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Silke arbeitet als Schreibkraft in einem Großkonzern. Als sie befördert wird, freut sie sich auf die neue Wohnung, die sie sich bald leisten kann. Dann kann sie endlich mit ihrem Freund Armin zusammenziehen und sie müssen sich nicht mehr bei Silkes Großmutter treffen. Wenn sich doch nur Armin genauso für sie freuen könnte. Seit er aus Polen nach Deutschland gekommen ist, ist es für ihn bergab gegangen, bis er schließlich keine Arbeit mehr hatte. Armin entschließt sich, nach Polen zurückzukehren...AUTORENPORTRÄTAngelika Kutsch wurde am 28. September 1941 in Bremerhaven geboren. Nachdem sie zunächst einige Jahre als Büroangestellte tätig war, wurde sie Lektorin in einem Kinderbuchverlag in Hamburg. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin von Kinder- und Jugendbüchern. Inspiration für ihre ersten beiden Bücher "Der Sommer, der anders war" und "Abstecher nach Jämtland" fand sie in ihren zahlreichen Aufenthalten in Schweden, die auch zu ihrer Karriere als Übersetzerin schwedischer Literatur beigetragen haben. Ihr Jugendbuch "Man kriegt nichts geschenkt" wurde 1975 mit dem Sonderpreis zum deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet und 2012 erhielt Angelika Kutsch den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.-
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Saga
Wenn Silke sich auf Zehenspitzen stellte und so weit vorbeugte, daß ihre Nase die Fensterscheibe berührte, konnte sie sehen, ob Armin draußen vor dem Tor auf sie wartete.
Die Fensterscheibe hatte schon viele Flecken von ihrer Nase, denn jeden Tag um fünf Minuten vor halb fünf stellte Silke sich auf Zehenspitzen und drückte die Nase gegen die Fensterscheibe. »Kein Wunder, daß ich meine Kakteen nicht mehr zum Blühen bringe«, sagte Frau Kassun, wenn sie schlecht gelaunt war. »Das kommt nur daher, weil Sie dauernd auf der Fensterbank herumturnen!«
Um fünf Minuten vor halb fünf klang das Klappern der Schreibmaschinen im Saal nur noch wie vereinzeltes Tropfen aus einem Baum nach dem Regen, während es tagsüber wie das Geprassel eines endlosen, heftigen Regenschauers war. Kurz vor Feierabend klapperten nur noch die Nachzügler, die mit der letzten Platte nicht fertig geworden waren.
Obwohl Armin jeden Tag da draußen vor dem Tor stand, konnte Silke es nicht lassen, aus dem Fenster zu gucken. Ein bißchen war es der Test, ob sie ihn noch gern hatte. An dem Tag, an dem sie nicht mehr diesen Stich im Bauch fühlte vor lauter Freude, ihn zu sehen – an dem Tag war es aus mit der Liebe. Dachte sie. Ein bißchen war es auch die Angst, er könne eines Tages nicht mehr dastehen, obwohl sie ihn noch gern hatte. Er könnte einfach wegbleiben, weil er mit einer anderen ging oder weil er anfing, in Kneipen oder Spielhöllen herumzuhängen. Wundern würde es sie nicht, aber Angst hatte sie trotzdem. Ja, wenn er endlich wieder Arbeit fände, dann könnte sie es gut ertragen, ihn nicht am Tor zu sehen. Dann würde sie gern allein nach Hause gehen.
Aber Armin hatte keine Arbeit. Heute stand er genauso da wie gestern und vorgestern, wie in der letzten Woche und im letzten Monat. Er hatte den langen Schal bis über den Mund gewickelt und die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. Mit hochgezogenen Schultern stand er zwischen wartenden Ehefrauen und Freundinnen.
Es war kalt. Im Februar erwartete man nichts anderes. Eigentlich gehörte Schnee dazu und klirrender Frost. Aber es war eben nur grau und naßkalt wie immer. In spätestens zehn Minuten mußten sie sich wieder mit den immer gleichen Fragen herumquälen: Was machen wir heute? Wohin gehen wir heute?
In spätestens zehn Minuten konnte sie ihm aber auch um den Hals fallen und erzählen, was heute passiert war. Denn dieser 19. Februar war ein besonderer Tag. Kündigungstermin, der Tag, an dem man »den Stuhl vor die Tür gestellt bekommt«. Oder der Tag, an dem man selbst kündigte, alles hinwarf, dem Chef die Meinung sagte.
Als Silke ins Personalbüro gerufen wurde, dachte sie, nun sei sie an der Reihe. Schon im letzten Quartal hatten einige dran glauben müssen. »Der Wasserkopf muß weg, die Rezession, Sie verstehen.« Auf dem Weg ins Personalbüro hörte sie in Gedanken schon alles, was man ihr gleich sagen würde. Eigentlich brauchte sie gar nicht mehr hineinzugehen. Ob es denen eigentlich leicht fiel, so etwas zu sagen? Was empfanden die eigentlich dabei? Vielleicht schlief der Personalchef schlecht vor dem Kündigungstermin? Vielleicht hatte er jetzt ein bißchen Magenkneifen?
Das mußte sie herauskriegen. Diesen letzten unangenehmen Augenblick wollte sie ihm nicht ersparen, wenn sie schon gehen mußte.
Und dann saß er da hinter seinem Schreibtisch mit dem vollen Terminkalender und dem Apparat mit den vielen Knöpfen, lächelte sie an, als kenne er sie wieder, obwohl sie ihm nach der Einstellung nie mehr begegnet war, und setzte zu einer hübschen Rede an. Weil sie aber etwas ganz anderes erwartet hatte, konnte sie gar nicht gleich begreifen, worum es eigentlich ging, sagte nur immer »ja« und »danke«, als hätte sie etwas geschenkt gekriegt. Dabei stand es ihr doch zu, wenn sie seinen Worten glauben durfte, das Aufrücken und der Mehrverdienst. Weil sie so tüchtig war, so schnell und so zuverlässig, immer da, wenn man sie brauchte – jemand, der zu schade war, um im Schreibsaal nur Briefe nach Platten abzutippen.
Gleich würde sie es Armin erzählen. Sie hatte ja immer noch nicht begriffen, was es eigentlich bedeutete. Vielleicht würden sie sich bald ein eigenes Zimmer leisten können von dem neuen Gehalt? Vielleicht würden Armin und sie endlich zusammenziehen können?
Unter ihrem Fenster hörte sie schon vereinzelte Schritte. Gleich, wenn die Sirene heulte, würde das Geräusch zu einem einzigen Schlurfen und Schurren anwachsen. Spätestens in dem Augenblick war der Saal normalerweise wie leergefegt. Aber heute scharten sich alle um die kleine Blasse in der Ecke. Ihr war gekündigt worden. Ganz verheult war sie vom Gang aus dem Personalbüro wiedergekommen. Sie hatte zwar noch eine Schonzeit von sechs Wochen, räumte aber ihre Schubladen aus, als wolle sie nie wiederkommen. Süßstoffbehälter, Teebeutel und Salmiakpastillen verschwanden in ihrem Täschchen, und alle schauten ihr teilnahmsvoll zu.
Silke wollte sich an der Gruppe vorbeidrücken. Aber das Röschen, das eigentlich Fräulein Rose hieß, hielt sie auf.
»Was ist los? Sie haben mir gar nicht erzählt, was die von Ihnen wollten!«
Das Röschen war Silkes Nachbarin im Schreibmaschinensaal. Sie verstanden sich gut und fanden mitten in dem Geklapper und der Hektik immer noch ein bißchen Zeit, miteinander zu reden. Das Röschen hatte immer ein Stück Schokolade in der Schublade, wenn Silke Appetit darauf hatte, und für jedes Wehwehchen das richtige Medikament. Dafür hörte Silke sich alles an, was das Röschen, alleinstehend und schon Mitte Dreißig, am Wochenende erlebt hatte, wer sie angerufen und was gesagt hatte.
»Sie sind doch nicht gefeuert?« fragte das Röschen ängstlich. Ihr lag viel an Silkes Nachbarschaft.
»Das nicht.« Silke zögerte.
»Was denn also? Da sollte doch ein Aber kommen?«
»Ich werde zum 1. April versetzt.«
»Wieso versetzt? Der Laden hat doch keine Zweigstellen!«
Silke seufzte. Wie schwer es war, jemandem, den man gern hatte, beizubringen, daß man eins vorrückte, weg von den anderen. In diesem Augenblick kam es ihr wie Verrat vor.
Sie sagte schnell, was zu sagen war. Block V, dritter Stock, Sekretariat vom Vertriebsleiter. Da gab es individuelle Briefe zu tippen, Termine zu überwachen und Telefongespräche zu vermitteln. Da war man nur zu viert.
Das Röschen starrte sie an. »Zu den Schnepfen«, sagte sie gedehnt. »Diese eingebildeten Ziegen, die einen angucken, als ob man eine Klofrau wär, wenn man ihnen mal was bringen muß. Sie freuen sich doch nicht etwa drauf?«
»Ich kann das Geld brauchen«, sagte Silke. »Sie werde ich schon nicht so angucken, wenn Sie mich mal besuchen kommen. Klofrauen kann ich übrigens gut leiden.«
Röschen guckte nach, ob sie auch genügend Papiertaschentücher für den Heimweg hatte, denn sie war verschnupft. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, murmelte sie in ihre Tasche hinein. »Quatsch«, sagte Silke. »Ich brauch Sie doch! Sie sind die einzige, mit der ich hier reden kann!«
»Weil ich neben Ihnen saß.«
»Wir sitzen ja noch eine Weile nebeneinander«, sagte Silke. »Sie werden schon sehen. In Zukunft rufe ich Sie auch sonntags an, und wir erzählen uns alles, was in der Woche passiert ist. Und wenn ich erst mal ein eigenes Zimmer habe, weil ich mir das vielleicht bald leisten kann, kommen Sie mich besuchen, und wir trinken russischen Tee. Den mögen Sie doch so gern.« Sie waren die letzten, die gingen. Der Weg zum Tor war nicht weit, denn ihr Schreibsaal war im ersten Gebäude der riesigen Anlage untergebracht.
»In Zukunft werden Sie ein bißchen länger brauchen, ehe Sie draußen sind», sagte das Röschen. »Ich werde auf Sie warten.« Dann sah sie Armin, der jetzt allein dastand. Die Frauen waren schon alle weg. »Wenn Ihr Freund Sie mal nicht abholt«, fügte sie schnell hinzu.
Böse starrte er ihnen entgegen. »Wenn ich hier noch eine Sekunde länger stehe«, sagte er in seinem harten Deutsch, »dann fallen mir die Ohren ab!«
Röschen verabschiedete sich schnell.
Silke sah ihr nach. »Wir hätten sie einladen sollen«, sagte sie, »gerade heute. Sie ist so allein.«
»Wozu, zum Fernsehen bei deiner Großmutter?« fragte Armin. Seitdem sich die Familie Kapsreiter aufgelöst hatte, weil der Vater seinen Laden zumachen mußte, lebte Silke bei ihrer Großmutter. Und dort lief jeden Abend der Fernsehapparat. Sie mußte lachen und wollte sich bei ihm einhängen. Aber er preßte seinen Arm so eng gegen den Körper, daß sie nicht mit der Hand dazwischen kam.
»Nun sei doch nicht so, nur, weil ich mal eine Viertelstunde später als sonst gekommen bin!« sagte sie.
»Die Zeit eines Arbeitslosen ist wohl gar nichts wert, was? Und dir tut’s ja nicht weh, wenn mir die Füße frieren«, knurrte er in seinen Schal. Er ging so schnell, daß sie kaum mit ihm Schritt halten konnte, denn er hatte sehr lange Beine.
Sie schwieg einstweilen, weil sie hoffte, beim Gehen werde ihm warm und das würde seine Laune schon heben. Schließlich konnte er nicht von ihr erwarten, daß sie ihn unentwegt bedauerte, weil er arbeitslos war. Mitleid änderte nichts und drückte nur die Stimmung.
Als sie an der Straßenecke angekommen waren, wo sie sich für ein Ziel entscheiden mußten, blieben sie erst einmal stehen.
»Ich könnte uns ein Hähnchen vom Supermarkt holen, und dann gehen wir in die Gartenlaube«, schlug Armin vor.
»Meinst du, da ist es warm?«
»Wir machen Kerzen an –«
»Letztes Mal hast du die Bude fast in Brand gesteckt!«
Armin war beleidigt. »Hast du eine bessere Idee?«
Im Kino ist es warm, bei der Großmutter ist es auch warm, dachte Silke. Oder zu Hause bei Armin. Da ist es sogar überheizt. Aber nirgends waren sie allein. Sie hatten nur die Laube im Schrebergarten, den Czaczeckes gepachtet hatten. Armins Mutter konnte ohne Gartenarbeit nicht leben. Sie war nur glücklich, wenn ihr abends der Rücken wehtat und die Erde sich nicht mehr aus den Poren ihrer Hände bürsten ließ, im Frühjahr, wenn die Luft voll blauem Rauch war von verbranntem Reisig und Laub.
Aber da draußen war es heute wirklich zu kalt, und wenn sie zur Großmutter gingen, mußten sie bis zehn Uhr fernsehen. Dann ging die Großmutter schlafen. Und wenn sie schlief, das hatte sie Silke unmißverständlich erklärt, wollte sie »keinen Fremden« in der Wohnung haben.
Silke hatte versucht, sie zu überzeugen, daß Armin kein Fremder mehr war, daß sie schon alt genug sei und daß es überhaupt ganz harmlos war, wenn sie noch ein Weilchen in der Küche auf der Eckbank beisammen saßen. Sie würden auch ganz leise sein! Aber die Großmutter beharrte auf ihrem Standpunkt, der aus dem vorigen Jahrhundert stammte, obwohl sie Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geboren worden war.
Wenn sie zu Czaczeckes gingen, war es kaum anders. In dem einen Zimmer der Fernseher, im anderen jemand, der schlief, weil er Schichtarbeit hatte, im dritten machte die Jüngste Schularbeiten, und in der Küche wirtschaftete Frau Czaczeckes bis in den späten Abend, weil sie berufstätig war und sonst nicht zur Küchenarbeit kam.
Und im Kino waren sie doch erst gestern gewesen!
»Mensch, hast du schlechte Laune heute!« sagte Armin.
Silke wischte sich die Augen. Der Wind, der um die Ecke pfiff, ließ sie tränen. »Ich?« sagte sie. »Ich habe heute sogar ganz besonders gute Laune! Aber wenn du meinst – dann kannst du ja nach Hause gehen, wenn dir was nicht paßt!«
Armin baute sich breitbeinig vor ihr auf, wie um ihr den Weg zu versperren. »Glaubst du, dafür habe ich die halbe Weltreise quer durch die Stadt gemacht?«
Es war ihr Unglück, daß Czaczeckes ausgerechnet am anderen Ende der Stadt eine Wohnung gefunden hatten.
»Und ich hab mich so nach dir gesehnt«, sagte Silke leise. So war das oft. Erst sehnte sie sich nach ihm, und wenn sie sich dann trafen, waren alle Gefühle wie weggeblasen, und sie wußte nicht mehr, worauf sie sich so gefreut hatte.
»Ich auch«, sagte Armin. Er lehnte seine Stirn gegen ihr Haar. Sie lächelten sich an. »Ich hab noch einen Zehner«, sagte er. »Gehen wir ins Café und wärmen uns auf. Dann werden wir weitersehen.«
Sie bestellten Schwarzwälder Kirschtorte. Armin liebte süße Torten, und auch der Kaffee konnte ihm nicht süß genug sein. Silke schaute zu, wie er Zucker in den Kaffee schaufelte. Jetzt konnte sie es nicht länger für sich behalten. »Du«, sagte sie, »bald können wir uns das öfter leisten, so viel Zucker und Torte, wie du willst. Vielleicht brauchen wir aber nie mehr in Cafés oder bei meiner Großmutter herumzusitzen!«
Armin legte den Löffel auf den Teller. »Im Lotto hast du nicht gewonnen, weil du kein Lotto spielst. Hast du vielleicht einen reichen Onkel in Amerika, der gestorben ist?«
Silke lehnte sich behaglich zurück. Jetzt konnte sie es anders erzählen. Die Beklemmung vorm Röschen war weg. Jetzt konnte sie sagen, wie es war. Ein wunderschönes Gefühl war das, eins aufzurücken, in einem gemütlichen Zimmer mit drei anderen zu sitzen, einen richtigen Schreibtisch mit Terminkalender und Telefon zu haben. Das neue Zimmer war mit Teppich ausgelegt, und an den Wänden hingen Bilder in richtigen Rahmen, nicht nur mit Stecknadeln angepinnte Kalenderfotos.
»Komisch«, sagte Armin, als sie fertig war, »wenn es nach den Briefen ginge, die du noch mal schreiben mußtest, weil du Herrn Schmidt mit ›Sehr geehrte Frau Müller‹ angeredet hast oder weil du zu oft verbessert hast, dann hätten sie dich eher entlassen müssen. Du stehst doch sicher an erster Stelle im Verbrauch von Korrekturband. Bist du sicher, daß es kein Versehen war?«
»Du bist gemein!« sagte Silke. »Freust du dich denn gar nicht ein bißchen? Stell dir vor, in einem halben Jahr haben wir vielleicht schon ein Zimmer für uns, du und ich.«
»Natürlich freu ich mich«, sagte Armin, sonderbar freudlos. »Aber ein Grund zum Überschnappen ist es auch nicht. Was kriegst du denn von zweihundert Mark brutto mehr ausbezahlt? Ja, wenn ich einen Job hätte –!«
Silke schwieg und merkte wieder einmal, wie schön das Leben sein könnte, wenn nur Armin nicht arbeitslos wäre. Sie könnte weiter im Schreibsaal sitzen für zweihundert Mark weniger, könnte weiter bei der Großmutter leben – wenn Armin nur Arbeit hätte. Dann wären sie glücklich.
Vor fast zwei Jahren hatten sie ihre Arbeit in der Leuchtenfabrik, wo sie sich kennengelernt hatten, aufgegeben. Silke hatte zwar in einem Büro gesessen, aber sie hatte nur Hilfsarbeiten gemacht, und davon hatte sie genug. Sie war zur Berufsberatung gegangen und hatte Schreibmaschinen- und Stenografiekurse besucht. Ihre Noten waren so gut, daß mehrere Firmen sie anstellen wollten. Die Stelle im Schreibsaal des Großkonzerns war ihr am sichersten erschienen.
Armin wollte erst einmal Deutsch lernen, nachdem er in der Leuchtenfabrik aufgehört hatte. Er war erst vor einiger Zeit mit seinen Eltern aus Polen gekommen. Seitdem er die Kurse besucht hatte, sprach er fließend Deutsch, aber immer noch rollte er das R, sang er die Vokale und betonte die Wörter so, daß es nicht schwer zu raten war, woher er kam.
Als er mit der Schule fertig war, mußte er jeden Gelegenheitsjob annehmen, denn Czaczeckes brauchten Geld. Sie hatten endlich eine Wohnung gefunden, die für die große Familie ausreichte. Lange Zeit hatten sie in einer Barackensiedlung gewohnt. Jetzt konnten sie endlich von vorn anfangen. Da war jeder Pfennig wichtig, damit die Wohnung das Schmuckstück wurde, das sie sich in Polen erträumt hatten.
Im letzten Herbst, als es mit der Familie dann ein bißchen bergauf ging, versuchte Armin, sich auf sein eigentliches Ziel zu konzentrieren. Er suchte eine Stelle, wo er seine in Polen begonnene Lehre als Automechaniker beenden konnte. Aber inzwischen war es zu spät. Mit der Konjunktur war es stetig bergab gegangen, nur Armin hatte es nicht bemerkt, solange er noch einen Job und Geld hatte.
Nun war er schon seit sechs Monaten arbeitslos. Mit dem Arbeitslosengeld war es bald vorbei, und dann würde er vermutlich nicht einmal eine Unterstützung bekommen, weil seine Eltern ein Einkommen hatten.
Armin berührte ihre Hand. »Klar freu ich mich«, wiederholte er. »Ich wär ja blöd! Wer hat schon so ein tüchtiges Mädchen.« Täuschte sie sich, oder klang es ein bißchen bitter?
Sie tranken ihren Kaffee aus und gingen in den Park, um die Enten mit Silkes Mittagsbrot zu füttern, das übriggeblieben war. In einer Stunde wurden die Tore geschlossen. Bis dahin konnten sie sich noch überlegen, ob sie zur Großmutter oder zu Czaczeckes gehen wollten.
»Das Wochenende ist wenigstens gesichert«, sagte Armin, und das schien ihn mehr zu freuen als Silkes Beförderung. »Babysitten bei deiner Schwester! Ich freu mich schon.«
Er zog ihre Hand in seine Manteltasche, und da hielten sich ihre Finger fest und warm umschlungen.
Gern ging Silke nicht in die Eisenbahnstraße, weil sie sich unbehaglich fühlte in der Wohnung, in der sie aufgewachsen war und die heute so anders aussah als früher.
Nur im ehemaligen Kontor, einer schmalen Kammer, erinnerte die alte Tapete mit den Flecken, wo Kalender, Zahlungsaufforderungen und Erinnerungszettel gehangen hatten, an früher. Da war sogar noch der Fleck zu sehen, wo sich die Mutter immer an die Wand gelehnt hatte, wenn sie den täglichen Ärger mit den Kindern beim Vater loswerden wollte, der bis spät abends an seinem Schreibtisch gesessen und an seinen Schulden herumgerechnet hatte, ohne daß sie weniger wurden.
Gisela hatte die Wohnung übernommen, nachdem die Mutter gestorben war und der Vater eine Stelle beim Straßenbau angenommen hatte. Aber vor einiger Zeit hatte er plötzlich vor der Tür gestanden. Gekündigt. Was blieb Gisela anderes übrig, als ihn in seiner eigenen Wohnung wieder aufzunehmen?
An diesem Abend ging er zum Kegeln, und deshalb hatte Silke zugesagt, allerdings nur unter der Bedingung, daß sie Armin mitbringen durfte.
»Was, bist du immer noch mit dem zusammen?« hatte Gisela zerstreut gesagt. »Na ja, was können wir von dir auch anderes erwarten. Du warst schon immer ausdauernd. Armin – was für ein komischer Name! Seine Eltern hatten wohl eine Vorliebe für die alten Germanen?«
»Na und? Du hast eben eine Vorliebe für die Südländer. Silvio –!«
»Weil ich nie nach Italien gekommen bin«, sagte Gisela. »Irgendwie muß ich mir mein Traumland doch ins Haus holen.« Robert, ihr Mann, wäre ja mit ihr nach Italien gefahren, wenn Silvio nicht dazwischengekommen wäre ...
»Armin ist aus Allenstein«, erklärte Silke. »Weißt du, wo Allenstein liegt? Heute heißt das Olsztyn. Als er geboren wurde, war es schon polnisch. Aber seine Eltern waren Deutsche, Ostpreußen, und sie wollten sich wohl auch etwas Deutsches ins Land holen und nannten ihre Kinder Armin und Siegfried und –«
Daran war Gisela nicht interessiert. »Na, dann trab mal an mit deinem alten Germanen!«
Am Samstagabend standen Gisela und Robert schon ausgehbereit an der Tür, als sie kamen.
»Silvio schläft. Im Kühlschrank steht eine Platte mit Schnittchen. Und trinkt, was da ist.«
Dann schlug die Tür hinter ihnen zu, und Silke und Armin waren allein in der dunklen Höhle des Korridors. Der war früher auch düster gewesen, vollgestellt mit Möbeln. Aber jetzt hatten sie ihn braun gestrichen, und das machte ihn fast gemütlich. Auf Zehenspitzen und in Socken betrat Armin den gelben Teppich im Wohnzimmer, schaute eine Weile umher. Im Gegensatz zu früher war es hell. Gelbe Vorhänge, und die Kiefernmöbel, billig erstanden in einem schwedischen Möbelgeschäft, sahen im gelben Licht auch gelb aus. Der Vater behauptete zwar, sie erinnerten ihn an seine Gemüsekisten, aber bei ihm war man es gewohnt, daß er an allem etwas auszusetzen hatte.
Silke beneidete Gisela um diese Geborgenheit. Wie gern würde sie selbst einen gemütlichen Sessel oder eine hübsche Truhe besitzen. Aber selbst wenn sie genügend Geld hätte, wäre bei der Großmutter kein Platz für neue Möbel. Silke haßte die Plüschgarnituren, den riesigen Wohnzimmertisch mit der ewigen durchsichtigen Plastikdecke über dem geblümten Tischtuch, das irgendeine Vorfahrin bestickt hatte. Sie haßte die Nymphen im wulstigen Goldrahmen überm Doppelbett, und am meisten haßte sie die Nächte in Großmutters Schlafzimmer. Da lagen sie in tiefer Finsternis wie in einem Sarg, denn nichts fürchtete die Großmutter mehr als Zugluft.
Armin ging im Zimmer herum, prüfte, wie weich das Sofa war, fuhr mit den Fingern über die Glaskrüge, die im Regal standen. »Deiner Schwester geht es verdammt gut«, sagte er. »Die braucht sich nicht um die Zukunft zu sorgen. Die braucht nicht mal was zu wollen.«
»Du kennst meine Schwester doch gar nicht!« Silke zündete eine Kerze an und schaltete das Licht aus, damit die perfekte Umgebung ein bißchen verschwand und sie sich dafür näherkamen. »Meine Schwester«, sagte sie, »träumt von Italien –« Aber Armin hörte gar nicht hin. »Vor zwei Jahren wußte ich auch noch, was ich wollte: große Wohnung, ganz neu, fließendes Wasser, warm und kalt, Farbfernseher, Brotröster, Grillapparat, Stereoanlage, jeden Tag Fleisch, Vater sollte ein Auto und Mutter eine elektrische Nähmaschine haben –«
»Ein bißchen von alldem habt ihr doch!«
»Ein bißchen, ein bißchen!« sagte Armin. »Das ist es ja eben. Von diesem und jenem nur ein bißchen. In Polen hatte ich wenigstens einen Freund –«
»Du hast doch mich!«
Er hörte auf herumzutigern und setzte sich zu ihr aufs Sofa. Nahm sie in den Arm. »Natürlich habe ich dich. Aber – verstehst du, manchmal möchte ich einen Freund, nicht irgendeinen. Es muß schon einer wie Antek sein. Und ein Motorrad hatte ich auch in Polen.«
»Als ob die ganze Seligkeit von einem Motorrad abhinge!« So gelassen wie Silke tat, war sie nicht. Armins Motorradträume beunruhigten sie. Neuerdings konnte er kaum noch etwas anderes denken. Es kam ihr so vor, als hätte er seine Träume im Osten gegen diesen neuen Traum im Westen eingetauscht: das Motorrad, das drüben geblieben war. Und der Freund.
Unvermittelt fragte Armin: »Was würdest du tun, wenn du zum nächsten Termin die Kündigung kriegst?«
»Du stellst Fragen!« Silke stöhnte. »Ich habe die neue Stelle ja noch nicht einmal ausprobiert.«
»Man kann doch mal fragen«, sagte Armin. »Andere stellen sich ein besseres Leben vor, das sie nie erreichen. Ich denk lieber gleich dran, wie es wirklich sein könnte. Und daß du arbeitslos wirst, ist ja wohl eher möglich, als daß wir reich werden.«
»Wie du meinst«, sagte Silke ergeben. »Vermutlich bliebe uns nichts anderes übrig, als Bauern zu werden, uns von dem zu ernähren, was wir mit unserer Hände Arbeit schaffen.« Sie kicherte über ihre hochtrabenden Worte. »Das wäre vielleicht die Lösung. Du hast Erfahrung, und ich habe als Kind immer Bohnenkeimlinge in einem Blumentopf auf der Fensterbank gezogen. Es machte mir Spaß, etwas wachsen zu sehen. Eigentlich möchte ich nicht nur einen Teil meiner Arbeit sehen, sondern das Ganze von Anfang bis Ende. Und dann möchte ich sagen können: Das habe ich gemacht.«
Armin brach in lautes Lachen aus. »Hast du die Ferkelchen gemacht?« fragte er, nach Luft schnappend. »Hast du das Korn wachsen lassen?« Er drückte sie an sich. »Schön wäre es. Aber nicht hier. Manchmal wünschte ich – du und ich und zu Hause –«
»Zu Hause wo?« fragte Silke schnell.
»Ich weiß ja, daß es verrückt ist.« Armin seufzte. Er goß Wein in die Gläser, die Gisela bereitgestellt hatte. Der Wein schimmerte vor der gelben Kerzenflamme. »Wenn ich Arbeit hätte, könnten wir heiraten. Vielleicht, wenn wir ein Kind hätten und ein Gärtchen ... vielleicht würde ich mich hier mehr zu Hause fühlen und nicht mehr an Antek und an das Motorrad denken.«
Sie stießen mit den Gläsern an. Sie tranken. Silke kuschelte ihren Kopf an seine Schulter und blinzelte in die Flamme. In dieser warmen gelben Dämmerung könnte man für eine Weile schon alle Sorgen vergessen. Sie küßten sich.
Plötzlich wurde es ganz hell im Zimmer. Sie hatten niemanden kommen gehört. In der Tür stand Herr Kapsreiter, leicht schwankend, und starrte sie mit offenem Mund an. Sein Blick war farblos, als hätte der Alkohol seine Augenfarbe verwässert.