Nie mehr schämen - Stephan Konrad Niederwieser - E-Book

Nie mehr schämen E-Book

Stephan Konrad Niederwieser

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Beschreibung

Scham verstehen und sich von ihr befreien

Scham verursacht ein tiefes Unwohlsein, manche erleben ein Brennen im Körper oder gar einen physischen Schmerz. Wer Scham empfindet, fühlt sich wie ein hilfloses Kind: überfordert und ausgeschlossen.

Stephan Konrad Niederwieser stellt viele Übungen vor, mit deren Hilfe man sich der eigenen Schamreaktionen bewusst werden kann, um sich so nach und nach von ihnen zu befreien.

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Der Autor

Stephan Konrad Niederwieser ist seit 1989 Heilpraktiker. Seine psychotherapeutische Grundhaltung wurzelt in der Hakomi-Methode, einer erfahrungsorientierten Körperpsychotherapie, die auf innerer Achtsamkeit basiert. Mit seinem Schwerpunkt Psychotrauma beschäftigt er sich seit der Jahrtausendwende.

Niederwieser veröffentlichte eine Reihe von Ratgebern über alternative Medizin, wie Lapacho, Schwarzkümmel, Ginseng oder Rizinus, und über Selbsterfahrungsmethoden sowie Das Trauma von der Seele schreiben. Eine neue Methode zur Selbstheilung (Kösel 2018).

Der gebürtige Bayer ist verheiratet und lebt in seiner Wahlheimat Berlin. In seiner Praxis bietet er Psychotraumatherapie an. Seine Arbeit ist beeinflusst vom Neuroaffektiven Beziehungsmodell zur Traumaheilung (NARM), der Somatic Experiencing (SE), der Identitätsorientierten Psychotraumatherapie (IoPT), der erfahrungsorientierten Körperpsychotherapie Hakomi, der Sensorimotor Psychotherapy und der Interpersonal Neurobiology.

www.stephan-niederwieser.de

Das Buch

Scham ist oft nur eine Erinnerung. Wer sie empfindet, wird in der Zeit regelrecht zurückkatapultiert und fühlt sich wieder wie ein Kind: überfordert, hilflos, ausgeschlossen. Scham beeinflusst sogar die Körperhaltung des Menschen und verzerrt das Selbstbild auf verheerende Weise: »Ich bin nicht gut. Ich bin nicht liebenswert. Ich habe es nicht verdient.« Nicht zuletzt ist Scham oft an andere überfordernde Gefühle wie Schuld, Angst und Wut gekoppelt und durchdringt dabei alle Ebenen der menschlichen Existenz: persönliche Beziehungen ebenso wie die seelische und körperliche Gesundheit des Betroffenen.

Stephan Konrad Niederwieser bietet in seinem Buch viele Übungen aus verschiedenen therapeutischen Traditionen an. Mit deren Hilfe kann sich der Leser der eigenen Scham-Reaktion bewusst werden und nach und nach davon befreien. Anstatt sich durch rückwärtsgewandtes Fokussieren auf erfahrene Traumata zu überfordern, dienen seine Übungen dazu, limitierende Reaktionen aufzugeben. Der Fokus liegt auf einem Leben in Freiheit, nicht auf unveränderlichen Erfahrungen in der Vergangenheit. Zahlreiche Fallbeispiele aus der Praxis veranschaulichen die erläuterten Aspekte und Mechanismen der Scham.

Stephan Konrad Niederwieser

Nie mehr schämen

Wie wir uns von lähmenden Gefühlen befreien

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Illustrationen im Innenteil (A, B, C, D): Wolfgang Pfau, Baldham; übrige: Kösel-Verlag, München

Redaktion: Mihrican Özdem, Landau

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22560-5V001

www.koesel.de

Es geht nicht darum, was uns zugestoßen ist, sondern wie wir darauf reagieren.

Epiktet, griechischer Philosoph, ca. 50–138 n. Chr.

Jenes Gefühl »Ich bin der Mittelpunkt der Welt!« tritt sehr stark auf, wenn man plötzlich von der Schande überfallen wird; man steht dann da wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von einem großen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt.

Friedrich Nietzsche, deutscher Philosoph, 1844–1900

So wird Trauma mit Scham verschmolzen: Die Unfähigkeit anderer, uns als Kind angemessen zu begegnen, als wir eine schmerzhafte Erfahrung gemacht haben, halten wir für den Beweis, dass wir von Grund auf schlecht sind und die Umarmung der Liebe nicht verdient haben.

Francis Weller, amerikanischer Psychologe (2015)

Haftungsausschluss

Die Anregungen zur Selbsterforschung, Informationen und Vorschläge in diesem Buch sollen Leserinnen und Lesern helfen, sich ihrer Scham bewusst zu werden und ihrer Strategien, mit denen sie sich vor Scham schützen. Sie sind nicht dazu gedacht, eine Behandlung durch Angehörige der Gesundheitsberufe oder deren Berater und Betreuung zu ersetzen. Sowohl der Verfasser als auch der Verlag haben sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, sicherzustellen, dass die angegebenen Informationen zutreffen und aktuell sind, haften jedoch nicht für die Folgen, die aus ihrer Anwendung entstehen.

Fallbeispiele

Um einzelne Aspekte von Scham anschaulich zu machen, verwende ich Fallbeispiele aus meiner Praxis. Wenn ich in wenigen Sätzen den Therapieverlauf schildere, bedeutet das nicht, dass Menschen in dieser kurzen Zeit sich von all ihrer Scham befreien konnten. Auch eignen sich diese Beispiele nicht zur Diagnose. Jedem »Symptom« können sehr unterschiedliche Scham-Themen zugrunde liegen.

Übungen

Ich gebe in diesem Buch viele Anleitungen. Die einen dienen dazu, die eigene Scham zu erforschen, andere, um sich davon zu befreien. Der Einfachheit halber bezeichne ich alle als »Übung«. Es geht dabei nicht darum, sie so oft wie möglich zu wiederholen – wie Gewichtheben im Fitnessstudio. Sie werden am meisten davon profitieren, wenn Sie sie achtsam ausführen und dabei genau wahrnehmen, wie Ihr Organismus darauf reagiert.

Verzeichnis der Übungen

Ansprache

Die deutsche Sprache hält Pronomen für Frauen und Männer bereit. Kinder erhalten den Artikel »das« und werden damit versachlicht, als wären sie Gegenstände. Für Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen, hat unsere Sprache bisher nur Leerstellen oder Sternchen zu bieten. Ich finde dies weder angemessen noch angenehm zu lesen. Deshalb werde ich in diesem Buch wechselnde Pronomen verwenden. Wenn ich dabei nicht gerade über eine bestimmte Person schreibe, meine ich damit immer alle Menschen, unabhängig ihrer Körpermerkmale, ihres Geschlechts oder ihrer geschlechtlichen Identifikation. Von Herzen.

Inhalt

Einführung: Zwischen Himmel, Haut und Schande

Scham – ein Tabuthema

Scham beeinträchtigt Fühlen, Denken und körperliche Gesundheit

Scham-Tagebuch

Scham ist nicht gleich Scham

1 Akute Scham

Der Scham-Affekt

Scham gehört zur Grundausstattung des Menschen

Ablauf des Scham-Affekts

Was der Scham-Affekt leistet

2 Chronische Scham

Scham – ein psychobiologischer Prozess

Symptome chronischer Scham

Der kognitive Aspekt

Scham und Selbstbild

Wofür wir uns schämen

Gewalterfahrungen beschämen

Scham-Regulation

Chronische Scham als Überlebensstrategie

Chronische Scham – ein Teufelskreis

Die Folgen chronischer Scham

Wie Scham chronisch bleibt

3 Die Geschwister der Scham

Schuld

Angst

Wut

Schüchtern und verlegen

Ekel, Übelkeit

Einsamkeit

Innerer Kritiker

4 Wie wir uns vor Scham schützen: Überlebensstile

5 Scham in der Partnerschaft

Strategien zur Vermeidung von Scham

Scham und Sexualität in Partnerschaften

Geschlechterdynamik

6 Übungen, mit denen Sie sich von Scham befreien

Vorbemerkungen

Die Übungen

Verzeichnis der Übungen

Schlussworte

Scham ist keine Lösung

Schützen Sie (Ihre) Kinder

Anhang

Dank

Literatur

Der Autor

Einführung: Zwischen Himmel, Haut und Schande

Scham – ein Tabuthema

Sie kennen Scham. Vielleicht weil Sie etwas an Ihrem Körper lieber anders haben würden oder überzeugt sind, auf irgendeine andere Weise nicht zu genügen. Möglicherweise verheimlichen Sie Ihre soziale Herkunft oder sind in sexuellen Belangen scheu. Das sind offensichtliche Symptome der Scham, sozusagen die Spitzen des Eisbergs. Scham aber ist viel mehr. Sie kann die Ursache dafür sein, dass Sie beruflich hinter Ihren Möglichkeiten zurückbleiben und wenig oder gar keinen Erfolg haben. Sie ist der Motor für wiederkehrende Konflikte in Partnerschaften und kann der Grund dafür sein, dass Sie in schädlichen Beziehungen verharren. Scham verhindert echte Intimität. Sie lähmt Lebensfreude, Lust und Selbstausdruck. Sie kann physisch krank machen und Persönlichkeitsstörungen, Süchte und selbstverletzendes Verhalten hervorbringen und damit einen vorzeitigen Tod bescheren.

Der Begriff Scham

Woher kommt das Wort Scham? Im Mittelhochdeutschen lautete der Begriff nach Duden scham(e), scheme und im Althochdeutschen scama. Ursprünglich bedeutete er »Beschämung« und »Schande«. Das englische Wort shame leitet sich vom indoeuropäischen shem oder skem ab, aus dem im Englischen die Worte skin (Haut) und sky (Himmel) entstanden sind (Nathanson 2009). All das deckt sie ab: Scham schmerzt wie Schande, grenzt ab wie unsere Haut und hat das Potenzial von der Weite des Himmels.

Jeder Mensch ist mit der Fähigkeit ausgestattet, sich zu schämen. Aber wir sprechen nur selten über sie. In der Schule ist Scham kein Thema, ebenso wenig in den allabendlichen Talkshows. Seit Anfang des Jahrtausends sind mehr als zehnmal so viele Bücher über Angst geschrieben worden wie über Scham. Wer »Scham« googelt, bekommt 3 Millionen Einträge. Für »Wut« sind es jedoch 22 Millionen und für »Liebe« 300 Millionen (Stand: 1.8.2018). Obwohl Menschen seit über 100 Jahren Psychotherapie praktizieren, fand der erste europäisch-amerikanische Kongress zum Thema Scham erst 1984 statt. Und selbst das liegt mehr als 30 Jahre zurück – trotzdem fehlt die Auseinandersetzung mit Scham immer noch in den Lehrplänen von Schulen, künftigen Ärzten und Psychologen.

Aufgrund dieser Zahlen könnte man zu dem Eindruck gelangen, dass Scham keine große Rolle spielt. Warum aber stellt die amerikanische Soziologin Brené Brown, die seit Jahren dazu forscht, fest: »Scham korreliert mit Sucht, Depression, Gewalt, Aggression, Mobbing, Selbstmord und Essstörungen«? (Brown 2012)

Dr. Stephen Porges, Professor für Psychiatrie an den Universitäten von Indiana und North Carolina, ist überzeugt, dass Scham bestimmt, »wie Menschen ihr Leben leben. Scham löst auf der körperlichen Ebene Reaktionen aus, die einer Lebensbedrohung sehr ähnlich sind […] Wenn Menschen sich schämen, verlieren sie ihre Fähigkeit, sich nach ihrem Willen zu verhalten« (Porges 2016).

Der amerikanische Philosoph und Psychologe John Bradshaw bezeichnete Scham als vergifteten Seinszustand: »Scham als Identität ist toxisch und entmenschlichend […] [sie] ist unerträglich und muss vertuscht werden […] Sobald man ein falsches Selbst annimmt, hört man psychologisch auf zu existieren.« (Bradshaw 2005, S. xvii)

Solche Aussagen machen deutlich, welchen Stellenwert einige Wissenschaftler und klinische Psychologen der Scham beimessen. Umso mehr erstaunt es, dass Scham immer noch für eine Begleiterscheinung von Problemen und Krankheiten gehalten wird, anstatt sie als Ursache zu erkennen.

Scham in der Renaissance

Die erste wissenschaftliche Abhandlung über die Scham, die ich finden konnte, wurde in der Renaissance verfasst. Der junge Arzt Annibale Pocaterra zeigt in seinem 1592 erschienenen Buch »Zwei Dialoge über Scham« wesentliche Facetten dieser Emotion auf.

Scham beeinträchtigt Fühlen, Denken und körperliche Gesundheit

Wer sich chronisch schämt, der verliert nicht nur Lebensfreude und Lebendigkeit. Auch Nerven-, Immun- und Hormonsystem geraten aus dem Gleichgewicht. Bildgebende Verfahren belegen zudem, dass Scham die Aktivität bestimmter Regionen des Gehirns dämpft und damit die Denkfähigkeit reduziert. Manche Menschen erleben unter Scham sogar eine komplette Lähmung ihres Denkapparates, sie können nicht einmal mehr sprechen. Es ist leicht auszumalen, welche Weichen das für Kinder in der Schule stellt. Aber natürlich ist das auch für Erwachsene sehr hinderlich.

Und das ist noch nicht alles. Scham

bindet Menschen an ihre unverarbeiteten Erfahrungen in der Vergangenheit und blockiert dadurch geistiges, emotionales und auch spirituelles Wachstum; kapert ihre Identität;macht Menschen für wirtschaftliche Interessen und für Meinungen manipulierbar;ermöglicht, Menschen auszubeuten, Kriege anzuzetteln oder ganze Völker auszulöschen.

Nicht zuletzt sind Scham-Gefühle massive Stolpersteine in Beziehungen. Wer sich nicht liebenswert wähnt, kann sich nicht verbunden fühlen, denn körperliche und emotionale Nähe zuzulassen, geht mit der Angst einher, als nicht liebenswert »entlarvt« zu werden – sich zugehörig zu fühlen fällt schwer. In Partnerschaften und Familien entwickeln Scham-Gefühle geradezu zerstörerische Kräfte. »[Scham] spielt eine zentrale Rolle in der Regulation jeden emotionalen Ausdrucks und daher in jeder menschlichen Interaktion«, schreibt Allan N. Schore (1998, S. 72), Professor für Psychiatrie und Bioverhaltenswissenschaften an der Universität von Kalifornien, Los Angeles.

Ich bin der Überzeugung, dass es zu den wesentlichen Aufgaben des Menschen zählt, den automatisierten Mechanismus der Scham zugunsten bewusster Entscheidungen aufzugeben.

Wenn ich Scham als Hauptwort verwende, erweckt das vielleicht den Eindruck, es sei ein bestimmtes Ding, abgegrenzt, klar umrissen, genau definiert. Ganz im Gegenteil: Scham tritt in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auf – vom unangenehmen Zusammenzucken oder einem Hitzegefühl im Gesicht über schmerzhafte Impulse, sich zurückzuziehen, bis hin zu selbstverletzendem Verhalten oder Suizid. Nicht zuletzt meldet sie sich selten allein an, sondern ist meist nur Speerspitze für weitere Affekte, wie zum Beispiel Angst und Wut.

Vielleicht denken Sie jetzt: So ein bisschen Scham kann doch nicht schaden! Oder Sie wünschen sich sogar, dass sich so mancher Banker, Politiker oder Gewalttäter mehr schämen sollte – in der Hoffnung, dass dies Verbrechen verhindern würde. Aber Scham verhindert keine Verbrechen, es provoziert sie sogar, wie die zahlreichen Beispiele von Menschen in den USA zeigen, die regelrechte Massaker anrichten.

Mögen meine Zeilen dazu anregen, über die großen Fragen unserer Gesellschaft neu nachzudenken: über Erziehung, Integration, die Nutzung von Medien und das Altwerden. Mögen Sie durchschauen, wie Politik, Medizin, Werbung, Justiz und sogar Psychotherapien Scham-Gefühle aufrechterhalten, und dass Scham nicht nur bestimmt, wie Sie über sich selbst denken, sondern dass sie auch Rangordnungen in Gruppen und Gesellschaften organisiert: Menschen, die dazugehören, und viele, die nicht dazugehören (dürfen). Scham ermöglicht wenigen, mächtiger zu sein als der Rest der Welt.

Es würde mich freuen, wenn es mir gelänge zu verdeutlichen, welch zentrale Rolle Scham in unserem Alltag spielt, denn ich glaube, dass wir erst am Anfang stehen, dies zu erfassen. In diesem Buch möchte ich Ihnen zeigen,

wie genial im Grunde diese Emotion ist,wie gefährlich sie sich entwickeln kann undwelch ungeahntes Potenzial sich darin versteckt.

Und ich hoffe, dass Sie am Ende der Lektüre fähig sind, hinter die Maske Ihrer eigenen Scham zu schauen und dort den zu erkennen, der Sie wirklich sind.

Scham-Tagebuch

Scham ist eine tückische Emotion, die oft vorhanden ist, aber selten sichtbar wird. Ich empfehle Ihnen daher, Ihre Erkenntnisse immer gleich zu Papier zu bringen. Worte dafür zu finden, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg, sich seiner Scham bewusst zu werden.

Notieren Sie Ihre Scham-Themen, die Ergebnisse Ihrer Selbsterforschungen und Veränderungen in Ihrem Erleben in einem Scham-Tagebuch. Betiteln Sie es mit so etwas wie »So befreie ich mich von meiner Scham« oder »Tagebuch der Selbstbefreiung«.

Eigene Scham-Themen (Teil 1)

Damit Sie Ihren Fortschritt nachvollziehen können, lade ich Sie ein, noch vor der Lektüre dieses Buchs eine kleine Bestandsaufnahme zu machen. Sie brauchen dafür nur wenige Minuten.

Nehmen Sie Ihr Tagebuch hervor und schreiben Sie als Überschrift auf die Seite »Dafür schäme ich mich«.Notieren Sie darunter alles von sich, womit Sie sich nicht wohlfühlen, womit Sie nicht einverstanden sind, was Sie anders haben wollen, wofür Sie sich ablehnen oder gar hassen. Wenn Ihnen zu alldem nichts einfällt, notieren Sie das, wofür Sie andere beneiden – Nachbarn, Arbeitskollegen, Geschwister. Neid zeigt auf, inwiefern wir uns selbst nicht genügen oder inwiefern wir meinen, unserem Leben nicht zu genügen.Setzen Sie abschließend eine Zahl zwischen 1 und 10 hinter jedes dieser Themen, wobei 1 für »ein bisschen« und 10 für »sehr« steht. Damit kennzeichnen Sie, wie stark Sie sich davon eingeschränkt fühlen. Und so könnte das aussehen:Ich bin zu dick … 4Ich verdiene weniger als meine Kollegin auf demselben Posten … 8Wenn ich spreche, stottere ich … 6

Häufige Scham-Themen

Folgende Themen sind bei vielen Menschen schambesetzt:

Körper, Fitness und GesundheitSoziale HerkunftAktueller sozialer Status/FinanzenTalente, Fähigkeiten und KompetenzenBeziehungenSexualität und GeschlechtlichkeitGefühle Beruf und ErfolgSelbstbild

Wenn Sie damit fertig sind, gehen Sie die Liste einmal durch und beobachten Sie, wie Ihre Innenwelt darauf reagiert. Kommt ein »Eigentlich ganz okay?« auf oder eher ein »Oh je, ich bin ein Wrack!« oder »Puh, ich mach mir das Leben ganz schön schwer«? Notieren Sie auch diese Empfindungen, Gefühle oder Urteile.

Scham ist nicht gleich Scham

In der psychologischen Literatur wird häufig zwischen »guter« und »schlechter« Scham beziehungsweise »gesunder« und »toxischer« Scham unterschieden. Die gute schütze die Intimsphäre, diene als Motivator oder bewahre vor Gewaltdelikten. Nur wenn sie zu stark werde, würde man sie als toxisch oder ungesund erfahren und verdiene damit das Label »schlecht«.

Zum einen finde ich, dass die Bewertungen »gut«/»schlecht« im Zusammenhang mit Menschen grundsätzlich keine unterstützenden Kriterien sind. Auch mit dem »gesund« und »toxisch« bin ich vorsichtig, denn diese Begriffe führen zu allerlei Missverständnissen. Scham ist ein Schutzmechanismus. Jeder, der unter seiner Scham-Reaktion leidet, darf davon ausgehen, dass er gute Gründe hatte, diesen Mechanismus in dieser Stärke auszuprägen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat er ihn zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens vor wesentlich Schlimmerem bewahrt. Daher sehe ich Scham nie als schlecht, krank oder toxisch an, sondern allenfalls der aktuellen Situation nicht länger angemessen. Ich unterscheide daher zwischen »akuter« und »chronischer« Scham.

Akute Scham: Jeder Mensch ist mit einem Scham-Affekt ausgestattet. Er tritt auf, um unserem Organismus etwas über die aktuelle Situation mitzuteilen. Sobald wir adäquat darauf reagiert haben, vergeht er wieder.Chronische Scham: Sie ist dem aktuellen Geschehen nicht angemessen, aber sie prägt unser aktuelles Erleben. Sie gibt unseren täglichen Erfahrungen einen Geschmack. Sie bestimmt, wie wir uns selbst und unsere Beziehungen wahrnehmen.

In den folgenden beiden Kapiteln wird es um diese beiden Formen der Scham gehen.

1Akute Scham

Der Scham-Affekt

Folgende kleine Selbsterfahrung wird Ihnen helfen, das Nachfolgende leichter zu verstehen. Da es nicht einfach ist zu lesen und gleichzeitig einer Anleitung zu folgen, habe ich diese Anleitung auf Video aufgenommen. Falls Sie über einen Internetzugang verfügen, klicken Sie auf meiner Homepage www.stephan-niederwieser.de unter dem Menüpunkt »Autonomie« auf »Scham-Übungen«, und ich begleite Sie Schritt für Schritt hindurch.

So wirkt der akute Scham-Affekt

Stellen Sie sich aufrecht hin, und atmen Sie tief durch. Schließen Sie die Augen, und gönnen Sie sich einen Moment der inneren Achtsamkeit. Ich werde Sie gleich bitten, sich etwas vorzustellen, und Ihre Aufgabe ist es, die Veränderungen in Ihrem Organismus wahrzunehmen. Stellen Sie sich bitte vor, dass Sie sich nicht länger zu Hause befinden, sondern mitten auf dem Marktplatz der Stadt, in der Sie leben. Und Sie sind nackt. Wie verändert sich Ihr Erleben? Was ist in Ihrem Genitalbereich passiert?Was nehmen Sie in Ihrem Nacken und in Ihren Schultern wahr?Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Atem. Geht er sanft ein und aus, oder spannen Sie Ihre Bauchdecke an?Wie nehmen Sie Ihren Unterbauch wahr? Ist er fest, weich? Welchen Kontakt haben Sie jetzt zum Boden?Wie nehmen Sie Ihre Energie wahr? Eher kraftvoll oder eher schlaff?Sind Sie eher gelassen oder unruhig?Nehmen Sie all das einfach nur zur Kenntnis, ohne etwas daran zu verändern. Verbleiben Sie einen Moment so, bis Sie Ihren Körper durchgescannt und alles bemerkt haben. Dann, nach einem tiefen Atemzug, öffnen Sie die Augen wieder, und schauen Sie sich in Ihrem Zimmer um, bevor Sie sich hinsetzen und Ihre Erfahrungen notieren.

Scham gehört zur Grundausstattung des Menschen

Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) – bekannt für seinen Beitrag zur Evolutionstheorie – erforschte die Scham. In seinem Werk »The Expression of the Emotions in Man and Animals« (1872) berichtet er, sie in den entlegensten Kulturen identifiziert zu haben und dass alle Menschen ähnliche Scham-Reaktionen aufweisen. Da der Scham-Affekt bereits bei Säuglingen zu beobachten ist, kann man davon ausgehen, dass er zur Grundausstattung eines jeden Menschen gehört. Auch höher entwickelte Tiere zeigen deutliche Symptome von Scham – wie jeder Hunde- und Katzenliebhaber bestätigen kann. Akute Scham ist demnach nichts Unnatürliches im Sinne des landläufigen Begriffs einer »Krankheit«, und sie kann auch nichts Erlerntes oder Antrainiertes sein. Aber wofür brauchen wir den Affekt Scham so früh im Leben?

Wenn ich von Affekt spreche, meine ich die automatische Reaktion Ihres Körpers, die schneller einsetzt, als Sie denken können. Beispiel: Wenn Sie einen Knall hören, zucken Sie zusammen; vielleicht ziehen Sie die Schultern hoch, kneifen die Augen zu und schützen den Kopf mit den Händen. Das alles geschieht, noch bevor Ihr Verstand erfasst, dass Sie einen Knall hören. Ihr Nervensystem löst dieses Verhalten selbstständig aus, ohne dass Ihr Verstand den Auftrag dazu erteilen muss.

Der Scham-Affekt zeigt sich auf folgende Art und Weise: Sie senken den Kopf, wenden den Blick vom Gegenüber ab und gehen aus dem Kontakt, und Sie haben ein Gefühl der Kraftlosigkeit. Es ist wie eine Art Kollaps – je nach Situation von einem leichten Zusammenziehen bis hin zur vollständigen Ohnmacht.

Alle Affekte ermöglichten unseren Vorfahren bessere Überlebenschancen:

Angst hilft, wenn man in einer Wildnis voller gefährlicher Tiere auf die Pirsch nach Essbarem geht.Wut hilft, Angreifer zu bekämpfen. Ekel zeigt an, dass das, was man für essbar hält, verdorben ist. Man spuckt das, was man in den Mund genommen hat, sofort wieder aus.

Scham dagegen ist in der Beziehung zu Pflanzen oder Tieren wirkungslos. Ein Fliegenpilz schert sich nicht darum, ob Sie sich schämen, ebenso wenig ein Tiger, der Hunger hat. Scham ist nur im Zusammenhang mit anderen Menschen sinnvoll. Von daher geht man davon aus, dass die Spezies Mensch den Scham-Affekt erst entwickelte, als sie anfing, in größeren Gemeinschaften zusammenzuleben.

Wofür braucht nun der Mensch einen Scham-Affekt? Menschen müssen seit Urzeiten sehr gegensätzliche Kräfte in sich vereinen: Einerseits müssen sie ihr physisches Überleben sichern. Um Tiere zu erlegen und sich gegen Angriffe zu verteidigen, brauchen sie daher Zugang zu einer mörderischen Aggression. Andererseits brauchen sie liebevolle Zuwendung, ein Gefühl der Zugehörigkeit, um sich emotional zu nähren, zu einem vollwertigen Erwachsenen heranzureifen und Aufgaben gemeinsam bewältigen zu können.

Aggressive, aber nicht mitfühlende Menschen wären vereinsamt. Mitfühlende, aber nicht aggressive Menschen wären verhungert. Es überlebten jene, die erkannten, dass Gemeinschaft wichtiger ist als der eigene Vorteil, dass die Gesundheit der anderen für das eigene Überleben essenziell ist, dass Mitgefühl die Familie schneller voranbringt als Mord. Ohne automatische Bremse für unsere Selbstbehauptung und Aggression hätten wir uns längst ausgerottet. Scham (auch Angst) wirkt als Bremse aller aggressiven Impulse, inklusive unseres Selbstausdrucks und unserer Lebendigkeit.

Der Scham-Affekt wird von unserem autonomen Nervensystem (ANS) gesteuert. Dieses Nervensystem wird deshalb autonom genannt, weil es wesentliche Funktionen unseres Organismus selbstständig, also ohne bewusste Befehle unseres Verstandes steuert. Dazu zählen zum Beispiel Atmung, Blutdruck, Herzfrequenz und Verdauung. Dr. Stephen Porges erforscht seit 40 Jahren das ANS von Säugetieren und Menschen und entwickelte die sogenannte Polyvagal-Theorie. Demnach besteht unser ANS aus drei Strängen:

dem ventralen (»sozialen«) Vagus,dem Sympathikus unddem dorsalen (»primitiven«) Vagus.

Wenn wir uns im Kontakt mit anderen sicher, entspannt und wohl fühlen, ist unser ventraler Vagus dominant. Er wird auch »sozialer Vagus« genannt, weil er jene Organe enerviert, die wir brauchen, um mit anderen zu kommunizieren: die quergestreifte Gesichtsmuskulatur (Mimik), die Muskeln des Mittelohrs (um die menschliche Stimme von Hintergrundgeräuschen zu trennen), die Muskeln des Kehlkopfs und Rachens (um zu sprechen), den Kopfdreher (zur Hinwendung) und der Augenlider (für Blickkontakt). Der Sympathikus springt an, wenn wir in Gefahr geraten oder uns in Gefahr wähnen. Er setzt uns richtig unter Strom, wenn wir unser Leben bedroht fühlen, damit wir weglaufen oder jemanden bekämpfen können. Wird diese Erregung so groß, dass unser Organismus Schaden nähme, schaltet sich der dorsale Vagus dazu, um die Erregung zu drosseln. Man nennt ihn auch den »primitiven Vagus«, weil wir diesen Mechanismus aus Urzeiten mit primitiveren Lebewesen wie den Reptilien gemein haben. Er deckelt die sympathikotone Erregung, indem er die Gefäße weit stellt, die Atmung und den Herzschlag verlangsamt und damit den gesamten Organismus bremst. Für den Sich-Schämenden fühlt sich das an, als würde ihm der Stecker gezogen, als würde er von einer Lähmung befallen, er kann regelrecht einfrieren. Man muss sich diese Fähigkeit als Notbremse des Organismus vorstellen, die ihn davor schützt durchzubrennen.

Scham auf dem Fußballplatz

Den Scham-Affekt kann man sehr gut bei Fußballspielen beobachten. Schießt eine Mannschaft ein Tor, können Sie den Jubel- oder Triumph-Affekt beobachten. Die Spieler der gegnerischen Mannschaft dagegen senken den Blick und lassen die Schultern hängen (Verlust an Muskelspannung) – oder beschimpfen denjenigen, der den Fehler zu verantworten hat (Beschämung). Besonders nach bedeutungsvollen Spielen sieht man die Verlierer am Boden liegen, die Hände vor dem Gesicht, nicht selten weinend. Die Fans spiegeln die Emotionen ihrer Mannschaft.

Ablauf des Scham-Affekts

Allan N. Schore (1998) beobachtete den Scham-Affekt in der Beziehung zwischen Müttern und Säuglingen, wobei er auch zwischen Säuglingen und anderen primären Bindungspersonen zu beobachten ist.

Ein Säugling lernt frühestens nach acht Monaten, dass die Mutter nach einer Trennung wiederkommt. Bis dahin macht ihm jede Unterbrechung des Kontakts Angst. Sobald die Mutter zurückkommt, braucht er ihre Freude als Signal der Wiederverbindung. Emde nennt diese Erwartung »sparkling-eyed pleasure«, »Glänzende-Augen-Freude« (Emde, zit. in Schore 1998, S. 65). Wird sie ihm zuteil, beruhigt sich der Säugling, und er entspannt sich. Begegnet die Mutter dem Säugling aber mit Gleichgültigkeit oder gar Ablehnung, setzt der Scham-Affekt ein: Sein Organismus stellt die Gefäße weit, der Blutdruck sinkt, der Muskeltonus geht mit einem Schlag verloren. Diese dramatische kollapsartige Reaktion des Kindes versetzt wiederum der Mutter einen Schrecken. Ihr Sympathikus wird aktiviert. Sie kümmert sich sofort um das Kind. Es taucht aus dem Kollaps wieder auf, bekommt Spannung; Kraft und Lebendigkeit kehren zurück. All dies muss automatisch ablaufen, weil ein Säugling ja noch nicht bewusst handeln kann.

Da keine Mutter mit ihrer Aufmerksamkeit ständig beim Kind sein kann, kommt es – oft mehrmals pro Tag – zu diesen Situationen. So intensiviert dieses »Spiel« die Bindung zwischen den beiden. Die Mutter wird in Mitgefühl geschult, das Kind fühlt sich gesehen, aufgehoben, gehalten, (wert-)geschätzt. Beide erleben ein tiefes Gefühl der Verbindung und Zufriedenheit. Darüber hinaus lernt der Säugling dadurch nach und nach,

dass die Abwesenheit der Mutter vorübergeht,dass diese schrecklichen (Scham-)Empfindungen gelöst werden, indem man den Kontakt zu anderen aufnimmt,zwischen Zuständen von sympathischer Aktivierung und parasympathischer Beruhigung hin- und herzupendeln und damit größere Resilienz (psychische Widerstandskraft) zu entwickeln.

Die wiederholte Reparatur der Trennung ist die beste Voraussetzung dafür, dass das Kind zu einem immer größeren Spektrum von Aufeinanderbeziehen befähigt wird, denn Gefühle auszudrücken und zu teilen sowie sich gegenseitig zu beeinflussen, sind die Werkzeuge, mit denen man Bindungen reguliert.

Wenn Kinder solche Erfahrungen machen dürfen, haben sie als Erwachsene die besten Voraussetzungen, Missverständnissen gelassen zu begegnen, Konflikte auf konstruktive Weise zu lösen und – zumindest bezogen auf Liebe, Gesehenwerden und ihre Bedürfnisse – schamfrei durchs Leben zu gehen. Nicht zuletzt erlebt das Kind durch dieses Wechselspiel die ersten Erfolge seiner Wirksamkeit: das Erleben, eine Bindung beeinflussen zu können.

In einer gesunden Mutter-Kind-Beziehung lautet die Botschaft des Kindes im Scham-Affekt: »Ich schäme mich, deiner Liebe nicht würdig zu sein.« Die Mutter antwortet nonverbal: »Du bist mir wichtig.« So kann man den Scham-Affekt auch als nonverbalen Ruf nach Bindung verstehen.

Scham und Nervensystem

Bei Scham sind beide Stränge des autonomen Nervensystems hoch aktiviert: der Sympathikus und der dorsale Vagus. Für den Organismus wirkt das, als würde man Vollgas geben und gleichzeitig auf die Bremse treten – ein extrem kräftezehrender Vorgang.

Was der Scham-Affekt leistet

Scham gegen Schmerz. Wenn das Baby ein Bedürfnis nach Zuneigung äußert und dieses Bedürfnis nicht ausreichend erfüllt wird, hilft der Scham-Affekt, das Bedürfnis so weit zu dämpfen, dass der Schmerz, es nicht erfüllt zu bekommen, gelindert wird (Nathanson 2009). Diese Dämpfung kann so weit gehen, dass sich das Kind von seinen Bedürfnissen regelrecht abschneidet. Der Scham-Affekt ist also ein physiologischer Mechanismus des Verzichts, der eine schmerzliche Beziehungserfahrung beendet, indem er sich im wahrsten Sinne des Wortes von dem abwendet, das man begehrt: Man schlägt die Augen nieder und dreht sich weg.

Scham gegen Übererregung. Der Affekt schützt auch in einer anderen Situation: Wenn Sie jemandem länger in die Augen schauen, werden Sie bemerken, dass der Blickkontakt eine hohe Aktivierung im Nervensystem erzeugt. Für Säuglinge und Kleinkinder trifft das erst recht zu. Auch für solche Erregungszustände sind kleine Wesen noch nicht gerüstet. Daher wenden sie den Blick ab, sobald es ihnen zu viel wird – genau wie Erwachsene. Dies sind die ersten Schritte dahin, den Aktivierungszustand des ANS selbst zu regulieren. »Nach einem glücklich breiten Lächeln wendet das Baby seinen Blick ab, um den potenziell disorganisierenden Effekt dieser starken Emotion zu regulieren.« (Schore 1998, S. 59)

Scham unterbricht Handlung. Indem sie kraftlos macht, unterbricht diese natürliche Bremse sofort jedwede Handlung. Als Erwachsene kennen Sie das, wenn in einem Augenblick des Glücks plötzlich etwas passiert, für das Sie sich schämen. Sie stolpern beim Tanz, oder ihr Kind platzt unvorhergesehen ins Schlafzimmer, während Sie Sex haben. Auch diese Funktion ist für Kinder wichtig: Die Kleinen wollen alles erkunden, ihren Lebensraum kennenlernen, erweitern und vereinnahmen; dazu bewegen sie sich immer weiter von den Eltern fort. Wenn ein Kind auf der anderen Seite der Straße etwas Aufregendes entdeckt, rennt es los, ohne auf den Verkehr zu achten. Ein energisches »Nein!« oder »Nicht!« der Eltern lässt das rennende Kind sofort innehalten. Auch dies ist eine Wirkung der menschlichen Notbremse. »Scham ist ein angeborener Hilfs-Affekt und ein spezifischer Hemmer der Affekte Interesse-Begeisterung und Freude-Entzückung.« (Tomkins, zit. nach Kosofsky & Adam 1995, S. 134)

Scham reguliert Zugehörigkeit. Der Scham-Affekt lässt wahrnehmen, was im Rahmen einer Beziehung möglich ist und was nicht. Das beginnt in der Beziehung zur Mutter, gilt aber ebenso für die Kindertagesstätte, die Schule oder Unternehmen, in Liebesbeziehungen, Freundschaften und auch mit Fremden. Besonders gut zu bemerken ist die Wirkung des Affekts, wenn man fremde Kulturen bereist. Auch wenn man die Regeln nicht kennt, kann man sie spüren. In den Jahrtausenden unserer Entwicklung hat sich Scham als ein Trainingsprogramm durchgesetzt, durch das Menschen von klein auf lernen, was angemessen ist – für sie selbst, für andere und für die Gemeinschaft. Fügen wir uns ein, werden wir wenig Scham erfahren. Brechen wir jedoch die Regeln – ungeachtet dessen, ob sie sinnvoll oder angemessen sind –, werden wir schnell an die Grenzen der Zugehörigkeit stoßen. Hierbei fungiert der Scham-Affekt wie ein Geigerzähler: Je weiter wir die (unausgesprochenen) Grenzen von anderen überschreiten, desto stärker spüren wir ihn. Dieser Aspekt von Scham lässt sich auf die Frage reduzieren: »Wie muss ich sein, damit ich meine Zugehörigkeit nicht verliere?«

Scham dämpft Aggression. Säuglinge kollabieren also, wenn ihnen nicht mit der »Glänzenden-Augen-Freude« begegnet wird. Da es sich noch nicht wehren kann, nutzt das Kind den Kollaps (Scham-Affekt), um die Mutter nonverbal dazu aufzurufen, die gefühlt unterbrochene Bindung wiederherzustellen. Der Affekt vermittelt so zwischen Liebe und Aggression.

Scham markiert Grenzen. Kein Mensch, bei dem die Regulierung des Scham-Affekts geglückt ist, käme auf die Idee, während eines Besuchs bei Freunden plötzlich alle Schubladen zu öffnen und den Inhalt der Schränke zu inspizieren. Wenn wir schon früh lernen durften, Grenzen zu haben, können wir später auch die Grenzen von anderen wahrnehmen, indem uns »etwas« bremst. Das geht völlig nonverbal vonstatten. Der Scham-Affekt hilft uns dabei.

Die Scham-Röte

Bei Scham färben sich Wangen und Kopf rot (übrigens auch bei Menschen mit dunkler Hautfarbe, wie man mithilfe von Wärmebildkameras nachweisen konnte). Die Scham-Röte ist bei Kindern noch sehr deutlich ausgeprägt; mit zunehmendem Alter verliert sie sich meist. Warum das so ist, ist noch nicht erforscht. Meine Vermutung: Das Rotwerden soll den Mitmenschen anzeigen, dass sich der Sich-Schämende seines Fehltritts bewusst ist. Eine Bestrafung ist nicht mehr notwendig. Gleichzeitig ist sie der Ruf nach Bindung – »Ich schäme mich, eurer nicht würdig zu sein« – und damit eine Aufforderung an die Gemeinschaft, ihm seine Zugehörigkeit zu versichern.

Der Zweck des Scham-Affekts

Der Scham-Affekt wirkt wie der Überlastungsschutz in einem Sicherungskasten: Gerät das Nervensystem zu sehr »unter Strom«, schaltet der Scham-Affekt den Organismus ab – blitzschnell, automatisch und hoch effektiv, ohne dass es dazu eines bewussten Befehls bedarf. Wenn Kinder den Scham-Affekt zeigen, weckt das in Müttern den Impuls, diesen zu regulieren. Das intensiviert die Bindung, fördert Vertrauen und Sicherheit.Indem der Kollaps immer wieder reguliert wird, lernt das Kind, sich nach und nach selbst zu regulieren.Dieses Hin-und-Herpendeln zwischen hoher Aktivierung und ihrer Regulierung führt zu Resilienz – der Fähigkeit, widrige Situationen zu meistern, ohne Schaden für das eigene Selbst davonzutragen.Der Scham-Affekt ist ein Signal, dass Bindung in Gefahr ist und zudem ein Ruf nach Zugehörigkeit – bei gleichzeitiger Unfähigkeit, sie selbst herzustellen. Er unterbricht Handlungen, und zwar sofort.Er unterdrückt Aggression, aber auch alle anderen Formen von Lebendigkeit und Selbstausdruck.Nicht zuletzt sichert der Scham-Affekt unsere Grenzen.Der Scham-Affekt schützt den Säugling vor dem Schmerz, mehr zu wollen, als er kriegen kann. Dieser sich ständig wiederholende Prozess führt zu einer Feinabstimmung innerhalb der Beziehung: Das Kind passt seine Erwartungen an die Möglichkeiten der Mutter an, die Mutter lernt hinzu, um die Bedürfnisse des Kindes erfüllen zu können. Der für diese Lebensphase wichtige Mechanismus bildet zugleich den Grundstein für die chronische Scham.