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Sophia ist am Boden: keine Wohnung, kein Job, keine Perspektive. Doch dann scheint sich das Blatt zu wenden: ein reicher, älterer Herr nimmt sie in seine Villa in München auf. Sie verbringt die nächsten Wochen wie im Rausch, denn sie wird reich beschenkt und fühlt sich wie eine Prinzessin. Doch so sehr sie sich Geborgenheit und Heimat wünscht, kann sie immer weniger ignorieren, dass das Haus ein dunkles Geheimnis birgt. Die Geborgenheit wandelt sich in eine Hölle.
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Seitenzahl: 395
Veröffentlichungsjahr: 2020
Nicht nur einen Tod gibt es
Autor: Laura Milde
Impressum
© Laura Milde 2020
1. Auflage
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors in irgendeiner Form reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Kontakt: Laura Milde-Borgs
Marienwerderstr. 4a, D-83313 Siegsdorf
wildemilde.com
lauramilde-diewilde.com/
Covergestaltung: Laura Milde
Coverfoto: Fiverr
Lektorat: Hans Borgs
ISBN Paperback: 978-3-347-00042-1
ISBN Hardcover: 978-3-347-00043-8
ISBN e-Book: 978-3-347-00044-5
Verlag & Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Inhaltsverzeichnis
Zerrissen
Grenzüberschreitung
Neuland
Wahnsinn
Verschnaufpause
Flucht
Obdachlos
On the Road
Fassungslos
Zusammenbruch
Im Märchenland
Angst um Abraxas
Zwiespalt
Wutausbruch
Loslassen
Wolke sieben
Seelennot
Cosmina
Das Video
Die Verwandlung
Kleine Flucht
Dior
David
Die Vorgängerin
Der Test
Vertrauensmissbrauch
Party!
Der Alptraum
Im Theater
Einsamer Geburtstag
Totenkopf
Im Speicher
Eingesperrt
In dunkler Nacht
“Es“
Spuren verwischen
Dr. Flatscher
Das blaue Zimmer
Aufgeflogen
Der Verrat
Nächtlicher Besuch
Die Jagd beginnt
Panik
Abraxas, mein Held
Der Altar
Gefangen
Unfassbar
Hoffnungsstrahl
Das Testament
Das makabere Arrangement
Die Wahrheit
Angekommen
Quellenverzeichnis
Leseprobe aus „Der Hintern auf Grundeis, das Herz im Himmel“
Leseprobe aus „Gott privat“
Zerrissen
"Sophia!"
In mir krampfte sich alles zusammen. Unwillkürlich ballte ich die Hände zu Fäusten. Selbst seine Stimme war mir zuwider! Alles an ihm ekelte mich an: seine beständige Alkoholfahne, die gelben Finger, die Jogginghose und das Unterhemd. Es schmerzte mich, wie er mit Mama umging. Die Kraftausdrücke und seine dummen Monologe! Und gleichzeitig schämte ich mich für meine Gefühle, war er doch mein Vater. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich keine Liebe mehr für ihn empfand. Da war nur Hass. Mein Blick fiel auf den Rucksack. Er war gepackt. Ich musste mich nur noch von Abraxas verabschieden. Das tat weh. Ich schlüpfte in das Sommerkleid mit den großen Blumen, das Giancarlo so geliebt hatte an mir. Ich konnte seine Stimme hören: „Wie schön Du bist, bella Sophia!“ Ich musste zu ihm! Ich würde an meinen Eltern vorbei ins Treppenhaus schleichen und dann nichts wie weg!
Aber war ich dazu fähig? Würde ich es aushalten, Mama und meinen Raben zu verlassen?
Abraxas landete auf dem Balkongeländer neben den Osterglocken und krächzte. Er spürte meine Unruhe. Er ruckte unruhig mit dem Kopf und spreizte immer wieder seine Flügel. Mein kluger, schöner Rabe! Wie werde ich dich vermissen!
„Ich weiß Abraxas, ich weiß!“ Tränen liefen mir über die Wangen, als ich ihm mit meinem gekrümmten Zeigefinger über die schwarzblau glänzende Brust streichelte und flüsterte: „Es ist ja nicht für immer! Ich komme dich holen, versprochen!“. Wird er ohne mich überhaupt überleben? Er ist so an mich gewöhnt! Ich fütterte ihn seit beinahe fünfzehn Jahren. Ich hatte ihn als hilfloses Vogelbaby im Friedhof gefunden und aufgezogen. Er kannte jedes meiner Geheimisse, auch das furchtbarste, das ich noch nie jemandem erzählt hatte. Seit meinem fünften Lebensjahr lastete die Schuld schwer auf mir. Es war mir klar, dass er nicht alle Worte verstand, aber er kannte jede meiner Stimmungen. Er verstand mich! Wenn ich nur ihren Namen nannte, vergrub er seinen Kopf in meinen Haaren und strich mir mit seinem Schnabel liebevoll über die Stelle unterm Ohr, um mich zu trösten.
Jetzt krächzte er noch ein Mal, wandte sich ab und flog über die Friedhofsmauer, wo er hinter dem dichten Geäst der Laubbäume verschwand. Er hatte verstanden, dass ich gehen muss.
Wieder rief mein Vater nach mir.
Eigentlich war es noch zu kalt für mein Giancarlo-Kleid. Ich drehte mich vor dem Spiegel, als würde ich Walzer tanzen, geführt von Giancarlo. Oh, wie er mich gehalten hatte! Fest und doch behutsam. Dazu die geschmeidigen Bewegungen und sein Duft! Die Haare, so schwarz wie Abraxas' Gefieder und …
„Sophia, verflucht!“, brüllte Papa.
Ich hatte nur noch ein Foto von Giancarlo und mir, das in der Außentasche meines Rucksacks steckte. Alle anderen waren auf dem Handy gewesen, das mir in Triest ins Meer gefallen war. Ich blieb stehen und sah mich beschwörend im Spiegel an. "Diesmal musst du es schaffen! Denk an dich! Du kannst Mama sowieso nicht helfen!" Ich straffte meine Schultern, setzte den Rucksack auf und betrachtete noch einmal mein Spiegelbild. Das Kleid und der Rucksack passten überhaupt nicht zusammen, weder von der Farbe noch vom Stil, dachte ich, als spiele das eine Rolle.
"Mademoiselle Sophia!", flötete Papa. Er sprach es tatsächlich wie "Mademäusele" aus! "Es wäre überaus erfreulich, wenn Sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren würden!"
Schnell griff ich mir meine Lieblingsjacke und öffnete die Zimmertür einen Spalt. Mein Herz schlug bis zum Hals. Wie erwartet fläzten Mama und Papa vor dem Fernseher, umhüllt von einer wabernden Rauchwolke.
Papa fluchte und Mama versuchte ihn zu beschwichtigen: „Ich kann die Zigaretten doch auch holen, Konrad! Ist doch kein Problem, ich sollte mich eh ein bisschen mehr bewegen und ich könnte auch…“
„Nein, verflucht! Das soll sie machen! Das ist doch wohl das mindeste!“
„Sie hat doch heut ihren freien Tag…“
„Herrgott, sie wird sich schon nicht überanstrengen!“
„Aber…“
Da schlug Papa ihr beiläufig mit dem Handrücken auf den Mund, tippte auf der Fernbedienung herum und brüllte wieder: „Sophia, jetzt beweg endlich deinen Arsch hierher!“
Ich war wieder einmal schuld, dass sie geschlagen wurde! Mama hatte den Kopf eingezogen und rückte ein kleines Stück zur Seite; nicht zu weit und zu offensichtlich, damit Papa nicht wieder damit anfing, zu fragen, ob er denn so ein Unmensch war, dass man sich vor ihm fürchten musste. Das letzte Mal war ein Monolog daraus geworden, der in einem cholerischen Ausbruch und brutalen Schlägen endete.
Vielleicht spürte Mama, dass sie beobachtet wurde, denn sie drehte ihren Kopf und sah mir direkt in die Augen. Den Rucksack konnte sie unmöglich entdeckt haben, stand die Tür doch nur eine Handbreit offen - und doch war ihr Blick flehentlich.
Nach einem Moment des Zögerns schob ich den Rucksack wieder unter mein Bett. Dabei fühlte ich mich, als würde ich eine Freundin verraten. Nein, ich konnte weder Mama noch Abraxas zurücklassen; das brachte ich einfach nicht fertig. Sie brauchten mich beide! Es war egoistisch, seine Liebsten wegen des eigenen Glücks im Stich zu lassen!
Ich zuckte mit den Achseln, holte tief Luft und ging ins Wohnzimmer.
„Was soll denn das!“, rief Papa. „Braucht Madame denn jetzt jedes Mal eine Extraeinladung, verflucht!“ Sein Blick wanderte an mir von unten nach oben und blieb bei meinem Dekolleté hängen. „Bisschen tief, der Ausschnitt bei deiner Tochter, findest du nicht auch, Agnes? Und für wen wirfst du dich so in Schale, hä? Für deinen sauberen Chef, den feinen Pinkel?“
„Sie hat doch frei heute!“
Papa brummte.
Oh Gott, er kann unmöglich von mir und Arthur wissen! Es sei denn…
„Und das bei den Temperaturen! Da holst du dir eine Nierenbeckendingsbums…!“
… es sei denn, er hätte mein Handy kontrolliert. Ich traute es ihm zu.
„Soll ich was besorgen?“, fragte ich.
Papa glotzte wieder in den Fernseher und nahm einen Zug aus der Bierflasche, als hätte er vergessen, dass er mich gerade noch zu sich gerufen hatte.
„Könntest du uns Zigaretten holen, Sophia?“, fragte Mama. Sie sah mich beschwörend an. Ich kannte diesen Blick. Er hieß: Tu alles, was er verlangt, sofort, er ist kurz vorm Explodieren!
Ich nickte, nahm Geld aus dem Glas über der Spüle, schlüpfte in Jacke und Ballerinas und ging ins Treppenhaus. Drei Stockwerke tiefer lebte ein älteres Schwulen-Ehepaar, ein Professor für was auch immer und ein ehemaliger Lehrer. Bei ihnen hatte ich meine halbe Kindheit und Jugend verbracht. Ich klingelte an ihrer Tür.
Stefan öffnete sie einen Spalt und als er mich sah, entfernte er die Kette und machte sie ganz auf. Er war noch im Pyjama.
„Sophia! Wie schön! Guten Morgen!“
„Braucht ihr irgendwas? Tabak? Oder was vom Bäcker?“
„Das ist lieb von dir, aber ich glaube nicht. Marc? Brauchen wir was?“, rief er über die Schulter.
Ein leises „Nein!“ kam aus dem hinteren Zimmer.
„Du hast heut frei? Magst du heut Nachmittag zum Tee kommen, Sophia?“
„Gern!“
Die Aussicht, inmitten von Büchern und Antiquitäten mit zwei kultivierten Menschen zu plaudern, baute mich wieder auf. Ich holte die Zigaretten am nächsten Automaten und stieg die sechs Stockwerke wieder hinauf. Mein Vater packte mich am Handgelenk, als müsse er mir die Schachtel entwinden und schimpfte, als er merkte, dass es nicht seine Marke war. Seine Aussprache war bereits undeutlich.
"Deine war aus!", sagte ich jammernd, denn er tat mir weh. Außerdem holte er mit der anderen Hand schon wieder aus. Mama mischte sich ein: „Lass sie los, sie muss doch zur Arbeit!“
Tatsächlich lockerte er den Griff und ich konnte ihm meinen Arm entwinden. Schnell trat ich zwei Schritte zurück.
„Wieso? Heut doch nicht!“, sagte ich.
„Doch, die Chefin hat gerade angerufen. Du musst sofort kommen, weil…!“
„Hast du schon zugesagt? Ich bin doch nicht ihre Leibeigene, die sofort springt, wenn sie pfeift!“
„Leibeigene! Wie du schon wieder redest, Sophia! Du musst schon schauen, dass du deine Arbeit behältst! Da geht es halt nicht immer nach deinem Kopf, da musst du dich fügen!“
Ich dachte mir, an ihr würde ich ja sehen, wo es hinführte, wenn man sich ständig fügte! Sie arbeitete an einer Müllsortier-Anlage und lebte mit einem Mann zusammen, der sie misshandelte! Aber ich sagte nichts.
Sie lächelte. „Im Übrigen ist es doch schön; da ist eine Kundin, die nur von dir behandelt werden will. Jetzt ab mit dir!“
„Hast du eigentlich das Geld für März schon gezahlt?“, fragte Papa.
Ich blieb die Antwort schuldig, schnappte meine Tasche und verließ die Wohnung.
Grenzüberschreitung
Die Kundin, die mich und meine Arbeitsweise so schätzte, war eine nette, ältere Dame, die vergessen hatte, einen Termin zu machen. Sie nannte mich wie immer „mein Mädchen mit den Goldhändchen“ und gab mir ein ordentliches Trinkgeld.
Und auch die Chefin behandelte mich wie gewohnt: vor den Kunden begrüßte sie mich freundlich, als sei sie die herzlichste Chefin, die man sich nur wünschen konnte. Kaum waren wir allein im Mitarbeiterzimmer und die Türen hinter uns geschlossen, sagte sie: „Hör‘ jetzt ausnahmsweise mal genau zu! Nach der Mittagspause kommt die - wie heißt sie gleich wieder, die blaublütige Schabracke?"
Die Chefin war eine kleine, zartgliedrige Person. Ein starker Kontrast zu ihrer derben Persönlichkeit!
"Frau von Uhlenstein?"
"Die übernimmst du, denn ich habe Kopfweh. Wie spät ist es? Kurz vor Zwölf. Da geht sich eine Rückenmassage aus.“
Alle verfügten über mich, wie es ihnen gerade passte! Als sie meinen Gesichtsausdruck sah, deutete sie ihn falsch und fragte: „Welchen Teil hast du jetzt nicht verstanden? Den mit der Uhlenstein? Das ist die Frau, die zuerst eine Fußpackung bekommt und dann die Gesichtsbehandlung mit Aloe Vera. Oder den mit der Massage? Ich brauche jetzt eine! Von dir! Die anderen sind alle besetzt.“
„Ich dachte, ich könnte jetzt wieder heimgehen. Heut ist mein…“
„…freier Tag, ich weiß. Dann gebe ich dir halt morgen frei!“
Ich wusste, dass ich nicht daheim bleiben würde, denn dann müssten die Kolleginnen meine sechs Behandlungen übernehmen, was ich ihnen nicht zumuten wollte. Dass ich noch vor zwei Stunden kurz davor gewesen war, alle Kolleginnen für immer im Stich zu lassen, fiel mir im Moment nicht auf.
Widerwillig folgte ich meiner Chefin zu einer Massageliege, die durch einen schweren Vorhang von den anderen abgetrennt war. Man hörte nur die gedämpften Stimmen von Kolleginnen und Kunden und meditative, psychodelische Musik aus den Lautsprechern.
Mit einer Unbefangenheit entblößte die Chefin ihren Oberkörper mit schlaffen Brüsten und faltigem Bauch, dass sie unmöglich einen Verdacht hegen konnte. Sie legte sich auf die Liege und als ich ihr den Rücken ölte, fragte eine leise Stimme hinter dem Vorhang: „Hase?“
Beinahe hätte ich „Ja!“ gesagt. Es war Arthur. Ein Jahr lang war ich sein Hase, sein Schatz, sein Augenstern.
„Du kannst ruhig reinkommen“, antwortete die Chefin.
Er trat neben mich, strich mir zwinkernd eine lose Haarsträhne hinter mein Ohr und sagte zu seiner Frau: „Ich fürchte, du hast Von Steinau vergessen. Der ist jetzt da und sagt, er hätte einen Termin für eine Maniküre.“
Gedämpfte Flüche kamen unter dem Kopfteil der Liege hervor.
„Kannst du ihn fragen, ob er nach der Mittagspause noch einmal kommen kann? Ich habe so entsetzliches Kopfweh! Nein, Sophia soll gehen, von einer jungen Frau lässt er sich wohl eher vertrösten! Und dann kannst du mich weitermassieren, Arthürchen!“
Der verdrehte die Augen, griff mir an beide Brüste und sagte gleichzeitig: „Aber gern, mein Schatz!“ Ich wich zurück und sah ihn irritiert an. Er ignorierte, dass ich mit ihm Schluss gemacht hatte, formte seine Lippen zu einem Kussmund, machte eindeutige Bewegungen mit seinem Becken und verabschiedete mich mit einem lautlosen Klaps auf den Hintern. Was bildete der sich eigentlich ein! So toll war der Sex mit ihm nun auch nicht! Ich konnte verzichten! Ich warf ihm noch einen wilden Blick zu, der wirkungslos blieb, weil er sich bereits seiner Frau zugewandt hatte. Ich war stinksauer…und traurig…ach, ich war einfach durch den Wind.
Neuland
Herr von Steinau war ein schlanker, hochgewachsener Mann, mit grauem, vollem Haar, der gut, wenn auch einen Tick altmodisch gekleidet war. Er kam mir bekannt vor; vermutlich war er hier im Salon schon länger Kunde. Als ich ihn ansprach, stand er sofort auf, um mich per Handschlag zu begrüßen. Er musterte mein Gesicht, während ich mich räusperte und ihn fragte, ob es möglich wäre, den Termin auf den frühen Nachmittag zu verschieben.
„Ja, können nicht Sie meine Hände machen?“, fragte er mich und streckte sie mir entgegen. Es waren für einen Mann recht zarte Hände, die darauf schließen ließen, dass er zeitlebens nie mit ihnen gearbeitet hatte.
„Meine Chefin würde Sie gern wie vereinbart persönlich behandeln. Aber wenn Sie nach der Mittagspause um zwei…“
„Gern! Unter einer Bedingung: wenn ich Sie in ihrer Pause in ein Café einladen dürfte?“
Jetzt war ich überrumpelt. Was will er von mir? Der könnte mein Opa sein!
Er bemerkte mein Zögern, beugte sich zu mir herunter und sagte leise: „Ihre Augen wirken so traurig. Vielleicht kann ich Sie etwas aufheitern!“
Da lächelte ich, sagte: „Das wäre schön!“, nahm meine Tasche und verließ mit dem Mann das Studio. Auf dem Gehsteig bot er mir ganz altmodisch und vermutlich nicht ganz ernst gemeint seinen Arm zum Unterhaken an. Lachend nahm ich sein Angebot an. So flanierten wir die Straße hinunter bis zu seinem 911er.
„Wollen wir schnell zum Botanischen Garten fahren? Das Café dort ist wunderschön und jetzt blüht bereits so vieles!“ Wieder bemerkte er mein Zögern. „Haben Sie gelernt, nicht zu fremden Männern ins Auto zu steigen? Das ist vernünftig, aber ich bin doch kein Fremder mehr! Sie kennen meinen Namen und ich bin schließlich in Ihrem Studio Stammgast. Von mir haben Sie nichts zu befürchten! Ich bin ein alter Mann!“ Er zwinkerte und das sah eher nach Lausbub als nach Greis aus.
„Wie alt sind Sie denn?“, fragte ich und merkte im gleichen Moment, dass ich mich unmöglich benahm.
Von Steinau öffnete die Beifahrertür. Lächelnd sagte er: „Ü-Sechzig.“
Ich stieg ein, wie es mir Stefan und Marc, die beiden Schwulen, beigebracht hatten: zuerst setzte ich mich, dann hob ich meine Beine in den Fußraum. Als er mit leichtem Druck die Tür schloss, wirkte er nicht sonderlich beeindruckt - weder von meinen geschmeidigen Bewegungen, noch von meinen langen Beinen. Das störte mich. Ich war andere Reaktionen von Männern gewohnt. Ich wollte nichts von ihm, aber ein paar bewundernde Blicke hätten mir gerade gut getan. Vielleicht sollte ich mich entspannen und die Situation genießen. Wann fuhr ich schon in einem Porsche durch die Gegend? Es gab Unangenehmeres, als von einem gut situierten Herrn ins Café eingeladen zu werden!
Im Auto duftete es leicht nach teurem Rasierwasser und Leder. Eine gute Mischung. Es roch fein, besonders; eben, wie es wohl bei den Oberen Zehntausend riecht. Der volle Sound des Motors wurde sofort von den Rolling Stones übertönt. Überrascht sah ich ihn an. Er lachte, drehte die Musik leiser und fragte: "Wundern Sie sich über meinen Musikgeschmack?"
Ich nickte.
"Warum? Mick Jagger ist älter als ich! Es ist die Musik meiner Jugend. Aber ich kann Sie beruhigen: ich höre auch Jazz und klassische Musik."
Von Steinau war ein routinierter und ruhiger Fahrer und sehr aufmerksam, denn als er die Gänsehaut auf meinen Armen sah, drehte er die Heizung hoch. Ich bedankte mich und sagte entschuldigend, ich hätte meine Jacke vergessen. Als wir auf der Terrasse des Cafés saßen, gab mir von Steinau sein Jackett. Papa hatte ja Recht gehabt: Das Kleid war zu sommerlich für die Jahreszeit. Ich war trotzdem froh, es angezogen zu haben, denn es war mein einziges Designerkleid aus wunderbar fließendem Stoff, das ich in einem Second-Hand-Laden erstanden und mir enger genäht hatte. Ich fühlte mich passend angezogen. Es passte zu diesem Augenblick, der Gesellschaft des feinen Mannes, in dieses Ambiente. Ich liebte es, weil mir Giancarlo die schönsten Komplimente gemacht hatte, als ich es trug. Dieses Kleid würde mich immer an unseren Abend erinnern, als er mich auf der Piazza mitten in Triest galant zum Tanz aufgefordert hatte. Aus einem geöffneten Fenster drang Walzermusik. Es war so romantisch gewesen, wie ich es mir nicht schöner hätte erträumen können.
Als Cappuccino und Apfelstrudel vor uns standen, sagte von Steinau: "Das war eine außerordentlich gute Idee, Sie hierher einzuladen. Sie sehen jetzt auch viel fröhlicher aus. Darf man fragen, was Sie bedrückt? Ist es Liebeskummer? Oder bin ich jetzt indiskret?"
Was es auch war, was mich zu ihm Vertrauen fassen ließ, der interessierte Blick, die vorsichtige Art, die väterliche Fürsorge, mit der er mir seine Jacke um die Schultern gelegt hatte - ich wollte ihm augenblicklich von Giancarlo erzählen.
"Da ist so ein Mann, mit dem man eine fünfköpfige Familie gründen will! Er ist gutaussehend, intelligent, arbeitet als Maschinenbauingenieur in einer Firma, die Schiffsschrauben oder so herstellt. Was ich ganz rührend finde: er ist ein bisschen altmodisch, was man mir auch hin und wieder vorwirft." Ich lachte. "Wir sind beide unter dem Einfluss von älteren Menschen groß geworden - er wurde von seinen Großeltern erzogen, ich zum Teil von einem homosexuellen Ehepaar. Wir wirken manchmal beide, als wären wir aus der Zeit gefallen."
"Oh, wie ich das kenne!"
"Und er kann tanzen - phantastisch! Sie lächeln? Ich finde das wichtig! Wenn jemand tanzen kann, dann zeigt das doch einiges über ihn!"
"Da bin ich ganz Ihrer Meinung!", beschwichtigte er. "Wenn ein Mann beim Tanz führen kann, im Gleichgewicht ist und auf Musik und Tanzpartnerin eingeht, dann hat er ähnliche Qualitäten auch in anderen Lebenslagen. Ich lächelte, weil Sie so strahlen, wenn Sie von ihm erzählen. Unvorstellbar, dass er nicht in Sie verliebt ist! Ist er doch, oder? Sie sind eine wunderschöne Frau, mit Ihren langen, blonden Haaren, den blauen Augen und Ihrer liebenswürdigen Art!"
Meine Wangen wurden heiß.
"Wo liegt also das Problem?", fragte von Steinau.
Sofort begannen meine Augen zu schwimmen. "Er lebt in Triest. Und ich kann hier nicht weg, weil…" Eine Weile schwiegen wir. Meine Tränen tropften auf den Strudel.
"Vielleicht kann ich Ihnen helfen?", bot von Steinau an.
"Das ist sehr liebenswürdig, aber nein, leider nicht. Ich kann meine Mutter nicht mit…" Ich schlug eine Hand vor den Mund. "…nicht mit meinem Vater alleinlassen, weil…"
Von Steinau nahm meine andere Hand, die kalt und unbeteiligt neben dem Teller lag, und drückte sie leicht.
Da brach es aus mir heraus: "…weil mein Vater trinkt und uns schlägt!"
Nun flossen meine Tränen in Strömen. Ich zog meine Hand unter der Steinaus hervor, um meine Taschentücher heraus zu kramen, aber auch weil mir die Berührung unangenehm war. Wenn mich fremde Männer anfassten, konnte ich das oft nicht einordnen. Als ich mich geschnäuzt und wieder beruhigt hatte, sagte er eindringlich: "Das ist ja schrecklich! Das tut mir Leid. Jedoch: Sie sind nicht verantwortlich für Ihre Mutter!"
Vielleicht hatte er Recht! Sollte ich doch endlich gehen? "Mama ist so schwach und… sie weiß auch nicht wohin. Sie ist ja abhängig von ihm.“
"Dafür können Sie nichts!“
Wenn er wüsste!
„Und Sie können sie nicht ewig beschützen, Sophia! Sie sollten jetzt nur an sich selbst denken. In Ihrem Alter darf man das! Man ist sogar regelrecht dazu verpflichtet! Wann erlauben Sie es sich, Ihr eigenes Leben zu leben?" „Mein eigenes Leben?“ Ach, er wusste ja nichts. Nichts davon, dass ich schuld war an der Depression meiner Mutter. Ich konnte zwar nichts dafür, dass mein Vater seinen Schmerz durch Gewalt ausdrückte, aber der Auslöser für seinen unstillbaren Kummer war ich. Ich war schuld an dem unerträglichen Verlust meiner Eltern. Ich hatte ihnen alle Freude geraubt. Mein eigenes Leben? Hatte ich überhaupt ein Recht auf so etwas, wie ein eigenes Leben?
Ich war nach der mittleren Reife von der Schule abgegangen, obwohl meine Leistungen überdurchschnittlich waren. Mein Vater hatte gesagt, es wäre an der Zeit, dass ich Geld verdiene und einen Teil der Miete übernähme. Dass mich Mama damals überhaupt beim Gymnasium angemeldet hatte, verdankte ich Stefan und Marc. Weder Mama noch Papa hielten viel von meiner Intelligenz. Mit neunzehn hätte ich die Möglichkeit gehabt, in eine WG zu ziehen, ließ es aber bleiben, weil Papa, als ich das ansprach, den Wohnzimmerschrank zerlegte, um anschließend Mama und mich zu verprügeln.
Wann war ich selbstbestimmt auch nur ein paar Meter auf meinem Lebensweg gegangen?!
Steinau hatte gesagt, ich solle es mir erlauben, aber genau das konnte ich nicht. Er bemerkte nicht, was seine Frage in mir angestoßen hatte, da er sich gerade dem Kellner zuwandte, der nach weiteren Wünschen fragte.
Immerhin hatte ich mir zwei Dinge nicht ausreden lassen: Als ich Abraxas fand, war er so klein und schwach, dass meine Eltern meinen Rettungsmaßnahmen keine Chance gaben. Aber unbeirrt hatte ich ihm Wärmflaschen gemacht und in der Nacht zwei Mal den Wecker gestellt, um ihn zu füttern.
Ebenso wichtig waren mir die Zusatz-Ausbildungen, die ich freiwillig absolviert und selbst bezahlt hatte.
"Für was soll ein Vigasist - wie heißt das gleich wieder - oder ein Maskenbildner gut sein? Alles Firlefanz! Du hast Deine Lehre abgeschlossen und verdienst Geld!", hatte mein Vater gesagt. Selbst meine Mutter unterstützte mich nicht, obwohl sie meine Dienste gern in Anspruch nahm, wenn ich ihre, von meinem Vater zugefügten, Blessuren und blauen Flecken überschminkte.
Ich war ganz in Gedanken versunken und ließ meinen Blick über den Teich schweifen, als plötzlich ein Glas Weißwein vor mir stand.
"Das wird ihnen jetzt gut tun, vertrauen Sie mir. Ein passabler Chardonnay.", sagte von Steinau und lächelte aufmunternd. Da konnte er Recht haben. Eigentlich lehnte ich Alkohol ab, aber hier auf dieser Terrasse, in Gegenwart dieses feinen Mannes und in diesem Kleid fühlte ich mich nicht wie ein Prolet, als ich an dem Glas nippte. Kurz hatte ich ein Traumbild vor Augen, in dem von Steinau mein Vater war und mich zum Altar führte, wo Giancarlo auf mich wartete.
Als ich von Steinau ansah, lächelte er noch immer. Der Mann war wirklich deutlich geeigneter als mein Vater, eine Braut zu führen!
Während ich den Blick senkte und mit dem Glas spielte, betrachtete er mich. Seine Aufmerksamkeit tat mir gut. Schließlich sagte ich: "Als meine Mutter mit mir schwanger war, hat sie getrunken. Ihr Arzt hatte ihr gesagt, dass sie so das Gehirn des Ungeborenen schädigen würde. Sie hat es geglaubt. Von Anfang an hat sie mich für dumm gehalten, hat sich zwar schwere Vorwürfe gemacht, aber es nie in Frage gestellt: das Kind ist dumm, tragisch, aber nicht zu ändern."
"Und glauben Sie das auch?"
Ich schüttelte den Kopf. "Bis Stefan und Marc in unser Haus eingezogen sind, bin ich auch davon ausgegangen, dass alle - meine Freunde und Schulkameraden - gescheiter sind, als ich. In der Grundschule hatte ich schlechte Bewertungen und eine Lehrerin hat sogar vorgeschlagen, mich auf eine Sonderpädagogische Schule zu schicken. Meine Eltern hätten das sofort gemacht, ohne es zu hinterfragen. Und dann kamen die beiden Intellektuellen in mein Leben. Ihr Umzugswagen war vollgepackt mit Büchern. Marc war damals noch Gymnasiallehrer, Stefan Professor an der LMU. Sie haben mich unterrichtet, mir bei den Hausaufgaben geholfen, meine Fragen beantwortet, sind mit mir den Knigge durchgegangen, ach, sie haben mich einfach gefördert, wo es nur ging."
"Das ist wunderbar. Die beiden haben Ihr Potential erkannt und dafür gesorgt, dass Sie es auch erkennen. Oder?"
Auf dieses Oder ging ich nicht ein. Was sollte schon in mir stecken? Ja, ich kann gut schminken und tanzen und habe einen Sinn für Ästhetik und Schönheit. Aber was war das schon wert?
Ein Schmetterling setzte sich auf meinen Arm. Das war ein Zeichen: Schau wie wunderschön alles um dich herum ist! Und auch du bist schön und richtig, so, wie du bist. Ich war ein Kind, das die Luft anhielt, um die Magie dieses Augenblicks nicht zu zerstören. Der Zitronenfalter flatterte weiter. Er hatte seine Mission erfüllt. Ich nahm noch einen Schluck.
"Stefan und Marc haben versucht, meine Eltern davon zu überzeugen, dass sie mir mehr zutrauen können", sagte ich, als wäre das eine Antwort auf seine Frage. "Aber sie hielten an dem Bild, das sie von mir hatten, fest. Selbst meine guten Noten änderten nichts daran.“
"Ich bin Witwer", sagte von Steinau nach einer Weile. "Ich liebte meine Frau sehr, pflegte sie drei Jahre lang, als sie krank wurde. Es half alles nichts: sie starb. Der Krebs war stärker. Nun lebe ich allein in einer Villa in Grünwald. Was ich damit sagen will: Befreien Sie sich aus diesem Leben mit Ihren Eltern! Fahren Sie zu Ihrem Giancarlo, sonst tragen Sie das bis ans Ende Ihrer Tage mit sich herum und glauben, die Chance ihres Lebens vertan zu haben! Sollten Sie aber wieder nach München zurückkehren, können Sie gern bei mir wohnen." Er reichte mir seine Visitenkarte. "Ich habe so viel Platz, dass ich mich beinahe schäme, wenn ich Menschen wie Sie kennenlerne, die so dringend eine eigene Wohnung bräuchten."
"Ich werde in Triest leben. Aber danke für das Angebot." Das sagte ich und hörte mir dabei überrascht zu. Würde ich es nun doch endlich wagen? Von Steinau hatte etwas in mir ausgelöst. Ja, bisher war es nur ein Traum, wenn auch ein detailreicher. Ich hatte mir von der Wandfarbe unserer gemeinsamen Wohnung, über die Einrichtung des Kinderzimmers bis zur Eröffnung eines Kosmetiksalons in der Altstadt alles ganz genau vorgestellt. Aber es war etwas anderes, darüber zu sprechen - es wurde dadurch konkreter, bekam die Substanz eines Plans und rückte in die Nähe des Machbaren. Ja, ich werde nach Triest fahren, um meinen Traum zu verwirklichen! Meinen? Unseren! Giancarlos und meinen. In einem inneren Aufruhr wechselten sich Vorfreude, Angst, Abenteuerlust und Gewissensbisse ab.
Ich nahm nun zwei größere Schlucke. Eine Weile ließ ich meinen Blick über den Park schweifen, weil ich dem meines Gegenübers ausweichen wollte, aber auch um meinen Herzschlag zu normalisieren. Noch war es zu früh im Jahr für viele Blumen und die Seerosen, doch in ein paar Wochen wären die großzügig angelegten Beete bunt und die Rosen, die unsere Terrasse säumten, würden im Sommer ihre volle Pracht entfalten. Hier wäre ein schöner Ort, um zu heiraten. Aber das werden wir wohl in Triest tun. Oder in Venedig - das liegt ja nicht weit entfernt! Ich sah uns schon in einer Gondel sitzen mit dem Markusplatz im Hintergrund. Giancarlo hätte einen Frack an und ich einen Traum in Weiß.
"Ja, fahren Sie nach Triest! Allerdings glaube ich nicht, dass Sie dort etwas finden, das Sie nicht auch hier finden können."
"Ich verstehe nicht? Ich möchte dort heiraten, eine Familie gründen und einfach…" Ich zuckte mit den Achseln.
"Eine Heimat finden?"
Ich nickte.
"Die haben Sie in sich."
Ich versuchte darüber nachzudenken, aber ich spürte bereits den Wein.
"Ich habe genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass es nicht die besten Entscheidungen sind, die man in einer Mangel-Situation fällt. Und Ihnen scheint es gerade an vielem zu mangeln." Kurz tätschelte er meine Hand. "Auch an Selbstvertrauen. Aber vermutlich ist es in Ihrer Lebenssituation das Beste, überhaupt eine Entscheidung zu fällen."
Als wir zum Studio zurückfuhren, war ich immer noch aufgewühlt.
Würde ich nun endlich den Mut aufbringen und nach Italien gehen? Oder war es gar nicht Mut, der mir bislang fehlte, sondern Entschlossenheit und eine gesunde Portion Egoismus? Ich habe eine Heimat in mir? Was für eine Aussage!
Wahnsinn
Gerade als ich Frau von Uhlenstein die Fußpackung angelegt hatte, ging die Ladentür mit einem Knall auf. Meine Kundin und ich zuckten zusammen, aus dem Wartebereich kam ein spitzer Schrei. Der wahre Schrecken fuhr mir aber in die Glieder, als ich die Stimme hörte.
"Ich hole meine Tochter ab! Sophia! Wo ist sie? Ihr glaubt wohl, sie wie eine Slawin… eine Sklawin… halten zu können… bist du ihr sauberer Chef …sie muss sofort nach Hause kommen… sag ihr das! Sophia!"
Mein Herz schlug im Hals. Mein erster Impuls war, mich irgendwohin zu verkriechen. Das darf doch nicht wahr sein! Kommt er besoffen in meine Arbeit und blamiert mich vor allen Leuten! Frau von Uhlenstein hatte sich aufgerichtet, meine Hand ergriffen und flüsterte: "Oh Gott, ist das Ihr Vater? Das ist ja schrecklich!"
"Hey Sophia!", rief Papa wieder.
Ich kaute auf meiner Unterlippe. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf: was sollte ich jetzt um Himmels Willen tun?! Hätte es einen Hinterausgang gegeben, wäre ich geflüchtet. Irgendetwas fiel polternd zu Boden. Was hatte er vor? Ich musste ihn irgendwie hinausbefördern, bevor er hier randalierte und Sachen kaputtmachte oder sogar handgreiflich wurde! Als könnte sie Gedanken lesen drückte von Uhlenstein noch einmal kurz meine Hand, bevor sie sie losließ, und mir zunickte. "Gehen Sie zu ihm, Kindchen!"
Ein tiefer Atemzug und ich schlüpfte hinter dem Vorhang hervor. Da stand er, oder vielmehr wankte, gestikulierte wild und brabbelte vor sich hin: "Stinkfeiner Laden hier… das ist doch gar nix für meine Tochter…glaubt wohl, dass sie was Besseres ist…"
Einige der Vorhänge waren zur Seite geschoben worden, Kolleginnen und Kundinnen mit Gesichtsmasken und die, die in den Wartesesseln saßen, hatten Augen und Münder aufgerissen. Der Fahrstuhl-Jazz, der aus den Lautsprechern kam, stand im krassen Gegensatz zu der gewaltgeladenen Stimmung.
"Papa, sei vernünftig, komm jetzt!" Ich sprach direkt in sein Ohr und versuchte ihn aus dem Studio zu drängen. Er roch nach Alkohol und Urin, sein Gesicht war gerötet.
Kurz schien es, als wüsste er nicht mehr, wo er sich befand. Seine Augen konnten nichts mehr fixieren und verschwanden sekundenlang unter den schweren Lidern. Ich hakte ihn unter, um ihn zur Tür zu ziehen, doch kaum hatten wir ein paar Schritte gemacht, stampfte er trotzig auf und brüllte: "Lass mich!" Er holte mit der Rechten aus. Automatisch hob ich meinen Unterarm vor mein Gesicht, um mich zu schützen, aber der Schlag verfehlte mich. Er schwankte, und wäre wohl hingefallen, wenn er sich nicht auf dem Tischchen mit den Cremetöpfen abgestützt hätte. Während Arthur vollkommen erstarrte und unfähig war, irgendetwas zu tun, war von Steinau aufgesprungen und rief: "Was tun Sie hier! Kommen Sie zur Vernunft!", Jemand murmelte "Ohgottogottogott!" vor sich hin.
„Papa, du willst mich doch abholen! Also komm, lass uns gehen!“ Ich versuchte, ihn mit sanfter Stimme zu überreden, auch wenn ich kaum die Zähne auseinander brachte.
Plötzlich sah er mich an und weinend jammerte er: "Ja, ja … ich hole dich ab… komm jetzt nach Hause Sophia oder … willst du mich auch alleinlassen so wie … deine Mutter das Miststück das … hab ich nicht verdient das alles hab ich … überhaupt nicht verdient so eine Ungerechtigkeit auf dieser Welt!"
Wieder schob ich ihn ein Stück in Richtung Ausgang. Draußen überquerte die Chefin die Straße und beschleunigte ihre Schritte, als sie bemerkte, dass in ihrem Salon etwas ganz und gar nicht stimmte.
Ich muss ihn hinausschaffen, bevor sie da ist! Wer weiß, was Papa noch alles heraus posaunt! "Raus mit dir! Wie kannst du mir das antun!", zischte ich in sein Ohr und hielt ihn am Ellbogen. Kurz wirkte er einsichtig, als wolle er sich führen lassen, und machte ein paar Trippelschritte. Erst jetzt bemerkte ich, dass der linke Ärmel blutgetränkt war. Ich schob ihn zurück, aber sein Unterarm war unversehrt. Auch auf der Brust waren Blutspritzer. Was ist mit Mama?! Zuerst dachte ich es nur, dann fragte ich meinen Vater mit überschnappender Stimme: "Was hast du mit Mama gemacht?"
Er zuckte nur mit den Achseln, blies die Backen auf und ließ die Luft mit ein paar Spucketröpfchen entweichen. "Gehen Sie nicht mit, Sophia! Er ist gefährlich! Haben Sie nicht das Blut gesehen?", rief von Steinau.
"Raus mit Ihnen oder ich rufe die Polizei!" Jetzt hatte Arthur seine Stimme wieder gefunden.
Dann passierte alles auf einmal: Papa wirbelte herum, riss mir dabei den Ausschnitt des Kleides auf und schubste mich zur Seite, taumelte, fing sich wieder und näherte sich im Zickzack-Kurs meinem Chef. Die Chefin stieß die Tür auf, blieb aber erstarrt im Rahmen stehen. Papa rief: "Und du lässt meine Tochter in Ruhe du alter Sack, könntest ja vom Alter her der Vater sein und überhaupt darf ein Chef nix mit seiner Angestellten anfangen, wo kommen wir denn da hin, verdammter Mistkerl!" Anscheinend wollte Papa Arthur an der Gurgel packen, doch weil der zurückwich, griff er ins Leere und fiel der Länge nach auf den Fliesenboden.
Arthur rempelte gegen den Wagen, auf dem die Pflegemittel aufgereiht standen, mehrere Kundinnen kreischten. Flaschen und Flakons rollten über das Parkett, Glas splitterte.
Die Chefin fragte mit schriller Stimme: "Was ist denn hier los? Wer ist dieser Penner, um Himmels Willen?"
Ich zog mich am Fensterbrett auf die Beine und blickte in die Runde. Alle starrten auf Papa, nur Tatjana, meine Kollegin, glotzte mich an - und grinste! Nie wieder würde ich ihr oder den anderen unter die Augen treten können! Ich hielt mir meinen Ausschnitt zu und rannte in das Angestelltenzimmer, um Tasche und Jacke zu holen, wollte einfach nur weg hier. Doch als ich mich an der Chefin vorbeidrückte, gruben sich ihre Fingernägel in meinen Unterarm. Sie riss an ihm, als wolle sie meine Schulter auskugeln und beförderte mich vor die Tür, die sofort hinter uns ins Schloss fiel. Ihr Gesicht war verzerrt, als sie zischte: "Du bist fristlos gekündigt! Lass dich nie wieder hier blicken, du asoziale Proletenschlampe!"
Das würde ich ganz bestimmt nicht; ich wagte es ja nicht einmal, ihr in die Augen zu blicken! Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so geschämt. Durch das Glas der Tür sah ich, wie von Steinau und Arthur meinen Vater auf die Beine rissen und ihn zum Ausgang zerrten.
"Hau ab!", wiederholte die Chefin.
Ich nickte und ging wie ferngesteuert ein paar Schritte. Jetzt erst bemerkte ich, dass ich heftig schnaufte und wie übel mir war. Gleich musste ich mich übergeben. Ich hielt mich am nächsten Laternenpfahl fest und atmete tief ein und aus. Ich musste mich sammeln. Als ich mein Kleid zuknöpfen wollte, bemerkte ich, dass die obersten Knöpfe fehlten. Vor dem Salon fand ein groteskes Spektakel statt:
Mein Vater fiel vor der Chefin auf alle Viere, sein Speichel tropfte auf den Asphalt. Arthur kam auf mich zu; er sah aus, als würde er mich in den Arm nehmen wollen, aber seine Frau kreischte hinter ihm her: "Arthur, Du bleibst hier!"
Er drehte sich um, wie ein unterwürfiger Hund.
Tatjana stand in der Tür und grinste immer noch. Für sie war das ein Fest!
Von Steinau legte eine Hand auf meine Schulter und sagte: "Soll ich Sie mit zu mir nehmen? Man hat die Polizei verständigt. Die kümmern sich um Ihren Vater."
"Nein, Herr von Steinau. Ich muss meine Mutter anrufen. Bitte lassen Sie mich. Mir ist das alles so peinlich."
"Sie sind ganz bleich. Fühlen Sie sich in der Lage, selbst…?"
"Ja. Ja." Ich ging ein paar rasche Schritte weiter, holte mein Handy aus der Handtasche und schaltete es an. Meine Mutter hatte mich bereits vor anderthalb Stunden angerufen und eine SMS geschrieben. Ich nahm mir nicht die Zeit, sie zu lesen und drückte auf Rückruf. Meine Hände zitterten und der Schweiß lief mir über die Augen. Ich sah sie vor meinem geistigen Auge blutend in der Wohnung liegen, mit jedem vergeblichen Läuten wurde das Bild schrecklicher und als die Mailbox dran ging, war ich mir sicher, dass sie tot war.
Mein Gehirn schickte mir eine Erinnerung, mit der ich das Bild so konkretisieren konnte, als wäre es ein gestochen scharfes Foto: meine Mutter, auf dem Küchenboden liegend, der Kopf in einer sich ausbreitenden Blutlache. Sie lag leblos da.
Es konnte gar nicht anders sein: Nun war eingetreten, wovor wir uns immer gefürchtet hatten. Mein Vater hatte sie umgebracht.
Genauso wie bei dem Vorfall vor drei Jahren, war ich zur Salzsäule erstarrt, gelähmt von Panik und Ohnmacht, die von mir Besitz ergriffen.
Wie ein Kind, das in der Stadt seine Mutter verloren hat, schlug ich die Hände vor das Gesicht und weinte: "Mama, Mama, Mama…!"
Doch als Papa wieder plärrte, meldete sich mein Überlebenstrieb. Ich musste hier weg! Er durfte mich nicht erwischen! Er zog sich gerade an einem Sims auf die Beine und kam erstaunlich schnell auf mich zu. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Ich ließ ihn nur kurz aus den Augen, um die SMS zu lesen. "Ruf mich an!", sonst nichts. Als ich aufblickte war er nur noch wenige Meter von mir entfernt. Ich wandte mich um und versuchte zu laufen. Meine Beine wollten mir nicht gehorchen. Er schrie mir hinterher: "Sophia warte auf mich … du kannst doch nicht deinen eigenen Vater im Stich lassen … so wie deine Mutter … verpisst sich einfach … die alte Schrapnelle!"
"Was hast du mit ihr gemacht?", rief ich über die Schulter. Meint er mit verpissen, dass sie gestorben ist? Da klingelte das Telefon. Mamas Handynummer! Ich tippte und schrie: "Mama!"
Doch es war eine Männerstimme, die mich fragte: "Spreche ich mit Frau Sophia Schneider? Ich nickte und schluchzte, meine Stimme versagte. Schlagartig waren meine Knie so weich, dass ich glaubte, mich augenblicklich auf den Boden setzen zu müssen.
"Ich rufe an aus der Schönklinik, München Harlaching, Sebastian Hauber."
"Was ist mit meiner Mutter?"
"Sie ist…" Das Weitere konnte ich nicht verstehen, da mein Vater brüllte und eine Frau mich ansprach, ob mich dieser Mann belästige.
"Ich bin ihr Vater verdammt nochmal! Sophia!", schrie er wieder.
Ich rannte ein Stück weiter und musste stehen bleiben, weil gerade ein Lastwagen zurücksetzte. Um bei dem Baustellenlärm etwas verstehen zu können, hielt ich mir das linke Ohr zu und sagte: "Ich habe Sie nicht verstanden, bitte sagen Sie mir doch, was mit meiner Mutter ist!"
„Bleibst du stehen! Alle rennen vor mir davon! Was für eine Ungerechtigkeit! Du willst doch nicht deinen alten Vater allein lassen?“ Zuerst schnappte seine Stimme vor Wut über, dann fiel er wieder in seinen Jammerton zurück. „Bitte wiederholen Sie das noch einmal, ich habe nur Krankenhaus verstanden!“
"Ihre Mutter hat multiple Verletzungen. Sie wird gerade behandelt. Sie ist außer Lebensgefahr.“
Papa kniete sich nieder und faltete die Hände. Ich konnte sein Gebrabbel nicht verstehen.
„Sie ist in großer Sorge um Sie, Frau Schneider. Sie sollen unbedingt Ihrem Vater aus dem Weg gehen. Sie hat ihn wegen schwerer Körperverletzung angezeigt und ihm gesagt, dass sie ihn verlassen würde."
Ein seltsamer Ton kam aus meiner Kehle. Wie oft hatte ich sie angefleht, sie solle zur Polizei gehen, sich von ihm trennen! Jetzt hatte sie es getan. Endlich!
"Frau Schneider? Sind Sie noch dran?"
"Ja."
"Ihre Mutter meinte, er sei gefährlich und völlig außer Kontrolle geraten.“
Ich warf einen raschen Blick zurück. Papa war wieder aufgestanden, wankte und stützte sich bei jedem zweiten Schritt an den Wänden und Schaufenstern ab. Aber er kam näher. Ich überquerte die Straße und lief, mit dem Handy am Ohr, die Straße entlang Richtung Haltestelle.
"Er ist hier, also Papa. In der Zeppelin-Straße. Er ist in meinen Kosmetiksalon gestürmt, in den Salon, in dem ich arbeite,… und … die haben die Polizei gerufen."
Der Mann sagte etwas, das aber offenbar nicht mir galt.
Ich bog rechts ab. Die Straßenbahn tauchte am unteren Ende der Straße auf und blieb bei der Haltestelle Mariahilfplatz stehen. Als ich mich wieder nach vorn wandte, verließ gerade eine Frau mit Rollator ein Geschäft. Ich konnte nicht mehr ausweichen, verfing mich im Gestänge des Rollators und fiel der Länge nach auf den Asphalt. Das Handy schlidderte über den Gehsteig, den Bordstein hinunter, unter ein parkendes Auto. Ich setzte mich auf. Mir wurde schwarz vor Augen. Hinter mir quietschten Bremsen. Mein Vater schimpfte und eine Hupe ertönte. Zum Glück hatte sich die alte Frau am Türrahmen festhalten können, wo sie nun wankend stand und mich erschrocken anstarrte. Eine Verkäuferin kam aus dem Laden und wusste gleich, was zu tun war. In gebrochenem Deutsch redete sie beruhigend auf uns ein, während sie die Gehhilfe holte, die ein Stück die Straße hinunter gerollt war. Die stellte sie vor die Frau, reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen und angelte die Handy-Teile unter dem Auto hervor.
"Hast du kaputte Knie. Kann das waschen und kleben diese Dings drauf!", sagte die Verkäuferin. Zwei Jugendliche hatten sich vor Papa aufgebaut und schienen sich über ihn lustig zu machen, doch als er mit der Faust ausholte, sprangen sie zur Seite und johlten. Papa humpelte weiter.
"Danke, keine Zeit!", rief ich ihr zu und setzte unterm Laufen den Akku wieder ein. Das Telefon klingelte bevor ich den Deckel zudrücken konnte. Es war wieder Hauber von der Schönklinik.
"Was ist denn bei Ihnen los?", rief er.
"Ich flüchte vor Papa. Was passiert jetzt mit Mama?", fragte ich keuchend.
"Sie bleibt erst einmal hier und wir werden nach einem Platz in einem Frauenhaus suchen, falls ihr Gefahr von ihrem Mann drohen sollte."
"Natürlich droht ihr von ihm Gefahr! Aber sowas von!"
"Einen Moment, ich gebe Sie weiter. Neben mir steht Kommissar Ebert, der möchte mit Ihnen sprechen."
"Aber ich kann nicht…"
"Ebert. Frau Schneider, hören Sie bitte gut zu und beantworten Sie meine Fragen. Wir bekamen gerade einen Anruf aus der Zeppelin-Straße. Ein Mann hat den Angaben zufolge in einem Kosmetik-Salon randaliert und wurde handgreiflich. Handelt es sich bei dem…?"
"Ja!", unterbrach ich ihn.
"Wo befinden Sie sich gerade?"
"Auf der Flucht!" Himmel, ich konnte doch jetzt kein Gespräch führen! Ich musste die Straßenbahn erwischen! Doch die stand immer noch hinten am Mariahilfplatz! Ich konnte doch schlecht bei der nächsten Haltestelle warten, bis sie endlich kam! Wie schaffte es Papa, betrunken wie er war, sich so schnell fortzubewegen? Der Kommissar sagte irgendetwas, das ich wegen quietschender Bremsen nicht verstand. Ein Paar kam mir entgegen und wich erschrocken aus; der Mann rief: "Schau dir die an…!" Er sagte noch etwas von besoffen. Ich raffte mein Kleid am Ausschnitt wieder zusammen und verlangsamte meine Schritte, um mich umdrehen zu können. Die Tram war nun angefahren. "Wie geht es … jetzt weiter?", fragte ich den Kommissar. "Wo sind Sie jetzt?"
„Eduard-Schmid-Straße… warte auf die Tram.“ Ich keuchte.
Papa kapierte jetzt, warum ich stehengeblieben war und warf immer wieder hektische Blicke über seine Schulter. Da passierte etwas mit seiner Hose. Sie rutschte plötzlich und er kam kurz ins Straucheln. Rasch zog er sie bis über den Bauchnabel nach oben und hielt sie mit einer Hand. Da überholte ihn die Tram und hielt neben mir. Ich sprang hinein.
"Bin drin…Linie 18." Heftig atmend hielt ich mich an einer Schlaufe fest, da ich Angst hatte, die Beine könnten unter mir nachgeben. Das Handy hatte ich mir zwischen Schulter und Ohr geklemmt, um eine Hand frei zu haben und meinen Ausschnitt zuhalten zu können. Mein Knie und meine Handinnenflächen brannten. Warum fährt die Bahn nicht los?
"Wenn es gelingt, Ihren Vater festzunehmen und ihm etwas nachzuweisen, kommt er in Untersuchungshaft. In dem Fall können Sie und ihre Mutter wieder zurück in die Wohnung. Was haben Sie jetzt vor? Können Sie bei einer Freundin unterkommen?"
"Ja, ja!"
"Sind Sie unter dieser Nummer immer zu erreichen?"
"Ja."
"Dann geben wir Ihnen Bescheid, wenn wir Ihren Vater gefasst haben. Bis dahin gehen Sie nirgendwohin, wo er Sie finden könnte."
"Ja, mach ich!", log ich. In die Wohnung musste ich unbedingt noch, meinen Rucksack holen. Mein Vater wölbte die Hände über die Augen und legte sie ans Glas des Fensters der Tram, um ins Wageninnere blicken zu können. Ich duckte mich hinter einen dicken Mann. Papa ging zum nächsten Fenster, um hineinzuspähen und hinterließ auch hier Abdrücke und kondensierten Atem.
"Sagen Sie meiner Mutter, ich passe auf mich auf. Sie soll sich keine Sorgen um mich machen. Wiederhören."
Endlich fuhr die Tram los. Kurz sah ich noch die grauen Haare und einen erhobenen Arm meines Vaters, dann verlor ich ihn aus den Augen.
Ausgerechnet eine ältere Frau bot mir ihren Platz an. Sie befürchtete, dass ich gleich ohnmächtig werden würde. Ich nickte nur, setzte mich und versuchte, ruhig zu atmen. Mit einem Papiertaschentuch reinigte ich notdürftig meine Schürfwunden an den Händen und tupfte das Blut ab, das mir am Schienbein hinunterlief.
Ich sah meinen Vater vor meinem geistigen Auge und die Wut überdeckte alles, was an zarteren Gefühlen noch da war. Das Mitleid zum Beispiel, die Sehnsucht nach dem fürsorglichen Vater, der er einmal gewesen war oder die Erinnerungen an ihn, als er noch Chef eines florierenden Handwerksbetriebs war und so etwas wie Würde gehabt hatte. Jetzt, kaum hatte ich mich in Sicherheit gebracht, brach der Hass sich Bahn, wie eine Naturgewalt. Ich war kurz davor zu schreien oder auf irgendetwas mit Fäusten loszugehen. Und obwohl ich mich beherrschte und meine Wut nicht auslebte, fühlte ich mich seltsam befreit, als ich ausstieg.
Oh, wie ich ihn hasste und wie ich das Leben in dieser engen Wohnung mit dieser ewigen Angst hasste! Wie satt ich es hatte, mich selbst zu vertrösten, Papas Verhalten zu erklären, bis schließlich er das arme Opfer war, oder die Hoffnung aufrecht zu erhalten, er würde wieder der Alte werden!
Ich werde jetzt mein Glück in Italien suchen und mich nicht aufhalten lassen - selbst von Abraxas nicht, denn es wäre nur ein Abschied für kurze Zeit; ich würde ihn auf jeden Fall zu mir holen.
Meine Haut prickelte, ich war nun wild entschlossen, diesem unwürdigen Schauspiel ein Ende zu machen und für mich und mein Bedürfnis nach Sicherheit und Frieden einzustehen. Endlich konnte ich wieder richtig atmen. Vielleicht hatte meine Mutter diesen Schritt deshalb getan und Papa endlich angezeigt? Meinetwegen? Damit ich sie nicht mehr schützen musste und endlich frei war?
Verschnaufpause
Ich stand auf dem Balkon und rief nach Abraxas. Er kam nicht. Ich hatte mich umgezogen, mein Giancarlo-Sommer-Blumenkleid rollte ich sorgfältig zusammen und steckte es in den Rucksack, der schon lange griffbereit auf meinen Aufbruch wartete. Nähzeug und Knöpfe steckten bereits in der Deckeltasche.
Ich würde im Friedhof nach meinem Raben suchen. Kaum im Treppenhaus, fiel mit etwas ein. Ich setzte den Rucksack ab, schloss noch einmal die Wohnung auf und nahm mir aus dem Glas über der Spüle hundertzwanzig Euro. Dabei hatte ich ein Gefühl der Genugtuung. Dieses Geld, zusammen mit dem, was auf meinem Konto lag, würde reichen, bis ich bei Giancarlo und in Sicherheit war.
Dann klingelte ich bei Stefan und Marc. Diesmal öffnete mir Marc. Er begrüßte mich freudig, denn er dachte, ich käme zum Tee. Da bemerkte er meinen Rucksack. "Was ist los, mein Engel? Und wie siehst du aus?! Komm rein!"
Ich trat in den Flur. Er nahm mir den Rucksack ab und drängte mich, auf der Biedermeier-Couch Platz zu nehmen, während Stefan mit dem Wasserkocher hantierte.
"Ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe. Es ist besser, ich verschwinde", sagte ich, obwohl ich gern etwas Kraft geschöpft hätte.
"Verschwinden? Warum? Wohin?", fragte Marc.
"Ich kann nicht mehr in die Arbeit, die haben mich gefeuert, weil mein Vater dort randaliert hat und wenn ihn die Polizei noch nicht gefasst hat, dann ist er auf dem Weg hierher. Er hat Mama so geschlagen…!" Ich schluchzte, bemerkte aber, wie Marc und Stefan entsetzte Blicke austauschten.