Niemand hat die Absicht, ein Matriarchat zu errichten - Patti Basler - E-Book

Niemand hat die Absicht, ein Matriarchat zu errichten E-Book

Patti Basler

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Beschreibung

Geballte humoristische Frauenpower! Frauen sind komisch. Aber auch im Sinne von lustig? In dieser Anthologie beweisen 33 Meisterinnen ihres Faches, dass es den typisch »weiblichen Humor« gar nicht gibt, sondern Dutzende Spielarten. Geschichten, Kolumnen, Reportagen, Gedichte und Cartoons – von hintersinnig bis voll auf die Zwölf. Neben Abhandlungen über die großen gesellschaftlichen Themen wie Alpaka-Wanderungen, neue Erkenntnisse auf dem Gebiet des Kampftrinkens sowie runde Geburtstage von klumpfüßigen Kultmäusen findet die geneigte Leser*innenschaft hier auch endlich Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen: Wie verschicke ich ein Babyjäckchen? Was kostet die Schweiz? Wie viele Stifte darf ich bei der Arbeit klauen? Wie stehen Eisbären zur Klimakrise? Und vor allem: Wo ist eigentlich dieses Internet? Die Herausgeberinnen, beide selbst seit vielen Jahren erfolgreich im deutschen Satirebetrieb, garantieren: In diesem Buch sind nur *innen drinnen, und, ernsthaft: Niemand hat die Absicht, ein Matriarchat zu errichten! Mit Texten und Cartoons von Martina Brandl, Sandra Da Vina, Kirsten Fuchs, Katharina Greve, Paula Irmschler, Kittihawk, Ninia LaGrande, Dorthe Landschulz, Jacinta Nandi, Stefanie Sargnagel, Katrin Seddig, Lea Streisand, Dagmar Schönleber u. v. a. m.

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Seitenzahl: 193

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Ella Carina Werner, Katinka Buddenkotte (Hrsg.)

Niemand hat die Absicht, ein Matriarchat zu errichten

Komische Texte und Cartoons von Frauen

E-Book-Ausgabe September 2022

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2022

www.satyr-verlag.de

Cover: Katharina Greve, Berlin

Korrektorat: Jan Freunscht

Die Arbeit an diesem Buch wurde gefördert durch ein »Auf geht’s«-Stipendium des Landes Nordrhein-Westfalen.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-86-8

Inhalt

Ella Carina Werner, Katinka Buddenkotte: Vorwort

Sandra Da Vina: Alpaka-Spaziergang

Kittihawk

Kirsten Fuchs: Ebay-Jäckchen

Katharina Greve

Victoria Helene Bergemann: Dieser eine unromantische Text

Filolino

Ina Bruchlos: Das gelbe Buch

Miriam Wurster

Dagmar Schönleber: Fit for no fun. Oder: Bauch gegen Kopf 1:0

Stefanie Sargnagel

Sarah Schmidt: Es war nicht alles schlecht

Dorthe Landschulz

Jacinta Nandi: Allein

Kittihawk

Susanne M. Riedel: So siehst du aus

Miriam Wurster

Paula Irmschler: Megastark, edelgoudafein und dufteklötig: Die Diddl-Maus wird 30

Teresa Habild

Marina Barth: Das Netz ist weg

Katharina Greve

Katinka Buddenkotte: Verfeindetes Pärchen

Filolino

Rigoletti: 38 Grad Hitzeradeln

Stefanie Sargnagel

Ella Carina Werner: Hacke, knülle, rotzevoll

Kittihawk

Mariella Tripke: Konfliktberatung

Miriam Wurster

Friederike Gräff: Das gute Leben

Patti Basler: Tod einer berühmten Henne. Requiem in Komposita

Dorthe Landschulz

Julia Mateus: Der Aufstieg der Prozentbegabten

Teresa Habild

Daniela Böhle: Ägyptisch lernen

Stefanie Sargnagel

Ninia LaGrande: Camping – Oder: Wir sitzen

Miriam Wurster

Martina Brandl: Gute Unterhosen

Filolino

Katrin Seddig: Die Puppe

Teresa Habild

Felicia Zeller: Kampftrinken in der Neudefinition nach Zeller

Kittihawk

Susanne M. Riedel: Winterthur

Dorthe Landschulz

Jenni Zylka: Hausboot

Teresa Habild

Franziska Wilhelm: Bitch sein

Filolino

Daniela Böhle: O du schönes Bayern!

Katharina Greve

Katinka Buddenkotte: Es ging nie darum, die Echse zu schubsen

Dorthe Landschulz

Lara Stoll: Ramen-Suppen

Katharina Greve

Jacinta Nandi: Ich habe nicht genug Stifte geklaut. Eine Lektion in Business English

Miriam Wurster

Lea Streisand: »Ich hatte Ihnen doch gesagt, Sie sollen das absetzen!«

Teresa Habild

Ella Carina Werner: Beim Frauenarzt

Jenni Zylka: Airbnb

Stefanie Sargnagel

Kirsten Fuchs: Wochenbett

Autorinnen und Cartoonistinnen

Alpaka-Spaziergang

Sandra Da Vina

Ich habe einen Gutschein für einen Alpaka-Spaziergang zum Geburtstag geschenkt bekommen. »Da musste ich sofort an dich denken«, sagt die Schenkende. Und ich bin froh, dass sie nicht bei was anderem an mich gedacht hat, zum Beispiel bei einem Liter Lampenöl oder einer Fußmatte mit einem witzigen Spruch darauf. Da bin ich noch ziemlich gut weggekommen mit meinem Alpaka-Spaziergang.

Ich bin eigentlich kein Mensch, der sich für das Spazierengehen interessiert. Dieses ziellose Herumgewatschel widerstrebt mir einfach. Aber mit Alpakas ist ja alles besser. Alpakas werten jede langweilige Aktivität entscheidend auf. »Steuererklärung mit Alpakas«, »Darmspiegelung mit Alpakas«, »Wohnung streichen mit Alpakas« – alles solide Jochen-Schweizer-Geschenkgutscheine.

Ich kann also nicht abstreiten, dass ich einigermaßen aufgeregt bin.

Es folgen drei Nächte schlechten Schlafes, in denen ich mich in unruhiger Vorfreude auf dem Matratzenlager hin und her wälze. Es fällt mir grundsätzlich schwer, im Vorfeld großer Ereignisse emotional stabil zu bleiben, meistens male ich mir das Geschehen bereits sehr blumig aus und belade es mit allerlei Erwartungen, die von der Realität nur enttäuscht werden können. Mein Tag mit den Alpakas ist der erwartungsvollste Termin seit Langem.

Wer jetzt sagt: »Was bitte ist ein Alpaka?«, dem oder der sei geholfen: Ein Alpaka ist eine Mischung aus einem bescheuerten Pferd und einem Pudel. Wenn man ein Alpaka sieht, denkt man sofort: »Nein, der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung! Das Alpaka ist die Krone der Schöpfung.« Das Alpaka besteht zu 30 Prozent aus Wolle und zu 70 Prozent aus Augen. Es hat relativ kurze Beine, aber trotzdem sollte man es nicht als Couchtisch benutzen. Die Superkräfte des Alpakas sindt Flauschigsein, Essen und Wegrennen. Mehr braucht man über diese Tiere nicht zu wissen.

Im Grunde ist so ein Alpaka-Spaziergang genau, wie man sich das vorstellt: superlächerlich und wunderschön. Ich reise also am frühen Vormittag mit dem Bus bis zum Waldgebiet Rönnsberger-Schnutzelfingen5, in meinem Rucksack drei Capri-Sonnen, ein Etui mit Blasenpflastern und ein sorgfältig eingepacktes Gastgeschenk, mit dem ich das Alpaka zu begeistern gedenke: ein Bildband über die 30 besten Wanderrouten im östlichen Sauerland, eingeschlagen in drei Lagen Backpapier. Dazu eine gute Handvoll frisches Wiesengras, das ich vor Morgengrauen aus dem Nachbargarten der Rödelmanns rupfe, weil es nun mal das beste Gras der Stadt ist, immerhin wässert Herr Rödelmann den Rasen jeden Sonntag mit einer Kiste Gerolsteiner Medium.

Ich halte mich für vorbereitet und mittelgut aussehend, so habe ich mich am Morgen sogar für das Tragen einer Multifunktionshose entschieden, die mir im Kniebereich allerlei erfreuliche Möglichkeiten bietet, Campinggeschirr und ein Wurfzelt zu verstauen. Bei meiner Ankunft treffe ich auf eine Gruppe Gleichgesinnter, zehn weitere Alpaka-Spaziergänger*innen, die mich mit einem freudigen »Hallo« in Empfang nehmen. Ich entscheide mich für das Grußwort »Salut« und ernte dafür reichlich Anerkennung.

Der Alpaka-Besitzer und Spaziergangsvorsitzende heißt Uwe, und ich beschließe, ihm das nicht übel zu nehmen. Er trägt einen Hut, der ihn aussehen lässt wie einen echten Abenteurer, und zwar derart, dass ich sofort das Bedürfnis verspüre, ihn zu fragen, wie man sich verhalten sollte, wenn man beim Inlineskaten von einem Bären angegriffen wird, ein Szenario, über das ich schon sehr oft nachgedacht habe. Aber bevor ich ihn fragen kann, sagt Uwe bereits: »Na, dann wollen wir mal!« Und wir wollen tatsächlich.

Das Alpaka, das mir zugeteilt wird, heißt Manuela und hat eine schöne Frisur. Manuela ist übellaunig. Es scheint, als könnte sie sich selbst nicht als die Gottheit begreifen, die sie nun einmal ist, das mächtigste und prächtigste Tier auf diesem Planeten. Oder sie teilt einfach nur meine Aversion gegen Spaziergänge jeglicher Art. Sie ignoriert meine Höflichkeiten, verschmäht sogar Rödelmanns Premiumgras und entscheidet sich schließlich dafür, lieber den Sauerland-Bildband zu essen. Während sie kaut, wirft sie mir Blicke der Verachtung zu. Uwe versichert mir glaubwürdig, dass das nichts mit mir zu tun habe. »Gladbach hat gestern scheiße gespielt«, sagt er. Und ich nicke verständnisvoll.

Es stellt sich heraus, dass ein Alpaka-Spaziergang bedeutet, dass man spazieren geht. Wir bewegen uns also in Zweierreihen, je ein Mensch und ein Alpaka, westwärts durch ein frisch gedüngtes Rübenfeld. Jetzt wären Gummistiefel sehr praktisch, stelle ich fest. Gleichzeitig gratuliere ich mir zu meiner Entscheidung, am Morgen mithilfe von zwei ausgeleierten Haargummis ein Paar Mülltüten um meine Füße zu schnallen, sodass ich erst nach achthundert Metern über nasse Socken klage.

Manuela ist sehr gemütlich unterwegs, also bilden wir das Schlusslicht der Gruppe. Vor uns läuft ein Mann, der zunächst zehn Minuten darüber kichert, dass sein Alpaka genauso heißt wie er, nämlich Bernd. Der Mensch-Bernd redet sehr laut und versucht, seinen Alpaka-Bernd zu beeindrucken, indem er Songtexte von Unheilig zitiert. Er gibt außerdem zu Protokoll, dass er als Kind an mindestens zwei Donnerstagen im Februar Keyboard-Unterricht bekommen hat und mit 16 einmal fast Mofa gefahren wäre. Schnell entsteht zwischen den beiden so etwas wie Freundschaft. Ich kann spüren, dass die Bernds nur noch wenige Minuten davon entfernt sind, einen gemeinsamen Dänemark-Urlaub zu planen.

Manuela und ich schweigen uns an. In der Stille unserer Wortlosigkeit hört man das Campinggeschirr an meinen Knien klimpern. Ich habe mir das anders vorgestellt. Ich dachte, das wird etwas Festes. Manuela und ich treffen uns ab jetzt regelmäßig, unter der Woche oder auch außerhalb des beruflichen Kontextes. Man tauscht sich aus über die richtige Zubereitung von Tessiner Kastaniensuppe und schickt sich zu besonderen Anlässen lustige Grußkarten, die einen im genau richtigen Maße schmunzeln lassen. Gerne auch was mit der Diddl-Maus, ich bin da open-minded.

Aber es kommt anders: Manuela und ich, wir können uns nicht leiden. Diese Erkenntnis trifft mich mit voller Wucht, und in meiner Brust echot schmerzhaft das Gefühl einer großen Zurückweisung. Schließlich entscheidet Alpaka-Manuela sich dazu, dass sie an mir und dieser gesamten Veranstaltung nicht mehr teilnehmen möchte. Sie reißt sich los und hechtet mit einem großen Sprung mitten hinein in das Rübenfeld. Wir sehen sie mit dem durchschnittlichen Schrittmaß eines ausgewachsenen Gepardenweibchens gen Zuhause eilen.

»Keine Angst, die kennt den Weg«, erklärt Uwe. Und ich denke: »Ja, ich aber nicht.« Die nächsten zwei Stunden laufe ich also allein hinter der Mensch-Alpaka-Gruppe her und wünsche mir, dass mich ein Bär anfällt. Wir überqueren mehrere Bachläufe, erklimmen einen Berg, von dem aus man bis nach Ursbach-Wörninger6 blicken kann, und durchwandern schließlich eine Tropfsteinhöhle. Auf halber Strecke machen wir ein Gruppenfoto, auf dem ich sehr schwitze und Uwe tröstend meine Hand hält.

Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit wieder an unseren Ausgangspunkt zurückkehren, habe ich den längsten Spaziergang meines Lebens gemacht. Meine Füße schmerzen, in den Taschen meiner Multifunktionshose wohnen eine Ameisenfamilie und ein Schwarm geschlechtsreifer Wellensittiche, mein Gesicht ist von Sonne und Wind zerfurcht.

Drüben, auf der Wiese an der Bundesstraße, steht Manuela und grast gemütlich. Ich glaube, sie hatte einen schönen Tag. Wer so viele Gutscheine für »Menschen-Spaziergänge« bekommt, hat sich auch mal eine Pause verdient.

Und ich mach demnächst wieder alles ohne Alpakas, da muss man durch. Auch wenn es hart ist.

5 Name von der Redaktion geändert.

6 Name von der Redaktion geändert.

Kittihawk

Ebay-Jäckchen

Kirsten Fuchs

Es regnet. Nuffelmutti_87 steht am Briefkasten. Der Briefkasten vorm Haus steht an einer stark befahrenen Fernfahrerstrecke zwischen einer Fabrik für Hundefutter und einem Tierheim.

Nuffelmutti_87 wird von den vorbeifahrenden Lkw nassgespritzt. Sie bleibt stehen. Auch das Postauto fährt an ihr vorbei. Nuffelmutti_87 weint. Doch im Regen kann man die Tränen nicht sehen.

Jetzt beginnt es zu hageln. Aus dem Haus dringen schrille Schreie. »Mama, Mama!« Ein etwa zweijähriges Kind. »Mama, mir ist so kalt!«

Nuffelmutti_87 schüttelt traurig den Kopf. Was für eine Welt! »Ernst Theophil, wickel dich in die Zeitung! Die Jacke ist noch nicht angekommen! Mama bleibt hier und wartet.«

Ich erwache schreiend. Vom wirren Traum geschwächt, robbe ich schnell zum Schreibtisch und fahre den Laptop hoch. Da, wieder eine E-Mail. Nuffelmutti_87. Auch heute keine Sendung, schreibt sie.

Es ist Sonntag. Sonntags bekommt niemand Post in Deutschland. Ich schreibe ihr das. Sie schreibt nicht zurück.

Sie macht mich fertig. Seit vier Tagen schreibt sie mir jeden Tag, wo das Jäckchen bleibt, das sie vor sieben Tagen ersteigert hat. Vor zwei Tagen habe ich es erst geschafft, die kleine Jacke in das kleine Briefkuvert zu stecken und kleine Klämmerchen durch das Kuvert zu zwacken. Ich habe ihre Adresse draufgeschrieben: »Sanne Weihnachtsmann, In den grünen Tannauen 1, Am Oberulm, Landkreis Großüberreagier«. Dann habe ich »Warensendung« draufgeschrieben, und ab ging die Post.

Ab dem Tag, wo Nuffelmutti_87 das kleine graue Jäckchen für 1,50 Euro ersteigerte, schrieb sie mir jeden Tag. Sie habe überwiesen. Ich solle bitte den Empfang des Geldes bestätigen. Ob das Geld drauf sei.

Ob das Geld drauf sei. Das Geld müsste doch jetzt drauf sein.

Ich antwortete jedes Mal freundlich.

Als das Geld auf meinem Konto war, bestätigte ich den Erhalt der 1,50 Euro plus 2,40 Euro Versand.

Dann fragte sie, ob ich abgeschickt habe, und einen Tag später schickte ich ab. Zusammen mit anderen Ebay-Päckchen. Ich hatte mich für einen Warenversand entschieden. Das kostete nur 1,90 Euro.

Einen Tag später fragt sie, wann genau ich die Jacke abgeschickt habe.

Am nächsten Tag teilt sie mir mit, dass die Jacke noch nicht da sei.

Am übernächsten Tag fragt sie noch einmal, warum das so lange dauere. Ein Päckchen würde doch nur ein bis zwei Tage brauchen.

Ich habe das Jäckchen allerdings als Warensendung verschickt, schreibe ich. Das mache ich so, wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich es für 1,90 Euro verschickt bekomme. Dann schreibe ich bei Ebay 2,40 Euro Versandkosten und überweise dann zurück.

Ab da bricht es aus ihr heraus. All die Enttäuschungen aus all den letzten 35 Jahren, die sie nun auf ihrem Buckel hat: der Frust einer schwierigen Geburt in Steißlage, das ganze hässliche Sabbern in den ersten Lebensjahren, die angeekelten Gesichter selbst naher Verwandter bei dem wimmernden Versuch, sie zu küssen, die ewig in Herzhöhe nass gesabberten Hemdchen, unter denen sich das kleine Herz verkühlte, die harten Kanten an den Tischen im nicht kindgerecht eingerichteten Kindergarten Am Oberulm, Region Großüberreagier, die schlechten Noten in Nadelarbeit, bedingt durch die falsch herum angewachsenen Hände, der Junge, der nicht bereit war, für sage und schreibe 5.000 Mark, die der Onkel hatte springen lassen, mit der Klassenkameradin Sanne Weihnachtsmann zum Abschlussball zu gehen. Die teure künstliche Befruchtung, die harte mehrwöchige Geburt von Ernst Theophil …

Und nach all dem … noch diese Frau bei Ebay, die eine Jacke für 1,50 Euro nicht wie abgemacht im versicherten Versand für 2,40 Euro, sondern im unversicherten Warenversand für 1,90 Euro verschickte.

Nuffelmutti_87 schreibt, das sei arg hinterlistige Täuschung von mir.

Sie hat mich durchschaut. Seit Jahren plane ich diesen Coup. Einmal bei Ebay 50 Cent erschleichen und dann nach Saint-Tropez abhauen, dort ein Schloss bauen lassen und in den restlichen drei Cent in einer goldenen Badewanne baden.

Nuffelmutti weint seit diesem Tag eigentlich durchgängig. Was für eine Welt! So ein armes kleines Kind ohne Jacke zu lassen. Ihre letzten 50 Cent hat sie dafür gegeben, dass das Herbstjäckchen versichert ist, denn wenn es in den Wirren der Post wegkäme … – nicht auszudenken!

Ich schreibe, dass ich alles zurücküberweise, die 1,50 Euro und die 2,40 Euro Versand, wenn das Jäckchen nicht ankommt, und dass ich die 50 Cent zurücküberweise, wenn das Jäckchen endlich ankommt.

Alles wird gut, schreibe ich in Großbuchstaben.

Die Frau windet sich wie ein Wurm, den man mit Zitronensäure beträufelt hat.

»Alles wird gut« ist am Oberulm verboten. Das sagt man nicht. Dafür bekommen kleine Kinder aufs Mündchen gepatscht. Nichts wird gut. So heißt das hier. Hier ist alles anders. Oh nein, oh nein, der Herbst ist da, singen die Kinder. Bruder Jakob, Bruder Jakob, bist du schon tot? Und all die anderen Lieder. Und nicht zu vergessen: Kommt kein Vogel geflogen, setzt sich nicht nieder auf meinen Fuß, hat keinen Zettel im Schnabel, von der Mutter keinen Gruß.

Der Ort, aus dem sie kommt, ist ein besonderer Ort. Auf dem Rahmenplan stehen andere Fächer. Geiz, Verzweiflung, Krümelkackerei, waschen, bügeln, Versicherungen, e-mailen, Ungeduld, weinen, stricken, Religion, Geschlechtsverkehr abwenden und überall zuwachsen.

Diese armen Mütter, diese armen, armen Mütter dort. Und deren Mütter haben ihnen noch gesagt: Kauft nicht bei Leuten aus Berlin. Die sind ganz anders als wir. Die wollen alles nicht engstirnig sehen. Die wollen das nicht wichtig finden, was wir wichtig finden. Die wollen sich nicht streiten.

Bevor ich vorschnell urteile, recherchiere ich ein bisschen zu Am Oberulm, Landkreis Großüberreagier.

Bei Wikipedia steht, dass es einen besonderen Brauch im gesamten Raum Großüberreagier gibt. Der Brauch heißt Herbstjäckchenkaufen. Es geht bei diesem Brauch darum, für die Sünden der Vorfahren zu büßen. Vor allem die Kinder sollen büßen. Dazu bestellt man im zweiten Herbst des ersten Kindes ein billiges Jäckchen bei Ebay, am besten als Warenversand, denn dann dauert’s ewig, bis es ankommt. Ab der Bestellung legt man das Kind nackt auf den kalten Fußboden im Bad und wartet nun draußen am Briefkasten auf die Bestellung. Dort hat man zu weinen und zu kreischen. Einmal am Tag gehe man aber ins Haus und frage den Verkäufer des Herbstjäckchens irgendetwas. Die Zeit der Gängelei beginnt, denn auch der Verkäufer soll büßen für die Sünden seiner Vorfahren. Das Warten macht angeblich frommer, das Gängeln bringt alles Schlechte aus den Bewohnern des Kreises Großüberreagier heraus – zu jemand anderem hin.

Das Kind soll im Übrigen so lange nackt bleiben, bis das Herbstjäckchen da ist. Nur so lernt es Werte. Es soll warm von kalt unterscheiden. Arm von reich. Wenn man dem Kind das Jäckchen dann anzieht, so habe man zu sagen: So merk es dir, und tue dies in aller Liebe auch deinem Kinde. Dann bewerte man den Ebay-Verkäufer übelst schlecht und kratze sich an einer Warze.

In dieser Nacht träume ich davon, wie überall in Am Oberulm die Mütter an den Briefkästen stehen, bei Sturm und Nebel, trotz Hunger und vollen Darmes. Aus den Häusern das Weinen der Kinder.

Am nächsten Morgen wieder eine E-Mail. Die Jacke sei noch nicht da. Es ist der 3. Oktober. Feiertag in ganz Deutschland. Niemand bekommt Post.

Ich antworte nicht.

Ich reibe meine 50 Cent blank und kichere.

Katharina Greve

Dieser eine unromantische Text

Victoria Helene Bergemann

ich war schon mal zufrieden, ich war schon mal allein

ich bin schon mal geblieben, aber wollte da nicht sein

ich bin schon mitgegangen, und später dann gekommen

und manchmal kam ich nicht, ich wurde nur genommen

ich traf mal einen Fremden, und einmal einen Freund

ich wollte was beenden, ich habe was bereut

ich war einmal verliebt, das war das Allerschlimmste

ich hatte es verdient, weil ich es mir so wünschte

Verliebt sein ist so schlimm. Du gehst los und triffst eine Person, die du noch nie im Leben gesehen hast, und kurze Zeit später willst du eigentlich immer nur die Person sehen. Das ist doch krank und lebensmüde. Man weiß ja gar nichts über die. Was, wenn das jemand ist, der schon mal ein Kettensägen-Massaker begangen hat oder einen Taschendiebstahl oder der sein Klopapier zur Wand hin abrollt? Laut irgendeiner Statistik sind nämlich die Hälfte aller Verliebten kriminell … und sogar ansteckend. Ich kannte mal eine, die hatte sich in eine andere verliebt, und nach einiger Zeit war die dann auch verliebt. Und Kinder von Verliebten sind oft früher oder später auch plötzlich verliebt.

Und dann ist immer gleich alles so romantisch. Meine Güte, wenn ich einen Romantisch will, dann schaue ich mir in der Buchhandlung die Auslagen an.

In Serien stellen Leute ja oft so ultraviele Kerzen in ihrem Schlafzimmer auf, damit es so richtig romantisch ist. Aber ich finde das überhaupt nicht romantisch, ich finde das gefährlich. Die Leute entkleiden sich gegenseitig, es werden Anziehklamotten geworfen, und dann fällt ein Baumwollschlüpper in eine brennende Kerze, sofort fängt auch die Pelzmütze und des einen Holzbein Feuer, ein Feuerwehrmann platzt rein, als man gerade so richtig bei der Sache ist, und allen ist das total peinlich, und dann brennt es auch noch bei den Nachbarn, und dann muss man nackt rausrennen, und draußen stehen schon Schaulustige und machen dann Witze darüber, dass deine Brüste so unterschiedlich aussehen. Also da kann man sagen, was man will, aber romantisch ist für mich was anderes. Weiß auch nicht, was daran romantisch sein soll, sich im Regen zu küssen. Das ist arschkalt, und einzelne Regentropfen fallen einem in den Nacken, und hinterher hat sicherlich irgendwer eine Blasenentzündung, die mehrere Wochen voll starker Schmerzen mit sich bringt, bis man schlussendlich in der Notaufnahme landet und die Ärztinnen einen zur Untersuchung ausziehen und Witze darüber machen, dass deine Brüste so unterschiedlich aussehen. Find ich nicht romantisch, muss ich ganz ehrlich sagen.