und wahrscheinlich war er auch mit vier Jahren schon ein Arschloch, und warum soll man das nicht sagen dürfen? Und Finn konnte er auch noch nie besonders leiden, auch wenn Finns Mutter zwei sehr beachtliche Beine hat. Er hat das Gefühl, dass es durchaus in Ordnung ist, dass Nico Finn ein Arschloch nennt. Beide Männer der Reiners-Familie hatten einen schwierigen Tag.

Da das schlimme Wort offenbar nicht die erwartete Reaktion hervorgerufen hat, versucht es Nico mit Nachdruck nochmal, und stellt fest, dass Finn »ein Aaschloch« ist, und beim zweiten Mal kriegt es auch Miriam mit und startet sofort das Gegen-Programm im energischen Miriam-Ton. Er ist auch zu müde, um die Diskussion über Sinn und Unsinn von Schimpfwörterbenutzung schon wieder aufzunehmen. Er hat im Laufe der vier Jahre von Nicos Existenz gelernt, dass es nicht gut ist, solche Diskussionen sofort an Ort und Stelle zu führen. Schon gar nicht vor Nico, der in solchen Momenten eine fast unheimliche Fähigkeit hat, die beiden Streithähne, die ihn erziehen sollen, gegeneinander auszuspielen.

Durch Miriams Eingreifen hat Till jetzt aber Zeit für seine eigene Bratwurst, die mittlerweile deutlich abgekühlt ist, er überschwemmt sie mit Ketchup, sodass er das Gefühl hat, einen stellenweise sehr grobkörnigen Ketchup zu essen. Er ist der bessere Koch von ihnen, aber da Miriam nur halbtags arbeitet, kocht Till hauptsächlich an den Wochenenden.

Miriam hat ihm den Gurkensalat mit auf den Teller gehäuft, so dass sich die Gurkensalatsoße mit dem Püree und seinem Ketchuptümpel zu einer Pampe verbindet, die er nach ein paar Anstandsbissen wegkippt. Er ist wieder einmal dankbar dafür, dass er schon erwachsen ist, und sein Essen einfach so wegkippen kann. Ein unschätzbarer Vorteil, den er vor Nico hat, dem Miriam in seinem Stühlchen ein aufgespießtes Stück Wurst vors Gesicht hält. »Wenn’s dir nicht schmeckt, kannst du ja morgen kochen. Ich war auch arbeiten!«, sagt Miriam mit leicht gereiztem Unterton.

Zu früh gefreut. Nico und er sind praktisch auf demselben Level.

»Scheiße, ich dachte, du bist mit seiner Zwangsernährung beschäftigt, wie kannst du mitkriegen, wenn ich hinter deinem Rücken was wegkippe?«

»Frauen haben überall Augen.«

»Papa hat Ssseisse gesagt«, mischt sich Nico ein.

»Na bravo!«, kommt von Miriam, die anschließend aufgibt und die Wurst, Wurst sein lässt.

Um für eine versöhnlichere Note zu sorgen, holt sie Vanillepudding für alle aus dem Kühlschrank und er sieht ihr zu, wie sie die Deckel abreißt, in ihrer grauen Lieblingsjogginghose, die so groß ist, dass sie keinerlei Konturen zeigt, außer den schlanken Fußknöcheln, die in sehr klassisch geformte Unterschenkel übergehen, die trotz des Sommers keramikweiß sind. Einen Unterschenkelwettbewerb müsste Miriam gegen Jessica nicht fürchten. Zur Jogginghose trägt sie eines seiner T-Shirts, ein ausgewaschenes rotes, auf dem vorne in bleichem Schwarz »71« steht. Miriam hat die Ärmel des T-Shirts hochgekrempelt, das ganze Outfit wirkt wie eine »Vorher-Nachher« Montage zu Jessica, in ihrer engen, weißen, bundlosen Sommerhose und dem leuchtenden roten Top. Noch eine Gemeinsamkeit zwischen Nico und seinem Vater: Beiden hat das Leben heute gezeigt, dass nichts so bleibt wie es war, dass sich alles ändert und fast nie zum Besseren. Das Leben ist wie Lotto, man verliert fast immer. Und Till hat das Gefühl, dass weder er noch sein Sohn sich damit einfach so abgeben wollen. Zumindest patscht Nico mit seinem Löffel auf den Pudding, um zu zeigen, dass er nicht bereit ist, sich vom Leben beziehungsweise seiner Mutter einfach so mit einem Vanillepudding abspeisen zu lassen.

»Richtig so, Kollege, uns kriegen sie so schnell nicht unter!«, sagt er zu Nico, der ihn erstaunt ansieht.

5

Rolf Zuckowski und alle seine Freunde sollen eines schrecklichen Todes sterben. Zumindest sollen ihnen die Zungen abfaulen und die Stimmbänder veröden.

Im Hintergrund läuft die Kassette mit Kinderliedern zum neunmillionsten Mal und die Tatsache, dass er jeden einzelnen Winkel der Musik kennt, drückt ihm von innen die Schädeldecke hoch. Bei Nicos Geburt war er sich sicher gewesen, dass es ihm gelingt, seinem Sohn das als Kindermusik zu verkaufen, was er selber gut findet. Warum sollte man Kindern statt »Hänschen klein« nicht Bruce Springsteen anbieten können? Schließlich wissen Kinder ja nicht, dass es Kinderlieder gibt. Es hatte nicht geklappt. Er war im Niveau sogar runtergegangen bis zu Phil Collins, musste aber im Endeffekt zugeben, dass Rolf Zuckowski einfach besser funktionierte, und so saßen sie jetzt in derselben Rolf Zuckowski-Falle wie alle Eltern die sie kannten. Die Kassette spielt, während im Badezimmer die Aufführung der Diskussion, ob und wie lange man sich waschen oder die Zähne putzen sollte, wegen des gestrigen großen Erfolgs heute wieder aufgenommen wird. Sie wechseln sich darin ab, Nico ins Bett zu bringen und heute ist Miriam dran, während Till im Wohnzimmer sitzt und pro forma den Fernseher anschaltet. Es ist immer noch erstaunlich warm, und Till trägt mittlerweile eine Sporthose, die ihre besten Tage schon hinter sich hat, und ein T-Shirt, auf dem das zehnjährige Bestehen von Nicos Kindergarten verkündet wird. Er muss fast schmunzeln, als er sich im Wohnzimmerfenster widergespiegelt sieht. Falls er je mit Jessica nach Paris fahren sollte, müsste er vorher noch ein paar neue Klamotten besorgen.

Akustisch hat die Tagesschausprecherin gegen Rolf Zuckowski keine Chance, optisch findet er sie aber wieder sehr gelungen. Nach ein paar Sekunden fällt ihm ein wie sie heißt: Laura Dünnwald. Ihr Jackett lässt einen genau abgezirkelten Ausschnitt frei, aus dem der obere Rand eines farblich abgestimmtes hellen Tops ragt, um gerade soviel Seriosität zu behaupten, dass man ihr die Nachrichten noch abnimmt. Er ist sich relativ sicher, dass sie persönlich das Top weglassen würde. Laura Dünnwald verschwindet, stattdessen läuft jetzt ein Filmchen über irgendwelche Politiker, die irgendwo Hände schütteln. Angela Merkel taucht auf und schüttelt mit. Vage hat er zuvor registriert, dass sie auch in einem Beitrag wenige Minuten vorher schon zu sehen war, wo es um Brüssel oder Luxemburg ging. Angela Merkel war also anscheinend heute in Berlin und Brüssel oder Luxemburg gewesen und wer weiß wo sonst noch. Er bewundert das Durchhaltevermögen und die Energie der Politiker. Eine Reise nach Brüssel, das wäre für ihn eine mittlere Expedition, das wären zwei Tage Vorbereitung, Minimum, nichts wo man abends zu Hause noch Hände schütteln würde. Ihm fehlen die Energiereserven für so etwas. Er ist anscheinend in der kleinen Welt seiner Bank und seiner Wohnung gut aufgehoben.

Wie zur Bestätigung kommt Nico im Schlafanzug ins Wohnzimmer, um Gute Nacht zu sagen. Der Duft der Kinderseife, die zarte, durchscheinende Haut des Kindes und die kleinen Härchen im Nacken, die farblich schon in Richtung seines Seitenscheitels gehen, das alles rührt ihn. Nico plappert. »Neuer Handtuchanzug«, sagt er, eine Wortschöpfung, die Nico vor ein paar Wochen gefunden hat, um seinen Frottee-Schlafanzug zu beschreiben, ohne den Begriff zu kennen. Sein vier Jahre altes Gehirn behalf sich damit, dass der Schlafanzug sich eben so anfühlt wie ein Handtuch, und seitdem ist es ein Handtuch-Anzug. Diese kreative Leistung seines Sohnes kam bei Till so gut an, dass Nico sie nun immer dann wiederholt, wenn er noch ein paar Minuten des Wachbleibens schinden will. Miriam, die mehr Zeit mit dem Jungen verbringt, lässt sich nicht so schnell erweichen wie sein Vater und schiebt ihn in sein Zimmer.

Die Kassette im Hintergrund wird ausgeschaltet. Laura Dünnwald ist wieder zu sehen und lächelt. Dass er nun auch noch anfängt sich Tagesschausprecherinnen nackt vorzustellen, ist kein gutes Zeichen. Er muss wirklich aufhören damit! Es folgt der Wetterbericht, auch in den nächsten Tagen soll es sonnig und heiß bleiben. Till schaltet durch die Programme und bleibt nirgendwo hängen. Im Hintergrund hört er die leise, monotone Stimme seiner Frau, die aus einem der Bücher vorliest. Er ist etliche Male durch alle verfügbaren Kanäle gegangen, bis Miriam ins Wohnzimmer kommt. Aber sie setzt sich nicht zu ihm. Ihre Freundin Ina ist drauf und dran, sich von ihrem Freund zu trennen, und muss angerufen werden. Tribut an die private Ausgabe von Gute Zeiten Schlechte Zeiten. Der Bekanntenkreis, dessen Hauptaufgabe es ist, für Gesprächsstoff in der eigenen Ehe zu sorgen und stetiger Gradmesser zu sein für das eigene Leben.

Ausgerechnet jetzt, wo Till durch Jessica und Laura Dünnwald und den Nachwehen des ALDI-Sekts den Abend in eine erotische Richtung geplant hat, hier auf der Couch, ausgerechnet jetzt muss Ina angerufen werden, und Till ist zu sehr passiver Veteran unzähliger Frauentelefonate, um nicht zu wissen, dass es danach lange dauern wird, bis er Miriam in die Stimmung gebracht hat, die er jetzt braucht. Till geht auf den Balkon. Noch ist es hell, irgendwo wird gegrillt, die bekannte Aussicht auf die drei Bäume der Straße (zum x-ten Mal nimmt er sich vor herauszufinden, was das für Bäume sind), der Ausschnitt des Bürgersteigs, die Reihe geparkter Autos, die Fenster rechts, links, gegenüber, überraschungslos wie längst geöffnete Türchen eines Adventskalenders. Wenn alles gut geht, gehören ihm die Wohnung und diese Aussicht in elfeinhalb Jahren ganz, wenn der Kredit für die Wohnung ausgelaufen ist. Er geht wieder ins Wohnzimmer und kommt gerade rechtzeitig für die Quintessenz des Telefonats mit Ina: Inas Freund ist ein Vollidiot, darüber herrscht Einigkeit zwischen den Frauen, und er wird sich nicht ändern, auch klar – als würden Männer sich je ändern, sagt Miriam locker – und besser jetzt Schluss machen, empfiehlt sie. An diesem Punkt des Telefonats hat sie ein Glas Weißwein intus und ist drauf und dran, ihr hart erkämpftes Nichtraucherdasein wieder aufzugeben. »Ganz ehrlich, ich finde nicht, dass ihr irgendwas gemeinsam habt ... ja, gut, das«, sagt sie und dann wird gekichert. Ina hat also wahrscheinlich eine sexuelle Anspielung gemacht.

Ausgerechnet jetzt trägt Miriam das Telefon in die Küche, und er hört nur noch unterdrücktes Kichern und einzelne Satzfetzen. Er ist sich nach wie vor nicht sicher, wie viel Frauen sich untereinander erzählen. In den Hochzeiten von Sex and the city hatte es Frauenabende gegeben, wo Miriam mit drei, vier Freundinnen lautstark vor dem Fernseher gesessen hatte, und seitdem vermutet er noch mehr als zuvor, dass Frauen sich absolut alles erzählen, und in diese Richtung interpretiert er auch Blicke oder Bemerkungen von Miriams Freundinnen, die ihn seiner Meinung nach allesamt als nett, aber harmlos einstufen. Harmlos in einer falschen, unerwünschten Art. Ein solider Ehemann, ein brauchbarer Vater, ein verlässlicher Geldverdiener, derjenige, der im Sommer am Grill steht, über dessen unspektakuläres Sexleben man aber nicht lange zu reden braucht. Jemand, der in niemandes Fantasie vorkommt. Er ist sich nicht mal sicher, inwieweit er noch in Miriams Fantasie vorkommt.

Er sollte jetzt im Biergarten im Ostpark sitzen und da von einer jungen tätowierten Kollegin mit einem erstaunlichen Hintern ignoriert werden. Er kann sich quasi selbst beim Denken widersprechen. Er schüttet sich auch ein Glas Weißwein ein, während Miriam und Ina offenbar über Umzugspläne reden und über die Vorteile einfach nochmal anzufangen. Miriam war fünf oder sechs Jahre älter als Jessica jetzt ist, damals, als sie sich kennenlernten. Er versucht sich vorzustellen, wie sie damals ausgesehen hat, und es klappt nicht. Er kennt sie zu gut, er kennt sie besser als den Ausblick vom Balkon, er kennt sie so gut wie die Rolf Zuckowski-Kassette. Das weiche, leicht ovale Gesicht, die etwas ungleichgroßen Augen, mit der Farbe von schwarzem Tee, und die sanft eingezogenen kleinen Falten am äußeren Ende der Augen, unter den Augen, der Schwung der schmalen Oberlippe, die bei offiziellen Anlässen mit Lippenstift kunstvoll vergrößert wird, die hellen Härchen an den Seiten der Wangen. Ihr Gesicht, das eine Lage an Weichheit verloren hat, vielleicht seit Nico auf der Welt ist, vielleicht seit er ernsthaft darüber nachdenkt, wie Nachrichtensprecherinnen nackt aussehen.

Das Telefonat endet schneller als vermutet, auf einem heiteren Ton. Kein Notfall, nichts Dringliches. Miriam gibt eine kleine Zusammenfassung, während sie sich noch ein Glas Wein eingießt. Die Zusammenfassung ist, dass Inas Freund ein Vollidiot ist, den sie so schnell wie möglich loswerden sollte. Wenn Tills erotische Pläne überhaupt noch eine Chance haben sollen, dann darf er jetzt nicht widersprechen. Jetzt auch nur den Ansatz von Männersolidarität zu zeigen, führt zu einem öden Sommerabend vor dem Fernseher. Wenn Till irgendwas im Ungang mit Frauen gelernt hat, dann: »Nicht die besten Freundinnen angreifen!«

Also grummelt er Zustimmung, während er zeitgleich im Fernsehen sieht, wie Desiree Nosbusch mit einem Mann im Bett liegt. Ausgerechnet Desiree Nosbusch, deren Nacktbilder seinerzeit auf dem Schulhof hoch gehandelt wurden, in einem Zeitalter vor dem Internet. Die muss jetzt in etwa so alt sein wie er selbst, schätzt Till. »Ach, guck mal ...«, ist aber alles, was er rausbringt. Miriam setzt sich zu ihm aufs Sofa und blinzelt.

»Wo hab ich denn ...?«, sagt sie und blickt sich suchend um. Seit einem halben Jahr hat sie eine Brille und sie hat sich noch immer nicht daran gewöhnt. Er will nicht, dass sie jetzt in der ganzen Wohnung ihre Brille sucht, wo sie schon neben ihm sitzt und Desiree Nosbusch das Thema im Fernsehen so perfekt vorgibt.

»Desiree Nosbusch«, sagt er stumpf und hofft blöde, dass sie auch in diesem Film wieder nackt sein wird, und dass die Bettszene lange genug dauert, dass Miriam sie wahrnimmt.

»Kenn ich nicht«, sagt Miriam und blinzelt weiter Richtung Fernseher, »da kommen wir doch jetzt sowieso nicht mehr rein ... in den Film. Der läuft doch bestimmt schon zwanzig Minuten. Kommt nichts anderes?«

Sie greift zur Fernbedienung und schaltet um. Till hat das Gefühl, dass man das hier auf der Couch mitfilmen sollte, als Schulungsvideo für alle Heiratswilligen, abzuspielen auf den Standesämtern der Republik. Nach zehn Jahren Ehe, findet man sich auf der Couch, in ausgeblichenen T-Shirts, auf der Suche nach einer Möglichkeit seine Frau zum Sex zu locken, die aber eine Brille braucht, um im Fernseher überhaupt nackte Leute erkennen zu können. Einem Impuls folgend umarmt er Miriam und küsst sie am Hals, an erprobter Stelle, wo sie normalerweise Parfüm aufträgt, und er riecht noch letzte feine Spuren davon vom Morgen. Ihr Fendi-Parfum, das sie seit Jahren hat, dessen Duft ihm vertraut ist wie die Aussicht, die er jetzt hat: Die zarten Wirbel ihrer Haare am Nacken, dunkler als seine, das Sternenbild der kleinen Muttermale am Hals und weiter unter dem Ansatz des T-Shirts. Miriam macht wohlige Laute und ein überraschtes »Hey«. Seine Hand fühlt unter ihr T-Shirt, den kurvigen Verlauf ihrer Seite, seine Finger so selbständig, vertraut unterwegs wie auf dem Steg der Gitarre.

Das Vertraute ist gut. Das Vertraute ist zu Hause. Soll die andere doch im Biergarten auf ihrer Tätowierung sitzen. Wir sind hier, du und ich, Mann und Frau, so wie es vorgesehen ist, beruhigend vertraut, beruhigend erlaubt. Wie das gute Gefühl an einem Polizisten vorbeizugehen und zu wissen, nichts verbrochen zu haben.

Er schiebt den elastischen Bund der Jogginghose weg und knapp darunter die zweite, genauso elastische Barriere von Baumwolle, bevor er die mondkühle Wölbung ihres Hinterns spürt. Sie lächelt, soweit er sehen kann, und versucht gleichzeitig ihr Weinglas unfallfrei abzustellen. Er schmeckt eine leicht salzige Spur, als er sie weiterküsst. Tribut an die sommerlichen Temperaturen. Er fühlt, wie er selber überzogen ist mit einem feinen Schweißfilm, als er Miriams Hand an seinem Rücken fühlt. Er versucht seine Position auf der Couch zu verändern, damit sie nicht herunterfällt. Er erinnert sich wieder, warum sie es so selten auf der Couch tun. Die Couch ist dafür ungeeignet. Man sollte das im Laden ausprobieren, bevor man eine Couch kauft. Ihr T-Shirt riecht nach ihr, nach Nico, nach Küche, nach einer Duft-Zusammenfassung seines Feierabends. Miriams Bein versucht sein Bein zu umklammern. Er ist überrascht, dass alles so einfach ist. Miriams Hand fährt seinen Oberschenkel hoch und schleicht dann langsam nach innen. Er spürt das wie durch einen Verstärker.

Er ist entschlossen, gegen sein harmloses Sex-Image bei den Frauen anzugehen. Seine Lippen tasten die Haut an ihrem Hals ab, gleichzeitig versucht er seinen Schwerpunkt zu verlagern. Er versucht etwas zu machen, was er normalerweise nicht macht, irgendetwas Neues, Unerwartetes. Sie wendet ihren Kopf und er küsst sie, heftig, aber weich und er merkt, wie etwas in ihm loslässt, wie die Muskeln seiner Beine entspannen. Er richtet sich ein wenig auf und sieht sie an, jetzt in der gemischten Beleuchtung aus Lampen, Fernseher und der Reflektion des Weißweins. Er hört plötzlich die sonore Stimme aus dem Fernseher, die schon die ganze Zeit im Hintergrund da ist. Miriam hat beim Umschalten offenbar eine Reportage erwischt. Er sieht aus den Augenwinkeln Afrikaner in einem Zeltlager um einen Lastwagen versammelt. Es geht um Flüchtlinge, hört er, um den Sudan, hört er und er merkt, dass auch Miriam es hört. Täglich sterben bis zu 6000 Menschen, hört er. Er merkt, dass sie beide schon seit geraumer Zeit zugehört haben.

»Kannst du mal ...« Er meint die Fernbedienung.

»Ich komm nicht dran«, sagt sie. Es nützt nichts, er muss aufstehen. Nichts wird besser. Was hilft es, jederzeit aus jedem Winkel der Welt berichten zu können, was hilft es, eine Fernbedienung zum Fernseher erfunden zu haben? Er schaltet aus. »Is vielleicht ’n bisschen warm dafür, heute«, sagt Miriam mild lächelnd in die entstandene Pause hinein. Aber er weiß schon Bescheid. Man kann nicht vögeln, wenn irgendwo täglich 6000 Menschen sterben.

Nico kommt aus seinem Zimmer. Ihm ist zu warm in seinem Schlafanzug. Till geht bereitwillig mit ihm, seinem Sohn, dem lebenden, momentan etwas mürrischen Beweis, dass er selbst irgendwann einmal Sex hatte.

6

»Ich wollt’ ich wär ein Teppich, dann könnt ich jeden Morgen liegen bleiben!«

Nils bringt den Gag zum dritten oder vierten Mal, und er kommt jedes Mal an. Frau Odra ist ein dankbares Publikum. Sie gehört zu den Frauen, die einen Namen für ihr Auto haben (ihres heißt »Ploppy«, wenn er das richtig verstanden hat) und die »Kompi« zu ihrem Computer sagen. Aber auch Jessica reagiert nicht ganz so abweisend auf Nils Gag, wie Till es gern hätte.

Er hat im Laufe des Vormittags rausbekommen, dass Jessica in der Tat gestern im Ostpark war und dort vergeblich auf ihre Freundin gewartet hat, dann aber von einem Typen zu einem Bier eingeladen wurde. Eigentlich nicht ihr Typ, eigentlich zu alt, eigentlich zu spießig, aber irgendwie ganz süß. Sagt Jessica. Wie einst bei Hiob hat Gott vermutlich eine Wette mit dem Teufel am Laufen, und jetzt geht es darum ihn, Till Reiners, Schritt für Schritt fertigzumachen. Und die beiden haben haufenweise Erfahrung darin.

Nils ist definitiv einer der Handlanger des Teufels. Obwohl es noch wärmer ist als am Tag zuvor, sieht er tadellos aus, mit Krawatte und ohne Anzeichen von Schweißflecken unter den Armen. Das gesamte Outfit passt zusammen wie Teile eines großen Bankangestelltenpuzzles, während Till schon festgestellt hat, dass die dunkelblaue Leinenhose die er selber trägt, die stoffgewordene Langeweile ist. Er kann sich nicht mal erinnern, wann oder warum er das Hemd dazu gekauft hat. Selbst das T-Shirt darunter erscheint ihm irgendwie falsch. Wie macht Nils das, so hundertprozentig richtig zu sein, in seinen Klamotten, in seinem durchtrainierten Körper, in seinem Leben?

Gott und der Teufel beschließen, dass es ein guter Schachzug wäre, wenn Jessica und Nils zusammen in die Mittagspause gehen, während Herr Walther Till überraschend bei einem Gespräch mit einem Privatkunden dabeihaben will.