Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Dein Vertrauen gibt mir mehr Selbstvertrauen, als ich jemals zuvor hatte." Als Nico Silas mit seinem Fahrrad anfährt, ahnt keiner der beiden, dass es nicht bei dieser einen Begegnung bleiben wird. Schnell wird ihnen klar, dass sie sich zueinander hingezogen fühlen, und sie beginnen, sich näherzukommen. Doch dann erfährt Nico etwas, das ihn schockiert: Silas soll bei einem bewaffneten Tankstellenüberfall einen Menschen getötet haben. Was bedeutet dies für ihre Beziehung? Für die Gefühle, die Nico aufgebaut hat? Auszug aus Kapitel 4: Müde wie ich war, versuchte ich eine möglichst bequeme Position zu finden. Ich zögerte, doch da sich außer uns niemand auf dem Gang befand und nur selten Krankenhauspersonal vorbeilief, beschloss ich, Silas als mein Kopfkissen zu benutzen. Mein Kopf fand wie von selbst seinen Platz auf seiner Schulter. Zufrieden lächelte ich. Vielleicht war es nicht die bequemste Position, welche ich mir vorstellen konnte, aber trotzdem war es entspannend, den Kopf ablegen und die Augen schließen zu können. Silas blieb kurz bewegungslos sitzen und schien zu überlegen, wie er auf mein Verhalten reagieren sollte. In meinem Freundeskreis war es üblich, dass Körperkontakt zwischen Freunden normal war, aber ich wusste nicht, was Silas davon hielt. War es überhaupt Körperkontakt zwischen Freunden? Wir kannten uns kaum, und doch fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Mehr als ich es sonst zu Freunden tat. Ich wollte meinen Kopf eben wieder zurückziehen, als Silas sich dafür entschied, dass er nichts dagegen hatte, dass er es mochte. Er zog seinen Arm zwischen unseren Körpern hervor und legte diesen um mich. Mein Kopf rutschte etwas von seiner Schulter und ruhte nun an seiner Brust, doch das schien weder ihn noch mich zu stören. Seine Finger strichen vorsichtig und langsam über meinen Arm, während ich es genoss, einer anderen Person so nahe zu sein.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
falling for you
Annika M.
1. Auflage, 2021
© 2021 Annika Michler
Selbstverlag: Annika Michler, Universitätsstr. 98, 70569 Stuttgart
Buchcovergestaltung: Kreationswunder by Katie Weber
Korrektorat: Sarah Nierwitzki (Für autorenbedingte Änderungen nach Abschluss des Korrektorats wird seitens der Korrektorin keine Verantwortung auf Korrektheit übernommen)
Instagram: @annikam.autor
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Rick.
Ich sehe dich, als wärst du Teil meiner Realität.
Homophobie/Queerfeindlichkeit Tod durch Unfall/im Krankenhaus natürlicher Tod Narben Outing vor Freunden Outing vor Fremden Hassrede Krankenhausszenen sexuelle (angedeutete) Handlungen
----- Ich habe mich erst im Laufe der Überarbeitung intensiver mit dem Thema »ableistische Sprache/Formulierungen« auseinandergesetzt und bin mir nicht sicher, ob ich diese vollständig aus dem Buch verbannt habe. Sollte euch während des Lesens hierzu etwas aufgefallen sein, teilt mir dies gern per Instagram oder Mail mit, damit ich diese Stellen erneut überarbeiten kann.
Lasst mich auch wissen, wenn ihr weitere Trigger gefunden habt, dann ergänze ich diese in der obenstehenden Liste!
Sollten euch im Buch Formulierungen/Begriffe aufgefallen sein, die bestimmte Personengruppen (bspw. trans oder nicht-binäre Menschen) ausschließen, schreibt mir auch das gern.
Das war nicht meine Intention und falls ich unkorrekte Begriffe gewählt habe, werde ich diese in einer neuen Auflage ändern.
Ich danke euch für eure Mithilfe.
Ruben – Lay By Me
Jessie Kol – Can’t Help Falling in Love
Dermot Kennedy – An Evening I Will Not Forget
Dean Lewis – Need You Now
Elina – Here With Me
The Beach – Bridge Back to Your Heart
KEMAL – BRAVE
Coav – California
DAT ADAM – Lennon 2
5 Seconds of Summer – Old Me
Ed Sheeran – Perfect
Vance Joy – Mess Is Mine
John Legend – All Of Me
Dienstag, 14. April
Der Wind fuhr durch Nicos Haare, als er schwungvoll mit seinem Fahrrad an einer wenig befahrenen Kreuzung abbog. Der Siebzehnjährige hatte einen langen Schultag hinter sich und konnte es kaum erwarten, mit schnellen Tritten seinem Zuhause näherzukommen. Mit den Gedanken weit weg, fuhr er durch die vertrauten Straßen, bis seine Fahrt in der nächsten Kurve ein abruptes Ende nahm.
»Fuck«, murmelte Nico. Er hatte einen Fußgänger übersehen, der vor ihm die Straßenseite wechseln wollte, und lag nun neben diesem unter seinem Fahrrad begraben auf der Straße. Ein stechender Schmerz schoss durch sein Bein und er spürte, dass sein rechtes Knie aufgeschürft war. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass es dem Typen, den Nico eben über den Haufen gefahren hatte, ähnlich zu gehen schien.
»Alles okay?«, fragte dieser, während er sich aufrappelte und den Schmutz von seiner Hose klopfte.
Erstaunt über die besorgte Stimme hob Nico seinen Kopf, ein kurzer Blick in die dunkelbraunen Augen seines Gegenübers ließ ihn seine Antwort vergessen. Nie zuvor hatte er Augen in einer solchen Farbe gesehen, dieses tiefe Dunkelbraun war so warm, so voller Geborgenheit. Erst als er einen verwirrten, leicht irritierten Ausdruck in diesen Augen wahrnahm, räusperte Nico sich und spürte, wie er errötete.
»Ja, alles okay. Sorry, dass ich dich umgefahren habe. Ich hätte besser aufpassen sollen.« Nicos Stimme klang krächzend, als er die ausgestreckte Hand des jungen Mannes ergriff und sich aufhelfen ließ. Er schätzte das Alter seines Gegenübers auf achtzehn oder neunzehn Jahre.
Verlegen standen die beiden voreinander.
»Egal, ist ja nichts Schlimmes passiert, manchmal vergisst doch jeder, worauf er sich konzentrieren sollte.«
Die kurzen, in alle Richtungen abstehenden wasserstoffblonden Haare faszinierten Nico so sehr, wie es die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen seines Gegenübers taten. Obwohl er der Größere der beiden war, fühle Nico sich klein und hilflos.
Stumm standen sie voreinander und schienen vergessen zu haben, dass sie sich mitten auf der Straße befanden. Nico kam es so vor, als würde die Zeit für einen Moment langsamer vergehen. Ihm war klar, dass sie nicht für immer auf der Straße stehen bleiben konnten, aber er wusste nicht, was er sagen sollte, um die Stille zwischen ihnen zu durchbrechen. Am liebsten hätte er seinen Gegenüber nach dessen Namen gefragt, um wenigstens irgendetwas über ihn zu wissen, doch er brachte kein einziges Wort über die Lippen.
»Also ... ähm ... ich muss dann mal weiter.«
Der Blonde kratzte sich unbeholfen am Hinterkopf, ließ seinen Blick kurz durch die Gegend wandern, bevor er wieder auf Nico liegen blieb. Er lächelte.
»Nochmal sorry«, meinte Nico leise und konnte nicht verhindern, dass sich auch auf seinem Gesicht ein leichtes Lächeln ausbreitete.
Für einen weiteren Moment standen sie voreinander und schauten sich stumm an, bevor Nico nach seinem Fahrrad griff und den Bann zwischen ihnen brach. Ein verlegenes Grinsen diente als Verabschiedung, ehe sie erneut ihrer eignen Wege gingen. An der nächsten Straßenecke drehte Nico sich noch einmal um, doch der Blonde war bereits aus seinem Blickfeld verschwunden.
Donnerstag, 21. Mai
»Ihr glaubt nicht, wie ich mich freue, dass ihr heute alle Zeit habt!«
Ich brauchte Samantha nicht anzuschauen, um zu wissen, wie glücklich sie aussah. Ich sah bildlich vor mir, wie ihre grünen Augen mit dem grauen Stich zufrieden funkelten und uns zeigten, dass sie sich wohlfühlte. Ihre langen hellbraunen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Zopf zusammengefasst, doch das störte niemanden von uns. Wir waren es gewohnt, dass es Samantha egal war, wie sie in unserer Gegenwart aussah. Sie genoss es, uns um sich zu haben und gemeinsam den Tag ausklingen zu lassen.
Wir befanden uns bei mir zu Hause und außer Samantha und mir war auch der Rest unserer Gruppe anwesend: Valentin, der Jüngste in unserem Kreis, und Kilian saßen nebeneinander auf dem Sofa und spielten UNO, während Timo neben mir auf dem Boden lag und meinte, dass er viel zu viel gegessen habe. Seine gelblich-braunen Augen hatte er geschlossen, konzentriert atmete er ein und aus, um Herr über die Übelkeit zu werden, die ihn aufgrund des vielen Essens plagte.
Es war ein Abend, wie wir ihn so oft versuchten zu planen, doch meistens kam irgendwem etwas dazwischen, sodass wir nur selten zu fünft und damit vollständig waren. Nicht, dass wir nicht auch unvollständig unseren Spaß haben konnten, vor allem wenn Samantha dabei war, kam es nicht oft vor, dass uns langweilig wurde. Doch mit allen vereint war es immer noch am schönsten.
»Was macht ihr in den Ferien? Hat irgendwer Pläne?« Timo hatte sich aufgerappelt und begab sich auf den Weg in Richtung Küche, als Valentin seine Frage stellte.
»Wann sind Ferien?«
»Nächste Woche ist noch Schule, danach zwei Wochen Ferien«, antwortete ich, während Samantha Timos Platz einnahm und sich neben mich legte. Mit dem Unterschied, dass sie ihren Kopf auf meinem Bauch platzierte. Meine Finger wanderten wie von selbst in ihre Haare und spielten mit den langen Haarsträhnen, bei denen sie schon seit Monaten überlegte, ob sie sie abschneiden sollte. Noch hatte sie es sich nicht getraut. Zufrieden seufzte sie.
»Ich bin mit meinen Eltern weg. Glaub‘ ich zumindest«, antwortete Timo auf Valentins Frage, als er mit einem Glas Wasser aus der Küche zurückkam. Er trank es in wenigen großen Zügen aus, was in mir die Frage aufkommen ließ, ob sich das so gut mit seiner Übelkeit vertragen würde. Sonderlich glücklich über seine verplanten Ferien sah er nicht aus, sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse verzogen, die zeigte, wie wenig ihm der Gedanke an zwei Wochen Urlaub mit der Familie gefiel. Was ich bei seiner Familie nachvollziehen konnte. Nicht, dass ich sie nicht mochte, doch bei seiner Vielzahl an Geschwistern konnte es schnell laut und hektisch werden, seine Eltern hatten alle Hände voll zu tun, damit die Mehrzahl zufrieden war.
»Warum fährst du eigentlich immer mit, obwohl du keinen Bock hast? Deine Eltern lassen dich doch mit Sicherheit allein zu Hause, wenn du fragst«, hakte Kilian nach, ohne den Blick von seinen Karten zu nehmen. Timo seufzte leise und setzte sich zu Valentin und Kilian, um in der nächsten Runde mitzuspielen.
»Ich habe nur keinen Bock auf meine Familie. Trotzdem will ich nicht zwei Wochen hierbleiben, wenn ich stattdessen im Urlaub sein könnte.« Darauf wusste niemand etwas zu sagen, wünschten wir uns doch alle, hier zumindest für eine kurze Zeit wegzukommen. Der eine mehr, der andere weniger.
Ich gehörte zu denen, die ganz zufrieden hier waren und sich nicht daran störten, die Ferien zu Hause zu verbringen. Während die anderen überlegten, was sie in der freien Zeit anstellen könnten, drifteten meine Gedanken wie so oft in den letzten Wochen ab. Ich dachte wieder an den Zusammenstoß mit dem blonden Typen zurück, dessen Namen ich noch immer nicht kannte. Es war mehr als ein Monat vergangen, doch seine dunkelbraunen Augen und seine warme Stimme wollten mir nicht aus dem Kopf gehen.
»Nico?«
Erschrocken zuckte ich zusammen, als Samantha mir in die Seite pikste.
»Hmm?«
Meine Reaktion brachte die anderen zum Lachen.
»Eigentlich wollte ich wissen, ob du irgendwas vorhast, aber jetzt interessiert mich mehr, warum du so oft in letzter Zeit überhaupt nicht bei der Sache bist.«
Ich war mir sicher, dass nicht nur Samanthas Blick vor Neugierde triefte. Doch ich wusste nicht recht, was ich ihnen sagen sollte. Weder hatte ich meinen Freunden von dem Zusammenstoß erzählt, noch von dem Typen, den ich umgefahren und der mich so in seinen Bann gezogen hatte. Ich hatte nicht gewusst, wie ich es ihnen erklären sollte, verstand ich doch selbst nicht, was mich so an ihm faszinierte. Und jetzt, fünf Wochen später, davon zu erzählen, kam mir genauso komisch vor, weshalb ich es vorzog, die Sache mit einem leichten Schulterzucken abzutun und nur auf den ersten Teil der Frage einzugehen.
»Ich weiß nicht, ob ich frei habe. Unabhängig davon werde ich viel durch die Gegend laufen und mir Sachen anschauen.«
Mittlerweile wunderte es niemanden mehr, dass ich schon vor Jahren eine Vorliebe für lange Spaziergänge durch unsere immer gleiche Stadt entwickelt hatte, die in seltenen Fällen von Samantha oder Timo begleitet wurden. Besonders mit Samantha waren diese Erkundungstouren schön, denn ähnlich wie ich konnte sie sich schnell in Kleinigkeiten verlieren, dasitzen und die Schönheit eines versteckten Brunnens oder eines alten zerfallenen Hoftores bewundern. Anders als mir fehlte ihr aber die nötige Geduld, um solche Orte ausfindig zu machen, weshalb sie für Unterhaltung sorgte, anstatt nach interessanten Objekten Ausschau zu halten. Ich liebte ihre aufgeweckte Art, wie sie anderen Menschen anfangs zwar oft distanziert begegnete, es aber dennoch schaffte, ihnen innerhalb kürzester Zeit Dinge zu entlocken, die sie sonst nicht erfahren hätte. Es wunderte mich, dass sie es bisher nicht geschafft hatte, etwas von dem blonden, braunäugigen Typen mitzubekommen.
»Genau das meine ich, du driftest ständig in deine Gedanken ab, ohne es überhaupt zu merken. Das ist sonst gar nicht so dein Ding«, murmelte sie mir ins Ohr, während sich ein freches Grinsen auf ihre Lippen legte.
Die anderen drei waren in eine neue Partie UNO vertieft und schienen das Interesse an unserer Unterhaltung verloren zu haben, obwohl Samantha und ich nach wie vor auf dem Boden lagen und leise redeten.
»Was auch immer es sein mag, sei dir sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis ich weiß, was dich beschäftigt.«
»Ach ja?« Provokant grinsend schaute ich sie an. Es war ja gar nicht direkt mein Plan, ihr den Zusammenstoß zu verschweigen, ich wusste nur nicht, was ich von meiner Reaktion auf den unbekannten Typen halten sollte.
»Natürlich«, meinte sie selbstsicher, hob ihren Kopf und fing dabei meinen provozierenden Blick auf. »Was wäre ich denn für eine beste Freundin, wenn ich das nicht herausfinden würde?« Ich grinste breit, für mich war das Thema damit vorerst erledigt.
»Du weißt aber schon, dass du jederzeit mit mir reden kannst, falls es etwas gibt, das dich beschäftigt?« Prüfend sah sie mich an. Mein Grinsen wurde bei ihren Worten eine Spur breiter.
»Ich weiß«, antwortete ich leise. Als sie ihren Kopf zurück auf meinen Bauch legte, fanden meine Finger wie von selbst den Weg in ihre Haare, um sie zu kraulen.
Samstag, 30. Mai
Müde stand ich auf, zog mir ein Shirt über den Kopf und lief barfuß die Treppe hinunter. Aus der Küche vernahm ich die typischen Geräusche des Wasserkochers, wie sie beinahe jeden Morgen in unserem Haus zu hören waren.
»Morgen«, murmelte ich verschlafen, als ich durch die Tür trat und mich auf den Stuhl fallen ließ, der mir am nächsten stand. Lia, meine Mutter, wartete mit einer Kaffeetasse in der Hand vor dem Toaster, dass ihr Frühstück fertig wurde. Erstaunt schaute sie mich an.
»Schon wach? Obwohl Ferien sind?« Sie lächelte und schien nichts dagegen zu haben, dass ich ihr beim Frühstück Gesellschaft leistete. Es war recht still am Tisch. Wir waren beide keine Menschen, die morgens viel redeten, wenn es nicht etwas gab, das uns so beschäftigte, dass es nicht länger warten konnte. Doch in letzter Zeit war nichts passiert, das sich lohnte, schon jetzt angesprochen zu werden.
Lia wusste, wie ich meine Ferien am liebsten verbrachte. Sie musste die Woche über arbeiten, weshalb sich gemeinsame Aktivitäten, wenn überhaupt, nur fürs Wochenende planen ließen. Wir kamen gut miteinander aus, konnten den anderen genau einschätzen und störten uns nicht daran, dass wir in den Ferien nicht mehr als sonst gemeinsam unternehmen konnten.
Ich mochte meine Beziehung zu Lia, welche sich erst nach dem Tod meines Vaters gefestigt hatte. Normalerweise gab es kaum etwas, bei dem ich das Gefühl hatte, dass ich es nicht mit ihr besprechen konnte; einige wenige Male war ich sogar versucht gewesen, ihr von dem blonden Typen und seiner Wirkung auf mich zu erzählen, bisher hatte ich mich aber dagegen entschieden. Zwar wusste sie von dem Zusammenstoß, da sie nach meinem verletzten Knie gefragt hatte, doch mit keiner Silbe hatte ich erwähnt, wie sehr mich der junge Mann in seinen Bann gezogen hatte.
Nach dem Frühstück stellte ich das benutzte Geschirr zur Seite, während sich Lia in Richtung Wohnzimmer verzog. Ich würde die Küche später ordentlicher aufräumen, doch es zog mich nach draußen, weshalb ich nicht länger meine Zeit damit verschwenden wollte, den Abwasch zu erledigen. Nach kurzem Überlegen ließ ich mein Fahrrad an seinem Platz im Flur stehen und ging zu Fuß los.
Wir hatten das Glück, am Stadtrand zu wohnen und gleichzeitig ein verhältnismäßig großes Waldstück in unserer Nähe zu haben, sodass ich einen Großteil meiner Freizeit dort verbrachte. Vor allem als Kind hatte ich mir nichts Besseres vorstellen können, als den ganzen Tag die unzähligen Trampelpfade zu erkunden, auf Bäume zu klettern und auf Baumstämmen zu balancieren. Doch anders als bei vielen meiner Bekannten, war meine Liebe zur Natur und besonders zu diesem Wald nicht verschwunden, als ich älter wurde. Nur zu gern ging ich auch jetzt noch stundenlang die vertrauten Wege entlang, nur hatte ich mittlerweile nicht mehr so viel Zeit dafür, wie es früher der Fall gewesen ist.
Etwas ziellos lief ich durch den Wald, drehte mich manchmal um, wenn die Geräusche der kleinen Waldtiere in den Büschen und Bäumen mich erschreckten, und genoss es, draußen zu sein. Obwohl mich die Schule nicht störte, mochte ich die Ferien und die Tatsache, dass ich den ganzen Tag machen konnte, worauf ich Lust hatte. Stundenlang durch den Wald laufen. Die Stadt immer wieder neu erkunden. Bei Bedarf neue Leute kennenlernen. Alles Dinge, die deutlich mehr Spaß machten, wenn man nicht im Hintergrund daran dachte, dass es Hausaufgaben gab, die man noch zu erledigen hatte.
Ich verließ den breiten Hauptweg, um in die Richtung eines Schuppens zu laufen, welchen ich vor Jahren durch Zufall bei einem meiner Streifzüge entdeckt hatte. Obwohl das alte Dach schon einige Löcher aufwies, befanden sich die Wände, Fenster sowie die Tür in einem tadellosen Zustand.
Im Inneren war es aufgrund der verdreckten kleinen Fenster die meiste Zeit des Tages schummrig, doch wie durch ein Wunder konnte man trotz der Bäume nachts durch die Löcher im Dach den Sternenhimmel betrachten. Vorausgesetzt es war eine wolkenlose, sternenklare Nacht.
Der Schuppen befand sich abseits der meisten Waldwege am Rande einer Lichtung und schien schon seit Jahren keinen Besitzer mehr zu haben, der sich an das Dasein dieses kleinen Gebäudes erinnerte. Dennoch konnte ich nicht die einzige Person sein, welche ihn im Laufe der Zeit entdeckt und genutzt hatte.
Die Innenwände waren von vielen Graffitis bedeckt und die Tatsache, dass ab und zu neue dazukamen, bestätigte meine Vermutung.
In den Ecken des Innenraumes lagen einige alte Matratzen, auf welchen ich schon die ein oder andere Nacht verbracht hatte, wenn mich das Gefühl überkommen hatte, wieder etwas Abstand zwischen mich und den Rest der Welt zu bringen. Ich genoss das Wissen, dass es diesen Schuppen gab, dass ich hier sein konnte, wann immer ich wollte, ohne währenddessen für jemanden erreichbar zu sein. Es war mein Rückzugsort, den ich weder mit Samantha noch mit einer anderen Person teilte.
Der Weg zum Schuppen war mir mittlerweile so vertraut, dass es nicht lange dauerte, bis ich die alte Tür aufstieß und ins Innere trat. Normalerweise schaute ich mich kurz um, bevor ich mich auf eine der Matratzen neben der Tür fallen ließ. Wann immer ich hier war, verbrachte ich die meiste Zeit auf dieser Matratze, lauschte den Geräuschen des Waldes oder hörte Musik. Ich mochte dieses Nichtstun, dieses Abschalten, was hier so viel besser funktionierte, als es an anderen Orten der Fall war. Der leicht modrige Geruch sowie die Ruhe um mich herum wirkte so beruhigend auf mich, dass es nicht nur einmal passiert war, dass ich während des Musikhörens früher oder später eingeschlafen war.
Diesmal wurde meine Aufmerksamkeit von einem neuen Graffiti gefesselt, weshalb ich mich nicht setzte, sondern stattdessen zu der Wand lief, die der Tür gegenüberlag, und das Kunstwerk von Nahem betrachtete. Es nahm bestimmt die Hälfte der Wand ein und prangte über kleineren Kritzeleien. Ein einsamer weißer Wolf hatte seinen Kopf gen Himmel erhoben und heulte einen großen gelblichen Mond an, welcher leicht von grauen Wolken verhangen war. Ich wusste nicht, was mich so faszinierte, doch ich spürte das Verlangen, meine Hand auszustrecken und über die frische Farbe zu fahren. Vorsichtig strich ich über den Wolf, der so verlassen aussah.
»Gefällt es dir?«
Erschrocken fuhr ich herum. Mein Blick schnellte in die hinterste Ecke des Raumes, aus welcher die Stimme gekommen war.
»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken, wusste aber nicht, wie ich sonst auf mich hätte aufmerksam machen sollen. Und mich die ganze Zeit schlafend zu stellen, wäre auch nicht unbedingt das Schlauste, ich weiß ja nicht, wie lange du hierbleibst.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung war der junge Mann aufgestanden und auf mich zugekommen, hielt aber eine gewisse Distanz zu mir. Mein Herz raste, ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand hier sein könnte. Innerlich verfluchte ich mich selbst, denn wer betrat ein fremdes Gebäude, ohne sich anschließend umzuschauen, ob man allein war? Nur, weil ich bisher noch niemanden hier angetroffen hatte, hieß das nicht, dass es nie dazu kommen würde, wie sich nun deutlich zeigte.
Ich beruhigte mich erst wieder, als ich dem Blick des jungen Mannes begegnete. Es waren die gleichen dunkelbraunen Augen, die mir die letzten Wochen nicht hatten aus dem Kopf gehen wollen. Überrascht betrachtete ich ihn genauer, doch bis auf seine Augen und die Stimme deutete nichts auf den Typen hin, welchen ich umgefahren hatte. Seine Haare waren nicht mehr wasserstoffblond, sondern schwarz und deutlich länger; leicht strähnig hingen sie ihm in die Stirn und hinter den Ohren. Seine Kleidung sah so aus, als habe sie die Erfindung des Bügeleisens nicht mitbekommen, doch sein Style gefiel mir. Das Shirt war ihm einige Nummern zu groß, aber dieser Look passte zu seinem Auftreten.
Ich blickte ihm wieder ins Gesicht und bemerkte, dass auch er mich aufmerksam betrachtet hatte. Als mir auffiel, dass ich bisher nichts gesagt hatte, räusperte ich mich nervös, ohne zu wissen, was ich von mir geben sollte. Ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Ihn schien mein Verhalten weder zu verwundern, noch zu stören. Es amüsierte ihn nur.
»Ich bin übrigens Silas. Und du der Typ, welcher mich vor ein paar Wochen über den Haufen gefahren hat.«
Die Hitze schoss mir in die Wangen und ich hoffte, dass es ihm aufgrund des spärlichen Lichtes nicht auffallen würde. Sein leichtes Auflachen zeigte mir, dass dem nicht so war. Ich beschloss, dies geflissentlich zu ignorieren.
»Ähm ... ja. Ich bin Nico.«
Stumm standen wir voreinander, betrachteten die Bewegungen des anderen. Ich für meinen Teil versuchte, nicht so nervös zu wirken, wie ich es war. So wie ich mich kannte, ließ mich dieser Versuch nur noch unruhiger aussehen. Doch ich wusste beim besten Willen nicht, wie ich dieses unangenehme Schweigen durchbrechen sollte. Wie ich diese Situation am besten meistern sollte.
Am liebsten wäre ich wieder gegangen, hätte mich umgedreht und vergessen, dass dieser Moment überhaupt existiert und ich mich wie ein Trottel benommen hatte, der nicht mehr als ein paar zusammenhängende Worte herausbrachte. Nur die Tatsache, dass mir seine Augen die letzten Wochen nicht aus dem Kopf gegangen waren und ich nicht nur einmal gehofft hatte, ihm erneut zu begegnen, ließ mich an Ort und Stelle verharren. War das hier nicht genau das, was ich mir gewünscht hatte? Ich hatte die Gelegenheit den Typen, Silas, kennenzulernen. Ich musste nur damit anfangen. Doch stattdessen starrte ich ihn wie bekloppt an.
»Du scheinst kein Mensch der vielen Worte zu sein.« Sein Tonfall machte deutlich, dass ihm unsere, wohlgemerkt sehr einseitige, Unterhaltung gefiel.
Erneut räusperte ich mich, bevor ich antwortete. »Meistens eher nicht, nein.«
»Was heißt meistens?«
Ihm schienen meine kurzsilbigen Antworten nichts auszumachen. Stattdessen zeigte er mit seinem Blick echtes Interesse an dieser Unterhaltung. Mein Interesse war mindestens genauso groß, nur gelang es mir nicht, das zum Ausdruck zu bringen. Umso erleichterter war ich, dass er Fragen stellte. Auch wenn ich auf diese Weise nicht viel von ihm erfahren konnte.
Da mir auffiel, dass wir nach wie vor seltsam in der Mitte des Raumes voreinander standen, schaute ich die uns am nächsten liegende Matratze kurz an. Silas folgte meinem Blick und schien zu bemerken, was mich an der Situation störte. Synchron setzten wir uns in Bewegung und ließen uns auf der Matratze nieder. Es herrschte nach wie vor ein gewisser Abstand zwischen uns, der groß genug war, um niemanden in peinliche Situationen durch versehentliche Berührungen zu bringen, aber zu klein, um eine Unterhaltung unangenehm werden zu lassen.
»Also, in welchen Momenten redest du mehr als gerade?«
Kurz überlegte ich, ob ich mir etwas einfallen lassen sollte, was mich besser als die Realität dastehen ließ, doch ich entschied mich dagegen. Wenn man nicht direkt mit der Wahrheit herausrückte, verstrickte man sich nur immer weiter in Lügengebilde, die früher oder später eine Bekanntschaft zerstören würden.
»Wenn ich betrunken bin.« Silas lachte kurz, während ich zu verhindern versuchte, dass meine Wangen schon wieder heiß wurden. »Oder wenn ich mit den richtigen Leuten zusammen bin.«
Aufmerksam schaute er mich von der Seite an. »Ich hatte angenommen, dass du einer dieser Menschen bist, die mit den richtigen Leuten um sich herum erst recht still sind. Du wirkst so, als könntest du dich dann entspannen und würdest kein Gespräch brauchen, um dich wohlzufühlen.«
»Brauche ich auch nicht zwangsläufig. Ich mag es, stundenlang neben meinen Freunden zu sitzen und ihren Gesprächen zuzuhören. Aber wenn der Augenblick passend ist und ein interessantes Thema aufkommt, dann fällt es mir schwer, leise zu bleiben.«
Froh, dass er nicht weiter auf das Alkohol-Thema eingehen wollte, entspannte ich mich in seiner Gegenwart etwas. Das Gespräch ging in eine gute Richtung, nun musste ich nur den richtigen Moment abwarten, um ihm meine Fragen zu stellen. Wobei mir auffiel, dass ich gar nicht wusste, was ich ihn fragen wollte. Ich wollte ihn zwar kennenlernen, doch hatte keine Ahnung, wo ich anfangen sollte.
Still saßen wir nebeneinander, ohne dass die Stille unangenehm wurde. Ich bemerkte, dass Silas mich nach wie vor von der Seite betrachtete, während mein Blick erneut von dem weißen Wolf eingefangen wurde. Mir fiel ein, wie er mich gefragt hatte, ob mir das Graffiti gefalle.
»Der Wolf ist von dir?«
Aus den Augenwinkeln nahm ich sein Nicken wahr.
»Ja. Bin aber nicht zufrieden damit. Es fühlt sich falsch an, als würde etwas fehlen. Ich komme nur nicht darauf, was genau mich daran stört.«
Ich drehte meinen Kopf, um ihn aufmerksam anzuschauen. Ich hatte angenommen, dass dies zu einem leicht unangenehmen Blickwechsel führen würde. Es erstaunte mich, dass er, anders als erwartet seinen Blick senkte und sich ein minimaler Hauch von Röte auf seinem Gesicht ausbreitete. Ein leichtes Grinsen schlich sich auf meine Lippen, als ich realisierte, dass er gar nicht gemerkt zu haben schien, wie er mich anstarrte.
»Ich mag ihn, wie er ist.«
Erneut wurde es still zwischen uns, Silas scharrte mit seinen Füßen auf dem Boden, während ich meinen Blick zum wiederholten Male zu dem großen Wolf wandern ließ. Ich wusste selbst nicht genau, was mich an ihm so faszinierte, doch dieses Kunstwerk vor mir berührte mich auf eine intensive, ehrliche Art und Weise.
»Warum sieht er so traurig und einsam aus?«
»Was meinst du?« Silas schaute mich fragend an, weshalb ich mit dem Kopf zur Wand deute.
»Der Wolf. Warum sieht er so einsam aus?«
Er folgte meinem Blick und zuckte mit den Schultern. Seine Stirn legte sich nachdenklich in Falten. Ich bereute es, meine Frage gestellt zu haben. Es handelte sich schließlich um Kunst und die beste Kunst entstand aus einem selbst, indem man etwas Persönliches ausdrückte. Wahrscheinlich ging es mich nichts an.
»Sorry, ich wollte nichts Unpassendes sagen.«
Erstaunt begegnete sein Blick dem meinen. »Hast du nicht. Mir ist nur durch deine Frage klar geworden, dass ich mir nie Gedanken über solche Dinge gemacht habe. Ich mache immer nur, was sich gut anfühlt, und höre erst auf, wenn ich zufrieden bin oder mir klar wird, dass eh nichts mehr zu retten ist und jede Minute, die ich mich weiter damit beschäftige, nur verschenkte Zeit ist.
Mir war nicht bewusst, wie der Wolf wirkt. Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, dass es jemanden interessieren würde, weshalb etwas, das ich geschaffen habe, so aussieht, wie es eben aussieht. Deine Frage war nicht unpassend, ich habe nur absolut keine Ahnung, wie ich sie beantworten soll.«
* * *
Den Großteil des Tages verbrachten wir auf eine ähnliche Art und Weise. Wir saßen nebeneinander, redeten hin und wieder und schwiegen ansonsten. Mit der Zeit gelang es mir, trotz seiner Anwesenheit meine Gedanken schweifen zu lassen und mich in verschiedenen Gedankengängen zu verlieren.
Als ich gegen Mittag Hunger bekam, ärgerte ich mich darüber, nichts von zu Hause mitgebracht zu haben. Meine leichte Verärgerung ließ erst nach, als Silas einige Snacks aus seinem Rucksack zutage förderte. Ich freute mich, jemanden neben mir sitzen zu haben. Es war so anders, als wenn ich mit meinen Freunden Zeit verbrachte.
Silas war anders. Er schien ein ausgeprägtes Menschenverständnis zu haben und es war, als könne er meine Gedanken lesen. Er ließ mich in Ruhe, wenn ich nachdachte, und verwickelte mich in Gespräche, sobald er merkte, dass mir langweilig wurde.
Er war ein faszinierender Gesprächspartner. Er wusste, wie er seine Fragen stellen musste, wie er mich zum Reden bringen konnte. Einige Male verstummte ich mitten im Satz, da mir klar wurde, dass ich schon wieder vollkommen ausschweifend auf irgendeine Frage geantwortet hatte, während er neben mir saß und zuhörte. Er sollte kein falsches Bild von mir bekommen, weshalb ich all meine Sätze mit Begründungen und Erfahrungen ausschmückte, um ihm zu zeigen, warum ich dachte, wie ich dachte, warum ich antwortete, wie ich antwortete. Ihn schien das nicht zu stören, er hörte mit einer Geduld zu, wie ich sie bisher an niemandem erlebt hatte.
Irgendwann gegen Abend wusste ich, dass ich mich auf den Heimweg machen sollte. Wenig begeistert stand ich auf und schaute auf Silas hinunter, welcher mich mit einem leichten Lächeln anschaute.
»Du bist oft hier, nicht wahr?« Ich nickte, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ich war nicht oft hier, doch mit der Aussicht, ihn von nun an öfter zu sehen, dachte ich mir, dass es am besten wäre, einfach zu nicken. So wunderte er sich später nicht, weshalb ich zwar meinte, nicht oft hier vorbeizukommen, ihn aber dennoch immer wieder dort traf. Zumindest war das meine Hoffnung. Ich wollte nicht, dass es bei diesem einen Tag blieb, ich wollte mehr Tage wie diesen erleben. Sehr viel mehr solcher Tage.
»Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns demnächst mal wiedersehen, wohl ziemlich hoch.« Er grinste mich breit an und ich glaubte zu wissen, dass er genau wusste, dass ich normalerweise nicht so oft, wie behauptet, hier war.
Kurz hatte ich das Bedürfnis, mich zu ihm hinunter zu beugen und ihn zu umarmen, doch diesen Gedanken verdrängte ich schnell. Wir kannten uns kaum und hatten erst einen Tag miteinander verbracht. Ich wusste nicht, wie er zu solchen Dingen wie Umarmungen stand; nicht jeder mochte es, von anderen umarmt zu werden. Somit erwiderte ich nur sein Lächeln, murmelte ein paar Abschiedsworte und verließ den Schuppen.
Es war noch nicht sehr spät, dennoch wurde der Wald von der einsetzenden Dämmerung beherrscht. Meine Kopfhörer fanden wie gewohnt ihren Platz in meinen Ohren, während ich mit schnellen Schritten nach Hause lief.
So gern ich abends oder nachts unterwegs war, der Wald war mir bei Dunkelheit nicht geheuer. Außer, wenn ich im Schuppen lag und vorhatte, die Nacht dort zu verbringen. In diesem Fall hatten die Geräusche des Waldes sogar eine beruhigende Wirkung auf mich.
Ein großer Teil in meinem Inneren bedauerte es, dass ich mich von Silas verabschiedet hatte, und wünschte sich, dortgeblieben zu sein.
Der rational denkende Teil meines Kopfes machte mir aber klar, dass es das einzig Vernünftige gewesen war, zu gehen.
Ich ließ den Wald hinter mir und betrat unser Haus, während sich die zwei Teile in meinem Inneren miteinander stritten.
Sonntag, 31. Mai
Ein dunkler Umriss, deutlich größer als ich. Nur ein einziger großer Schemen, ohne dass ich Details erkennen konnte. Bis auf blutrote Augen. Augen, welche mich durchdringend anstarrten, mit einem Blick, der mir durch Mark und Bein ging. Ich versuchte, mich abzuwenden, doch war bewegungsunfähig.
»Du kannst nichts tun, Nico.« Der Schatten bewegte sich auf mich zu, langsam und gleichmäßig, ohne Eile. Ich zitterte bei diesen Worten. Sie waren nur geflüstert, trotzdem vernahm ich sie so laut, als hätte man sie mir ins Ohr gebrüllt. Ich versuchte, mich zu rühren, eine Frage zu stellen. Doch ich war wie eingefroren, die Worte blieben in meinem Hals stecken und ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam mich.
»Du bist machtlos.« Nur ein leises Wispern, während er an mir vorbei glitt. Ich spürte seine Anwesenheit hinter mir, aber ich war nicht in der Lage, mich umzudrehen. Mein Zittern nahm zu und ich merkte, wie die Panik sich langsam aber sicher in mir ausbreitete.
»Versuch es erst gar nicht, du wirst dich nicht bewegen können.« Ich spürte einen Lufthauch in meinem Nacken, eine flüchtige Berührung, bei der mir ein Schaudern nach dem anderen den Rücken hinunter lief. Plötzlich befand sich der Schatten direkt vor mir. Der Schemen löste sich auf und ich erkannte die Person aus dem Schatten. Silas. Mit blutroten Augen. Er kam langsam auf mich zu. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, keine Emotionen. Kein einziges Zeichen, dass er wusste, wer ich war. Er blieb vor mir stehen und streckte seine Hand nach mir aus. Ich war so verängstigt, dass es mich in diesem Moment nicht einmal störte, dass ich mich nicht bewegen konnte, hätte ich doch nicht gewusst, wie ich reagieren sollte.
»So klein und unschuldig.« Ich spürte seinen Atem, als er lachte. Seine Hand streichelte meine Wange, strich meinen Hals entlang und blieb auf meiner Halsschlagader liegen. Ich wusste, dass er meinen schnellen Herzschlag unter seinen Fingern spüren konnte. Sein emotionsloser Blick ließ mich vollkommen verunsichert zurück.
»Hab keine Angst«, flüsterte er. Die Dunkelheit zog sich um uns zusammen, begann Silas immer weiter einzuhüllen und zu verschlucken, bis er vollständig verschwunden war. Mit aufgerissenen Augen starrte ich die Stelle an, an welcher er sich eben befunden hatte. Doch da war nichts mehr. Dennoch war das Gefühl seiner Berührung an meinem Hals nicht verschwunden, es war, als läge seine Hand noch immer auf meiner Haut. Aber auch dieses Gefühl verschwand langsam. Zunächst fühlte ich Erleichterung in mir aufsteigen, nun gab es nichts mehr, was mich verängstigte.
Doch dann bemerkte ich den Rauch um mich herum. Wie ein dichter Nebelschleier kam er auf mich zu, hüllte mich von allen Seiten ein. Die Luft wurde stickiger, der Rauch drang in meine Lungen und ich hustete. Ich spürte, dass ich mich wieder bewegen konnte.
Erleichtert keuchte ich, versuchte, meinen Mund mit meiner Hand zu bedecken, und musste dabei feststellen, dass ich an einen Stuhl gefesselt war. Mitten in einem Raum, der sich immer weiter mit Rauch füllte. Verzweifelt riss ich an den Stricken, mit welchen meine Arme und Beine festgebunden waren, als ich an der mir gegenüberliegenden Zimmerseite Flammen sah. Stumm und wunderschön, aber dennoch heiß und tödlich. Ich drohte, mein Bewusstsein zu verlieren, und meine Angst war genauso schnell wieder an Ort und Stelle, wie sie eben verschwunden war. Doch das durch meinen Körper strömende Adrenalin hielt mich hellwach.
»Hilfe!« Mein Schrei war mehr ein leises Röcheln, als ich sah, wie die Flammen auf mich zugekrochen kamen. »Bitte, hilf mir.« Ich spürte die Anwesenheit Silas‘ und sah Sekunden später seinen Umriss, wie er durch die Flammen auf mich zugelaufen kam.
»Hab keine Angst. Sie tun dir nichts. Sie wollen nur spielen.« Seine Augen waren nicht länger blutunterlaufen, sondern so warm und braun, wie ich sie kannte. Doch seine Worte beruhigten mich nicht, kamen nicht gegen die Furcht in meinem Inneren an. Silas lief mit ruhigen Schritten durch die Flammen, ohne dass sie ihm etwas antaten. Er lächelte, als er meinen verstörten Blick auffing.
Vorsichtig streckte er seinen Arm ins Feuer und ich sah, wie sich eine der Flamme an seinem Arm entlang wand und sich an ihn schmiegte. Doch ich konnte mich weder auf Silas noch auf die ihn umgebenden Flammen konzentrieren, da ich sah, dass die erste der Feuerzungen meinen Fuß erreicht hatte. Voller Panik schrie ich laut auf, riss verzweifelt an meinen Fesseln und spürte nichts als pure Angst. Ich wollte nicht verbrennen! Von allen Möglichkeiten zu sterben, war dies schon immer die gewesen, welche mir am meisten Angst bereitet hatte.
Silas lachte leise, als er meinen Schrei hörte. Ich verstand nicht, wie er so ruhig vor mir stehen konnte, ohne mir zu helfen, mich von meinen Fesseln zu befreien.
»Deine Angst ist so groß, dass du gar nicht spürst, dass sie dich mögen. Du spürst ihre Liebe nicht, spürst nicht, wie sie sich sanft an dich schmiegen. Schau dir die Flammen an, Nico! Du darfst dich nicht von deiner Angst besiegen lassen, die Fesseln sind nichts weiter als deine Ängste.« Es dauerte kurz, bis seine Worte zu mir vordrangen. Erstaunt hielt ich inne, als mir klar wurde, dass er recht hatte. Die Flammen krochen an meinen Beinen nach oben, ohne dass ich dabei Schmerzen verspürte. Ich bemerkte die Hitze, welche sie verströmten, aber sie verbrannte mich nicht.
Mein Herzschlag beruhigte sich, als ich mir bewusst wurde, dass keine Gefahr von dem Feuer um mich herum ausging. Ich verspürte nicht einmal mehr den Drang, zu husten. Vorsichtig streckte ich meine Hand nach den Flammen aus, welche die Fesseln um meine Arme und Beine vernichtet hatten.
Kurz zuckte ich zurück, als ich die warme Substanz berührte, die meinen Oberkörper hinauf kroch. Es tat nicht weh. Ehrfürchtig versuchte ich, die Flammen zu fassen bekommen, doch geschickt wichen sie meinen Fingern aus. Sie schienen sich nicht einfangen lassen zu wollen, sodass ich es schließlich sein ließ und ihnen stumm dabei zuschaute, wie sie immer mehr von meinem Körper Besitz ergriffen, als mir Silas wieder einfiel.
Ich hob meinen Kopf und begegnete seinem Blick, mit welchem er mich erfreut anschaute. Wir sagten beide nichts, schauten uns einfach nur gegenseitig an und lächelten. Es gab keine Worte, die beschreiben konnten, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Von meinen Fesseln befreit stand ich auf, bewegte mich auf Silas zu und blieb vor ihm stehen. Streckte eine Hand nach seinem Gesicht aus und strich vorsichtig über dieses. Die Flammen, welche sich an seinen Körper geschmiegt hatten, vermischten sich mit den meinen. Bildeten eine warme Hülle um uns herum, die uns vom Rest der Welt abschirmte.
Silas überbrückte die Distanz zwischen uns, legte seine kräftigen Arme um meine Schultern und zog mich sanft an sich. Ich konnte nicht anders, als mich an ihn zu schmiegen; umhüllt von den Flammen und seinen Armen bettete ich den Kopf an seinen Hals und fühlte mich sicher und geborgen.
Schweißgebadet wachte ich auf. Im Schlaf hatte ich die Bettdecke zur Seite gestrampelt, weshalb ich leicht fröstelte. Ich war verwirrt, fühlte mich komisch; zufrieden und doch einsam. Mein Kopf war wie leergefegt, wo Sekunden zuvor das Traumgeschehen gewesen war, befand sich nun nichts außer einer gähnenden Leere. So sehr ich es auch versuchte, ich bekam den Traum und dessen Inhalt nicht zu fassen. Leise seufzte ich. An Schlaf war nicht mehr zu denken, ich war hellwach. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es gegen fünf Uhr morgens war. Ich beschloss aufzustehen.
Kurze Zeit später befand ich mich unter der Dusche, genoss mit geschlossenen Augen das Gefühl des lauwarmen Wassers, das auf meine Haut prasselte. Nach dem Duschen lief ich in die Küche und schaute nach, was wir an Essen vorrätig hatten. Nicht mehr viel; einer von uns sollte morgen dringend einkaufen gehen. Ich begnügte mich mit Cornflakes und Obst, welche ich ohne Eile in mich hineinschaufelte.
Nach dem Frühstück schrieb ich Lia einen Zettel. Ich war mir zwar sicher, dass sie sich nicht wundern würde, dass ich nicht zu Hause war, doch ich mochte die Geste, mochte es, ihr diesen Zettel zu schreiben und damit sicherzugehen, dass sie sich keine unnötigen Sorgen machte.
Es dauerte nicht lange, bis ich mir darüber klargeworden war, wie ich den Tag verbringen wollte. Ich wollte mein Glück versuchen und hoffte, im Wald erneut auf Silas zu treffen. Während etwas Essen den Weg in meinen Rucksack fand, beschloss ich, meine Kopfhörer daheim zu lassen. Ich befand mich nicht in der richtigen Stimmung, um beim Laufen Musik zu hören.
Wie von selbst trugen mich meine Beine in den Wald. Doch bevor ich die Richtung des Schuppens einschlug, fiel mir auf, dass es ziemlich früh war. Sollte Silas im Schuppen sein, würde er bestimmt schlafen. Es gab nichts Unheimlicheres, als im Wald zu übernachten und vollkommen unerwartet von einer anderen Person geweckt zu werden. Also beschloss ich, zunächst woanders entlang zu laufen und meinen Gedanken nachzuhängen. Zum Schuppen konnte ich später immer noch gehen.
* * *
Es war gegen acht Uhr, als mir auffiel, dass in meiner Nähe eine andere Person sein musste. Kurz blieb ich stehen, lauschte auf die Geräusche, die mir signalisierten, dass jemand durch die Büsche lief, und stellte fest, dass die Schritte langsam aber sicher näherkamen. Schnell setzte ich mich wieder in Bewegung und gab mir Mühe, möglichst wenig Geräusche von mir zu geben, was nicht so gut wie erwartet klappte. Je leiser ich zu sein versuchte, desto öfter blieb ich mit den Armen an Ästen und mit den Füßen an Wurzeln hängen.
Das Adrenalin begann durch meine Adern zu rauschen. Ich rannte durch den Wald, wohlwissend, dass ich dabei nur noch lauter als ohnehin schon war. Doch ich hatte die Hoffnung, dass ich schneller als die andere Person war, und somit diesen Nachteil meiner Flucht ausgleichen konnte. Nicht einen einzigen Gedanken verschwendete ich daran, dass nicht jeder, der wie ich morgens im Wald unterwegs war, etwas Böses im Sinn hatte.
»Ey, Nico, jetzt warte doch mal!« Die Worte kamen so unerwartet für mich, dass ich eine Wurzel vor mir übersah und mit dem Fuß an dieser hängenblieb. Kurz versuchte ich, mich zu fangen, was aber nur dazu führte, dass ich mit den Armen voran Bekanntschaft mit dem Waldboden machte. Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Handgelenke bis hinauf in die Schultern, weshalb mir Tränen in die Augen traten, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Die Schritte hinter mir holten mich ein, was mich aber nicht störte, hatte ich doch durch die Worte gemerkt, dass es Silas war, welcher mir hinterherlief.
»Unsere Begegnungen beginnen jedes Mal auf eine seltsame Art und Weise.« Silas hatte mich eingeholt und hockte sich vor mir auf den Boden, wo ich nach wie vor lag und die Tränen aus meinen Augen blinzelte. Sein Atem ging schwerer als der meine, ihm schien das Rennen mehr ausgemacht zu haben, als es bei mir der Fall war.
»Wo kommst du denn plötzlich her?« Ich rappelte mich auf, saß vor ihm und strich über meine schmerzenden Handgelenke. Vorsichtig streckte ich meine Finger aus und probierte, welche Bewegungen besonders schmerzhaft waren.
»Was heißt denn plötzlich? Du bist vorhin an mir vorbei gelaufen, ohne mich zu bemerken, und als ich dich gerufen habe, hast du nicht reagiert. Also habe ich meine Sachen zusammengepackt und bin dir hinterhergelaufen, habe dich noch ein oder zweimal gerufen, aber da du so in deinen Gedanken versunken warst, hast du das nicht mitbekommen und ich kam mir etwas seltsam vor, wie ich durch den Wald laufe und deinen Namen rufe. Also dachte ich, ich versuche, dich einzuholen. Konnte ja nicht wissen, dass du dich nicht umdrehst, sondern vor mir davon rennst, sobald du bemerkst, dass dir jemand folgt.«
Etwas peinlich berührt kratzte er sich am Hals, während ich ihn ebenfalls leicht verlegen anschaute. Es war mir unangenehm, dass ich ihn nicht gehört und stattdessen die Flucht ergriffen hatte. Kurz schauten wir uns stumm an, bevor Silas sich aufrichtete und mir seine Hand reichte. Ich ließ mir von ihm hochhelfen, klopfte den Dreck von meiner Kleidung und nahm meinen Rucksack, der bei dem Sturz von meinem Rücken gerutscht war. Auch Silas griff sich seinen Rucksack, welchen er neben sich abgestellt hatte. Langsam trotteten wir nebeneinander her.
»Was hast du eigentlich mitten im Wald gemacht?« Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich nicht doch irgendwen während meines Spaziergangs wahrgenommen hatte. Fehlanzeige. Wie Silas gemerkt hatte, war ich vollkommen in meinen Gedanken vertieft gewesen. Ob mir sowas wohl schon einmal passiert war? Dass mich jemand gerufen und ich die Person gar nicht wahrgenommen hatte? Der Gedanke war nicht sonderlich angenehm.
»Ich bin früher als sonst aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Und weil mir der Schuppen zu wenig Abwechslung geboten hat, habe ich meine Sachen gepackt und mir einen schönen Platz gesucht, wo ich in Ruhe essen konnte.« Ich hatte mit meiner Vermutung, dass Silas im Schuppen übernachtete, recht gehabt.
»Und was hast du so früh im Wald gemacht? Bist du zum Nachdenken hergekommen?« Ich nickte leicht und versuchte, zu verhindern, dass mein Gesicht rot anlief. Klar, es war nicht gelogen, doch ich musste ihm nicht unbedingt unter die Nase reiben, dass mich die Hoffnung, den Tag heute ebenfalls mit ihm verbringen zu können, hergeführt hatte. Früher oder später würde er schon bemerken, dass er mich seit unserem Zusammenstoß in seinen Bann gezogen hatte.
»Hatte einen komischen Traum und konnte dann nicht mehr einschlafen«, fügte ich seiner Erklärung hinzu. Es war schön, neben ihm herzulaufen, auch wenn meine schmerzenden Handgelenke verhinderten, dass ich unser Gespräch so richtig genießen konnte.
»Worum ging’s in dem Traum?«
»Weiß nicht mehr, ich bin nur total verschwitzt aufgewacht mit so einem komischen Gefühl, das irgendwie schön und irgendwie grässlich war.« Es dauerte nicht lang, bis wir auf einem der Hauptwege landeten, welche aus dem Wald in das Wohngebiet führten. Unentschlossen schauten wir uns an.
»Wie geht’s deinen Händen?« Silas war nicht entgangen, dass diese bei meinem Sturz mehr abbekommen hatten, als mir lieb war. Unwissend, wie ich auf diese Frage antworten sollte, zuckte ich mit den Schultern. Es tat weh, doch solange ich mich nicht zu sehr darauf konzentrierte, war es auszuhalten. Dennoch wollte ein Teil von mir nichts lieber, als zurück nach Hause zu gehen und mich in mein Bett zu legen, in der Hoffnung, dass es nach dem Aufwachen weniger schmerzte. Der weitaus größere Teil von mir war aber zu stolz, um zuzugeben, wie weh es tat, und würde stattdessen den Tag lieber gemeinsam mit Silas im Schuppen verbringen.
»Vielleicht wäre es besser, wenn du nach Hause gehst, deine Gelenke kühlst und sie den Rest des Tages nicht mehr so viel bewegst.« Sein Vorschlag klang vernünftig, aber ich wollte nicht den ganzen Tag allein in meinem Zimmer sitzen.
»Willst du mitkommen?« Mir war klar, wie schüchtern die Frage meinen Mund verließ, doch es hatte mich einiges an Mut gekostet, sie überhaupt zu stellen. Wäre da nicht dieser Hauch von Bedauern in Silas‘ Stimme gewesen, als er darüber sprach, dass ich besser nach Hause gehen sollte, so hätte ich mich wahrscheinlich nicht getraut, ihn zu fragen, ob er mitkommen wollte. Umso glücklicher war ich, als ich sah, wie seine Augen erfreut aufleuchteten, und er kurz nickte.
»Gern, wenn’s dich nicht stört.«
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zurück zu mir nach Hause. Es freute mich, dass er mitkam, auch wenn es mich etwas nervös werden ließ, dass er erfahren würde, wie und wo ich wohnte. Doch so, wie ich ihn bisher kennengelernt hatte, war ich mir sicher, dass es ihn nicht weiter störte, dass Lia und ich nicht das größte Haus der Stadt bewohnten.
Bei mir zu Hause angekommen, wussten wir nicht, was wir tun sollten. Nachdem wir etwas im Wohnzimmer herumsaßen und keine richtige Unterhaltung zustande kam, beschloss ich, Silas mit in mein Zimmer zu nehmen. Dort fühlte ich mich wohl und sicher, außerdem hatte ich die Hoffnung, dass Silas wieder mehr aus sich herauskam und das Gespräch in Gang brachte. Es war komisch, wie wir plötzlich so schüchtern vor dem anderen waren, wie zurückhaltend Silas sich in unserem Haus umgeschaut hatte, so als wolle er nicht ungefragt in unsere Privatsphäre vordringen.
Ich holte schnell zwei Kühlpacks und verzog mich anschließend mit Silas in mein Zimmer. Wie ich es mir gedacht hatte, taute Silas etwas auf und schaute sich neugierig um. Während er zuvor nur vorsichtig einen kurzen Blick auf unsere Einrichtung und Wanddeko geworfen hatte, ließ er nun keine Kleinigkeit in meinem Zimmer unbeachtet. Interessiert fuhr er mit der Hand über die Buchrücken, welche sich in meinem Regal aneinanderreihten. Bei manchen blieb er kurz hängen, so als würde er überlegen, ob er sie kannte.
Während ich ihn beobachtete, zog ich meine Schuhe aus und setzte mich auf das Bett, rutschte an die Wand und lehnte mich zufrieden an diese. Je mehr ich mich bewegte, umso mehr schmerzten meine Handgelenke, weshalb ich froh war, mich einfach nur entspannt zurücklehnen zu können.
»Darf ich mir das ausleihen?« Silas schaute mich fragend an und hielt meine Ausgabe von Hesses Demian in der Hand. Ohne überlegen zu müssen, nickte ich. Mir gefiel der Gedanke, dass er sich etwas von mir borgen wollte, schließlich implizierte dies, dass wir uns spätestens, wenn er mir das Buch zurückgab, erneut sehen würden. Und dagegen hatte ich nicht das Geringste einzuwenden.
»Kennst du das Buch schon?«
Nun war er es, der kurz nickte. »Habe es vor ein paar Jahren durch Zufall gelesen und seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen. Nicht, dass ich noch sonderlich viel vom Inhalt wüsste, doch es ist eins dieser Bücher, bei deren Namen ich sofort weiß, dass es verdammt gut ist. Ich würde es jedem empfehlen zu lesen, egal wie alt man ist.« In mir stieg ein warmes Gefühl auf, als ich sah, wie er andächtig über das Buchcover strich und es anschließend zufrieden in seinen Rucksack packte.
Eine Weile schaute er sich noch um, doch nichts gewann seine Aufmerksamkeit auf die Weise, wie es meine Bücher getan hatten. Als er sich genügend umgesehen hatte, setzte er sich im Schneidersitz vor mir auf das Bett. Es gefiel mir, wie er sich in meinem Zimmer verhielt. Wenn ich bei anderen zu Besuch war, so hielt ich mich die erste Zeit immer zurück und war unsicher, ob es für jeden cool war, wenn ich mich ungefragt irgendwo hinsetzte. Viel zu oft hakte ich nach, anstatt es auszuprobieren und anhand der Reaktionen zu erkennen, ob mein Verhalten okay war. Falls es jemanden störte, wie ich mich in seinem Zimmer verhielt, würde er mir das schon mitteilen. Silas schien kein Problem damit zu haben, sich in meinem Zimmer wie zu Hause zu fühlen.
»Wie geht’s deinen Händen?« Während sich meine Schultern wie von selbst hoben, lächelte ich, da er unbewusst die gleichen Worte wie zuvor im Wald benutzte.
»Nicht so gut, um ehrlich zu sein.«
»Tut mir echt unglaublich leid, dass ich dich so erschreckt habe.« Man sah ihm an, dass er seine Worte ernst meinte.
»Kannst du ja nichts dafür, ich bin selbst schuld dran. Wäre ich nicht so in meinen Gedanken gefangen gewesen, hättest du mich gar nicht so erschrecken können.« Seine Mimik machte deutlich, dass er sich trotz meiner Worte zumindest ein Stück weit dafür verantwortlich fühlte, dass ich nun mit schmerzenden Händen vor ihm saß. Mir an seiner Stelle wäre es mit Sicherheit nicht anders gegangen. Vorsichtig streckte er seine Hand nach mir aus und schob die Kühlpacks zur Seite. Erschrocken zog er die Luft ein, als er die blauen Flecke sah, welche mir selbst noch gar nicht aufgefallen waren. Er drehte meine Hand in verschiedene Richtungen und achtete auf meine Reaktionen.
»Was machst du da?«
Er grinste leicht. »So wirken als hätte ich Ahnung von dem, was ich tue, um dich im Anschluss möglichst einfach davon überzeugen zu können, zum Arzt zu gehen.«
Ich schloss mich seinem Grinsen an, bevor sich dieses zu einer Grimasse verwandelte. Auch wenn er lachte, spürte ich, dass er es ernst mit seinen Worten meinte.
»Ein Kumpel von mir ist nach einem Sturz auf die Handgelenke nicht direkt zum Arzt gegangen und später hat sich herausgestellt, dass eins einen komplizierten Bruch hatte, der hinterher falsch zusammengewachsen ist, sodass sie ihm im Krankenhaus die Knochen noch einmal brechen mussten, damit sie richtig zusammenwachsen konnte. Soweit ich weiß, kann er seine Hand nicht mehr so wie früher benutzen und hat manchmal Schmerzen. Ich würde wirklich zu einem Arzt oder ins Krankenhaus gehen, denn selbst wenn sich herausstellt, dass es nur eine Prellung ist, bist du auf der sicheren Seite.«
Mein Seufzen zeigte uns beiden, dass ich mich geschlagen gab. »Ich hasse Krankenhäuser«, murmelte ich vor mich hin, was Silas zum Grinsen brachte.
»Ich bin noch niemandem begegnet, der Krankenhäuser geliebt hat. Wenn du möchtest, kann ich mitkommen, dann ist dir beim Warten auf die Behandlung nicht so langweilig.« Ich war froh über das Angebot, doch wollte gleichzeitig nicht, dass er ebenfalls einen Tag auf diese Art und Weise vergeudete.
»Fände ich schön. Aber musst du wirklich nicht, du hast bestimmt Besseres zu tun.«
»Als mit dir in einem überfüllten Wartezimmer zu sitzen und sicher zu gehen, dass es dir gut geht? Nein, eigentlich fällt mir nichts ein, womit ich unter den gegebenen Umständen lieber meine Zeit verbringen wollen würde.« Er grinste mich schief an, während meine Wangen sich rot färbten. Mein Herz schlug schnell und aufgeregt, doch ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Worte freuten.
»Dann lass uns lieber gleich losgehen, bevor ich es mir anders überlegen kann.«