Nichts bleibt je vergessen - Claudia Vilshöfer - E-Book

Nichts bleibt je vergessen E-Book

Claudia Vilshöfer

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Beschreibung

Eine Frau auf der Spur eines mysteriösen Verbrechens — und niemand, der ihr glaubt …

Glühende Hitze, eine gottverlassene italienische Einöde und kein Tropfen Benzin im Tank — so hat sich Sarah ihre Flitterwochen nicht vorgestellt. »Ich bin gleich wieder da« ist das Letzte, was sie von ihrem Mann Mark hört, als er sich auf den Weg zur nächsten Tankstelle macht. Danach verschwindet er spurlos. Von der Polizei erfährt Sarah, dass er kurz zuvor sein gesamtes Konto leergeräumt hat. Alles sieht nach einer geplanten Flucht aus, doch Sarah kann nicht glauben, dass sie sich so in Mark getäuscht hat. Sie macht sich auf die Suche nach ihm — und kommt einem eiskalten Verbrechen auf die Spur …

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Seitenzahl: 314

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DREI FRAGEN AN DIE AUTORIN CLAUDIA VILSHÖFER

Für Sarah, die Protagonistin Ihres zweiten Psychothrillers, beginnt auf der Hochzeitsreise ein Albtraum. Wie sind Sie auf die Idee zu »Nichts bleibt je vergessen« gekommen?

Die Idee kam mir während einer Fahrt durch einen recht einsamen Teil desPiemonts, aus dem mein Mann stammt. Die etwas beklemmende Atmosphäre in den wenig besiedelten Weinbaugebieten barg für mich etwas Unheimliches, fast schon Furchteinflößendes. Zeitgleich irritierte mich ein Zeitungsbericht, in dem stand, dass in Deutschland sage und schreibe 100 000 Menschen jährlich vermisst gemeldet werden, von denen einige spurlos verschwunden bleiben. Beides wollte ich zu einer spannenden Geschichte verarbeiten.

Sarah weigert sich zu akzeptieren, dass ihr Mann sie hintergangen hat, und macht sich auf die Suche nach ihm. Wieso glaubt sie an Mark, obwohl alles gegen ihn spricht?

Sarah hat in Mark den Mann fürs Leben gefunden, dem sie vor seinem mysteriösen Verschwinden ihr ganzes Vertrauen geschenkt hatte und dem sie sich nach wie vor sehr nah fühlt. Ein Gemisch aus Verzweiflung und weiblicher Intuition drängt sie schließlich zu der kräftezehrenden Suche, die sie zurück ins Piemontgebirge führt. Und manchmal versetzt die Liebe eben auch Berge …

»Nichts bleibt je vergessen« spielt zu einem großen Teil in Italien, einem Land, das man spontan mit Sonne, Urlaub und Dolce Vita in Verbindung bringt. Was macht es für Sie als Schauplatz des Verbrechens so reizvoll?

Gerade die Kombination aus quirligem Leben und einer leicht verschrobenen Beschaulichkeit macht Italien so speziell, ebenso die Tatsache, dass man immer wieder auf dunkle, kaum besuchte Ecken stößt, die so gar nicht in unser Italienbild passen wollen. Besonders im Herbst sind die abgeschiedenen Weinbaugebiete im Piemont fast schon schaurig schön und bieten den idealen Nährboden für Kriminalgeschichten.

Über die Autorin

Claudia Vilshöfer, 1968 in Brasilien geboren, begeisterte sich schon während der Schulzeit fürs Schreiben. Doch erst Jahre später begann sie, inspiriert durch ihre Tätigkeit in der Touristikbranche und diverse Auslandsreisen, mit der Arbeit an ihrem ersten Psychothriller »Schrei in der Dunkelheit«. Heute lebt Claudia Vilshöfer mit ihrer Familie in der Nähe von Köln. »Nichts bleibt je vergessen« ist ihr zweiter Roman.

CLAUDIA VILSHÖFER

Nichts bleibt je vergessen

Psychothriller

Originalausgabe 03/2012

Copyright ©2012 by Diana Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion | Kathrin Stachora

Umschlaggestaltung |© t.mutzenbach design, München, unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock

Satz | Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-06077-0

www.diana-verlag.de

TEIL1

KAPITEL1

Die Gegend war abgelegen und behagte ihr nicht, während die sonderbare Atmosphäre sie mit einer dunklen Vorahnung erfüllte. Es war, als spürte sie die heraufziehende Katastrophe, doch zunächst einmal fühlte Sarah Holling sich nur unwohl. In der Hitze klebten ihre schweißnassen Beine aneinander, und sie war des langen Sitzens im Auto überdrüssig, insbesondere der Serpentinen, die sie schon seit Stunden durch die piemontesischen Weinberge führten.

Es war halb zwei Uhr mittags an diesem brütend heißen Augusttag, als sie mit ihrem altersschwachen Ford das Bormida-Tal erreichten. Sie waren von der Bundesstraße Richtung Acqui Terme abgebogen und befanden sich östlich von Alba, kilometerweit von der nächsten Ortschaft entfernt.

Sarah war nicht wohl bei dem Gedanken, dass weit und breit keine Menschenseele zu wohnen schien und mit jedem Meter, den sie zurücklegten, weniger Verkehr herrschte. Bis jetzt war ihnen auf der schmalen abschüssigen Straße, der sie folgten, kein einziger Wagen entgegengekommen.

Sarah hatte eigentlich den Vorschlag gemacht, die Autobahn nach Genua zu nehmen und am Meer vorbei geradewegs in die Toskana zu fahren. Sie hätten ligurische Badeorte passiert und einen Übernachtungsstopp in Portofino eingelegt. Sarah sah das glitzernde Meer förmlich vor sich, die Yachten und das quirlige Dolce Vita, das an der Hafenpromenade und in den Strandlidos herrschte. Die Hitze würde von einer salzigen Meeresbrise begleitet, von würzigem Knoblauchduft und dem Rauschen der Wellen. Sie wollte so schnell wie möglich dorthin und dann weiter nach Viareggio, wo sie ein Zimmer in einer gemütlichen Pension mit Meerblick gebucht hatten. Zehn Tage Halbpension am Mittelmeer, zehn Tage und Nächte mit dem Mann, den sie liebte und vor ein paar Tagen geheiratet hatte. Sie hatte es sich so romantisch vorgestellt – und jetzt hatte Mark nichts Besseres zu tun, als sie durch die piemontesische Pampa zu kutschieren, immer auf der Suche nach einem noch besseren Fotomotiv. Dabei hatte er es keineswegs eilig und schwelgte im italienischen Panorama: sanfte Hügel fast wie in der Toskana und saftgrüne Weinberge, so weit das Auge reichte. Am Horizont sah man die schneebedeckten Gipfel des Appenin. Es gab Kurven und Senken, dazwischen vereinzelte Schafherden, von denen später einmal der hervorragende Tomakäse gewonnen werden würde. Außerdem wurden hier weltberühmte Weine hergestellt: Barolo, Barbera, Barbaresco … Namen, die wie Musik in Marks Ohren klangen.

Er öffnete das Autofenster, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, und sog die würzige Luft ein. »Ist doch tausendmal schöner als am Meer!«, schwärmte er. »Außerdem platzen die italienischen Strände im August aus allen Nähten. Du wirst schon noch sehen, was für ein schreckliches Gewusel dich da erwartet!«

Sarah stieß einen entnervten Seufzer aus und stellte sich vor, wie sie sich die Klamotten vom Leib reißen und sich in die kühlen Fluten stürzen würde. Sie sah sich in der Sonne liegen, mit einem Buch in der Hand und einem Herz aus Sonnencreme auf dem Rücken.

Stattdessen fuhren sie seit Stunden durch diesen gottverlassenen Landstrich, der ihr immer mehr auf die Nerven ging. Wenn sie gewusst hätte, durch welche Einöde die Strecke führte, hätte sie nie und nimmer in Marks Vorschlag eingewilligt. Und diese entsetzliche Schwüle hielt sie auch nicht mehr lange aus.

Dabei war es am Vorabend noch so harmonisch gewesen, wenngleich Mark ein wenig angespannt gewirkt hatte. Nachdem sie Deutschland und die Schweiz fast ohne Pause durchquert und gegen Marks Willen eine ausgiebige Wanderung am Comer See unternommen hatten, waren sie am Abend Hand in Hand durch die Gässchen eines kleinen urigen Dorfes spaziert, hatten nach dem Essen einen Ramazotti auf der Piazza getrunken und dem geschäftigen Treiben zugesehen. Grillen hatten gezirpt, und Vespas waren durch die engen Gassen geknattert, über denen Wäsche auf Leinen flatterte. Es war warm gewesen und Sarah ganz berauscht von den südländischen Gerüchen und der Vorfreude auf die gemeinsame Nacht mit Mark.

Am Morgen waren sie gleich nach dem Frühstück aufgebrochen, um sich bei einem Zwischenstopp die Altstadt von Asti anzusehen. Mittags hatten sie in einer rustikalen Osteria gegessen: Artischocken in Tomatensud mit Bruschetta, einfach göttlich! Asti war der letzte zivilisierte Ort gewesen, danach waren die Ortschaften immer kleiner, die Straßen immer steiler und schmaler geworden.

Mark, der seinen Arm lässig auf das geöffnete Fenster lehnte, war schweigsam und nahm die Kurven für Sarahs Geschmack viel zu schnell. Ihr war schwindlig, aber sie sagte nichts, weil sie nach der Meinungsverschiedenheit um die richtige Route nicht noch einen Streit vom Zaun brechen wollte. Von Zeit zu Zeit fuhr er an den Straßenrand und stieg aus, um seine Aufnahmen zu machen: von einem knorrigen Baum oder einer mit Blumen geschmückten Madonna am Wegesrand. Für Mark, der irgendwann sein eigenes Fotoatelier eröffnen wollte, stellte praktisch alles ein potenzielles Kunstobjekt dar, das sich mit ein bisschen Glück zu Geld machen lassen würde.

Ein weiterer Grund, weshalb er den serpentinenreichen Weg bevorzugt hatte, lag in seiner Sparsamkeit. Die Autobahngebühren in Italien waren immens, die Fahrt auf den Landstraßen hingegen gratis, ganz abgesehen von den Wagenkolonnen, die sich um diese Jahreszeit als glühende Blechlawinen gen Süden quälten.

Seine Gemächlichkeit brachte Sarah auf die Palme. »So kommen wir nie an!«, schimpfte sie.

Mark zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Lassen wir uns doch ein bisschen treiben! Und wenn es uns irgendwo gefällt, schlagen wir dort einfach unsere Zelte auf.«

Du spinnst wohl, dachte sie, kam aber nicht mehr dazu, ihre Gedanken auszusprechen, denn Mark lenkte den Ford an den Straßenrand und ließ ihn ausrollen.

»Was ist?«, fragte Sarah, als er nicht ausstieg.

Mark blickte auf das Armaturenbrett. »Wir hätten tanken müssen«, antwortete er matt.

Sarah brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen. »Soll das heißen, wir haben keinen Sprit mehr?«

»Keinen Tropfen.«

»Das musst du doch gemerkt haben!«

»Habe ich aber nicht. Fängst du schon wieder an?«

Angespannt beobachtete sie, wie Mark am Autoschlüssel herumfingerte. Der Wagen heulte kurz auf, aber der Motor wollte partout nicht anspringen. »Abgesoffen«, bemerkte er überflüssigerweise.

»Und jetzt?«

»… haben wir den Salat.«

Er stieg aus und lief hilflos um den Wagen, während Sarah dachte, dass sie es ja irgendwie hatte kommen sehen. Ihre Diskussion über die Route am Frühstückstisch hatte bereits den Tag überschattet, und die Panne hier im italienischen Nirgendwo setzte dem Ganzen die Krone auf. Sie hätte heulen können, riss sich jedoch zusammen und gesellte sich zu Mark, der sich mit einer fahrigen Bewegung den Schweiß von der Stirn wischte, um dann schimpfend den Kofferraumdeckel hochzuklappen, wo ihm Unmengen von Reiseutensilien entgegenkamen. Er wühlte sich durch Luftmatratzen und Koffer und fand schließlich den Reservekanister. Er hielt ihn hoch, blinzelte ins grelle Sonnenlicht und schüttelte ihn. »Wenn hier auch nur ein einziger verdammter Liter drin wäre, könnten wir damit zur nächsten Tankstelle fahren! Aber nichts dergleichen!«

»Das habe ich mir fast schon gedacht.«

Ihr Seitenhieb verhallte unkommentiert in der flirrenden Luft. Da standen sie nun, Seite an Seite auf dem glühenden Asphalt. Mark fischte in der Hosentasche nach seinem Handy und betrachtete es wie einen gehobenen Schatz. Er drückte einen Knopf, die Betreibermelodie ertönte, und er tippte seinen Code ein. Das Telefon suchte verzweifelt nach einem Netz, aber in dieser abgelegenen Gegend gab es offenbar keinen Empfang, und wenn es ihn gegeben hätte, wen zum Teufel hätten sie dann anrufen sollen? Den Tankwart? Die Carabinieri? »Warum musstest du auch diese verfluchte Strecke fahren? Hier sieht’s aus, als ob hier der letzte Hund begraben liegt!«, platzte es aus Sarah heraus.

»Ich fand es eben schön.«

»Und was machen wir jetzt?«

Mark antwortete nicht, sondern machte sich unnötigerweise an einem der Autoreifen zu schaffen, während sein Handy auf dem Wagendach in der prallen Sonne lag. Als er sich erhob, war sein Gesicht krebsrot. »Die sind okay«, sagte er vage. »Wir haben wirklich nur Pech mit dem Sprit.«

Pech nannte er das. Er hatte es vermasselt, schlicht und ergreifend. Sarah atmete tief durch, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Dann müssen wir eben trampen«, schlug er vor.

»Hier kommt bloß keiner vorbei, der uns mitnehmen würde«, erwiderte sie böse. »Und wenn doch, wohin würde er fahren?«

»Zum nächsten Dorf. Da füllen wir den Kanister auf und lassen uns zurückbringen. Die Italiener sind hilfsbereit und einem kleinen Trinkgeld nie abgeneigt.«

»Dafür musst du aber erst mal einen Italiener finden!«, gab sie schnippisch zurück.

Mark kramte im Inneren des Wagens nach einer Landkarte und breitete sie auf dem Autodach aus. Er strich sich eine Locke aus dem verschwitzten Gesicht und fuhr mit dem Finger die Strecke nach, die sie seit dem Morgen zurückgelegt hatten, bis zu dem Punkt, an dem sie jetzt standen. Sie befanden sich im südlichen Piemont im Herzen des Val Bormida. Der nächste Ort war Roccaverano, circa sieben Kilometer von hier. »So weit ist es gar nicht, sieh mal.« Er deutete mit dem Finger auf die eingezeichnete Landstraße, die sich quer über das Papier schlängelte. »Wir sind ungefähr auf halber Strecke zwischen Monastero Bormida und Roccaverano. Zwölf Kilometer, vielleicht dreizehn. Bis Roccaverano müssten es sechs bis sieben sein. Das schaffen wir locker.«

»Aber ich kann nicht laufen!«, jammerte Sarah. »Meine Füße machen da nicht mit.«

»Lass mal sehen«, verlangte er und bückte sich, um die Blessuren, die sie sich bei ihrer gestrigen Wanderung am Comer See zugezogen hatte, in Augenschein zu nehmen. Sie waren am Vortag in brütender Hitze zu den Giardini Pubblici hinaufgestiegen, und jetzt waren Sarahs Fersen dermaßen wund, dass sie einen Marsch über den glühenden Asphalt beim besten Willen nicht durchhalten würde. Zärtlich strich Mark über ihre Waden und sah zu ihr auf: »Das sieht wirklich nicht gut aus. Da muss so schnell wie möglich eine Salbe drauf. Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Du hast gar nichts gesagt.« Er blickte auf die Straße vor ihnen, die hinter der nächsten Biegung im Nichts verschwand. »Ich mache das«, erklärte er und stand auf.

»Was machst du?«

»Ich laufe ins Dorf und hole Benzin und eine Salbe mit frischen Pflastern gleich dazu.«

»Aber du kannst mich doch hier nicht allein lassen!«, protestierte Sarah erschrocken.

»Was willst du denn sonst machen? Davon abgesehen sollte jemand beim Wagen bleiben und unser Gepäck bewachen.«

»Was dir also wichtiger wäre als deine Frau.«

»Quatsch! Was soll denn das schon wieder?«

»Ist schon gut, ich bleibe hier.«

Sie beobachtete, wie Mark sein heiß gewordenes Handy vom Autodach nahm und einsteckte. Die Landkarte faltete er zusammen und legte sie auf den Fahrersitz. Er hängte sich seine Kamera um und versuchte ein Lächeln, das leicht gequält aussah. »Für den Rückweg nehme ich ein Taxi«, versprach er. »Das heißt, du musst ungefähr sechzig Minuten totschlagen. Schaffst du das?« Ein leiser Sarkasmus schwang in seiner Stimme.

Sie nickte. Sie würde sich zusammenreißen und eine gute Stunde hier ausharren. Dann würde Mark wiederkommen, sie würden weiterfahren, sich ein Hotel für die Nacht suchen und das Ganze bei einem Glas Rotwein vergessen. Sie riet ihm noch, eine Flasche Wasser mitzunehmen, doch Mark, ganz der Optimist, winkte ab und verwies auf die kurze Zeit, die er unterwegs sein würde. Er strich ihr flüchtig über die Wange und drückte ihr einen salzig-feuchten Kuss auf den Mund. Dann marschierte er mit langen energischen Schritten los, mit dem Kanister in der Hand, und rief ihr über die Schulter zu: »Ich bin gleich wieder da!«

KAPITEL2

Sarah sah Mark nach, bis er hinter der Kurve verschwunden war. Um sie herum wucherten Dornengebüsch und ausgedörrtes Gras, aus dem das Zirpen der Zikaden drang. Gleich dahinter begann ein dichter Hain aus Buschwerk und Wildwuchs, während man in einiger Entfernung ein paar Schafherden ausmachen konnte, die direkt auf den Hügeln zu kleben schienen.

Um sich vor der Sonne zu schützen, stellte Sarah sich dicht an den Rand des Hains. Irgendwie war ihr aber nicht wohl dabei, weshalb sie sich gleich darauf wieder in dem saunaartig aufgeheizten Wagen niederließ. Wenn Mark nicht bald zurückkam, würde sie glatt einen Hitzschlag riskieren. Außerdem war sie durstig. Also stieg sie wieder aus und öffnete den Kofferraum, in dem sich neben ihrem Gepäck auch der Proviant befand: ein Sixpack Wasser in Plastikflaschen, zwei Tüten Kekse und ein geschmolzener Käse, der inzwischen zum Himmel stank.

Während sie trank, überlegte sie, wie absurd die Situation war und wie wenig sie ihrer Vorstellung von einer gelungenen Hochzeitsreise entsprach. Es mutete schon paradox an, dass sie ein paar Tage nach der Hochzeit ängstlich darauf wartete, dass ihr Mann zu ihr zurückkehrte.

Dann und wann starrte sie ängstlich ins Gebüsch, weil sie es im Unterholz rascheln hörte, und musste dabei unwillkürlich an das Monster von Florenz denken, das Italien über Jahrzehnte hinweg in Atem gehalten hatte. Ausländische Liebespärchen waren ermordet, Frauen verstümmelt worden. Aber das war nicht hier passiert, sondern weiter südlich in der Toskana, und außerdem lag das schon eine geraume Zeit zurück. Trotzdem war ihr mulmig zumute.

Bald verspürte sie einen Druck auf der Blase, der sich nicht lange ignorieren ließ. Sie lief auf die Straßenkurve zu und wieder zurück, bis sie eine einigermaßen geeignete Stelle fand, brachte es aber nicht fertig, sich an den Straßenrand zu hocken. Natürlich war niemand hier, der sie sehen würde, aber Sarah fühlte sich dennoch beobachtet.

Vorsichtig kämpfte sie sich durch das Gestrüpp, ein denkbar ungünstiges Unterfangen, wenn man wie sie nur mit knappen Shorts bekleidet war. In Sekundenschnelle waren ihre Beine von Dornen zerkratzt, und ein riesiger Mückenschwarm surrte um sie herum. Angewidert zog sie sich die Hose herunter und kauerte sich ins Unterholz. Während sie pinkelte, vernahm sie wieder dieses seltsame Rascheln. Sie verspürte ein Kribbeln auf der Kopfhaut und wollte so schnell wie möglich zur Straße zurück. Rasch zog sie sich an und versuchte, sich einen Weg aus dem Dickicht zu bahnen, als ihr ein eigentümlicher Geruch in die Nase stieg. Sie schob ein paar Zweige auseinander, um nach der Ursache zu suchen. Ihr Schrei durchriss die Stille.

Was vor ihr auf dem ausgetrockneten Untergrund lag, musste einmal ein Wildschwein gewesen sein. Übrig geblieben war nur ein unförmiger Klumpen Fleisch, auf dem sich ein Heer von Maden und Fliegen breitgemacht hatte. Sarah blieb fast das Herz stehen, als eine fette Schmeißfliege auf sie zuflog. Sie ergriff die Flucht und rannte aus dem Gebüsch, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Eineinhalb Stunden später saß Sarah noch immer in ihrem Wagen. Warum zum Henker dauerte das so lange? Die Fliegen schwirrten um sie herum, und es fiel ihr zusehends schwerer, gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen. Sie rutschte auf den Beifahrersitz und verriegelte die Türen, ganz egal, wie heiß es im Wageninneren war. Unbeweglich starrte sie auf die Kurve, hinter der Mark verschwunden war. Sie versuchte, sich zu beruhigen, stellte sich vor, wie er im nächsten Moment mit dem vollen Kanister die Straße heraufmarschiert kam, ein Lächeln auf den Lippen.

Es wurde drei Uhr, es wurde vier.

Aber Mark erschien nicht, und ihre innere Stimme sagte Sarah, dass etwas nicht stimmte. Sie begann, wild zu spekulieren, was ihm alles zugestoßen sein könnte. Je mehr Zeit verstrich, desto schriller wurde die Stimme in ihrem Kopf.

Mit Schrecken stellte sie fest, dass die Sonne langsam hinter den Baumwipfeln verschwand und sich nach und nach Schatten auf den Straßenrand senkten. Wenige Stunden noch, dann würde es dunkel sein.

Es war fast halb sechs. Sie musste eine Entscheidung treffen: entweder hier warten und das Risiko eingehen, dass die Dunkelheit über sie hereinbrach, oder Mark entgegengehen, was ihr die bessere Alternative zu sein schien. Früher oder später musste sie ihm ja schließlich begegnen.

KAPITEL3

Die Straße schlängelte sich schier endlos durch das Tal, vorbei an einem in Wildwuchs gebetteten Bach, den Sarah friedlich plätschern hörte. Es hätte beinahe idyllisch sein können, wäre sie nicht in dieser schrecklichen Lage gewesen. Hinter jeder Biegung vermutete sie Mark, malte sich aus, wie sie ihm entgegenlaufen und in seine Arme sinken würde. Sie rief seinen Namen und schrie so laut sie konnte, bis ihr die Stimme wegblieb. Wenn er in der Nähe war, sich verletzt hatte und irgendwo auf Hilfe wartete, musste er ihr Rufen hören. Aber er antwortete nicht.

Nach einer besonders beschwerlichen Steigung lag endlich ein langer ebener Straßenabschnitt vor ihr. Ihr Gesicht glühte vor Anstrengung, inzwischen war sie klatschnass geschwitzt und hatte ihre Schuhe ausgezogen, weil der Schmerz in ihren Fersen unerträglich geworden war. Dafür trat sie sich jetzt spitze Steinchen in die ebenfalls lädierten Ballen, die ganz nebenbei auch noch von dem heißen Asphalt geröstet wurden. Im Grunde stand schon jetzt fest, dass sie die nächsten vierzehn Tage keinen einzigen Schritt mehr tun würde. Mark konnte dann ja sehen, wie er sie morgens zum Strand und abends wieder zurücktransportieren würde. Jedenfalls würde sie sich keinen Millimeter mehr bewegen, sobald sie in Viareggio war – sofern sie vorher nicht verdurstete …

Das Wasser, das sie mitgenommen hatte, hatte nicht lange gereicht, ihre Kehle war wie ausgetrocknet. Am liebsten wäre sie zum Bach hinuntergelaufen, um eine kurze Rast einzulegen, aber die Angst, Mark zu verpassen, war ebenso groß wie ihr aufwallender Zorn. Sie würde ihn zur Rede stellen, wissen wollen, warum er sie verdammt noch mal so leichtfertig zurückgelassen hatte! Spätestens am Abend würde sie ihm dafür den Hals umdrehen. Diese Aktion würde er garantiert noch lange bereuen. Sarahs Wut auf Mark steigerte sich mit jedem Meter, wobei sie sich im Geiste bereits die Worte zurechtlegte, die sie ihm später an den Kopf werfen wollte.

Was für ein toller Start in die Flitterwochen! Und was für eine unvergessliche Story, die sie nach ihrer Rückkehr daheim erzählen konnten. Sicherlich wäre es nervenschonender, die Sache mit Humor zu nehmen und sich schon einmal auszumalen, wie sie Mark vor ihren gemeinsamen Freunden bloßstellen würde, vor Tessa und Robert und der versammelten Mannschaft ihrer Bekannten – als kleine, süße Rache. Natürlich würde Mark das alles furchtbar peinlich sein, aber andererseits besaß er ein großartiges Talent, die Dinge herunterzuspielen und kleine Seitenhiebe zu seinem Vorteil auszulegen. Sicher würde er seinen Ausflug als Abenteuer darlegen, als ausgezeichnete Möglichkeit, die Hilfsbereitschaft der Italiener zu erleben. Womöglich war er unterwegs noch auf ein paar Espressi eingekehrt und mit den Einheimischen ins Gespräch gekommen. Seine Italienischkenntnisse waren zwar gleich null, aber das machte nichts, denn Mark verstand es, sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Und sicherlich hatte er inzwischen die halbe Chipkarte seiner Digitalkamera mit den Bildern ihrer Hochzeitsreise gefüllt. Nur, dass Sarah auf keinem davon zu sehen war. Sie hätte platzen mögen, und ihre Wut hielt die Angst in Schach.

Als sie schließlich die ersten Häuser einer kleinen Siedlung erblickte, wäre sie vor Erleichterung fast in Tränen ausgebrochen. Doch dann wurde ihr mit einem Schlag bewusst, dass sie vom Wagen bis hierher nur knapp fünfzig Minuten gebraucht hatte. Und Mark war bereits seit mehr als vier Stunden unterwegs.

KAPITEL4

Roccaverano lagan einen Hang gepresst, ein Fünfhundert-Seelen-Nest, das man nur über einen steilen Hang erreichte, den Sarah sich nun schnaufend hinaufkämpfte. Die kurvige Straße führte vorbei an alten, wenig einladend aussehenden Steinhäusern, an Post, Bank und Apotheke, am Municipio und einem düsteren, verlassen wirkenden Alimentari-Laden, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift »Chiuso« hing. Alles schien mausetot, und das an einem Montag.

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