Nico und Will – Reise ins Dunkel - Rick Riordan - E-Book

Nico und Will – Reise ins Dunkel E-Book

Rick Riordan

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Beschreibung

Licht und Dunkelheit. Himmel und Unterwelt. Will und Nico!  Als Sohn des Hades hat Nico di Angelo schon viele Verluste erlitten. Zum Glück gibt es einen Lichtstrahl in seinem Leben: seinen Freund Will, Sohn des Apollo. Zusammen sind die beiden unschlagbar. Bis jetzt, denn Nico wird immer wieder aus den Tiefen des Tartarus um Hilfe angerufen. Es ist die Stimme des Titanen Bob, den Percy einst allein dort zurücklassen musste. Nico muss zu ihm – und natürlich besteht Will darauf, mitzukommen. Aber kann Will als Wesen des Lichtes im dunkelsten Teil der Welt überhaupt überleben? Und was bedeutet die Prophezeiung, dass Nico dort unten »etwas Gleichwertiges zurücklassen« muss? Als Nico sowohl inneren als auch äußeren Dämonen gegenübersteht, wird seine Beziehung zu Will auf eine harte Probe gestellt. Für diese Nebengeschichte aus der Percy-Jackson-Welt hat sich Rick Riordan mit dem preisgekrönten Autor und queeren Aktivisten Mark Oshiro zusammengetan. Gemeinsam haben sie einen Roman geschaffen, der darüber erzählt, wie wichtig es ist, für sich selbst einzustehen. ***Ein spannendes Spin-off mit Nico und Will aus dem Percy-Jackson-Univserum: Die Geschichte eines ungleichen Liebespaares, das seinen Platz in der Welt sucht***

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Rick Riordan und Mark OshiroNico und Will – Reise ins Dunkel

Aus dem Englischen von Gabriele Haefs

Als Sohn des Hades hat Nico di Angelo schon viele Verluste erlitten. Zum Glück gibt es einen Lichtstrahl in seinem Leben: seinen Freund Will, Sohn des Apollo. Zusammen sind die beiden unschlagbar. Bis jetzt … Denn Nico wird immer wieder aus den Tiefen des Tartarus um Hilfe angerufen. Es ist die Stimme des Titanen Bob, den Percy einst allein dort zurücklassen musste. Nico muss zu ihm – und natürlich besteht Will darauf, mitzukommen. Aber kann ein Wesen aus Licht in der ewigen Düsternis überleben? Und was bedeutet die Prophezeiung, dass Nico dort unten »etwas Gleichwertiges zurücklassen« muss?

Für diesen Roman aus der Percy-Jackson-Welt hat sich Rick Riordan mit dem preisgekrönten Autor und queeren Aktivisten Mark Oshiro zusammengetan, da ein junges schwules Paar im Mittelpunkt dieser magischen Abenteuerreise steht.

»Legendär!«

The Guardian

WOHIN SOLL ES GEHEN?

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Viten

 

Für alle Nicos, Wills, Pipers und alle dazwischen:Das hier ist für euch.

Möget ihr so hell leuchten wie die Sonneund die Sterne

 

»Nico di Angelo, erzähl mir eine Geschichte.«

Nico wurde ungeduldig. Eine Geschichte? Irgendeine Geschichte? Das kam ihm zu leicht vor, nach allem, was sie durchgemacht hatten.

Nach all dem Leiden.

Er schaute kurz zu Will hinüber, und sein Liebster hob eine Augenbraue. Er sah müde aus. Zu müde. Und sein Verband …

Nico drehte sich der Magen um. Die Mullbinden waren schon wieder von Blut durchtränkt.

Er drehte sich zu Gorgyra um. »Eine Geschichte worüber?«, fragte er.

Die Nymphe musterte zuerst Nico und dann Will. Würde sie nun wieder Fäden aus ihnen herausziehen?

Nico spürte, dass etwas seine Fingerknöchel berührte. Er schaute nach unten und sah, dass Will versuchte, seine Hand zu nehmen. Er spreizte die Finger, damit Wills dazwischenschlüpfen konnten.

Nicos Herz wurde schwer. Wills Griff war so schwach.

Nico musste das hier tun. Er musste vollenden, was sie begonnen hatten.

Das Flüstern rief nach ihm.

Und dann tat es Gorgyra auch.

»Erzähl mir von euch beiden«, sagte sie.

KAPITEL 1

Nico stand vor der schlimmsten Entscheidung seines Lebens, und er war sicher, dass er dabei Mist bauen würde.

»Ich kann das nicht«, sagte er zu Will Solace, dem umwerfend schönen Sohn des Apollo, der ihm gegenüberstand. Aber es war Austin Lake – eines von Wills Halbgeschwistern –, auf dem Nicos Aufmerksamkeit lag. Austin lief hinter Will hin und her, und das machte Nico noch nervöser.

»Steh doch mal still, Austin«, sagte Nico. »Ich kann mich nicht konzentrieren.«

»Tut mir leid, Mann«, sagte Austin. »Das hier stresst mich einfach so.«

»Du musst dich entscheiden«, sagte Will zu Nico. »So sind die Regeln.«

Nico runzelte die Stirn. »Ich bin der Sohn des Hades. Die meisten Regeln interessieren mich nicht.«

»Aber du hast diesen hier zugestimmt«, sagte Kayla Knowles, ein weiteres Kind des Apollo. Sie ließ einen Kirschlolli in ihrem Mund herumwirbeln. »Bist du ein Halbgott ohne Ehre, Nico di Angelo?«

Austin lief weiter hin und her. »Um fair zu sein, ich glaube nicht, dass für diese Aufgabe besonders viel Ehre nötig ist.«

»Klappe!«, sagte Nico und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Was, wenn er die falsche Entscheidung traf? Würde Will dann enttäuscht von ihm sein?

Aber als er Will ansah, fand Nico in dessen Gesicht nur Erwartung. Von der guten Sorte. Will war bereit für alles, was Nico vielleicht sagen würde, und egal, wie die Sache ausging, Will würde ihn danach noch immer genauso schätzen.

Was habe ich je getan, um ihn zu verdienen?, überlegte Nico. Er stellte sich diese Frage sehr oft.

»Na gut, ich habe mich entschieden«, sagte Nico.

»Ich könnte explodieren«, sagte Austin.

»Dies könnte das Ende der Welt sein«, sagte Kayla, die die Hand mit dem Lolli jetzt gesenkt hatte, die Augen voller Besorgnis.

»Also«, sagte Nico, »wenn ich die Wahl hätte …«

»Ja?«, drängte Will. »Dann würdest du dich entscheiden für …«

Nico holte tief Luft.

»Darth Vader.«

Will und Kayla stöhnten, Austin dagegen sah aus, als ob Nico ihm soeben einen Ferrari zum Geburtstag geschenkt hätte.

»Mann!«, schrie Austin. »Das ist die beste Antwort aller Zeiten!«

»Das ist die schlimmste Antwort aller Zeiten«, sagte Kayla. »Wieso denn Vader, wenn man auch Kylo Ren haben kann?«

»Ich hatte ja auf eine drastischere Wahl gehofft«, sagte Will nachdenklich. »Vielleicht jemanden wie General Grievous oder Dryden Vos.«

»Hört doch auf«, sagte Nico. »Ich hab diese ganzen Filme erst gestern zu Ende gesehen. Ich kann mich kaum erinnern, was in den Prequels passiert ist.« Er hielt kurz inne. »Waren das alles wirklich Figuren aus Star Wars oder macht ihr hier Witze?«

»Keine Ablenkungsmanöver, Nico«, sagte Kayla. »Darth Vader? Du würdest zu einem Date mit Darth Vader gehen?«

»Willkommen in meiner Welt«, witzelte Nico. Er sah, dass Will eine Grimasse schnitt – nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber er hatte es trotzdem gesehen.

»Das hier ist ein Safe Space«, sagte Austin. »Für unsere Antworten dürfen wir nicht verurteilt werden, nicht vergessen.«

»Ich nehme es zurück«, sagte Kayla. »Das hier ist ein Hardcore-Verurteilungs-Space.«

»Du bist so still, Will«, sagte Nico. »Vor allem als oberster Star-Wars-Fan in der Gruppe.«

»Ich denke über die Gründe für deine Antwort nach«, sagte Will. »Du liegst vielleicht gar nicht so falsch.«

»Er ist mächtig«, sagte Nico.

»Und entscheidungsfreudig«, sagte Will. »Er hätte immer einen Plan, wo ihr für euer Date hingehen könntet. Da würde es keine Diskussionen geben.«

»Meint ihr, der nimmt beim Essen den Helm ab?«, fragte Kayla.

Nico legte sich die Hand aufs Herz. »Stellt euch vor, wie Darth Vader beim Essen den Helm abnimmt und euch über den Tisch hinweg sehnsüchtig in die Augen schaut. Das nenne ich doch mal romantisch.«

Will lachte laut und ließ dann sein strahlendes Lächeln aufblitzen.

Warum, oh warum kam es ihm wie ein solcher Sieg vor, Will zum Lachen zu bringen? Nico hatte so lange geglaubt, dass er selbst kein Herz hatte. Er war schließlich der Sohn des Hades. Zu Leuten wie ihm kam die Liebe nicht. Aber wer dann gekommen war, war … Will. Will, der Nicos Eis mit einem Lächeln schmelzen konnte. Es war leicht zu erraten, welcher Gott Wills Vater war – Will strahlte Energie und Licht aus. Manchmal im wahrsten Sinne des Wortes, das hatten sie dieses Jahr in den Höhlen der Troglodyten gelernt. Will war der Sohn des Apollo, durch und durch.

Vielleicht stimmte ja dieser Spruch von den Gegensätzen, die sich anziehen, denn Nico kannte keinen anderen Menschen, der noch mehr sein Gegensatz war. Und trotzdem waren sie jetzt seit fast einem Jahr zusammen. Ein Jahr zusammen! Nico hatte wirklich einen festen Freund!

Er war noch immer nicht sicher, ob das stimmen konnte.

Die vier Halbgötter setzten ihren Rundgang durch Camp Half-Blood fort. Im Amphitheater brannte kein Feuer. Vielleicht würden Nico und Will an diesem Abend eins anzünden, langsam wurde es jetzt kühler auf Long Island. Es gab keine Campbewohner, die zur Waffenkammer oder zur Schmiede liefen, niemand besuchte die Höhle des Orakels. Die Hütten waren leer, bis auf die von Hades und Apollo; ein deutliches Zeichen, dass der Sommer vorüber war.

Nico mochte es nicht zugeben, aber er würde sie vermissen … und zwar so ziemlich alle Campbewohner, auch wenn es manchmal anstrengend war, zu den Hüttenältesten zu gehören. Vor allem wollte er sich nicht von Austin und Kayla verabschieden müssen.

Während sie durch die Erdbeerfelder gingen, spürte Nico, wie Kaylas und Austins Anspannung wuchs. Sie hatten heute die schwere Entscheidung fällen müssen, wie sie reisen wollten, und als die vier auf den Half-Blood Hill kletterten, wurden Kayla und Austin immer langsamer.

»Ich denke gerade, wir hätten uns vielleicht anders entscheiden sollen«, sagte Kayla.

»Bist du sicher, dass es gut gehen wird, Nico?«, fragte Austin.

»Klar«, sagte Nico. »Ich meine … dabei ist noch nie jemand gestorben oder so.«

»Das ist bei Weitem kein so großer Trost, wie du meinst«, sagte Kayla.

»Natürlich geht das gut«, sagte Will und legte Austin die Hand auf die Schulter. »Ich habe gehört, es ist etwas chaotisch und manchen wird ein bisschen schlecht dabei, aber ihr werdet unversehrt zu Hause eintreffen.«

Sie waren oben auf dem Hügel angekommen, wo das Goldene Vlies am untersten Ast der Fichte glitzerte. Unten schlängelte sich die Farm Road 3141 um den Hügel herum und markierte die Außengrenze des Camps. Im Kies am Straßenrand, neben einem Stapel von Kartons und Reisetaschen, stand Chiron, der Unterrichtskoordinator von Camp Half-Blood, und seine untere Hälfte, die eines Pferdes, leuchtete weiß im Nachmittagslicht.

»Da seid ihr ja«, rief der Zentaur. »Kommt her!«

Niemand beeilte sich. Für Nico war deutlich, dass Kayla und Austin nicht scharf darauf waren, das Camp zu verlassen. Die meisten anderen waren bereits in ihr »normales« Leben zurückgekehrt, bis auf … na ja, was war für jemanden wie Nico schon normal?

Gewaltige Schlachten.

Die ständige Gefahr von Niederlage und Tod.

Gespräche mit Toten.

Weissagungen.

Die Stimme aus seinen Träumen wurde wieder in ihm laut und rief um Hilfe.

Rachel Dares Worte verfolgten ihn ebenfalls. Nur er und Will hatten gehört, was das Orakel vor einigen Wochen geweissagt hatte, und Nico hatte sich noch niemandem anvertraut, nicht einmal den anderen Hüttenältesten. Warum hätte er das auch tun sollen? Die Stimme hatte ja nicht vor dem Untergang des ganzen Camps gewarnt. Soweit Nico wusste, war die Welt für den Moment sicher vor wütenden Gottheiten oder aufrührerischen Titanen. Auferstandene römische Kaiser mit Größenwahn waren auch kein Grund mehr zur Besorgnis.

Die Weissagung bezog sich nur auf die einsame Stimme, die in seinen Träumen um Hilfe rief.

Genauer gesagt, um Nicos Hilfe.

»Ein paar Satyrn haben eure Sachen geholt«, sagte Chiron, als die vier Halbgötter ihn erreicht hatten. »Sie wünschen euch alles Gute für die Reise.«

»Das können wir sicher brauchen«, knurrte Kayla. »Chiron, sagen Sie uns bitte die Wahrheit. Die Grauen Schwestern werden uns umbringen, oder?«

»Was? Nein!« Chiron machte ein entsetztes Gesicht. »Wenigstens haben sie das bisher noch nie getan.«

»Sie und Nico!«, rief Austin und hob verzweifelt die Hände. »Sie finden es wohl beide in Ordnung, uns so was zu erzählen!«

Um Chirons Augen erschienen Lachfältchen. »Aber, aber, ihr seid doch Halbgötter. Euch wird nichts passieren. Aber ihr könntet ihnen gleich zu Beginn der Tour ein paar Drachmen extra geben. Ich habe gehört, das macht das Erlebnis weniger … intensiv.«

Er griff in die Tasche seiner Bogenschützenweste, zog eine goldene Münze hervor und warf sie auf die Straße. »Halte an, oh Kutsche der Verdammnis!«

Kaum hatte Chiron das gesagt, da traf auch schon das Taxi ein.

Es fuhr nicht auf sie zu und wurde dabei langsamer. Es war einfach da. Die Münze versank im Asphalt, schwarze Rauchfäden kräuselten sich aufwärts, der Straßenbelag verzog sich und das Taxi der Grauen Schwestern brach ins Dasein ein. Es sah zwar aus wie ein Taxi, aber seine Ränder flirrten und flimmerten, wenn man zu lange hinschaute. Nico hatte schon so oft gehört, was Percy, Meg und Apollo mit diesem besonderen Verkehrsmittel für Erfahrungen gemacht hatten. Sie hatten ihm immer wieder erzählt, dass ihnen sogar Schattenreisen mit ihm lieber wären als der holprige, Brechreiz auslösende Albtraum einer Tour in diesem Wagen. Die Grauen Schwestern hassten Halbgötter schon seit ewigen Zeiten, und inzwischen betrachteten sie alle Halbgötter und -göttinnen im Camp Half-Blood als potenziell hassenswert.

Nico mochte es den anderen gegenüber nicht zugeben, aber er war den Schwestern schon einige Male allein begegnet, und eigentlich mochte er sie. Sie waren widerborstig. Schwierig. Überaus eigen. Chaotisch, und doch auf seltsame Weise zuverlässig. Sie zeigten ihre Finsternis ganz offen. Beim Styx, sie teilten sich zu dritt ein einziges Auge! Nico konnte gar nicht anders, als sie gut zu finden.

Die Schwestern waren gerade in einen Streit verwickelt, als eine der Hecktüren aufsprang.

»Ich weiß genau, was ich tue, Wespe«, sagte die alte Dame auf dem Beifahrersitz. Ihre strähnigen grauen Haare fielen ihr ins Gesicht. »Wann hab ich wohl jemals nicht gewusst, was ich tue?«

»Oh, oh!«, kreischte Wespe, die vorn in der Mitte saß. »Das ist opulent. Das ist eine wirklich opulente Meinung, Sturm!«

»Weißt du überhaupt, was opulent bedeutet?«, gab Sturm wütend zurück.

Die Fahrerin stöhnte dramatisch. »Sind wir hier im Kindergarten? Würdet ihr bitte mit Reden aufhören?«

Sturm warf die Hände in die Luft und lieferte eine perfekte Imitation der Fahrerin (was Nico verwirrte, da sie sich ohnehin alle drei gleich anhörten), »Oh, mein Name ist Zorn, und ich bin ja sooooo reif!«

»Ich esse gleich das Auge«, warnte Zorn. »Ich tus wirklich!«

»Tust du nicht!«, sagte Wespe.

»Mit Salz und Pfeffer und einer Prise Paprika«, drohte Zorn. »Ganz bestimmt.«

»Hallo«, sagte Austin und hob seinen Saxofonkoffer hoch. »Könnten Sie vielleicht den Kofferraum aufmachen? Wir haben ein bisschen Gepäck.«

Alle drei Grauen Schwestern fuhren zu Austin herum und riefen wie aus einem Mund: »NEIN!«

Dann stritten sie weiter. Und in dem Moment beschloss Nico, dass das hier seine drei liebsten Personen auf der ganzen Welt waren.

Trotzdem taten Kayla und Austin ihm leid. Während Chiron sich damit abmühte, den Kofferraum zu öffnen, sahen die beiden Halbgötter verängstigter aus als irgendwann sonst im vergangenen Jahr.

»Ihr wollt also wirklich nicht, dass ich euch per Schattenreise nach Manhattan bringe?«, bot Nico an.

»Ist schon gut, Nico, das wird sicher super klappen«, sagte Kayla und klang, als ob sie sich die allergrößte Mühe gäbe, das selbst zu glauben.

»Und wir haben ja unterschiedliche Ziele«, sagte Austin. »Ich treff mich mit meiner Mom in Harlem. Sie hat geschafft, mich da auf einer Akademie unterzubringen, und in der Nähe eine Wohnung für uns gefunden.«

»Klingt gut«, sagte Will. »Nicht zu weit von hier entfernt.«

»Und in Harlem gibt es so viel Geschichte zu entdecken«, fügte Austin hinzu. »Offenbar hat einer der Clubs, wo Miles Davis gespielt hat, kürzlich neu eröffnet.«

Nico nickte halbherzig. Er hatte keine Ahnung, von wem die Rede war. Das war einer der Nachteile davon, dass er sich so lange nicht in der »menschlichen« Welt aufgehalten hatte.

»Was ist mit dir, Kayla?«, fragte Chiron und lud Bogen und Köcher in den Kofferraum.

»Ich gehe zurück nach Toronto«, sagte sie. »Dad möchte, dass ich nach Hause komme, und ich war wirklich schon ziemlich lange nicht mehr da. Ich bin ganz schön aufgeregt, wenn ich ehrlich sein soll.« Ihre Augen funkelten. »Ich werde ihm beweisen, dass ich mit Pfeil und Bogen mittlerweile viel besser umgehen kann als er!«

Austin drehte sich zu Nico und Will um. »Und … ihr zwei wollt wirklich hier bleiben?«

Nico hoffte, dass Will als Erster antworten würde. Die hinter den Hügeln im Westen untergehende Sonne ließ Wills blonde Haare aufflammen. Für einen Moment überlegte Nico, ob Will seine Leuchtkraft einsetzte.

Egal, ob er das tat oder nicht, es ging Nico ein bisschen auf die Nerven. Warum musste Will einfach immer so schön sein?

»Ich glaube schon«, sagte Will und nahm Nicos Hand. »Mom ist in diesem Herbst mit ihrem neuen Album auf Tour, und ich weiß nicht so recht, ob ich hinten in einem Minibus durch das ganze Land gerüttelt werden will.«

»Könnte Spaß machen«, meinte Austin. »Ich hoffe, ich kann irgendwann auch mal mit meiner Musik auf Tour gehen.«

Kayla nickte. »Ich wüsste gern, wie es ist, herumzureisen, ohne Angst haben zu müssen, dass irgendeine mörderische Statue dich umbringt.«

»Ach, hör doch auf«, sagte Nico. »Wo bleibt denn dann der Spaß?«

»Habt ihr vor, demnächst mal einzusteigen?«, knurrte Sturm. »Oder bezahlt ihr uns dafür, dass wir uns euer langweiliges Gerede anhören?«

Sie beugte sich aus dem Fenster und streckte ihnen die offene Handfläche entgegen. Austin bezahlte ihr drei Drachmen und gab damit ein üppiges Trinkgeld, so wie Chiron vorgeschlagen hatte. Sturm musterte die Münzen für einen Moment – Nico wusste nicht genau, wie sie das machte, da sie hinter dem dichten grauen Vorhang aus Haaren keine Augen hatte –, dann grunzte sie und zog sich ins Auto zurück.

»Rein mit euch«, sagte sie.

Nach eiligen Umarmungen und Küssen kletterten Austin und Kayla auf die Rückbank des Taxis. Die Grauen Schwestern stritten die ganze Zeit weiter.

Kayla schaute sich im Taxi um. »Wir haben schon schlimmere Abenteuer mitgemacht«, sagte sie zu den Draußenstehenden.

»Wirklich?«, fragte Austin.

»Jedenfalls hoffe ich, wir sehen uns bald wieder«, sagte Kayla. »Und sorgt dafür, dass ihr nicht in Schwierigkeiten geratet, ihr zwei.«

Austin beugte sich an Kayla vorbei und streckte mit unternehmungslustigem Funkeln in den Augen den Kopf aus dem Fenster. »Aber wenn doch …«

Will winkte den beiden zu. »Dann sagen wir euch Bescheid. Versprochen.«

»Fahr, Zorn! Fahr!«, kreischte Wespe. »Dazu sitzt du doch da! Echt, wieso sitzt du überhaupt auf dem Fahrersitz, wenn du nicht …«

Der Rest des Satzes war nicht mehr zu hören, denn das Auto machte einen Satz nach vorn und war dann in grauem Dunst verschwunden.

Jepp. Nico liebte die Schwestern.

»So, das wärs«, sagte Nico. »Das waren die Letzten, oder?«

»In der Tat«, sagte Chiron. »Abgesehen von einem Teil des Personals, den Satyrn und den Dryaden ist Camp Half-Blood … leer.«

Der alte Zentaur klang ein wenig verloren. Wenn Nico es richtig in Erinnerung hatte, waren nun zum allerersten Mal keine Halbgötter bei ihm im Camp. Außer Nico und Will natürlich.

»Das ist wirklich komisch«, sagte Will.

»In den letzten Jahren ist viel passiert«, sagte Chiron sehnsüchtig. »Ich verstehe besser denn je, warum die Leute aus dem Camp zu ihren Familien nach Hause fahren oder sich die Welt ansehen wollen.«

»So …«, sagte Nico.

»Und jetzt, die Herren«, sagte Chiron und wischte sich Staub von der Weste, »hab ich eine Besprechung mit Wacholder und den Dryaden zum Thema Wurzelfäule. Wirklich spannend, das könnt ihr mir glauben. Wir sehen uns zum Abendessen.«

Sie nickten und winkten Chiron hinterher, als er davongaloppierte.

»So«, sagte Nico. »Und was jetzt?«

Will, der noch immer Nicos Hand hielt, ging mit ihm zurück auf den Hügel. »Na ja, wir haben gerade keine Monster zu erschlagen.«

»Pah. Ich könnte eine Skelettarmee aus dem Boden rufen und einen choreografierten Tanz aufführen lassen. Ich wette, ich könnte ihnen Single Ladies beibringen, wenn du möchtest.«

Will kicherte. »Es gibt auch keine römischen Kaiser, die wir ausfindig machen und vom Thron stürzen müssen.«

Nico schnitt eine Grimasse. »Uäh. Erinner mich bloß nicht daran. Wenn ich für den Rest meines Lebens nie wieder den Namen Nero denken muss, bin ich glücklich.«

»Das ist witzig«, sagte Will. Sie waren oben auf dem Hügel angekommen.

»Was denn?«

»Du«, sagte Will. »Dass du glücklich bist.«

Nico verdrehte die Augen.

»Meine grummelige kleine Kugel aus Finsternis«, fügte Will hinzu und versetzte ihm einen Rippenstoß.

»Hey«, sagte Nico und tanzte von ihm weg. »Das machen wir uns jetzt aber nicht zur Gewohnheit.«

»Hast du schon vergessen, dass ich früher mal – ich zitiere dich, Nico – dein ›wichtiges Irritationsmoment‹ war?«

»Ach, das bist du noch immer«, sagte Nico, und dann jagte Will ihn den Hang hinab und zurück ins Camp. Für den Moment erlaubte Nico sich, das Gefühl zu genießen. Will hatte recht: Nicht eine einzige Bedrohung zeigte sich am Horizont. Keine mächtigen Bösewichte. Keine auf der Lauer liegenden verräterischen Halbgötter, keine versteckten Monster, die Camp Half-Blood zerstören wollten.

Aber dann ließ eine böse Vorahnung Nicos Haut prickeln. Sein Körper warnte ihn. Fühl dich nicht zu sicher, sagte sein Körper. Er wartet im Tartarus auf dich. Oder hast du ihn vergessen, wie alle anderen?

Vielleicht war es doch keine so gute Idee, eine Pause einzulegen. Wenn Nico nicht gegen irgendein grauenhaftes Monster oder einen Schurken kämpfen musste, welche Entschuldigung hatte er dann noch dafür, dass er die Stimme ignorierte?

Tatsächlich hätte er sie nicht einmal ignorieren können, wenn er das gewollt hätte. Er war im Laufe der Jahre von so vielen Geistern aufgesucht worden. Die Toten wollten gehört werden, und wer wäre ein besserer Zuhörer als der Sohn des Hades?

Aber diese Stimme … die gehörte keinem Verstorbenen. Und Nico hatte noch nie jemanden dermaßen verzweifelt um Hilfe rufen hören.

Seine Stimmung war also nicht mehr so gut, als er und Will nach einem Zwischenstopp in ihren Hütten zum Essen beim Pavillon eintrafen. Es war seltsam, hier zu sein, wo sonst immer so viel los war. Jetzt verteilten sich nur wenige im Camp angestellte Dryaden und Harpyien an den Tischen. Der Campdirektor, Dionysos, – Mr D, wie alle ihn nannten – lungerte am Lehrertisch herum, zusammen mit Chiron, der aus irgendeinem Grund schon vor ihnen zum Essen erschienen war. Die beiden Camp-Chefs waren dermaßen in ihr Gespräch vertieft, dass sie Wills Winken kaum registrierten.

Sogar die Satyrn, die Nico und Will bedienten, schienen keine große Lust dazu zu haben. »Der ganze Pavillon kommt mir vor wie meine Seele«, sagte Nico scherzend zu Will. »Du weißt schon, leer und dunkel.«

Will schluckte ein Stück Hähnchenkebab hinunter. »Du bist auf keinen Fall leer«, sagte er und zeigte mit dem Spieß auf Nico. »Aber dunkel schon.«

»Dunkel wie die Gruben der Unterwelt.«

Will senkte den Blick und konzentrierte sich auf sein Essen, als ob er noch nie so etwas Interessantes gesehen hätte.

»Wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht willst«, sagte Nico.

Will brachte ein Lächeln zustande. Seine Wärme war echt – das war sie immer, schließlich war er buchstäblich ein Sonnenstrahl –, und das besänftigte Nico ein bisschen. »Können wir aber«, sagte Will. »Nur vielleicht nicht gerade jetzt, Nico. Austin und Kayla sind gerade erst weg. Im Camp ist es ruhig. Entspannt. Still. Lass uns die Atempause einfach genießen, ja?«

Nico nickte, aber er war nicht sicher, wie er Will diese Bitte erfüllen sollte. Wann hatte er denn jemals eine Ruhepause gehabt? Wenn ihn keine toten römischen Kaiser nervten, dann war es sein Vater. Oder Minos. Oder seine Stiefmutter Persephone. Dieser Zwischenfall lag nun schon Jahre zurück, aber es ärgerte ihn noch immer, dass er in einen Löwenzahn verwandelt worden war. Einen Löwenzahn!

Und es gab da noch mehr, aber er wollte sich nicht daran erinnern. Dunklere Dinge. Geister, die ihn vermutlich irgendwann heimsuchen würden. Nico kapselte das alles in sich ein – machte daraus kleine grummelige Kugeln aus Finsternis. Dann rang er sich ein Lächeln ab, als Will davon redete, was sie in diesem Herbst unternehmen könnten, weil sie ja im Camp blieben.

Es würde sicher gut werden. Alles würde gut werden.

KAPITEL 2

Die Heimsuchungen geschahen immer in Nicos Träumen.

Als er Will zum ersten Mal gestanden hatte, dass er eine ganz besonders gequälte Stimme aus der Unterwelt hörte, hätte Nico fast bereut, überhaupt etwas gesagt zu haben. Manchmal schien Will nicht zu begreifen, was es für Nico bedeutete, … na ja, eben Nico zu sein. Die Unterwelt machte Will Angst, um ehrlich zu sein – aber irgendwem musste Nico es schließlich erzählen.

Monate zuvor hatte Nico den Tod seines Freundes Jason Grace gespürt, und das hatte ihn in einen Mahlstrom aus Trauer und Wut gestürzt. Als Lester und Meg zu Beginn des Sommers im Camp Half-Blood eingetroffen waren, war Nico dermaßen gereizt gewesen, dass er mehr als einmal aus Versehen die Toten erweckt hatte. (Es gibt nichts Beunruhigenderes, als am Morgen aufzuwachen und über sich einen frisch inkarnierten Zombie aufragen zu sehen, der fragt, was man zum Frühstück speisen möchte.)

Will hatte Nico aufmerksam zugehört, wie er das immer tat. Er hatte einige Fragen gestellt, vor allem hatte er wissen wollen, ob die Stimme etwas mit den Flashbacks zu tun hatte, die Nico neuerdings ebenfalls heimsuchten. Dann hatte Will eine Weile geschwiegen und schließlich gefragt: »Bist du sicher, dass es keine posttraumatische Belastungsstörung ist?«

Manchmal dachte Nicos Gehirn sich einen Witz aus, der in der nächsten Sekunde total ungefiltert aus seinem Mund kam. Genau das passierte, als ihm nun herausplatzte: »Mein ganzes Leben ist eine einzige Belastungsstörung!«

Will hatte das nicht komisch gefunden.

Stattdessen hatte er gemeint, Nico solle vielleicht mal mit Mr D sprechen. Trotz all seiner Fehler war Dionysos ein olympischer Gott und hatte Erfahrung mit diesen Dingen: Träumen, Visionen und veränderten Bewusstseinszuständen.

Ja, und außerdem ist er der Gott des Wahnsinns, hatte Nico gedacht. Er hatte versucht, nicht weiter nachzugrübeln, warum Will gerade diesen Vorschlag gemacht hatte.

»Ich würde fast alles andere lieber tun«, gab Nico zurück. »Kann der Typ denn überhaupt ein einfaches Gespräch führen, ohne sarkastisch oder beleidigend oder sogar beides zu werden?«

Will grinste. »Kannst du das?«

Nico hatte den Rest des Tages gebraucht, um sich davon zu erholen, dass Will ihn mit diesen drei Wörtern fast umgebracht hatte. Aber er hatte damit ja nicht unrecht. Nico hatte es nicht zum ersten Mal mit Flashbacks oder posttraumatischen Belastungsstörungen zu tun. Er dachte daran, wie er seiner Schwester Hazel Levesque geholfen hatte, nach ihrem Aufenthalt in der Unterwelt mit ihren furchtbaren Flashbacks umzugehen. Mit Reyna Avila Ramirez-Arellano hatte er sogar offen über posttraumatischen Stress und dessen Einfluss auf Reynas Erinnerungen an ihren Vater gesprochen. Und doch hatte er diesen Blick niemals nach innen gerichtet. Hatte er es hier nicht mit denselben Erscheinungen zu tun? Wäre das nicht logisch? Aber er war sicher, dass die Stimme in seinem Kopf etwas anderes war.

An dem Tag, an dem er sich Will anvertraut hatte, fasste Nico sich nach dem Abendessen ein Herz und ging zu Mr D. Er erzählte dem Direktor von seinen Flashbacks tagsüber, den immer wiederkehrenden Träumen und der Stimme aus den Tiefen des Tartarus. (Er gab Mr D gegenüber jedoch keine Details über den Orakelspruch preis. Das kam ihm noch zu schmerzhaft, zu privat vor für ein erstes Gespräch.)

Mr D hatte in seinem Liegestuhl gesessen und an einer Dose Cola light herumgespielt. Mit seinen ungekämmten schwarzen Haaren, dem aufgedunsenen Gesicht und seinem zerknitterten Camphemd mit dem Leopardenmuster sah Dionysos eher aus wie ein verkaterter Zocker in Las Vegas als wie ein Gott.

Zu Nicos Überraschung schickte Mr D ihn nicht weg und machte auch keinen blöden Witz auf Nicos Kosten.

»Wir müssen dieser Sache auf den Grund gehen.« Mr Ds lila Augen waren beunruhigend, wie kristallisierter Wein … oder Blut. »Ich will dich jeden Morgen beim Frühstück sehen. Du wirst mir von deinen Träumen berichten und mich über alle neuen Entwicklungen auf dem Laufenden halten.«

Die Kugel aus Finsternis in Nicos Brust drückte auf seinen Magen. Ein Mr D, der das alles herunterspielte und ihn fertigmachte, wäre ihm lieber gewesen. Den Gott so ernst zu sehen war verstörend.

»Jeden Tag?«, fragte er. »Sind Sie sicher, dass das sein muss?«

»Glaub mir, Nico di Angelo, mir wäre es auch lieber, mir mein Frühstück nicht mit deinen albernen sterblichen Problemen zu verderben. Aber ja, es muss sein, wenn du willst, dass dein Bewusstsein heile bleibt. Und versuch, ein paar interessante Träume zu haben, ja? Nicht das übliche langweilige Ich konnte fliegen –, Ich wurde verfolgt –, Ich stand in Unterwäsche auf der Bühne und musste singen-Zeug.«

Und so war es zur Gewohnheit geworden, dass Mr D jeden Morgen mit Nico sprach. Dabei war der Teller des Gottes beladen mit Würstchen und Eiern, während Nicos meistens bis auf ein paar Erdbeeren leer war. Auch das war beunruhigend für Mr D, der als Gott der Feste alle missbilligte, die gutes Essen nicht zu schätzen wussten. »Ich weiß, du machst einen auf hagerer-und-bleicher-Sohn-des-Hades, aber du bist noch immer ein Mensch. Du musst essen.«

Nico zuckte mit den Schultern. »Ich bin irgendwie daran gewöhnt, Hunger zu haben. Das macht mir nichts aus.«

Mr D grunzte. »Aber dein Appetit wird immer kleiner. Gleichzeitig werden die Flashbacks schlimmer, und diese Stimme in deinen Träumen …«

»Ich komm schon klar«, versicherte Nico.

Mr D schob seinen Teller zurück. »Hör mal, Junge. Nach all diesen elenden Jahren im Exil im Camp Half-Blood weiß ich, dass ihr Sterblichen überraschend widerstandsfähig seid.«

»Genau«, begann Nico.

Mr D hob eine Hand. »Ich bin noch nicht fertig. Du bist vielleicht widerstandsfähig, aber du bist trotzdem ein Mensch. Es gibt keinen Grund, dich mit Hunger zu bestrafen, nur weil du daran gewöhnt bist. Wenn dein Geist gesund werden soll, muss dein Körper das auch.«

Nico knurrt. Dann schloss sein Magen sich an und knurrte mit.

An manchen Tagen konnte Nico seine Träume nicht mit Mr D teilen. Sie waren zu schmerzhaft, zu brutal, sie zerrten alte Erinnerungen hervor, die er sich nicht genauer ansehen wollte. An anderen Tagen dagegen musste Nico zugeben, dass das Reden half. Er stellte fest, dass er Dionysos gegenüber rein gar nichts zu beschönigen brauchte. Die Grobheit, die ihn am Campdirektor sonst auf die Nerven ging, war eine Hilfe, wenn Nico seine Flashbacks schilderte.

»Meine Güte«, sagte Mr D einmal, nachdem Nico eine Reihe von Träumen beschrieben hatte, die eben nicht vom Singen in Unterwäsche handelten, sondern davon, gleichzeitig verbrannt, ertränkt und in eine riesige Vase voller Ameisen eingesperrt zu werden. »Das ist wunderbar. Ich darf nicht vergessen, meinen ärgsten Feinden diesen Albtraum zu verpassen.«

Aber keines dieser Gespräche berührte den Kern der Angelegenheit: Warum suchten diese Visionen Nico heim?

Hatte er sie verdient?

KAPITEL 3

An dem Tag, an dem Kayla und Austin das Camp verlassen hatten, blieb Nico lange wach, nachdem Will in die Apollo-Hütte hinübergegangen war. Seine Gedanken wirbelten noch immer durcheinander, und er fürchtete sich vor dem Schlaf. Alle Halbgötter hatten lebhafte – und manchmal hellseherische – Träume, aber wenn Nico schlief, wurde die Stimme fast unerträglich.

Hilf mir, bitte, rief sie. Ich brauche dich, Nico di Angelo. Ich brauche dich!

Na ja, das tat jeder Geist, der ihn heimsuchte. Die Toten wollten eben gehört werden, vor allem, wenn ihnen in ihrer Zeit auf der Erde nicht zugehört worden war. Die Unterwelt war voller Seelen, die durch den Asphodeliengrund wanderten und um Aufmerksamkeit schrien.

Aber diese Stimme war nicht tot. Sie wirkte noch weiter weg als Asphodel und noch gequälter als irgendein anderer Geist. Diese Stimme rief aus dem Tartarus, dem finstersten und tiefsten Teil der Unterwelt. Und aus dem Tartarus rief ihn sonst nie jemand.

Es musste Bob der Titan sein.

Nico erinnerte sich an ihre erste Begegnung: am Weihnachtstag vor fast drei Jahren, als Nico, Percy Jackson und Thalia Grace von Hera ausgesandt worden waren, um das verschwundene Schwert des Hades zurückzuholen. Dazu hatten sie mit Iapetus kämpften müssen, einem Titanen, der aus den Tiefen des Tartarus losgelassen worden war. Der Titan hätte sie alle drei fast umgebracht, aber mit letzter Kraft hatte Percy Iapetus in den Fluss Lethe gezerrt und ihm damit alle Erinnerungen genommen. Dann hatte Percy ihm den Namen Bob gegeben und dem Titanen eingeredet, sie seien gute Freunde. Seltsamerweise hatte Bob diese Identität behalten.

Seit damals hatte Nico Bob mehrere Male in der Unterwelt besucht. Der nunmehr sanfte Titan hatte sich im Palast des Hades als Hausdiener verdingt und schien damit zufrieden zu sein, Knochen zusammenzufegen und auf Sarkophagen Staub zu wischen. Zwischen ihm und Nico hatte sich eine seltsame Freundschaft entwickelt. Beide fühlten sich ihrer Vergangenheit entfremdet, waren ungern mit anderen zusammen und grämten sich ein bisschen wegen ihres gemeinsamen »Freundes« Percy Jackson, der sich offenbar nie an ihre Existenz erinnerte.

Dann, vor anderthalb Jahren, waren Percy und Annabeth in den Tartarus gestürzt. Bob hatte ihre Notlage gespürt und sich in den Abgrund fallen lassen, um ihnen zu helfen. Er hatte eine Armee von Monstern abgewehrt, um Percy und Annabeth die Rückkehr in die Welt der Sterblichen zu ermöglichen. Niemand wusste so genau, was danach mit Bob passiert war – ob er ums Leben gekommen war oder auf irgendeine Weise überlebt hatte.

Aber fast jeden Tag seither hatte Nico an Bob gedacht. Er fühlte sich schuldig. Sie hätten ihm helfen müssen. Irgendwer hätte ihn aus dem Tartarus retten müssen. Wie hatten sie ihn einfach dort seinem Schicksal überlassen können, nachdem er Percy und Annabeth gerettet hatte … und außerdem so ungefähr die ganze Welt?

Vielleicht hatten Will und Mr D recht. Vielleicht war Bobs Stimme ein falsches Echo, eine Folge von Nicos posttraumatischer Belastungsstörung?

Aber dann gäbe es keine Erklärung für die Weissagung.

Darüber dachte Nico nach, als endlich der Schlaf zu ihm kam.

∙ ∙ ∙

Um Nico herrschte Dunkelheit. Gab es sonst was Neues?

Er hatte diesen Traum schon so oft gehabt, dass er zu wissen glaubte, was nun kam.

Aber … nicht in dieser Nacht.

In der Leere hörte Nico seinen Namen.

Nico.

Eine andere Stimme als bisher, aber so vertraut …

Caro Niccolo.

Er fuhr zusammen, als sich die Schatten um ihn wickelten. Niemand hatte ihn jemals Niccolo genannt. Niemand außer …

Niccolo, vita mia …

Die Schatten pressten sich fester auf sein Gewicht. Er konnte nicht atmen.

Er hatte diese Stimme seit Jahren nicht gehört. Seit Jahrzehnten.

Mamma.

Ich bin hier, versuchte er zu rufen. Bitte, geh nicht weg!

Vita mia, antwortete sie. Devi ascoltarmi.

Nico versuchte verzweifelt zu verstehen, was sie sagte. Er war schließlich Italiener. Das hier war seine Muttersprache. Aber seine Gedanken waren so träge, als ob die Dunkelheit in seinen Schädel gesickert wäre.

Endlich ging ihm die Bedeutung auf.

»Ich hör dir doch zu, Mamma!«, sagte er.

Er schlug um sich, versuchte, sich aus dem dicken Kokon der Schatten zu befreien.

ASCOLTA!, rief die Stimme.

HÖR ZU!

Nico fiel.

Er stürzte in ein warmes, weiches Nest aus Decken. Lag er wieder in seinem Bett im Camp? Er setzte sich auf und …

Licht.

Auf einem lackierten braunen Nachttisch warf eine hässliche braune Schreibtischlampe ihr gelbes Licht in einen seltsam vertrauten Raum. Dicke Verdunklungsrollos. Ein Flachbildfernseher. Gold- und sahnefarben gestreifte Tapeten wie vergoldete Gefängnisgitter.

Moment. Nein. War das …?

Er schnappte sich eine laminierte Karte vom Nachttisch.

LOTUS HOTEL UND CASINO: FRÜHSTÜCKSMENÜ PER ZIMMERSERVICE

Nein. Nein, nein, nein!

Langsam drehte er sich in dem riesigen Bett um, und er erinnerte sich daran, dass die Matratze ein hohles, leises Quietschgeräusch machte, wenn er sich bewegte.

Er spürte sie, ehe er sie sah, sie schlief neben ihm im Bett.

Seine Schwester Bianca. Sie sah so friedlich aus, ihre Brust hob sich langsam, wenn sie atmete, ihre dunklen Haare waren auf dem Kissen ausgebreitet wie ein Fächer. Nico versuchte, den Mund zu öffnen, versuchte, sie zu rufen, aber seine Stimme ließ ihn im Stich. Etwas ragte neben Biancas Schulter unter der Bettdecke hervor. War das … ihr Köcher? Nico riss die Bettdecke weg und sah, dass seine Schwester wie zum Kampf gerüstet war, komplett mit Stiefeln, Jacke und Pfeilen.

Das konnte nicht stimmen. Bianca hatte sich erst nach ihrem Aufenthalt im Lotus Hotel den Jägerinnen der Artemis angeschlossen. Dann hatte sie das Gelübde abgelegt … und Nico zum letzten Mal verlassen. Wenn er sie nur warnen könnte, sie von diesem Entschluss abhalten …

Wach auf!, versuchte er zu rufen, aber seine Lippen wollten sich nicht öffnen. Seine rechte Hand fuhr zu seinem Mund. Sein Magen drehte sich vor Angst um.

Er sprang aus dem Bett und seine Beine verfingen sich in der Bettdecke. Er stolperte in das grelle Neonlicht des Badezimmers und stützte sich gegen den Schminkspiegel. Wenn sich seine Augen erst an das Licht gewöhnt hatten …

Nico wollte schreien, aber das konnte er nicht. Er hatte ganz einfach keinen Mund. Unter seiner Nase, wo sein Mund gewesen war, befand sich ein bleicher Streifen aus Narbengewebe.

Das ist ein Traum, sagte er sich. Ein Traum.

Sein entsetztes, verstümmeltes Spiegelbild starrte zurück. Zum tausendsten Mal wünschte sich Nico, er hätte die Traummagie des Hades geerbt. Dann hätte er kontrollieren können, was er sah. Dann wäre er jetzt wach. Er könnte Will oder Mr D von seinem Albträumen erzählen, deren Bedeutung herunterspielen und die Stimme aus dem Tartarus verleugnen, wie früher. Das wäre viel einfacher.

Stattdessen taumelte er zurück ins Zimmer. Das Bett war leer.

Bianca! Wo bist du?

Aber das konnte er nicht rufen. Er konnte nichts sagen.

Nico machte noch einen Schritt auf das Bett zu und fiel durch den Boden.

Wieder stürzte er.

Diesmal landete er extrem hart. Die Luft wurde aus seiner Lunge gepresst, er öffnete die Augen und sah –

Himmel.

Leuchtend blauen Himmel, eingerahmt von Reihen aus Stahlkabeln.

Was?, dachte er. Wo bin ich?

Seine Hände stießen gegen die Fläche unter ihm. Die war warm und rau. Asphalt. Eine Straße. Dann sah er rechts und links von sich Autos. Nico sprang voller Panik auf, überzeugt, jeden Moment überfahren zu werden.

Aber die Autos bewegten sich nicht.

Zögernd ging er auf eins zu und stellte zu seiner Verwirrung fest, dass der Fahrersitz leer war. Alle Autos schienen verlassen zu sein – zwei erstarrte Autoschlangen, und in der Ferne die Skyline von Manhattan. Der Wind riss an Nicos Kleidung und der Asphalt schwankte ein wenig, während über ihm die graublauen Stahlkabel summten wie riesige Gitarrensaiten. Die Gehwege auf beiden Seiten der Straße waren mit Pollern in trübem Rot von der Straße abgegrenzt. Aber nirgendwo waren Menschen zu sehen. Tief unter ihm kräuselte sich der East River im Sonnenschein.

»Okay, Traum«, murmelte Nico vor sich hin. »Warum bin ich auf einer Brücke in New York City?«

Kaum hatte er das gesagt, wurden Nico zwei Dinge klar:

Zum einen konnte er wieder reden. Sein Mund war nicht mehr zugewachsen.

Zum anderen war das hier die Williamsburg Bridge.

Oh nein, dachte er. Nein, diesen Tag will ich nicht noch einmal erleben.

Hinter Nico ertönte Gebrüll, und sein Blut erstarrte. Er drehte sich um und sah das Unmögliche.

Die Gestalt war groß und golden – aber nicht auf attraktive Weise, wie Will, sondern eher auf eine unnatürliche, beängstigende Weise, im Sinne von Ich bring dich jetzt um. Die Erscheinung war drei Meter hoch, sie hatte ein grausames, altersloses Gesicht, Augen wie geschmolzenes Gold und eine funkelnde Rüstung. In ihren Händen glitzerte eine riesige Sense.

Kronos.

»Das ist doch nicht logisch.« Nico wich zurück, sein Puls raste, als der Titan auf ihn zukam, dicht gefolgt von einer Horde aus Monstern und Halbgöttern. Träume waren ja nur selten logisch, aber dieser … Nico war während der Schlacht um Manhattan nicht einmal auf der Williamsburg Bridge gewesen. Er hatte nur davon gehört, dass Percy die Brücke zum Einsturz gebracht hatte, um Kronos an der Invasion zu hindern.

Der Titan starrte Nico ins Gesicht. Er lächelte aasig, als ob er Nicos Gedanken lesen könnte, und hob seine Sense.

»Nein!« Nico drehte sich um und wollte nach Manhattan rennen, fort von Kronos und dessen vorrückender Armee.

Aber sie versperrten ihm den Weg.

Percy.

Michael Yew.

Annabeth.

Will … der so viel jünger aussah, und so verängstigt.

Nico erstarrte, gefangen zwischen den Frontlinien. Die Brücke schwankte unter ihm.

»Das ist nicht real«, sagte Nico zu sich selbst. »Ich bin nicht wirklich hier.«

»Hör zu«, Percy trat vor und trieb Nico damit zurück, auf Kronos zu.

»Percy, was soll das?« Nico hob abwehrend die Hände. »Was machst du hier?«

»Du musst zuhören«, sagte Michael Yew, und seine aufmerksamen braunen Augen waren voller Tränen. »Wenn nicht, dann wirst du mein Schicksal teilen.«

»Gehts noch bedrohlicher?«, fauchte Nico. Er fuhr herum, aber Kronos hatte ihn fast erreicht und hielt seine Sense wie ein Fallbeil.

»Hör zu!«, befahl der Titan.

»Tu ich doch!« Nico war wütend. »Wer immer hier versucht, mir etwas mitzuteilen – sag endlich, was du von mir willst!«

Kronos ließ die Sense auf Nicos Gesicht zujagen.

Nico war von Finsternis umgeben. Schon wieder.

Inzwischen war er durch und durch genervt. Ein Mensch konnte nur eine gewisse Menge von Schrecken und Elend ertragen, dann verwirrte es nur noch. Diese seltsame Traum-Springerei durch Erinnerungen und Ereignisse kam ihm so unnötig vor.

Ich hab verstanden!, dachte er. Ich will ja zuhören. Reicht das nicht?

Ein Licht tauchte auf, es war sanft und lila.

»Was zum …«

Nico packte sein Schwert aus Stygischem Eisen und beleuchtete mit dessen Glanz seine Umgebung. Er war eingezwängt in einen eiförmigen Raum, der gerade groß genug für ihn war. Die glänzenden Metallwände fühlten sich kühl an. Vor ihm, in die Bronze geritzt, befanden sich drei lange Kerben.

»Nein«, sagte er laut, und der Klang seiner Stimme wurde zu ihm zurückgeworfen. »Das soll ja wohl ein Witz sein.«

Nicos Traum hatte ihn in den Krug zurückgeführt, in den die Riesen Ephialtes und Otis ihn gesteckt hatten, um ihn als Köder für die sieben Halbgötter der Weissagung zu benutzen. Alles in allem war das nicht gerade Nicos Lieblingserinnerung.

»Das hier?«, rief Nico laut. »Warum soll ich mich daran erinnern?«

Er schloss die Augen und schlug sich gegen den Kopf. Aufwachen, Nico! Aufwachen!

Als er die Augen wieder öffnete, steckte er noch immer im Krug, und dort, zu seinen Füßen, lag ein einsamer Granatapfelkern. Sein Magen krampfte sich zusammen. In seiner Kehle stieg Panik auf. Er dachte an seine endlosen Stunden in diesem Krug, gefoltert von Hunger und Durst, konfrontiert mit der Frage, wie lange er wohl durchhielt, bis er diesen Granatapfelkern essen würde – sein letztes winziges Stück Nahrung.

»He, Unterbewusstsein!«, sagte Nico. »Wenn du mich zu irgendeiner Erkenntnis bringen willst, dann ist das hier eine schreckliche Methode.«

Als Antwort gab es nur Stille.

Plötzlich füllte ein furchtbares kreischendes Geräusch das Gefäß, als der Deckel heruntergeschoben wurde. Grelles Licht strömte herein. Nico fuhr zusammen und hielt sich die Augen zu. Das hier war in der wirklichen Welt nicht geschehen. Der Krug war nicht geöffnet worden, bis er ohnmächtig geworden war, unmittelbar vor dem Kampf mit Ephialtes und Otis.

Nico versuchte, die Hände sinken zu lassen, aber das Licht von oben war noch immer viel zu grell. Bei der bizarren Logik dieser Traumreise hätte es ihn nicht gewundert, wenn das Krümelmonster über der Öffnung aufgetaucht wäre, um hineinzugreifen und Nico wie einen Schokokeks zu verzehren.

Das Krümelmonster ließ sich allerdings nicht blicken.

Sondern Percy Jackson.

∙ ∙ ∙

Nico starrte nach oben in Percys Gesicht, das von verwuschelten schwarzen Haaren eingerahmt war. Seine grünen Augen sahen stürmisch aus, seine Mundwinkel waren besorgt nach unten gezogen.

Es hatte eine Zeit gegeben, als der bloße Gedanke an Percy in Nicos Innerem einen bodenlosen Abgrund des Verlangens geöffnet hatte. Ein unerwidertes Verlangen, natürlich, denn Percy würde Nico niemals die gleichen Gefühle entgegenbringen. Das hatte Nico lange, lange gequält. Doch dann hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, dass er sich Dinge wünschte, die er nicht haben konnte. Percy, Bianca, seine Mutter, Stabilität … es war immer dasselbe. Die Sache mit Percy zu überwinden, war leichter gewesen, als Nico erwartet hatte. Was bedeutete schon ein einziger straighter Junge, wo er doch ohnehin sein ganzes Leben damit verbrachte, sich nach dem Unmöglichen zu sehnen?

So bizarr der Traum auch war, Percys Anblick wirkte beruhigend auf Nico. Sein Freund hatte ihm gefehlt, und er wollte unbedingt aus diesem blöden Krug heraus. Er dachte daran, wie schwach und elend er gewesen war, als Piper ihn im wirklichen Leben gerettet hatte. Diesmal kam es ihm ebenso schwierig vor. Er versuchte, seine steifen Beine zu entwirren und sich so hinzustellen, dass Percy ihn herausziehen konnte.

Die anderen Halbgötter mussten Otis und Ephialtes bereits besiegt haben. Nico konnte außerhalb seines bronzenen Gefängnisses keine Geräusche hören.

Er streckte den Arm aus, um nach Percys Hand zu greifen.

Doch jetzt war Percy weiter weg. Nico konnte nicht einmal stehend und mit ausgestreckten Armen die Öffnung des Kruges erreichen.

Er schaute nach unten, und seine Knie wurden weich. Entweder, der Granatapfelkern war plötzlich zu Apfelgröße angewachsen, oder – Nico schrumpfte!

Er schaute wieder zu Percy hoch …

Oh nein!Sein Freund war jetzt sogar noch weiter weg! Die Öffnung des Kruges kam Nico nun vor wie ein Oberlicht hoch oben in der Kuppel eines Doms, und Percy war groß wie ein Titan, der nach unten spähte, um zu sehen, was die kleinen Sterblichen denn so trieben.

Percy griff mit seiner riesigen Pranke in den Krug. Nico sprang hoch und versuchte verzweifelt, einen von Percys Fingern zu fassen, doch er schrumpfte immer weiter und die Wände des Krugs ragten hoch über ihm auf.

»Stopp!«, rief Nico. Percy zog die Hand aus dem Krug. Sein Gesicht verschwand für einige Sekunden. Als es wieder auftauchte, waren seine Augen rot und glasig.

Er weinte.

»Nico«, sagte er. »Nico, hör zu.«

Nico wollte schreien »Das tue ich doch!«, aber seine Stimme klang blechern und schrill, als ob er das Helium aus einer Million Ballons gesaugt hätte. Das Echo im Krug machte den Effekt noch schlimmer.

»Du musst gehen«, sagte Percy.

Nicos Herz schien langsamer zu schrumpfen als sein Brustkorb. Es drückte gegen sein Brustbein und hämmerte wie besessen.

»Wohin denn gehen?«, fragte er und fürchtete sich vor der Antwort.

»Wir haben einen Fehler gemacht«, sagte Percy. »Du musst das in Ordnung bringen.«

Der Krug zersprang.

Wieder stürzte Nico.

KAPITEL 4

Nico knallte gegen eine Steinsäule. Dann rutschte er zu Boden und griff keuchend nach seinem Schwert. Aber das war nicht da.

Er stöhnte, und sein Stöhnen hallte als gespenstisches Echo im Raum wider. Seine Haut war klebrig und feucht. War das Schweiß? Blut? Er beschloss, dass er es gar nicht wissen wollte.

Als sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, sah er über sich eine teilweise von Rauch verhüllte Decke, ein Tonnengewölbe zwischen Reihen aus Kalksteinsäulen.

Er drehte sich auf die Seite. Helle Sonnenstrahlen fielen durch eine Reihe von vergitterten Fenstern hoch in der Mauer und malten Streifen aus Schatten und Licht auf den Boden. Dieser Anblick aktivierte Nicos Erinnerung und machte ihm klar, wo er sich befand.

Nico hatte noch nie zuvor davon geträumt. Er hatte sogar alles getan, was in seiner Macht stand, um nie, nie wieder an diesen Tag denken zu müssen.

Langsam kam er auf die Füße. »Gehirn, wenn du das machst, dann ist das hier die mieseste mentale Auszeit ever«, sagte er bitter.

Nichts.

»Wenn das hier ein Gott oder ein Halbgott oder sonst was ist«, fügte Nico hinzu, »dann solltest du wissen: Du fängst echt an, mir auf die Nerven zu gehen.«

Noch immer keine Reaktion.

Hier stand er nun also, im Keller dieser Kathedrale, an deren Namen er sich nicht erinnerte, auf der Suche nach …

Genau. Dem Zepter des Diokletian.

Nur … es war doch noch jemand mit ihm hier gewesen.

Oh.

Jason Grace.

Ein neuer Abgrund tat sich in Nico auf. Eigentlich war er an dieses leere Gefühl in seinem Bauch gewöhnt, aber es gab ein Loch in seinem Herzen, das nie gefüllt worden war, seit Jason … seit damals Jason …

Nico schluckte. Selbst in diesem blödsinnigen Traum lebte Jason nicht mehr.

Nico wischte sich eine Träne von der Wange. »Okay, das hier muss aufhören«, sagte er. »Bitte. Lass mich einfach aufwachen.«

»Du hältst das noch immer für einen Traum?«

Nico fuhr zu der Stimme herum. »Wer ist da?«

»Komm schon, Nico di Angelo. Erinnerst du dich nicht?«

Nico bewegte sich ganz langsam vorwärts, bis die Quelle der Stimme zu sehen war.

Eine Marmorbüste des Diokletian starrte Nico von ihrem Sockel her an.

Das Haupt des Kaisers saß noch immer auf seinen Schultern, nichts wies darauf hin, dass es jemals abgebrochen war. Was in der absurden Logik dieses Traumes Sinn ergab. Da Jason nicht hier war, um sie zu zerschlagen, war die Büste eben unversehrt. Nicos Erinnerungen an diesen Tag brachen über ihn herein, ein Wasserfall aus Bildern und Empfindungen, die er in seinem tiefsten Inneren eingeschlossen hatte.

Eine Erinnerung stieg an die Oberfläche.

Jason, der Nico packte und in die Luft hob, während sie gemeinsam Favonius zur Strecke brachten, den seltsamen geflügelten Mann, der sich in Dalmatien ein Eis gekauft hatte. Damals hatte alles so viel einfacher gewirkt. Wenn du einen Windgott sahst, der sich ein Eis kaufte, machtest du Jagd auf ihn. Wenn jemand versuchte, dich zu berühren, schlugst du um dich. Nico hatte es immer gehasst, angefasst zu werden. Sowie Jason ihn damals wieder auf den Boden gestellt hatte, hatte Nico ihn angeblafft: Fass mich ja nie wieder an!

Als er jetzt das irritierende Marmorhaupt des Diokletian anstarrte, wünschte Nico sich nichts sehnlicher, als Jason Grace’ schützende Arme um sich zu fühlen.

Aber Jason war nicht hier.

Hinter Nico fragte eine weitere Stimme: »Bist du so weit?«

Nico fuhr abermals herum, und dort, an eine Säule gelehnt, stand Favonius, der römische Gott des Westwindes. Er war genauso gekleidet wie an jenem Tag, ein rotes Trägerhemd über einem sträflich schrillen Paar Bermudashorts und Barfußsandalen.

»Du«, fauchte Nico. »Verschwinde aus meinem Traum.«

»Ach, Nico«, sagte Favonius und schüttelte den Kopf. »Wenn das so einfach wäre.«

»Nichts ist einfach für mich«, sagte Nico. »Ich rechne schon gar nicht mehr mit etwas anderem.«

»Dann weißt du doch, dass ich dich zu jemandem bringen muss.«

Es gab keine Freude im Gesicht des Gottes, nichts von der Aufregung und dem Eifer, die Nico im vergangenen Sommer dort gesehen hatte.

Favonius schaute sich um.

»Bitte nicht …«, begann Nico.

»Du musst das in Ordnung bringen, Nico.«

Nicos Herz hämmerte noch wilder gegen seine Rippen. Was damals in der wirklichen Welt als Nächstes gekommen war … na ja, das war so ungefähr das Schlimmste gewesen, was Nico jemals durchgemacht hatte, und das sollte was heißen. Er hatte Cupido entgegentreten müssen, der kein niedliches geflügeltes Engelchen war, sondern ein aufdringlicher, beängstigender Gott des Verlangens. Dieser hatte Nico gezwungen, vor Jason zuzugeben, dass er in Percy Jackson verliebt war – nur so konnten sie das Zepter an sich bringen.

Dieses schreckliche Erlebnis war am Ende entscheidend dafür gewesen, dass sie den Krieg gegen Gaia gewonnen hatten.

Und es hatte Nico eine Wunde gerissen, die noch immer nicht verheilt war.

»Was immer das hier soll«, sagte Nico. »Ich habe verstanden. Ich soll zuhören. Ich höre zu.«

»Du musst mit ihm reden«, sagte Favonius. »Aber nicht aus dem Grund, an den du jetzt denkst.«

Nico versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Er zwang sich zu einer Frage: »Wird Jason da sein?«

Er war nicht sicher, welche Antwort ihm mehr wehtun würde, ja oder nein.

Die Miene des Gottes verdüsterte sich. »Nein, Nico. Der ist nicht mehr da.« Dann fügte er leise hinzu, fast wie an sich selbst gerichtet: »Irgendwann werden sie alle nicht mehr da sein.«

Ohne ein weiteres Wort löste Favonius sich in einen Wirbel aus Staub und Sonnenlicht auf. Der Wind umhüllte Nico und hob ihn vom Boden hoch. Selbst in seinen Träumen hasste Nico dieses Gefühl, als ob sein ganzer Körper in Atome zerteilt wurde. Sie jagten durch einen schmalen Spalt in einem Kirchenfenster und dann über die kroatische Landschaft, ohne Rücksicht auf Schwerkraft oder Masse oder seinen Magen. Nicos Gefühle und Gedanken kollidierten immer wieder und versuchten, gleichzeitig in seinem Kopf zu existieren. Er war buchstäblich zu einem Chaos der Empfindungen zerfallen.

Wenigstens bleibe ich in meinen Träumen #typischNico, dachte er. Und dann: Will würde diesen Witz hassen!

Der Wind setzte ihn auf einem Hügel über den Ruinen von Salona ab. Als er wieder zu einem Stück zusammengefügt worden war, zitterte Nicos dünner Leib vor Übelkeit. Er kam sich vor, als ob ihm Sisyphos im Hals steckte und immer wieder versuchte, ihm seinen Felsbrocken die Kehle hochzuschieben. »Uäh«, er hustete. »Dieses Gefühl ist im Traum genauso schlimm.«

Das körperlose Lachen des Favonius umschwebte ihn. »Bildest du dir noch immer ein, das sei ein Traum? Du bist so niedlich, wenn du dich irrst, Nico di Angelo!«

Nico hasste, hasste, hasste es, niedlich genannt zu werden. Er hatte jedoch keine Zeit zu einer Antwort. Der Wind wurde schwächer und Favonius war verschwunden.

Nico schaute sich die Ruinen an. Sie sahen genauso aus wie damals: zerfallene Reste von Gebäuden, bemooste Reihen von Steinen – eine ehemals bedeutende römische Stadt, die zu einer Geröllhalde verkommen war. Nico war auch diesmal nicht beeindruckt davon. Er hatte im Laufe der Jahre zu viele Ruinen dieser Art gesehen, Erinnerungen daran, wie schnell die Werke der Sterblichen zu Schutt zerfallen konnten.

Er hob die Hände. »Bringen wir es hinter uns. Cupido! Ich bin hier!«

Nico wartete. Aber es passierte nichts. Keine dröhnende Stimme, die ihn verspottete, ihn zwang, seine schmerzlichsten Geheimnisse zu verraten.

Dann, plötzlich, war Cupidos Stimme überall: Du weißt, was du zu tun hast.

Diese Worte zischten nur so an Nicos Ohren vorüber.

Nico versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Das hier war nur ein Traum. Zwar von einem Gott, der Nico bloßgestellt und verletzt zurückgelassen hatte … Aber immer noch nur ein Traum. Diesmal würde er sich nicht zu Cupidos Kauknochen machen lassen.

Er verschränkte die Arme. »Hab schon verstanden«, sagte er. »Mehr Überzeugung brauch ich nicht! Ich gehe in den Tartarus.«

Das reicht nicht, Nico di Angelo. Sieh mich an!

»Dich ansehen? Ich dachte, niemand könnte dich in deiner wahren Gestalt sehen.«

Unsichtbar knallte Cupido gegen ihn und schleuderte Nico rückwärts gegen eine zerbrochene Säule.

Sieh mich an!

Cupido stand jetzt so dicht bei ihm, dass Nico seinen Atem im Gesicht spüren konnte.

»Ich kann dich nicht sehen!«, schrie Nico. »Hör auf mit den Spielchen!«

ICH BIN HIER!

Die Stimme war jetzt hinter ihm, und die Haare an Nicos Armen sträubten sich. Er wurde von so einer elementaren Angst ergriffen, dass er Skelette herbeirief, ohne den Befehl zu erteilen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Sie stiegen aus der Erde unter seinen Füßen, Moos und Lehm und Fetzen hingen von ihren Knochen. Sie umringten Nico und hoben abwehrend ihre fleischlosen Arme, bereit, für ihn zu kämpfen.

Dreh dich um, Nico. Sieh mich an.

Die Stimme kam abermals aus einer anderen Richtung. Nico wollte nicht hinschauen. Er hatte keinen vernünftigen Grund dafür, aber er war überzeugt, dass er sterben würde, wenn er Cupido wirklich ansähe.

»Bitte, Nico, sieh mich an.«

Die Stimme hatte sich verändert. Sie war warm, wie Honig, wie ein Sonnenuntergang im Spätsommer, wie der erste Hitzeschwall eines Lagerfeuers.

Es war Cupido.

Nein.

Es war Liebe.

Nico drehte sich langsam um, und da stand Will Solace, seine goldenen Haare glänzten oh so perfekt im traumgleichen Tageslicht von Salona. Er trug das rote T-Shirt mit der lächelnden Sonne, das Nico ihm als Scherz gekauft hatte, und die Cargoshorts mit dem ausgefransten Saum. Er kam barfuß auf Nico zu.

Im tiefsten Herzen hatte Nico den Verdacht, dass das hier noch immer Cupido war, der mit ihm seine Spielchen trieb, aber seine Wut wurde trotzdem besänftigt.

»Will«, sagte Nico. »Ich versteh das nicht. Was läuft hier eigentlich?«

»Hör zu«, sagte Will und kam noch näher.

»Ich hör doch schon die ganze Zeit zu. Warum sagt mir niemand, was ich hören soll?«

Will streckte die Hand aus und Nico tat es ihm nach, aber unmittelbar, ehe Wills Hand sie berührte, riss Nico seine zurück.

»Du musst etwas tun, Nico«, sagte Will und seine Augen waren sanft und weich.

»Ich weiß.«

Will schüttelte den Kopf. »Es geht um mehr, als du denkst. Wenn es so weit ist, dann sag mir die Wahrheit.«

Nico lachte. In seiner Stimme lag ein Hauch von Hysterie, aber Lachen war in diesem Moment die einzige Reaktion, die irgendeinen Sinn ergab. »Klar doch, Will. Cupido. Cwill? Wupido? Wie soll ich dich nennen?«

Wills Gesicht verlängerte sich wie Knetgummi, sein Mund öffnete sich weit, weiter, sodass Nico scharfe, nadelspitze Zähne sehen konnte. Nico wich zurück, aber das Ding, was immer es war, sprang vor und schrie einen letzten Befehl:

WACH AUF!

∙ ∙ ∙

»Nico?«

Er riss die Augen auf, konnte aber die Gestalt nicht erkennen, die sich über ihn beugte. Nico holte mit dem rechten Bein aus und rammte seinem Liebsten den Fuß mitten in den Bauch.

Will heulte auf, kippte von der Bettkante und krümmte sich auf dem Boden der Hades-Hütte zusammen. »Nico, also echt«, stöhnte er. »Wo kommt diese ganze Energie in deinem Körper her?«

»Tut mir leid, tut mir so leid«, sagte Nico. »Du hast mich erschreckt.«

Will krümmte sich beim Versuch, sich aufzusetzen. »Das kann ich gleich zurückgeben. Ich konnte dich bis in meine Hütte hören, du hast wie am Spieß geschrien.«

Nico legte den Kopf auf die Hände. »Ich – ich hatte einen schlimmen Traum. Schlimme Träume, Plural. Richtig schlimme Träume.«

Nico spürte, wie sich ein Gewicht neben ihm auf das Bett senkte, und er blickte auf und sah Will an. »Das mit dem Tritt in den Bauch tut mir wirklich leid.«

Will lächelte, und Nico wurde von Wärme erfüllt. »Kann ich dich in den Arm nehmen? Wäre das in Ordnung?«

Nicos Wangen brannten, weil er sich so schämte. Er wollte nicht, dass Will ihn so verletzlich sah, aber er nickte, denn seine Bedürftigkeit war stärker als sein Stolz. Will zog ihn an sich und Nico weinte lautlos an seiner Brust.

»Ist schon gut.« Will streichelte Nicos Rücken immer wieder. »Das waren nur Träume.«

Waren sie das wirklich?, überlegte Nico. Doch ehe er Will irgendwelche Einzelheiten erzählen konnte, flog die Tür der Hütte auf. Chiron stand da, mit weit aufgerissenen Augen. »Oh – oh nein, störe ich?«

Nico machte sich von Will los und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. »Nein, nein, ist schon gut«, sagte er. »Wir haben nur geredet.«

»Äh … okay, das ist gut«, sagte Chiron verlegen. »Es tut mir leid, so spät hier reinzuplatzen, aber wir haben einen Notfall.«

Nico zog eine Grimasse. »Weil ich so geschrien habe? Hab ich im Traum aus Versehen ein Skelett-Bataillon herbeigerufen?«

»Was? Nein!«, Chiron zögerte. »Das hoffe ich zumindest. Aber darauf kommen wir noch mal zurück. Erst mal haben wir Besuch, der dringend mit dir sprechen möchte.«

Chiron trat beiseite, und Nicos Herz krampfte sich vor Entsetzen zusammen, als Rachel Elizabeth Dare, das amtierende Orakel von Delphi, die Hütte betrat.

Sie streifte die Kapuze ihres Sweatshirts herunter und ihre wunderbare, lange rote Mähne wogte heraus. Ihr Gesicht war gerötet und sie sah erschöpft aus, als wäre sie den ganzen Weg von Brooklyn hergelaufen.

»Nico«, sagte sie. »Den Göttern sei Dank. Du musst mir zuhören.«

Ehe er erklären konnte, dass ihm diese Aufforderung bereits ungefähr EINE MILLION MAL laut und deutlich mitgeteilt worden war, quoll aus Rachels Mund dunkelgrüner Rauch.

KAPITEL 5

Der Rauch hatte einen bitteren, schwefligen Geruch, und Nico, Will und Chiron fingen allesamt an zu husten.

Rachels Pupillen weiteten sich. Dann wurden ihre Augen schwarz, und die Wörter entwichen in der kratzigen Stimme des Orakels aus ihrem Mund:

Wer ruft deinen Namen, geh, suche ihn

Er will nicht bleiben, das ist sein Leid, sein Ruin

Lass ein Stück von gleichem Wert zurück beim Verschwinden

Sonst wird niemand deinen Leib, deine Seele finden.

Rachels Knie gaben nach und Will sprang vor, um sie aufzufangen, ehe sie auf dem Boden aufschlug.

Chiron packte mit einer Hand den Türrahmen. Sein Gesicht sah so bleich aus wie die grauen Flecken in seinem Bart.

»Nach all den Jahren«, sagte er düster, »habe ich mich noch immer nicht daran gewöhnt, das zu hören. Nico, ist alles in Ordnung bei dir?«

Nico nickte mit klopfendem Herzen.

Chiron senkte den Kopf, um durch die Tür zu passen, und betrat mit klappernden Hufen die Hütte. »Ich weiß, es ist beim ersten Hören oft schwer, diese Weissagungen zu verstehen«, sagte er. »Lass dir also Zeit. Wir brauchen das jetzt nicht zu analysieren.«

Nico fing den scharfen Blick auf, den Will in seine Richtung warf.

»Na ja, die Sache ist die …«, murmelte er.

Chiron legte den Kopf schräg. »Was? Weißt du, worum es in dieser Weissagung geht?«

Nico stieß die Luft aus und versuchte, die letzten Reste seiner Träume zu vertreiben. Er fragte sich, ob er vielleicht noch immer in einem Albtraum gefangen war.

»Chiron, ich wollte es Ihnen und Mr D ja irgendwann sagen, aber … na ja, es war einfach nie der richtige Augenblick.«

»Das ist keine neue Weissagung«, erklärte Will. »Wir haben sie schon mal gehört.«

Chiron sah Rachel an, die in Wills Armen lag und jetzt regelmäßiger atmete.

»Das tut mir leid«, sagte der Zentaur. »Soll das heißen, dass Miss Dare hier mitten in der Nacht hereingeplatzt ist, um dir eine Weissagungswiederholung zu überbringen?«

»Es stimmt«, sagte Rachel und klang elend. »Diese Weissagung … wiederholt sich. Wieder und wieder.«

Nicos Herz setzte einen Schlag aus. »Wieder und wieder … du meinst, das war nicht erst das zweite Mal?«

Rachel wimmerte, dann fing sie an zu husten.

Will half ihr, sich aufzusetzen. »Ich hol dir ein Glas Wasser.«

Er lief ins Badezimmer und kam gleich darauf mit einem Becher zurück, von dem Nico hoffte, dass er sauber war.

Rachel nahm den Becher dankbar entgegen. »Ich glaube, da braucht jemand wirklich dringend deine Aufmerksamkeit, Nico.« Ihre Miene war angestrengt, aber mitfühlend. »Bei den ersten paar Malen habe ich gedacht, es wäre einfach eine Fehlschaltung oder so. Vielleicht eine Orakelstörung durch Apollos Kampf mit Python. Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Aber diesmal … da hat mich der Drang überwältigt. Ich musste einfach zu dir kommen.«

Will legte ihr die Hand auf die Schulter. »Wie oft hat sich die Weissagung jetzt wiederholt?«

Rachel wurde rot. Sie trank einen Schluck Wasser. »Zwölf Mal.«

»Zwölf Mal«, sagte Nico. »Ist das dein Ernst?«

Chiron runzelte die Stirn. »Das ist absolut besorgniserregend. So etwas habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gehört.«

Rachel nickte und trank noch einen Schluck. »Das ist wie eine dauernde Erinnerung daran, dass diese Aufgabe erfüllt werden muss – dass noch immer nichts geschehen ist.«