12,99 €
"Die Dünung war vollständig eingeschlafen. Die Sonne brannte auf die reglose See. über dem Horizont lag leichter Dunst. Das Schlauchboot trieb nur unmerklich. Der Einarmige beobachtete unablässig die Kimm. Der Andere schlief. Es war nichts in Sicht." So beginnt eines der beeindruckendsten Bücher über den Krieg und dessen letzte Konsequenz: das Sterben in großer Einsamkeit. Ein deutscher U-Boot-Matrose und ein amerikanischer Pilot treiben in einem Schlauchboot im Atlantik; der Amerikaner - schwer verwundet - stirbt am dritten Tag, der Deutsche ist am Verdursten: "Die See zeigt sich unbewegt und ohne Anteilnahme, wer auf ihr herumtreibt." Ohne Sentimentalität oder Pathos beschreibt Jens Rehn Menschen in der extremsten Situation: dem Tod ausgeliefert, ohne jede Hoffnung, nichts in Sicht."Nichts in Sicht", von der Kritik hochgelobt und in viele Sprachen übersetzt, erscheint anlässlich des 100. Geburtstags von Jens Rehn in einer Neuausgabe mit einem Nachwort von Ursula März."
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhalt
[Cover]
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Ursula März: Nachwort
Autorenporträt
Über das Buch
Impressum
[Leseprobe – Das Tierreich]
1
Die Dünung war vollständig eingeschlafen. Die Sonne brannte auf die reglose See. Über dem Horizont lag leichter Dunst. Das Schlauchboot trieb nur unmerklich. Der Einarmige beobachtete unablässig die Kimm. Der Andere schlief.
Es war nichts in Sicht.
Wenn ein Arm nicht mehr vom Körper ernährt werden kann, löst sich die Haut ab. Er fängt an zu suppen und wird sülzig und farbig. Es ist ratsam, bald zu operieren. Da die großen Blutgefäße sich beim Schuß zusammengezogen haben, ist nicht mit Blutungen zu rechnen. Der zerfaserte, zackige Knochenstumpf sticht aus der Wunde heraus: ein glatter Schuß-Bruch. Es ist ziemlich einfach: mit einem Zirkularschnitt werden die restlichen Muskeln durchtrennt, dann ist der Arm schon ab. Der Stumpf wird mit der einen Hälfte des Unterhemdes verbunden. Er eitert natürlich weiter. Die Muskelreste verfärben sich ebenfalls, vorherrschend grau und grün. Die Schmerzen sind zeitweilig stark. Die Lymphdrüsen röten sich und werden groß wie Hühnereier. Rasanter Puls und Schüttelfröste, verkürzter Atem und trockene Zunge. So geht es weiter. Da ist kaum etwas zu machen.
»Gib mir noch einen Whisky, es ist sowieso bald Feierabend«, sagte er. »Und schmeiß endlich den Arm über Bord.«
»Was machen die Schmerzen?«
»Gut.«
»Zigarette?«
Der Andere warf den Arm über Bord und gab dem Einarmigen Feuer. Der Arm versackte ganz langsam und war noch eine Weile in dem klaren Wasser zu sehen. Sie beugten sich weit vor und beobachteten ihn, bis er in der Tiefe verschwunden war.
»Da geht er hin und singt nicht mehr«, sagte der Einarmige und trank den Becher leer. Ein Tropfen blieb in seinen Bartstoppeln hängen und funkelte in der Sonne. Der Zigarettenrauch stand unbewegt um ihre Gesichter. Einige Tangfäden trieben querab. Der Himmel war wolkenlos. Die Kimm zitterte vor Hitze. Die See lag wie ein Brett.
Sie tranken jeder noch einen Schluck Whisky und versuchten dann zu schlafen. Das Schlauchboot schwankte leise, wenn sie sich bewegten, um eine erträgliche Schlafstellung zu finden. Der Einarmige lag auf seiner gesunden Seite. Der Armstumpf stand kerzengerade in den Himmel. Unter den Bartstoppeln bewegten sich seine Träume, und das linke Bein zuckte manchmal.
Ein Schlauchboot ist etwa 2,5 m lang und 1,5 m breit. Der Mittelatlantik ist im Verhältnis hierzu so groß, daß seine genauen Maße keine Rolle spielen.
Wenn ein Schlauchboot allein im Mittelatlantik treibt, ist es gleichgültig, ob es im Frieden oder im Kriege dort driftet. Es ist auch unerheblich, welcher Nationalität zwei Menschen angehören, wenn sie allein im Mittelatlantik treiben und verdursten werden, falls man sie nicht rechtzeitig findet. Die Sonne ist uninteressiert daran, ob der Einarmige ein Amerikaner, der Andere ein Deutscher ist, und ob beide im Jahre 1943 im Mittelatlantik auf einem Schlauchboot hocken. Die Sonne strahlt nur ihre Wärmeenergie ab, steigt auf, kulminiert und versinkt wieder. Die See zeigt sich unbewegt und ohne Anteilnahme, wer auf ihr herumtreibt. Der Mittelatlantik bleibt groß, und das Schlauchboot bleibt klein. Die Grenzen verschieben sich niemals.
Der Arm liegt inzwischen auf dem Meeresgrund in ca. 2300 m Tiefe, falls ihn kein Fisch gefressen hat.
Gegen Abend wachte der Einarmige wieder auf. Der Arm schmerzte dort, wo er nicht mehr war.
Der Himmel war ein weit ausgebreiteter Kardinalsmantel. Auf der See lagen Tuschkastenfarben.
Er suchte nach der Zigarettenschachtel und konnte dann kein Streichholz anreißen: die zweite Hand fehlte. Er behielt die Zigarette zwischen den Lippen. Die Zunge lag ihm holzig und dumm im Mund. Den Anderen weckte er jedoch nicht auf. Er freute sich, daß der Andere überhaupt da war, beugte sich vor und sah ihm in das schlafende Gesicht. Nur die Stirn leuchtete. In den Höhlungen und Falten lagen violette Schatten. Die Lippen sahen borkig aus. Wie Kiefernrinde, dachte er. Oder wie die Schwarte von verbranntem Braten.
Er nahm die Zigarette aus dem Mund und fühlte auf seinen eigenen Lippen nach. Es war dasselbe. Gesprungen und borkig.
Man merkt alles immer erst, wenn man es sieht, dachte er und versuchte nochmals, das Streichholz anzuzünden. Es ging nicht. Er klemmte die Schachtel zwischen die Knie, aber seine Beine zitterten plötzlich so stark, daß die Schachtel herunterfiel. Es ging einfach nicht. Er fühlte das Papier der Zigarette aufreizend glatt zwischen seinen gesprungenen Lippen.
Er suchte den Horizont ab. Es war nichts in Sicht.
So ist das also, überlegte er. Betsy wird sich wundern, daß ich Linkshänder geworden bin. Vermutlich wird sie sich nicht wundern. Dulce et decorum est pro patria mori.
Der Andere war mit einem Ruck aufgewacht und sah ohne Verstand um sich. Sein Gesicht schlief noch so lange, bis er begriffen hatte, wo er eigentlich war.
»Gib mir mal Feuer«, sagte der Einarmige. »Ich bekomme das verdammte Streichholz nicht an.«
»Wieviel Zigaretten haben wir eigentlich noch?«
Sie zählten. Sie hatten noch 64 Zigaretten. Dazu gut eine halbe Flasche Whisky. Dann noch ein paar Riegel Schocacola und etliche Kaugummis. Das war alles. Mehr hatten sie in dem Schlauchboot nicht vorgefunden.
Der Andere gab ihm Feuer und rauchte dann auch selbst. Der Rauch tat gut. Er atmete tief durch und wurde leicht schwindelig.
Der Himmel war langsam grün geworden. Über der Kimm lagen schwache Cumuli.
Sie tranken ihre Whisky-Abendration. Die Flüssigkeit schien gar nicht bis in den Magen zu kommen, so, als würde sie bereits von der vertrockneten Zunge aufgesaugt.
Der Armstumpf stand wieder waagerecht vom Körper ab. Der Andere wollte sagen, daß er doch endlich den Arm anlegen solle, die unnatürliche Stellung irritierte ihn. Lieber nicht, dachte er, die Menschen sind schwierig, wenn sie etwas haben. So sagte er nur:
»Was macht dein Arm?«
»Der buttert. Sie müssen uns bald finden. Wir sind bereits 36 Stunden überfällig. Unsere letzte Position haben sie. Da ist nur so ein blödes Ziehen in der linken Schulter.«
»Laß mal sehn.«
»Und ich sage dir, sie haben uns längst aufgegeben und suchen überhaupt nicht mehr!«
Der Andere untersuchte den Stumpf.
Die Wundränder hatten sich weiter in das gesunde Fleisch vorgefressen. Der Verband war voll Eiter.
Der Andere nahm die zweite Hemdhälfte und verband neu. Dann wusch er den alten Verband aus. Das Seewasser war lauwarm und umgab die Hände wie Gelée. Der Eiter hatte sich in den Stoff eingeätzt und wollte sich in dem Salzwasser nicht lösen. Der Andere wurde blaß und fühlte seinen Magen stoßen. Doch es verging wieder.
Es vergeht alles, sagte er zu sich und fühlte wieder seine Hände in dem weichen, lauen Wasser. Ihm fiel der sonderbare, ein bißchen kitschige Satz ein, den er einmal weiß-nicht-mehr-wo gelesen hatte: … und durch die Hände rinnt das nasse, schwere Menschsein …
Das war damals gewesen, als Maria in seinen Händen weinte. Einen Tag, bevor sie vom Pferd stürzte und sich das Genick brach. Aber da war es natürlich zu spät. Nun waren immer die Tränen in seinen Händen. Nasse Hände fangen leicht zu frieren an, besonders wenn das Naß von Tränen herrührt.
Zuerst war es gar nicht einfach gewesen, weiß Gott. Maria hatte es noch gut gehabt, denn da waren wenigstens noch Hände, in die sie hatte hineinweinen können. Er aber? Später? Noch nicht einmal ein Pferd war da gewesen, das so gnädig war, ihn zur rechten Zeit abzuwerfen. So, daß er sich das Genick brach und es zu Ende war.
Die Schuld hatte natürlich er gehabt. Wie leicht man dazu kommt, Schuld zu haben! Auch wenn Maria Schuld gehabt hatte, die Schuld blieb bei ihm. Das hatte der liebe Gott raffiniert eingerichtet.
Manchmal, wenn er sehr verzweifelt gewesen war, hatte er noch ihr Gesicht in seinen Händen fühlen können, dieses weiche, sanfte, weinende Etwas. Und ihren Mund auf seinen Fingerspitzen, wenn sie schluchzte.
Eigentlich hätte er doch jetzt froh sein können, jetzt da alles zu Ende ging. Nun war das Pferd daran, ihn abzuwerfen. Es hatte ihn wohl bereits abgeworfen. Er war schon nicht mehr auf dem Pferd und hatte sich noch nicht das Genick gebrochen. Der bekannte Schwebezustand.
Es war aber plötzlich gar nicht so einfach und erlösend, wie er sich das immer vorgestellt hatte. ›Erlösend‹, das klang schön. Dann schon lieber weiter mit den frierenden Händen? Im Lexikon unter dem Stichwort ›Feigheit‹ zu finden. So ist das Leben. Arme Maria. ›Arm‹, ja, das war auch so ein brauchbares Wort. Immer sieht man in Spiegel, wo man auch ist.
Und dann dieser kitschige Spruch mit dem nassen Menschsein, naja.
Dabei war er überzeugt, daß Maria sich niemals das Genick hatte brechen wollen. Aber nun war es geschehen, und er saß da mit seinen frierenden Händen.
Die beiden Männer hockten sich auf den Schmalseiten des Schlauchbootes gegenüber. Sie sahen sich als dunkle Schatten. Nur dort, wo ihre Gesichter sein mußten, war es etwas heller. Wenn sie manchmal zum Sternhimmel aufsahen, ließ das nächtliche Licht ihre Augen und Münder deutlicher werden. In der Dunkelheit wurden ihre Umrisse größer und kamen sich näher. Sie saßen unbewegt auf den dicken Gummiwülsten.
Es war angenehm kühl, und sie hatten ihre Jacken wieder angezogen. Der Einarmige hörte irgendwo zu früh auf, der fehlende Arm war deutlich zu sehen. Den leeren Jackenärmel hatte er sorgfältig in die Seitentasche gesteckt. Der Stumpf stand aber immer noch waagerecht vom Körper ab. Als ob er einen Henkel hätte, dachte der Andere.
Der Durst hatte nachgelassen. Der Rauchgeschmack des Whiskys hing bitter im Mund, und der Alkohol summte im Blut.
Sie aßen jeder einen Riegel Schocacola. Das Geräusch der Zähne knackte von innen gegen das Ohr und war laut in dem Schweigen ringsum. Die Glut der Zigaretten warf kleine, zärtliche Lichter von unten gegen ihre Gesichter. Aber sie sagten nichts. Sie versuchten nur, so langsam zu rauchen, als es irgend ging.
Der Horizont war nicht mehr genau auszumachen. Die Nacht hatte die einzige Grenze verwischt und aufgesogen. Die See lag unbeweglich. Es war nichts in Sicht.
»Morgen müssen sie uns finden!« sagte der Einarmige. »Wenn wir die Rationen einhalten, langt es noch für zwei Tage.«
»Zwei Tage. Bis dahin hat mich der Arm aufgefressen.«
»Eins unserer U-Boote muß auch hier irgendwo in der Gegend stehen.«
»Zwei Tage sind zuviel. Ich weiß das. Achtes Semester Medizin.« Der Einarmige grinste. »Ein freundliches Ende. Ich danke!«
»Unsere Boote haben alle einen Arzt an Bord«, versuchte es der Andere.
»Wir hätten nicht angreifen sollen. Dann hättet ihr weiterfahren können.«
»Wenn und aber.«
»Ergebnis gleich 50 Mann zum Teufel. In zwei Tagen sind es 51 mit mir. C’est ça. Na, reden wir nicht davon. Wenn ich tatsächlich wieder nach Hause komme, kriege ich einen feinen Orden, ein sehr nützliches Gerät, besonders hier. Das ist etwas für Betsy. Der gleicht dann vielleicht sogar den Arm aus, vorläufig.«
»Betsy?«
»Mein Mädchen. Texasgirl. Unten in Houston. Blond wie Lana Turner.«
»Und?«
»Was: und?«
»Ich meine: und sonst?«
Der Einarmige warf den Zigarettenstummel außenbords. Er verlöschte mit einem winzigen Knall. Es klang wie ein sehr entfernter Schuß.
»Sonst nichts. Das ist das Verdammte, was ich heute und gestern gemerkt habe. Wegen des Armes, weißt du.«
»Tut mir leid«, sagte der Andere.
Sie schwiegen wieder.
Das Kreuz des Südens war aufgegangen und stand klar und schön über den niedrigen Wolken am Horizont.
Houston liegt im nordamerikanischen Staat Texas am schiffbaren Fluß Buffalo-Bayou, 48 km vor seiner Mündung in die Galveston-Bay. Es existiert ein 8o km langer Schiffskanal nach dem Golf von Mexico.
Houston ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt und Zentrum des Baumwollhandels sowie der Ölindustrie. Die Stadt ist großräumig und modern gebaut, ihr Klima sehr heiß und trocken.
Mister Benton war Besitzer etlicher Auto-Reparaturwerkstätten und wohlhabend. Er war Witwer und trank viel. Hier tranken fast alle Leute. Auch die Frauen. Das kam vom Klima. Die Weekends verbrachte er drüben in Florida, meist mit Mädchen, die nicht älter waren als seine Tochter Betsy. Er schwärmte für das Klavierkonzert von Grieg und las in den Zeitungen die Comics zuerst. In der letzten Zeit litt er an Störungen vom Magen her und schlief nicht besonders. Im großen ganzen war er verträglich und gutmütig.
Betsy hatte William auf dem College kennengelernt. Später hatten sie sich dann verlobt. Wie das so kommt. Es war sehr romantisch gewesen. William wollte jedoch erst sein Medizinstudium hinter sich haben, ehe sie heirateten. Eine altmodische Ansicht. Dabei hatte Betsy doch wirklich Geld genug.
Als sie William zum ersten Mal in der Fliegeruniform sah, war sie sehr stolz. Seit nun der Krieg angefangen hatte, schwärmte sie plötzlich vom Kinderkriegen. Aber da er sehr vorsichtig gewesen war, wurde es nichts damit. Als sie den Telefonanruf bekam, daß er vermißt sei, weinte sie und war unglücklich. Am Abend auf der Party erzählte sie es natürlich allen und weinte natürlich wiederum. Die Leute waren alle sehr rücksichtsvoll und trösteten sie.
Sie trank in ihrem Schmerz ein bißchen viel. Gegen Morgen erst fuhr sie mit Jim nach Hause. Sie fuhr sehr schnell, und Jim schlief auf dem Sitz neben ihr. Seine Zähne leuchteten gelb in dem Frühlicht. Das irritierte sie, und so geriet der Wagen in der Kurve über den Straßenrand hinaus und überschlug sich. Jim war sofort tot. Ihr wurde im Krankenhaus das völlig zerfetzte Bein abgenommen. Als sie aus der Narkose erwachte, sagte sie nichts und unternahm einen kindischen Selbstmordversuch, der natürlich ohne Erfolg blieb. Am Abend saß ihr Vater, der sofort von Florida herübergekommen war, an ihrem Bett.
»Wenn William nun doch zurückkommt«, sagte sie und weinte unaufhörlich. »Take it easy«, sagte Mister Benton. Was sollte er auch sonst sagen.
Am nächsten Morgen hatte sich der Zustand seiner Tochter in allen Beziehungen gebessert, und er konnte das zweite Frühflugzeug nach Miami-Beach nehmen.
In der späten Morgendämmerung stand das Kreuz des Südens klar und schön über der Betonbahn des Rollfeldes.
Die Sterne schwebten in flachem Bogen gegen Morgen. Die beiden Männer schliefen nicht. Die Kühle tat ihnen wohl. Ihre Haut fühlte sich überall feucht an. Hunger hatten sie nicht. Den Kaugummi kauten sie eigentlich nur, um die Zeit hinzubringen. Sie spuckten den Kaugummi aber bald wieder aus, er strengte die Speicheldrüsen zu sehr an. Die Speicheldrüsen schwollen und schmerzten. Also lieber nicht. Den Kaugummi konnten sie aufbewahren, falls es doch länger dauern sollte und sie tatsächlich hungrig würden. Denn von der Schocacola waren nur noch fünf Riegel da.
»Morgen müssen sie uns finden!« sagte der Einarmige. »Wenn ich diesen verfluchten Arm nicht hätte, könnte ich es noch lange aushalten. Aber so? Zähl mal meinen Puls.« Der Andere zählte. Er mußte seine Armbanduhr nahe vor die Augen halten. Es war genau 5 Uhr 17. In den Fingerspitzen fühlte er das Klopfen des fremden Pulses. »Hundert«, sagte er. Er hatte 120 gezählt.
Es war nun 5 Uhr 18. Hundertzwanzig Pulsschläge waren vergangen. Einhundertundzwanzig. Bitte in Buchstaben ausfüllen, stand immer auf Schecks und Rechnungen.
Er hielt den Arm des Einarmigen noch fest und tat, als würde er noch weiterzählen. Die Haut am Handgelenk fühlte sich trocken an. Es konnte natürlich auch seine eigene Haut sein, die trocken war. Aber der Einarmige hatte Fieber. 120 Puls. Also war wohl dessen Haut trocken. Einhundertzwanzig, mehr dürfen es nicht werden, überlegte er. Aber das wird sich wohl kaum verhindern lassen. Sie müssen uns morgen unbedingt finden.
Es war nichts in Sicht.
Der Einarmige begann zu klappern. Seine Stirn war heiß. Das Fieber und der Frost gingen in sonderbaren Wellen über ihn hin. Unten an den Beinen begann das Zittern und stieg dann wie Wasser am Körper empor. Wenn die Welle an den Schultern angekommen war, bewegte und reckte sich der Armstumpf. Der Einarmige machte dann jedes Mal mit den Zähnen ein Geräusch, so, als würde die grobe Feile langsam über eine Blechkante gezogen. Aber er schrie nicht, der Einarmige.
Der Andere redete fortwährend und schnell. Er wußte nicht, was er sagen sollte und konnte, ihm fehlten die zusammenhängenden Worte. Er hatte auch keine Zeit, um sich einen besonderen Sinn seiner Worte zu überlegen. Er sah, daß es gleichgültig war, was er redete: der Einarmige konnte ihn sowieso nicht verstehen. So redete er also irgend etwas. Schnell und laut und ununterbrochen.
Als der Einarmige plötzlich aufhörte zu zittern und zusammenfiel, redete der Andere noch einen Augenblick weiter, er konnte nicht so plötzlich aufhören.
Und dann war da wieder die große Stille.
Die Sonne war aufgegangen. Sie stand bereits einen Fingerbreit über der Kimm, als der Andere sie bemerkte. Der Einarmige war bewußtlos. Aber geschrien hatte er nicht. Das soll erst einmal einer nachmachen, dachte der Andere. Alle Achtung! Und dann bekam er Angst, daß der Einarmige vielleicht tot sein könnte. Er rutschte hinüber zu ihm und horchte an der Brust. Das Herz schlug jedoch. Es schlug sogar gleichmäßig und ruhig, fast ein wenig zu langsam. Er nahm den übrigen Arm und zählte nochmals den Puls.
»Neunzig, na also.«
Die Wärme der Sonne wurde spürbarer. Sie stand jetzt schon mindestens acht Grad über dem Horizont, schätzte er. Der Himmel war völlig klar und wolkenlos. Die See dunstete schwach und spiegelte wie Quecksilber.
Die Bewußtlosigkeit des Einarmigen mußte währenddessen in Schlaf übergegangen sein; denn als er erwachte, fühlte er sich frisch und fast schmerzfrei.
»Wie war es?« fragte der Einarmige und hatte Angst.
»Wie geht es dir?« fragte der Andere dagegen und beeilte sich. »Was hältst du vom Frühstück?«
Er goß den Becher ein Drittel voll Whisky und reichte ihn hinüber. Der Einarmige brauchte etwas Zeit, bis ihm einfiel, mit der linken Hand zuzugreifen. Der Armstumpf machte vorher immer eine kleine Reflexbewegung. Der Andere kannte das aber schon und sah rechtzeitig weg.
Der leere Magen vertrug den Alkohol nicht. Der Andere erbrach sich und aß schnell einen Riegel Schokolade.
»Nimm noch einen Schluck«, sagte der Einarmige. »Und behalte ihn im Mund, dann geht es schon weg.«
Aber der Andere wollte nicht. Es dauerte noch lange, ehe der gallige Geschmack nachließ.
Sie zogen ihre Jacken wieder aus. Die Sonne brannte schräg vom Himmel, und die Hitze nahm mit jedem Herzschlag zu. Sie konnten sich vertrocknete Hautfahnen vom Körper abziehen, und es war eine Art Spiel: wenn es ihnen gelungen war, ein besonders großes, unbeschädigtes Stück abzulösen, hielten sie es gegen das Licht. Sie sahen schöne Maserungen und Muster in ihrer Haut. Früher hatten sie gar nicht gewußt, welche Linien und Figuren sie in ihrer Haut mit sich herumtrugen.
»Komisch«, sagte der Andere, »komisch, was man jetzt alles sieht und merkt!«
Der Einarmige schwieg und hatte nun keine Lust mehr zu seiner Haut.
Die Haut des Menschen ist dünner und größtenteils schwächer behaart als die der anderen Säugetiere und schwankt, je nach Lage, erheblich an Dicke. So ist die Lederhaut am Augenlid nur etwa 0,5 mm, an der Fußsohle dagegen 2 bis 3 mm stark, das Unterhautzellgewebe am Kopf 0,6 bis 2 mm, am übrigen Körper 4 bis 9 mm, bei dicken Personen am Bauch sogar bis zu 30 mm stark. Die äußere Haut schützt den Körper vor mechanischen Verletzungen und schädlichen Einwirkungen von außen. Sie vermittelt durch die in ihr enthaltenen Sinnesorgane (Temperatursinn, Ortssinn, Tastsinn, Raumsinn) Eindrücke verschiedener Art.
Wenn ein Mensch mehr als ein Drittel seiner Hautoberfläche verliert, muß er normalerweise sterben.
In frühen, unkultivierten Zeiten wurde die menschliche Haut gern zu Schmuckgegenständen und Ähnlichem verarbeitet, und zwar so, daß sie, um ihre Geschmeidigkeit zu bewahren, den gefangenen Feinden bei lebendigem Leibe abgezogen wurde. Im Bereiche der abendländischen Kultur gibt es diese Sitte heutzutage nicht mehr.
An den Stellen, wo sie die verbrannte Haut abgezogen hatten, schimmerte es rötlich. Die neue Haut fühlte sich seidig und pergamenten an. Es war schön, mit dem Finger darüber hinzustreichen.
Ein Bie-den-Winder zog an Steuerbord langsam vorbei. Sein aufgestelltes Dreieck schillerte hellblau und lila, die Fangarme wiesen sanft gebogen in die Tiefe. Er war außerhalb ihrer Reichweite. Sonst war nichts weiter in Sicht.
»Gong zum Essen!« meinte der Einarmige, nachdem sie der Segelqualle eine Weile zugesehen hatten. »Die Sonne steht im Mittag.«
Sie aßen jeder einen Riegel Schocacola. Sie versuchten, ihren Schluck Whisky schwach mit Seewasser zu verdünnen, um die Ration zu strecken. Es schmeckte jedoch so übel, daß sie ähnliche Versuche in Zukunft lassen würden. Das Salz brannte im Mund. Der Pfefferminz-Geschmack des Kaugummis nahm das Bittere gottseidank ein wenig fort.
Sie versuchten zu schlafen, abwechselnd, um das Flugzeug nicht zu verpassen. Doch sie konnten nur schwer schlafen. Die Hitze und der Durst und der Arm ließen ihnen keine Ruhe.
Sie dösten vor sich hin. Manchmal fuhr einer von ihnen auf und blickte die Kimm ab.
Endlich waren sie eingeschlafen.
Der Einarmige träumte vom Klavierspielen und von vielen Flaschen Sodawasser, eisgekühlt.
Eine Flasche Sodawasser kostet in den Vereinigten Staaten 5 Cent, in Deutschland 20 Pfennige. Der Whisky schmeckt am besten, wenn er nur einen Spritzer Soda bekommt und mit einem kleinen Eiswürfel kalt gehalten wird. Alte Herren trinken ihren Whisky am liebsten natürlich trocken. Zwischen den einzelnen Schlucken wird gerne eine Salzbrezel gegessen, um die Geschmacksnerven der Zunge wach zu halten.
Damals, als sie ihr bestandenes Physikum feierten, hatten sie den Whisky ohne Soda getrunken. Es war eine wüste Sauferei geworden, und die Mädchen erzählten die schönsten Witze aus der Anatomie.
An das Ende der Nacht konnte er sich niemals besinnen. Als er am Morgen aufgewacht war, sah er Betsy neben sich liegen, auseinandergeflossen und verquollen. Es war das erste Mal gewesen, daß er sie nicht hatte leiden mögen. Und als er im Badezimmer dann in den Spiegel sah, erschrak er vor seinem Gesicht: er sah noch schlimmer aus als Betsy. Außerdem hatte er unerträgliche Kopfschmerzen gehabt. Den ganzen Vormittag über war er zu nichts fähig gewesen und hatte nur ununterbrochen Sodawasser getrunken.
Der Einarmige schluckte, und die vertrocknete Zunge schob sich zwischen den Lippen hin und her, ohne etwas zu finden. Der Andere schlief tief und hatte der Sonne den Buckel zugekehrt. Das Gesicht hatte er fest in den Winkel zwischen Gräting und Gummiwulst gepreßt:
Und Maria lebte und er war irgendwo mit ihr und sie badeten und die Sonne war gerade aufgegangen und sie schrien im Wasser, weil es so schön war und hinterher fror sie ein bißchen und er frottierte sie ab und sie mochte das gerne und dann frühstückten sie im Garten und die Vögel sangen, mein Gott, sie sangen, und das gesprenkelte Huhn pickte aus Marias Hand und die Marmelade funkelte rubinrot in der Sonne und es war alles unglaublich und wunderbar und er atmete tief und sah Maria immerzu an und sie tat, als bemerke sie es nicht, und ein Jahr später war sie tot.
Sie tranken ihren Abendschluck und rauchten die gekippte Zigarette vom Mittag auf. Sie rauchten, bis sie sich die Lippen verbrannten. Sie hatten nicht mehr viele Zigaretten.
Die Sonne war ein riesiger, roter Ball und bereits halb im Wasser verschwunden. Es sah so aus, als sei Feuchtigkeit in der Luft.
Voraus sprang ein Schwarm fliegender Fische. Das plötzliche Klatschen war ein kleiner Schreck. Wenig später sahen sie auch die Delphine, die hinter den Fischen her waren. Ihre Bäuche leuchteten rosa in der Sonne, wenn sie sich schnaufend wälzten. Sonst aber war nichts in Sicht.
»Wenn man etwas von Medizin weiß, weiß man zuviel«, sagte der Einarmige. Er saß an Deck und hatte sich an die Gummiwulst gelehnt. Er griff mit seiner einen Hand in das Wasser, hob es auf und sah dem Abtropfen zu. Es strengte ihn jedoch an, und er ließ es wieder sein.
»Morgen kommen sie«, sagte der Andere. Ihm fiel auf, daß der Armstumpf nicht mehr genau waagerecht abstand; er hing ein wenig, aber nicht viel.
»Sieh mal nach!« Der Einarmige setzte sich aufrechter hin. »Das klebt so.«
Der Andere wickelte den Verband auf. Der Stumpf sah nicht gut aus und stank. Das Faule hatte sich bis in die Achselhöhle vorgeschoben. Morgen war wirklich der allerletzte Tag.
Der Einarmige sah sich seinen Armrest genau an.
»Gib mir mal lieber eine Zigarette«, sagte er.
Als der Andere ihn mit der ausgewaschenen Hemdhälfte neu verband, schrie er einmal leise auf: der Andere war gegen den Knochenstumpf gekommen, innen, und die Erschütterung war durch alle anderen Knochen im Körper durchgegangen. Und die waren auch nicht mehr in Ordnung, das fühlte er deutlich.
»Da ist nichts mehr zu machen«, sagte er. »Wenn es wenigstens ein Unterarmschuß gewesen wäre, dann hätte ich noch Reserve im Oberarm. Aber so? Klassischer Fall. Exitus, Herr Professor!«
Er war wieder etwas tiefer gerutscht. Der Andere steckte den Verband mit der Sicherheitsnadel fest.
»Ich glaube, das Fieber kommt wieder«, sagte der Einarmige und zitterte schon in den Augenwinkeln. »Zähl noch mal den Puls.«
Der Andere zählte. Er hatte das Pochen sofort gefunden.